„Erst Ende 1945 bin ich aufgewacht“

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Sonntag/Montag,
3./4. Mai 2015
70 JAHRE KRIEGSENDE
57
„Erst Ende 1945
bin ich aufgewacht“
Roland Kaiser war Hitlerjunge und Luftwaffenhelfer. Heute sagt er,
dass er eigentlich gar nicht genau wusste, was er da tat.
Von Hannes Lintschnig
r saß auf dem Pflaumenbaum
in seinem Garten. Das war im
Mai 1945. Roland Kaiser hatte gerade einen kilometerlangen
Fußmarsch von Bad Segeberg
nach Lübeck hinter sich. Er hat an
der Haustür geklingelt, aber seine
Mutter war nicht da. Mit ihr wohnte er alleine in der KlausGroth-Straße. Geschwister hatte er
keine. Sein Vater war im Krieg, auf
Madagaskar. Kaiser wurde gerade
) )
aus
britischer
Kriegsgefangenenschaft
entlassen.
Nachdem er lange
von seinem Zuhause weg war, hat er
sich so sehr auf seine Mutter gefreut.
Die wusste zwar,
wo er war. Aber
nicht, ob er jemals
zurückkommen
würde.
Roland Kaiser, geboren 1928,
sagt, er habe die Zeit in der Hitlerjugend immer genossen. Und das,
was seine Ausbilder von ihm forderten, habe er immer gut ausgeführt.
So gut, dass er sogar ein paar Wochen zur Führerschule nach Malente durfte. „Das war damals eine große Anerkennung. Da durfte nicht jeder hin, nur die Fähigsten. Schließlich sollten dort die zukünftigen
Führer ausgebildet werden.“ Seine
Mutter fand das gar nicht gut. „Unsere Familie stand den Nazis kritisch gegenüber. Aber sie haben
nichts gesagt, besonders nicht zu
mir.“ Sein Großvater war evangelischer Pastor der Bekennenden Kirche – das war bei den Nationalsozialisten nicht gern gesehen. „Immer
E
wenn Opa zu Besuch kam, hat meine Mutter gesagt: „Heute musst du
zum Herderplatz spielen gehen.“
Anfang 1944 wurde Roland Kaiser Luftwaffenhelfer. Er war in
Gothmund stationiert. „Ich stand direkt an der Flak“, sagt Kaiser. „Russische Kriegsgefangene haben die
Granaten angeschleppt, ich habe
sie poliert und geladen.“ Das Ziel
waren britische Flugzeuge. Roland
Kaiser wird das Geräusch wohl nie
wieder vergessen, wenn die schweren Granaten mit
der Flak abgefeuert wurden. „Erst
ein lautes Zischen
und dann ein ungeheurer Knall, wenn
es losdonnert. Ich
hatte mehr Angst
vor unseren eigenen Waffen, als vor
unserem Feind.“
Acht Menschen saßen jeweils in den
Flugzeugen der Briten. Das wusste Roland Kaiser.
Aber so richtig klar wurde es ihm
erst, als ihm kurz vor seiner Versetzung in die Nähe von Berlin von seinem Batteriechef bescheinigt wurde, an wie vielen Abschüssen er direkt beteiligt war. „Es waren vier
Abschüsse. Schrecklich. Die Bilder
und die Gedanken habe ich heute
noch im Kopf.“
Von Gothmund musste er dann
nach Prenzlau, wieder an die Flak.
Er weiß noch, wie er mit einem flauen Gefühl im Bauch in den Zug
Richtung Osten am Lübecker
Hauptbahnhof eingestiegen ist.
„Meine Mutter kam noch auf den
Bahnsteig geeilt und brachte mir
ein kleines Körbchen mit Erdbeeren. Da habe ich mich gefreut.“
Doch auch in Prenzlau blieb Kaiser
D D Es waren vier
Abschüsse.
Schrecklich. Die
Bilder und die
Gedanken habe
ich heute noch
im Kopf.“
Seinen alten Wehrmachtshelm mit dem Hakenkreuz-SymFotos: Lintschnig, privat
bol drauf hat Roland Kaiser noch heute.
nicht lange. Im März 1945 wurde er
erneut abkommandiert – zum
Reichsarbeitsdienst in die Nähe
von der Insel Sylt. „Aber nicht zum
Schippen“, sagt Kaiser. „Man wusste zwar, dass der Krieg kaum noch
zu gewinnen war. Trotzdem musste zu Kriegsende jeder an die Waffe. Ich auch.“ Es waren lange norwegische Gewehre, mit denen Kaiser das Schießen lernte.
Geschossen hat er allerdings nie.
Denn der Krieg ging zu Ende, die
britischen Besatzungssoldaten kamen. „Unser Ausbilder hat uns
nach der Ausbildung die Gewehre
übergeben – und wir haben sie quasi direkt an den Tommy weitergereicht.“ Verstehen konnte er es damals nicht, sagt er. „Ich soll an der
Waffe ausgebildet werden? Okay.
Ich soll die Waffe einem Engländer
geben? Okay. Ich wusste überhaupt nicht, was ich da tue.“ Er tat
es einfach. So wie viele Andere.
Nachgedacht hat er erst später.
„Ich bin erst Ende 1945 aufgewacht und habe gemerkt, was für
ein schreckliches System das war.“
Die englischen Besatzungssoldaten haben den damals 16-Jährigen
zunächst bis nach Dithmarschen
marschieren lassen. Von dort ging
es mit dem Lkw weiter nach Bad Segeberg, wo er sich melden sollte.
Dort wurde er entlassen. „Ich wurde als Erntehelfer eingetragen, aus
der Kriegsgefangenschaft entlassen, und sollte gehen. Das habe ich
dann auch getan.“
Bis zu dem Pflaumenbaum in seinem Garten. Er saß etwa eine Stunde auf dem Ast des Baumes, bis seine Mutter nach Hause kam. Und
die war außer sich vor Freude, als
sie ihren Sohn im Baum sitzen sah.
„Es war so schön, sie wiederzusehen.“
Roland Kaiser an der Flak in Gothmund. An
vier Fliegerabschüssen war er beteiligt.
„Schrecklich“, sagt Roland Kaiser, wenn er dieses Bild von sich sieht. „Was die damals mit der Erziehung der Kinder gemacht haben. Das kann man sich heute gar nicht vorstellen. Unglaublich!“
„Wir waren das letzte Kanonenfutter“
Fritz Finnern musste 1945 zum Reichsarbeitsdienst nach Leck. Als der Krieg zu Ende war, hat er sich zu Fuß zu seiner Familie nach Wahlstedt durchgeschlagen.
Von Hannes Lintschnig
Es ist März 1945. Der Krieg ist fast
zu Ende. Als Marinehelfer hat Fritz
Finnern schon in den letzten Monaten fast täglich Fliegerangriffe der
Engländer miterlebt. „Das war Alltag“, sagt Finnern. „Da hatten wir
schon gar keine Angst mehr vor.“
Wenn er nicht gerade an der Flak
stand und den Schützen Granaten
gereicht hat, schleppte er gut erhaltene Möbel aus zerbombten Häusern und brachte sie in Scheunen
von Bauernhöfen unter. Auch Pflegedienste im Marinelazarett hat er
gemacht. „Das war schon schrecklich, was man da gesehen hat. Aber
ich blieb immer verschont. Ich habe Glück gehabt.“
Dann wurde er abkommandiert.
Zum Reichsarbeitsdienst ins nord-
friesische Leck. „In Neumünster
sind wir in den Zug gestiegen. Die
Fahrt hat fast einen ganzen Tag gedauert.“ Immer wieder kamen Angriffe von britischen Tieffliegern.
Dann mussten sie schnell aus den
Waggons und unter den Zug klettern. Irgendwann erreichten sie
Leck. Dort wurde Fritz Finnern an
der Panzerfaust und Artilleriegeschützen ausgebildet. Jeden Tag
lag er im Schützengraben und übte
Schießen. Finnern habe nicht genau gewusst, wofür er das mache.
Genauso wenig wie er in der Hitlerjugend wusste, warum er stundenlang durch den Wald robben sollte.
„Es war eben der Dienst. Da hat
man nicht weiter nachgefragt.“
Aber in Leck konnte er sich dann
doch denken, was das Ganze soll.
Denn schließlich bedeutete Reichs-
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arbeitsdienst eigentlich die Arbeit
mit Spaten – und nicht an der Waffe. „Wir waren das letzte Kanonenfutter. Das hat sich angedeutet und
wurde immer klarer.“ Deswegen
hat er sich gefreut, als sein Ausbil-
der am 8. Mai sagte, dass er nach
Hause gehen solle. „Ich wusste
nicht wie, und ich wusste nicht, warum. Aber ich wusste, dass ich nach
Hause wollte. Dann bin ich losgegangen.“ Seine Uniform und auch
Fritz Finnern lebt heute in Bad Segeberg.
Fritz Finnern als junger Mann.
Das Foto stammt von 1944.
die Waffen hat er in Leck gelassen.
Er zog seine Zivilkleidung an und
machte sich auf den Weg. Eine Woche hat er für die 150 Kilometer bis
nach Wahlstedt gebraucht. „Immer zu Fuß, manchmal hat uns ein
Traktor ein Stück mitgenommen.“
Geschlafen hat er in Scheunen, auf
Bauernhöfen oder am Wegesrand.
Als er Mitte Mai 1945 dann endlich auf Gut Hülsenberg bei Wahlstedt ankam, war die Freude groß.
Sein älterer Bruder kam erst etwas
später von seinem Dienst an der
Front zurück. Sein anderer Bruder
galt zu dem Zeitpunkt als vermisst.
Bis heute ist er nie wieder aufgetaucht. „Meine Eltern wussten
zwar, dass ich in Leck war. Aber
wann und ob ich wieder zurückkommen würde, wussten sie natürlich nicht.“
3. März, 22 Uhr. Die Treibstoffreserven in Berlin sind so knapp, dass Joseph
Goebbels bemerkt, man sei kaum noch in der Lage, seine Feuerzeuge zu füllen.
Der Krieg war vorbei, Fritz Finnern war wieder zu Hause. Es hat
nicht lange gedauert, bis er wieder
als Bankkaufmann arbeiten konnte. In derselben Bank, bei der er bis
zu seinem Einberufungsbefehl als
Marinehelfer eine Ausbildung gemacht hatte. „Ein Angestellter der
Bank – das werde ich nie vergessen
– hat mich immer ausgeschimpft,
wenn ich zur Begrüßung nicht den
rechten Arm hob und ,Heil Hitler’
rief. Das war ein überzeugter Nazi.“ Auch dieser Mann hat nach
Kriegsende wieder in der Bank gearbeitet. „Aber nach dem Krieg hatte ich meine Ruhe vor ihm. Da war
er ganz klein“, sagt Finnern. „Und
die NSDAP kannte er plötzlich
auch nicht mehr. So wie viele überzeugte Nazis, die nach dem Krieg
hohe Stellen besetzt haben.“