Gehen wir ! - Europahaus Burgenland

Nr. 27 – April 2015
Forum Europahaus Burgenland | Nr. 27 – März 2015
Forum Europahaus Burgenland | Nr. 27 - Jänner 2015
weltgewissen
weltgewissen
pannonisch | europäisch | kosmopolitisch
Gehen wir !
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Generalversammlung
des Europahauses
Burgenland 2015
20. Feber 2015
in Wandorf/Sopron
Editorial
Nr. 27 – April 2015
3
Liebe Leserin, lieber Leser,
Gehen wir! Europahaus 2015.4
von Hans Göttel
die Generalversammlung des Europahauses vom 20.
Feber 2015 hat die Weichen gestellt. Personell geht es
um die Neuordnung der Leitung des Europahauses.
Das Management liegt seit März 2015 bei Geschäftsleiterin Helga Kuzmits, während ich nach 24 Jahren der Geschäftsführung nunmehr als Studienleiter
Verantwortung für die inhaltlich-konzeptiven Fragen
übernommen habe. Ein neues Gespann für eine neue
Richtung!
BodenBildung10
von Franz Tutzer
Wir werden dabei weiterhin von unserer langjährigen
Sekretärin, Maria Jankoschek, und von freien Mitarbeiterinnen unterstützt, arbeiten international und
regional gut vernetzt und achten so gut es geht auf die
Bedingungen, die Bildung braucht. Eine Definition von
Hartmut von Hentig sagt: „Bildung ist das Leben nach
bedachten und gewollten Prinzipien und das Schaffen
der hierfür bekömmlichen Ordnung“.
Vom Verlebendigen der Böden und des Geistes
Seminar mit Hildegard Kurt
17
Globales Lernen 18
von Helmuth Hartmeyer
Taumeln mit Sündenbock
von Erich Kitzmüller
26
Kants Konzeption kosmopolitischer Bildung30
von Georg Cavallar
Chronik einer fröhlichen Verschwörung Der neue Roman von Richard Schuberth
35
Notizen zu Satire39
von Eva Meloun
Zur Gesamtheit eines Landes gehört auch seine Politik, so lange man sich eine leistet. Dass man diese
auch abstellen kann, ist zwar nicht so leicht vorstellbar, aber wer hat je gesagt, dass Bildungsarbeit mühelos sei. Dabei würde eine Einstellung der Landespolitik von den wesentlichen Dingen des Landes, seinen
Häusern und Wiesen, seinen Weinbergen und Obstgärten, seiner Landschaft und Kultur und von all
jenen, die nicht im Landhaus absitzen, nicht einmal
bemerkt werden.
NICHT!42
von Franz Schandl
Während das Gerede um die Rettung von Banken die
Nachrichten füllt, entgehen pikante Geschehnisse
unserer Aufmerksamkeit: in Kärnten wird längst nicht
mehr die Bank, sondern das Land gerettet, in Griechenland sowieso. Die Burgenländische Landespolitik
ist, nachdem sie sich vor 15 Jahren aus dem Verhängnis mit der Landesbank feige gerettet hat, inzwischen
zukunftsfit aufgestellt: als EU-gefördertes Freilichtmuseum für die politische Kultur des 16. Jahrhundert.
Buchtipps50
Das vorliegende Heft versucht, die eingeschlagene
Richtung zu beschreiben und Bedeutsamkeiten dieses Weges zu erkunden – im Lichte kosmopolitischer
Ideen und internationaler Bildungsprogramme, wie
dem Internationalen Jahr der Böden und dem Europäischen Jahr der Entwicklung, die den Rahmen für
unsere Aktivitäten bieten.
Einladung zur Tagung – Beilage in der Heftmitte
MO-MI, 18. – 20. Mai 2015
„Über-Leben mit /ohne Politik“ –
Sicherheit, Entwicklung und Menschenrechte
im Lichte europapolitischer, antipolitischer
und kosmopolitischer Entwürfe.
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Zarwos des Gonze?46
von Franz Bittner
Termine – Vorhaben 2015
47
Europa passt in keine Plutzer48
Ein Plädoyer für Pannonien von Hans Göttel
Publikationen, Impressum51
Unvermeidbare Schicksale von Propheten?52
Beitrag von den Familien Lang,
Mayerhofer-Sebera, Pampalk und Smutny.
Unsere Wege – unser Wissen.
Von Pannonien nach Oxford und zurück.56
von Hans Göttel
Inhalt
Hans Göttel
Der Sieg der Nichtwähler. 45
von Hans Göttel
4
Forum Europahaus Burgenland
Gehen wir!
Europahaus 2015.
Leicht gekürzte schriftliche Fassung des
Berichts an die Ordentliche Generalversammlung des Europahauses Burgenland
am 20. Februar 2015 in Wandorf / Sopron.
von Hans Göttel
Das Europahaus ist kein selbstverständliches Ding,
was schon die Frage zeigt, die uns über viele Jahre
immer wieder gestellt worden ist: „Was macht´s ihr
eigentlich? Und wenn man dann ein paar Hinweise
gibt, was man so tue, so löst man damit in der Regel
die weitere Frage aus: „Na ja, schon, aber: wer ist da
dahinter?“
Womit man, wohl ohne es zu wissen, das Wörtchen „eigentlich“ in
seiner mhd. Bedeutung zur Geltung bringt, d.h.: als Wort für „leibeigen“. Was macht das Europahaus
eigentlich, heißt nach alter Bedeutung so viel, wie: „wem gehört ihr?
auf wen hört ihr?“ Die Idee, dass wir
uns selber gehören und daher nichts
Eigentliches sondern vielmehr Eigenes eigensinnig tun, braucht, um als
wahr wahrgenommen zu werden, die
gelegentliche doch wiederkehrende
sinnliche und besonnene Wahrnehmung des Eigenen. In geselligen Versammlungen können wir von Mal zu
Mal oder besser: von Mahl zu Mahl
wahrnehmen, dass das Europahaus
ist (und gut isst), um sich die Welt
einzuverleiben.
Wir sind schon lange nicht mehr
bestellt oder gestellt, durch Politik
institutionalisiert, um etwas zu leisten, sondern indem wir uns etwas
leisten, etwas begeistert unternehmen, sind wir – immerhin und immer
noch. Begeistert unternehmen heißt:
den Geist von oben empfangen und
die Dinge von unten nehmen, um sie
ans Licht zu bringen oder – auszuhebeln. Ob die Herrschaften des Landes das wollen, kümmert uns
nicht, und
zwar
schon
seit 18
Jahren
nicht. Seit
damals, seit
1997 gibt es
uns nicht, weil
die Landespolitik
das so beschlossen oder genehmigt hätte, sondern
obwohl
sie das Gegenteil beschlossen
und
verkün
det hat. Wir
sind
im
Land,
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doch nicht von Gnaden der
Landespolitik.
Einer Versammlung, die nicht
eigentlich ist, berichten zu dürfen,
ist mir über viele Jahre eine große
und schöne Herausforderung gewesen. Man könnte es auch so sehen,
dass diese meine Berichte – über insgesamt 24 Jahre – versucht haben,
uns in eine Richtkraft von fremdbestimmter Eigentlichkeit weg zum
Eigensinnigen hin zu bringen und
uns jeweils soweit auszurichten, um
die jeweils notwendigen und wünschenswerten Schritte in eine freie
Arbeit gehen zu können. Das Atelier
für kosmopolitische Theorie, Praxis und Poesie, wie ich das Europahaus heute beschreiben möchte, ist
kein verwalteter oder verwaltender
Zustand, sondern ein Weg, der sich
bildet, indem wir ihn gehen. Und so
wie ein Weg sich bildet, indem man
ihn geht und verschwindet, wenn
man ihn nicht mehr geht, so ist das
Europahaus ein Phänomen, das sich
gemeinsamer Arbeit und Begegnung
in Bewegung verdankt.
Meinen besonderen
Dank an Euch Mitglieder und alle Partner
des Europahauses spreche ich also im Gehen
aus. Ich freue mich
sehr, dass ich
von nun an
den jährlichen
Tätigkeitsbericht nicht
mehr
alleine
machen
werde
sondern, wie schon
heute so auch künftig teilen kann,
gemäß einer Arbeitsteilung, die wir uns vorgenommen haben:
Helga Kuzmits,
die seit über
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einem Jahr im Europahaus ist, bringt
die Kompetenzen, den Schwung, die
Fähigkeiten und Fertigkeiten, auch
für die mir zu unheimliche elektronische Welt mit, was für die operative
Leitung eines Instituts in der heutigen Zeit notwendig ist; während ich
den Abschwung in die Landschaften
alter, mittelalterlicher Zeiten vollziehe, von wo, wie schon viele vor mir
bemerkt haben, die Gegenwart viel
besser zu sehen ist.
Gegenwärtig zu sein heißt, wach
und aufmerksam zu sein, es heißt, die
Archive des Wissens und der Bilder
zugänglich und geordnet zu halten,
denn jeder Reiz, jede Information,
die uns treffen und jede Herausforderung, auf die wir treffen, müssen
zuerst im Archiv mit Abermillionen
von gespeicherten Bildern abgeglichen werden, damit wir überhaupt
erkennen und verstehen können,
worum es sich handelt. Verschüttete Archive bedeuten, dass unsere
Gegenwärtigkeit behindert wird.
Wann immer einer unserer Vorfahren in der Steppe einen Moment
stillstand – es war ein sehr wichtiger Moment. Denn das ihn jagende
Tier konnte nur flüchtende Wesen
als Beute erkennen, eine plötzlich
stillstehende Figur war als Jagdbeute nicht wahrnehmbar. Es war
als sichtbares Objekt zwar vorhanden, aber für das jagende Wesen als
sein Ding des Lebens nicht mehr
erkennbar. Der eine kurze Moment
des Stillstehens schenkte unserem
Vorfahren nicht nur das Überleben, es gewährte ihm die nicht kalkulierbare Zeit, um nichts zu tun
und etwas zu erkennen. Und unsere
Geschichte kam auf den Weg.
Wenn heute die Landespolitik
sagt, sie könne nicht erkennen, was
das Europahaus ist und was es tut,
so heißt das nur: wir bewegen uns
nicht so, wie sie es erwarten. In
unserer nutzlosen Nachdenklichkeit sind wir ihnen keine erkennbare
Figur. Wie sollen sie auch etwas als
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Forum Europahaus Burgenland
landeseigen erkennen, wenn es nicht
kriecht? Dafür haben sie kein Wahrnehmungsorgan. Und das schafft uns
die Voraussetzung, die ein Denken
überhaupt ermöglicht. Sie erkennen
es nicht. Das ist eine gute, wenngleich nicht hinreichende Voraussetzung für Bildungsarbeit.
Ich habe schon in meinem Bericht
vor einem Jahr gemeint, die beste
Bezeichnung für das Europahaus wäre: Museum
(Musenhaus) für politische Bildung. Ein
solches Museum
braucht, wie überall, öffentliche Mittel. Es ist etwas, das
sich ein Land leistet
– oder nicht. Wenn
nicht, so meinte ich
damals, so meine ich
heute, sollten wir den
Spieß umdrehen: wir
bitten die Musen in
die Öffentlichkeit und
bringen die Landespolitik
ins Museum.
Freilich stehen die Enthaftung von
Landesbefindlichkeit und das Einfinden in Landeswirklichkeit in einem
dialektischen Verhältnis. Natürlich
wissen wir, dass wir doch irgendwie
zum Land gehören und dass sich niemand aus der Welt der politischen
Machtkörper begeben kann. Ein solches Vor-Verständnis erspart uns
aber nicht die Aufgabe. Und in dieser Aufgabe steckt im Hinblick auf
politische Bildung große Bedeutung,
wie es der Philosoph Karl Jaspers
(1883-1969) befundet hat: Das Sein
gegen die Welt ist nach Karl Jaspers
bestimmend für ein Anderswerden
der Zustände in der Welt, auch wenn
es nur eine Phase ist, nach der ein
Wiedereintritt in die Welt erfolgt.
Diese Phase muss geschafft werden.
Sonst ist es nicht möglich, in den
Machtkörpern mit zu leben und in
ethischer Verantwortung gegen sich
selbst nicht von ihnen aufgesogen
zu werden.
Das Sein gegen das Land ist
bestimmend für ein Anderswerden
der Zustände im Land, auch wenn es
nur eine
Phase wäre,
nach
der ein
Wiederein-
tritt in das Land erfolgt. Diese
Phase muss geschafft werden. Sonst
ist es nicht möglich, im Machtkörper
des Landes mit zu leben und in ethischer Verantwortung gegen sich selbst
nicht von ihm aufgesogen zu werden.
Wegfähigkeit für das Europahaus heißt Weg-geh-fähigkeit in ein
Selbstsein, das sich mit anderen –
regional, international – verbindet
und verbündet. Alleine schafft man
so etwas nicht. Der Austritt aus dem
Burgenland der Landespolitik ist
eine notwendige und zu bestehende
Aufgabe, damit wir in ethischer Verantwortung gegen uns selbst Burgenländer bleiben können.
Dabei ist vieles schon gemacht
worden – man werfe einen Blick
in die Statuten des Europahauses:
schon seit 18 Jahren ist darin von
Landespolitik keine Rede mehr; man
blicke zurück in das Jahr 1991, als die
Landesregierung gegen ihren Willen
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aus den Gremien des Europahauses hinaus komplimentiert wurde;
oder 1997, als die politischen Parteien
verabschiedet wurden.
Der Austritt
aus dem politischen
Machtkörper
des
Landes ist im Europahaus
gelebte Praxis. Was es noch braucht,
ist der Mut, das auch anzuschauen,
zu sehen und wahr zu nehmen. Die
Kunst, die Dinge in ihrer Wirklichkeit zu sehen, kann man Mystik nennen.
Ich wäre völlig einverstanden,
wenn jemand sagte: „das fehlte
uns noch“.
Archive des Wissens helfen mir,
gegenwärtig zu sein: In einer im
Jahre 1604 in Prag erschienenen
Abhandlung über den Kosmopoliten – der Begriff taucht um diese
Zeit neu auf – heißt es u.a. „Über
die Länder hinweg profiliert sich
also eine Lumpen-Intelligenzia, die
sich weigert, Phantom-Königreichen oder heruntergekommenen
Ländern anzugehören.“ Ich gestehe,
dass mir der Begriff Phantom-Königreich für ein von Plutzern regiertes
Land ausgezeichnet gefällt. Kosmopoliten waren oft spöttische Leute,
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meist hatten sie ja nichts anderes als
ihr Wort, ihre spitze Feder. Das ausschalten zu wollen, und sei es auch
aus gutgemeinten taktischen Gründen, ist etwas, das mit mir nicht zu
verhandeln ist. Im Gegenteil: ich
glaube, das Einzige, was wir realistisch betrachtet können oder wollen
können, ist, im Geist der
Aufklärung die Herrschaften in das Licht
der Öffentlichkeit zu
tauchen, üblich gewordene und insbesondere
üble Denkweisen auf
den Kopf zu stellen, ja
das Machtgehabe
auf die Schaufel
nehmen. Die Burgenländische Landespolitik gehört
auf die Schaufel
genommen, bevor
sie im Archiv abgelegt wird, um – und das
wäre ihre verbleibende und
einzig sinnvolle Funktion - künftigen Generationen einen Grund für
Gegenwärtigkeit zu bieten.
Wenn es da oder dort heißt, das
Europahaus sei nur ein Lesezirkel, irgendwie defizitär und allzu
unscheinbar, so frage ich mich, woher
dann bei manchen die Sorge kommt,
der Landeshauptmann könnte rabiat
werden oder das Land gar untergehen? Wegen eines Lesezirkels?
Meine eigene Kritik in puncto Lesezirkel ist anders gestrickt: wir haben
es nie wirklich geschafft, einen Lesezirkel zu verwirklichen, was sicher
schade ist, aber deswegen noch kein
Malheur, auch nicht wirklich blamabel, ist doch ein Lesezirkel eine überaus anspruchsvolle Form von Arbeit,
wesentlich schwieriger als etwa die
Organisation eines Vortrags, eines
Konzerts oder sonst eines Hochamts.
Und vor allem: es ist nicht zu spät
für Lesezirkel!
Auch die uns nachgesagte Neigung zur Esoterik ist einer genauerer Betrachtung wert, denn die
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Forum Europahaus Burgenland
Bildungsfähigkeit des Menschen
hängt mit seiner Bildfähigkeit
zusammenhängt, die nun mal in der
Innenwelt eines Denkraumes angelegt wird. Dass es viel Geschäftemacherei mit dummer Esoterik-Industrie gibt, ist uns allen bekannt,
aber doch kein hinreichendes Argument, um die Innenwelt abzuwerten.
Schließlich gibt es auch eine mindestens ebenso geschäftstüchtige Industrie des Äußerlichen, denken wir an
Politikberatung, Lobbying, Coaching
und Trainings sowie allerlei Internet­
aktivismus. Nur in unseren Innenräumen können wir Vergangenheit,
Zukunft und Gegenwart zusammenführen und stille stehen und betrachten - und was das Besondere dabei
ist - auch uns selber betrachten, wie
wir die Zeiten und Räume betrachten
– und: wir können mit den Dingen
einschließlich uns selbst, die wir in
unseren Innenräumen sehen - spielen; wir können sie verändern und
so unsere Ansichten und unser Verhalten ändern. Unsere Denkräume
sind Labore, Werkstätten, Spielwiesen, wo wir noch frei sind. Wie ungeschickt, gerade diese Räume meiden
zu wollen oder der Verwahrlosung
zu überlassen. Sie gehören besonders gepflegt, ausgestaltet, erweitert,
vertieft, wohnlich gemacht. Eine Aufgabe, nicht zuletzt für Wohnheime,
vielleicht?
Schließlich unser angeblich zu
hohes Niveau. Albert Einstein war
einmal tief beeindruckt von einer
Rede, die Dag Hammarskjöld 1954
gehalten hatte - und zwar über den
Wert des Wissens für den Menschen.
Hammarskjöld hat dabei den Mut
und die Demut angesprochen, die
in der Begegnung mit Wissen notwendig sind, um allen Änderungen,
die wir vornehmen, einen schöpferischen Charakter geben zu können. Im Europahaus geht es um die
Begegnung mit Kunst, mit Texten,
mit Menschen über eine immer offene
und manchmal waghalsige Einladungskultur, die man sicherlich diskutieren und zu Recht kritisieren
kann. Mit kundenorientierter Herstellung, zielgruppengerechter Aufbereitung, lernzielgesteuerter Didaktisierung, klientelfokussierter
Betreuung uäm. wird sie aber auch
weiterhin nichts zu tun haben.
Diese Zeichnung stammt von
Eduardo Chilida, einem baskischen Künstler, der in Deutschland berühmt geworden ist. Er hat
mit dieser Zeichnung der Idee der
Handlichkeit Ausdruck gegeben.
Die Hand kann in einem gegebenen Raum einen Innenraum bilden
und bewahren. Nicht der Inhalt, die
Form ist wesentlich. Hier ist sie offen
nach oben, um etwas zu empfangen,
und zu den Seiten hin, um den Austausch zwischen innen und außen
zu ermöglichen. Trotz aller Offenheit gibt es ein Innen und Außen: ein
Außen, das unendlich ist; ein Innen,
das in diesem Unendlichen trägt und
warm hält.
Für mich war die Gemeinschaft
der Mitglieder und Partner des
Europahauses eine handliche Welt,
die mir den Schutz, die Wärme und
die Offenheit gegeben hat, aus der
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Verwahrlosung der öffentlichen Bildungsfinanzierung insgesamt zu achten. In Österreich geht es im Grunde
nur mehr um Parteienfinanzierung.
In der politischen Bildung verlangt man gerne konstruktives Verhalten zu allem und jedem, man lehrt
die Kunst der pädagogischen Hinführung zu noch so monströsen und destruktiven Phänomenen. Die Kunst der
Apagogik, des Wegführens, Anhaltens, Umgehens, Nicht-Mitmachens,
Innehaltens ist so gut wie verschwunden, verschüttet. Erlauben wir uns
wenigstens, nicht konstruktiv zum
Destruktiven zu sein, vielmehr in
einer Handlichkeit zu verweilen, die
wir selber bilden.
heraus zu arbeiten ein großes Privileg ist, wie ich sehr wohl weiß - und
wofür ich euch sehr dankbar bin.
Dass in all der Zeit von 24 Jahren
diese Hand nie zur beliebig platten
Oberfläche wurde und sich nie zur
Faust verkrampft hat, ist eine große
menschliche Leistung dieser Gemeinschaft gewesen - und ich hoffe, dass
auch die neue Führung des Europahauses in einer solchen Handlichkeit geborgen sein wird. Wir können
insbesondere Edith Axmann dankbar sein für den unerschütterlichen
Halt, den sie über die vielen Jahre
als Vorsitzende des Europahauses
mir und dieser Gemeinschaft gegeben hat und zu unserem Glück weiterhin geben wird.
Den werden wir auch weiter und
gerade in den kommenden Jahren
brauchen. Denn wir wollen weiter
gehen, nicht zurück! Alte Konstellationen und Rückblicke können eine
Orientierung sein (und Stoff für Sentimentalitäten), nicht aber das Ziel.
Sie können uns helfen, gegenwärtig,
also wachsam zu sein. Und eine destruktive Landespolitik ist wie jede
destruktive Kraft als Gefahr ernst zu
nehmen, mehr noch ist aber auf die
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Einstein wurde einmal gefragt,
was die wichtigste Frage auf der
Welt ist? Sie lautet, so meinte er:
„Ist das Universum ein freundlicher
Ort oder nicht?“ Die Frage ist nach
wie vor nicht beantwortet, aber wir
haben es in der Hand, im unendlichen Universum einen freundlichen
Ort zu formen.
Das Europahaus wird sich wieder
einmal umarbeiten müssen. Wenn
wir es schaffen, weiter zu kommen statt zurückzufallen, kann das
50-Jahr-Jubiläum im nächsten Jahr
ein spannendes Ereignis und spannendes Ergebnis werden. Prozesse
der eigenen Umarbeitung, so wusste
schon Heraklit 500 v. Chr., bauen auf
Sand, wenn sie nicht mit dem bauen,
was einem im Innersten wichtig ist.
Das Innerste aber aufzufinden und
darzustellen braucht immer eine
eigene Sprache, das Innerste findet
man nur auf dem Poetischen Kontinent. Den zu erreichen, sind wir
unterwegs.
Der Bericht wurde von der
Generalversammlung einstimmig angenommen.
Zeichnung von Eduardo Chilida,
baskischer Künstler.
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BodenBildung
Wie entsteht allgemeiner „Bildungshumus“?
von Franz Tutzer
Immer wenn ein gesellschaftliches Problem, sei es
im Bereich der Umwelt, der Gesundheit, in den letzten Jahren verstärkt im Bereich der Ökonomie, ins
Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit tritt,
aus einer echten Notwendigkeit heraus oder auch
nur medial gesteuert und inszeniert, ergeht bald
der Ruf nach einer dementsprechenden pädagogischen Aufgabe an Schulen und Einrichtungen der
Erwachsenenbildung.
Umweltpädagogik, Gesundheitserziehung, Verkehrserziehung u. a.
Bindestrichpädagogiken bzw. Erziehungsprogramme der letzten Jahrzehnte sind Ausdruck dafür.
In diesem Sinne haben die Vereinten Nationen die UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung
(2005-2014)“ ausgerufen. Diese internationale Bildungsoffensive setzt
nachhaltige Entwicklung ganz oben
auf die bildungspolitische Agenda,
damit dieses globale Leitbild auch
in Kindergärten, Schulen und Universitäten umgesetzt und so über
die Bildungseinrichtungen auch ins
gesellschaftliche Denken und Handeln einmündet.
Bei aller Bedeutung, die solchen
Programmen auch zukommen mag,
bleibt der Zweifel berechtigt, ob Bildung das Ergebnis eines zweckrationalen Vorgangs sein kann, ob Bildung überhaupt „vermittelt“ oder
über „Maßnahmen“ erreicht werden kann oder ob Bildung so wie
Erziehung nicht vielmehr eher
als „Nebenprodukt“, als mögliche
Folge eines sorgfältig bedachten
Umgangs, einer bewussten Auseinandersetzung mit - verkürzt ausgedrückt - „Sachen“ und Personen zu
verstehen ist. Seit Humboldt meint
Bildung im Wesentlichen ein „SichBilden“ der Persönlichkeit. Bildung
ist so verstanden also nicht ein auf
ein bestimmtes „Ziel“ hin fertig abgepacktes Produkt, das die Schule oder
eine andere Institution vermitteln
könnte, sondern ist stark verknüpft
mit eigener Aktivität, Selbstformung
und Selbstständigkeit. „Ausbilden
können uns andere, bilden kann sich
jeder nur selbst“ sagt Peter Bieri,
und „Wenn wir uns bilden, arbeiten
wir daran, etwas zu werden - wir
streben danach, auf eine bestimmte
Art und Weise in der Welt zu sein.“ 1
Ein solches Verständnis von Bildung steht im Hintergrund der folgenden Ausführungen über den
Zusammenhang von Boden und
1 Bieri, Peter: Wie wäre es gebildet zu sein?
Festrede an der Pädagogischen Hochschule in
Bern, 2005
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Nr. 27 – April 2015
Bildung, über mögliche Wechselwirkungen zwischen Boden und Bildung
und über einige Aufmerksamkeitsrichtungen, die sich aus der bewussten Wahrnehmung der Gefährdung
von Böden und der zunehmenden
Bodenlosigkeit im wörtlichen und
übertragenen Sinn ergeben.
Wo stehen wir, warum sollten
wir überhaupt über Boden und
Bildung nachdenken?
Wir können ohne Übertreibung
eine allgemeine „Bodenvergessenheit“ feststellen:
•Böden werden in der Regel als
einfach vorhanden angesehen,
als etwas Gegebenes, als Natur,
über die man nicht nachzudenken braucht. Vielleicht sollten
wir statt von „Vergessenheit“
sogar von einer Art „Bodenverdrängung“ sprechen, da Böden
immer stärker unserer bewussten Wahrnehmung entzogen werden und weil sie kaum mehr als
die Grundlage für die Erzeugung
der Lebensmittel verstanden und
wahrgenommen werden.
•Böden kommen erst dann ins
öffentliche Bewusstsein, wenn
zu bestimmten Anlässen Zahlen über zunehmende Verbauung und Versiegelung von Böden
bekannt werden, wenn aufwändige Sanierungen von Bodenverseuchungen notwendig werden,
wenn Erosionsschäden negative
Auswirkungen erkennen lassen
oder ein Hang abrutscht, wenn
eine Gefährdung des Trinkwassers droht oder durch das „land
grabbing“ große Teile Afrikas in
die Hände ausländischer Investoren fallen. Dies auch nur dann,
wenn die mediale Aufmerksamkeit dafür groß genug ist.
•Bodenwissen ist kaum vorhanden,
wer kennt beispielsweise Bodennamen und Bodentypen wie Rendsina, Braunerde, Podsol, Gley,
Löss, wer kann mit Begriffen
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wie Bodengare, Krümelstruktur,
Bodenprofil, Dauerhumus, Tonminerale etc. noch etwas anfangen? 2
•Böden werden nur mehr als Produktionsfaktor wahrgenommen.
•Der Begriff der „Bodenfruchtbarkeit“ spielt in weiten Teilen des
öffentlichen Bewusstseins kaum
eine Rolle mehr, da die Produktion
von Nahrungsmitteln – zumindest
in den Gesellschaften des Nordens
- als selbstverständlich angesehen
wird und in der Hauptsache ja
auch als chemisch-technisch steuerbar gedacht wird. Die Mühe und
die Künste, die in den verschiedenen geschichtlichen Epochen und
den vielfältigen Agrarkulturen
mit dem Erhalt der Bodenfruchtbarkeit zu tun hatten (Brache,
Bodenbearbeitung, Einbringung
von Mist, Verhinderung von Erosion u.a.) sind ziemlich vergessen.
•Wir kommen eigentlich nicht mehr
in Kontakt mit dem Boden. Böden
und Erde werden als „Dreck“
wahrgenommen, den es zu vermeiden bzw. schnell zu beseitigen gilt.
•Dass Böden mit Kultur, mit Religion, mit Spiritualität zu tun
haben könnten, ist völlig vergessen. Dass Böden nicht nur eine
ökonomische oder ökologische
Dimension haben können, ist uns
inzwischen fremd. Dass Humus
und humanus zur selben Wortfamilie gehören, ist nur mehr ferne
Erinnerung.
Boden und Bildung in
der Schule
Kann die Beschäftigung mit
dem Thema „Boden“ ein geeigneter Anlass für Bildung sein? Wie
kann aus der Auseinandersetzung
mit den naturwissenschaftlichen,
2 Vgl. dazu: Bodenlos. Zum nachhaltigen Umgang
mit Böden. Politische Ökologie Nov./Dez. 97. Die
Autoren der Beiträge wurden eingeladen, den
Boden, auf dem sie arbeiten oder leben, kurz zu
beschreiben.
12
Forum Europahaus Burgenland
landwirtschaftlichen, ökologischen
und auch politischen Dimensionen des Themas „Boden“ Orientierung erwachsen für die Bildung der
inneren Kräfte, für eine Orientierung im Denken und in der eigenen
Lebenspraxis? Diese Fragen stehen
in der Tradition einer langen Auseinandersetzung um den Bildungswert
eines naturwissenschaftlich-technischen Unterrichts. Immer wieder neu wurde dieses Thema in der
Geschichte der Pädagogik aufgegriffen: Spencer, Kerschensteiner und
Wagenschein seien hier nur stellvertretend genannt für die Bemühungen, den naturwissenschaftlichen
Fachbereichen einen eigenständigen
Bildungswert zuzusprechen und diesen besonders auch gegenüber einem
Bildungsverständnis zu betonen, das
sich traditionell eher aus den Bereichen Sprache, Kunst und Geschichte
speiste.
„Bildung“ – bemerkte einmal
Ernst Ulrich von Weizsäcker – „das
bedeutet Bewusstsein, Urteilskraft,
zwischenmenschliche Fähigkeiten
und technisches Wissen“ 3 und knüpft
damit an das eingangs erwähnte Bildungsverständnis an.
Exemplarisch sollen diese bildungsrelevanten Dimensionen zum
Thema Boden im Kontext landwirtschaftlicher Bildungseinrichtungen
verdeutlicht werden. Dies vor dem
Hintergrund, dass landwirtschaftliche Schulen ja die Beschäftigung
mit dem Boden in ihrem Curriculum
als einen Schwerpunkt vorsehen und
dass die Auseinandersetzung mit
bodenbezogenen Fragestellungen
in der landwirtschaftlichen Praxis
also ein fester Bestandteil der Ausbildung ist. Aber – in Anlehnung
an die Unterscheidung zwischen
Ausbildung und Bildung von Peter
Bieri – verknüpft mit der Überlegung, dass es mit Ausbildung allein
hier nicht getan ist, sondern dass es
3 Grußwort von E. U. von Weizsäcker in: Herz,
Seybold, Strobl (Hrsg.): Bildung für nachhaltige
Entwicklung, Opladen 2001
auch darum geht, aus der Beschäftigung mit dem Thema Boden geeignete Anlässe für Bildung zu schaffen.
Vielleicht gehen ja „bodengebildete“
Fachleute anders mit dem Boden um
als nur „ausgebildete“.
Einige Hinweise zu den angesprochenen Bildungsdimensionen:
Bewusstsein
Das bewusste Wahrnehmen der
Wirklichkeit, so wie sie sich durch
den Blick aus den verschiedenen
„Fachfenstern“ zeigt, ist eine entscheidende Leistung der Lernenden. Dazu gehört das Verstehen der
geschichtlichen Gewordenheit der
Böden, ein Gespür für die existentielle Bedeutung der Böden für das
Leben auf der Erde, eine Wahrnehmung ihrer Verschiedenheit, auch
ihrer Schönheit, ein Verständnis für
naturwissenschaftliche, ökologische
und ökonomische Zusammenhänge
oder das Bewusstsein für die heute
wirksamen Gefährdungsprozesse.
Dazu gehört auch das Bewusstsein,
dass unser Wissen vom Boden fragmentarisch ist, dass vieles trotz der
wichtigen Erkenntnisse der Geologie, der Bodenbildungsprozesse, der
Bodenchemie und Bodenbiologie im
Dunkeln bleibt und dass wir weit
davon entfernt sind, die im Boden
vor sich gehenden Prozesse biologischer oder chemischer Natur vollständig zu verstehen oder sogar „ in
den Griff“ zu bekommen.
Urteilskraft
Die Befähigung junger Menschen,
sich zu strittigen Sachverhalten in
den verschiedensten Bereichen ein
begründetes Urteil zu bilden und
die Befähigung zu werten sind wohl
entscheidende Kennzeichen von Bildung. In unserem Zusammenhang:
Wie wirken sich technische Entscheidungen in der Landwirtschaft längerfristig in ökologischer Hinsicht
auf die Böden aus? Was bedeutet
es, wenn Böden nur mehr als Nährstoffspeicher gesehen werden, die
durch einfache chemische Eingriffe,
weltgewissen
Nr. 27 – April 2015
sprich Düngemaßnahmen, steuerbar sein sollen? Sind bestimmte
technisch machbare Entwicklungen
auch ethisch vertretbar? Solche und
ähnliche Fragen zeigen, dass zum
technischen Wissen und Können
noch eine andere Dimension hinzukommen muss, damit sie sich nicht
verselbstständigen.
Wissen
Die Vermittlung von Kenntnissen,
fachlichem Wissen und grundlegenden Fertigkeiten ist nach wie vor
unbestrittener Auftrag von schulischem Unterricht. Damit diese
Vermittlung aber bildungswirksam werden kann, müssen mehrere Rahmenbedingungen zum
Tragen kommen: die Sachinhalte
müssen in ihrem Umfang begrenzt
sein, sie müssen strukturiert und in
ihrem Zusammenhang untereinander erkennbar sein. Und sie müssen
bedeutsam sein. Fachliches Wissen
ist dabei ebenso unerlässlich wie
handlungspraktische Kompetenz.
Da Bildung wesentlich das Ergebnis
eigenständiger Aktivitäten der Lernenden ist, kommt es gerade auch
auf der Ebene des Wissens darauf
an, im Unterricht Zugangsweisen
zu suchen, die bei den bereits vorhandenen Interessen, Kenntnissen
und Fertigkeiten der Lernenden
anknüpfen.
Wie kann eine Schule diesem
Anspruch gerecht werden?
Welche Instrumente lassen sich im
Werkzeugkasten einer landwirtschaftlichen Bildungseinrichtung
finden, die im oben beschriebenen Sinne Anlässe, Kristallisationspunkte und Impulsgeber für
Bildung sein können? Ich werde
versuchen, einige wenige Instrumente und Voraussetzungen
zu beschreiben, die m. E. für das
Gelingen einer persönlichkeitsstärkenden und fachlich qualifizierenden Bildung wesentlich sind.
•Inhalte
Der fachsystematische Unterricht kann für sich auch durchaus
pannonisch | europäisch | kosmopolitisch
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bereits starke bildungswirksame Elemente beinhalten: Im
Sinne von Kerschensteiner ist es
die Widerständigkeit der Dinge
selbst – im Kontext unseres Themas „Boden“ beispielsweise die
naturwissenschaftlichen Grundlagen, Entstehungsprozesse, ökologische Zusammenhänge, die
konkrete Auseinandersetzung
mit den verschiedenen Bodentypen – die einen Bildungswert in
der Hinführung zur genauen Beobachtung und zur systematischen
Überprüfung und Beurteilung des
Beobachteten bereithält. Darüber hinaus bietet der Themenkomplex „Boden“ vielfältige Möglichkeiten, einzelne Sachverhalte aus
unterschiedlichen Blickpunkten
heraus zu bearbeiten. Boden lässt
sich nicht auf seine Funktion als
Standort für die landwirtschaftliche Produktion reduzieren, sondern hat genauso eine ökologische,
eine soziale, eine ökonomische
und kulturelle Dimension. Und
gerade der kulturelle Aspekt bietet eine Fülle von Möglichkeiten
der Zusammenarbeit auch mit den
allgemeinbildenden Fächern, wie
z. B. mit Geschichte, Religion oder
den Sprachfächern. Aus dieser
„agrikulturellen“ Perspektive heraus wird ein fächerübergreifendes
Herangehen geradezu zwingend
notwendig. Alle oben beschriebenen bildungsrelevanten Dimensionen können auf dieser Ebene
wirksam werden.
•Lernwege
Lernen erfolgt über die Auseinandersetzung mit Inhalten. Die
Differenzierung und Erweiterung der Wege und Methoden des
Lernens werden jedoch zunehmend als wichtig erachtet, um
den unterschiedlichen Begabungen und Fähigkeiten der Lernenden gerecht zu werden. Auch die
inhaltliche und sachbezogene Auseinandersetzung mit dem Themenfeld „Boden“ verlangt bereits von
der Sache her nach angemessenen
14
Forum Europahaus Burgenland
Lern- und Arbeitsformen. Das
Ernstnehmen der Mehrdimensionalität beim Thema Boden
erzwingt geradezu ein fächerübergreifendes Vorgehen. Im Kontext
von Bildung soll noch auf einen
besonderen und für eine landwirtschaftliche Schule wesentlichen
methodischen Weg hingewiesen
werden: das praktische Lernen.
Lernen in und an der Landwirtschaft ist notwendigerweise auch
praktisches Lernen. Praktisches
Lernen darf allerdings nicht nur
Lernen am Modell sein, sondern
muss auch Ernstcharakter- nicht
zuletzt auch über Lernmöglichkeiten außerhalb des schulischen
Bereichs haben, um den Schüler/
innen Freude am Tätig­sein und an
erbrachter Leistung zu ermöglichen, Verantwortungsbewusstsein
einzuüben und auch das ästhetische Empfinden durch den direkten, mit allen Sinnen erfahrbaren
Umgang mit der Natur, in unserem Kontext mit dem Boden einzuüben. Es ist auch eine Einübung
ins Staunen, eine Anregung zur
Aufmerksamkeit, ein nur bruchstückhaftes Verstehen, eine nicht
völlig aufzulösende Mehrdeutigkeit, eine Anerkennung der „rätselhaften Sinnlichkeit“ (Ivan
Illich) der Böden.
•Sprache
Die Bedeutung von Sprachfähigkeit und Sprachbewusstsein für
das Lernen in allen Fachbereichen ist unbestritten. Fachkompetenz ist zum Teil immer auch
Sprachkompetenz.
In Bezug auf die Bildungswirksamkeit von Sprache geht es aber
noch um mehr: Nur über die Sprache ist eine geistige Erschließung
der Welt möglich. Das bedeutet auch,
dass jede Sprache dem jungen Menschen eine bestimmte Welt eröffnet und mögliche andere verbirgt
oder verschließt. Für eine landwirtschaftliche Schule eröffnet sich hier
ein weites Feld des Nachdenkens:
Genügt die naturwissenschaftlich-,
ökonomisch- und technisch geprägte
Fachsprache, um dem Heranwachsenden als „Organ des Denkens“ zu
dienen und möglichst viele „Welten“
zu erschließen? Wie wirkt sich die
verwendete Sprache auf unser Verständnis von Boden und ganz allgemein von bäuerlicher Tätigkeit aus?
Ist die Sprache an der Umgestaltung der Böden in ein Nährstoffreservoir, das es nur nachzufüllen gilt,
beteiligt?
„Die abstrakte Sprache macht die
Welt planbar, planiert sie gleichsam, macht sie dem Umgang mit
dem Reißbrett zugänglich. Sie schafft
weltgewissen
Nr. 27 – April 2015
einheitliche übersichtliche Räume,
denn sie sieht ab vom sinnlich Konkreten, von der krautigen Vielfalt,
den individuellen Unebenheiten, und
richtet den Blick auf das, was, wenn
man von allen besonderen Beschaffenheiten absieht, übrig bleibt. Sie ist
im genauen Sinne des Wortes rücksichtslos. Und eben dadurch schließt
sie die Welt für die Verwertung auf“,
mahnte Uwe Pörksen.4
BodenBildung kann nicht auf
die Schule beschränkt bleiben
oder Wie entsteht allgemeiner
„Bildungshumus“?
Ich verlasse den Raum der
Schule. „BodenUnbildung“
ist nicht über die Schule zu
lösen. „Bodenlosigkeit“ und
„BodenUnbildung“ sind ein im
höchsten Grad gesellschaftliches
Phänomen und können nicht
einfach als pädagogische Aufgabe
nur den Schulen zugeteilt werden.
Welche Felder, welche Lernfelder in der Landwirtschaft und ganz
allgemein in der Gesellschaft sind
geeignet, um eine besondere Aufmerksamkeit, ein besonderes Hinsehen, ein neues Nachdenken zum
Boden in ökologischer, sozialer, kultureller Hinsicht wachsen und heranreifen zu lassen? Welche Aufmerksamkeitsrichtungen sollten
besonders gefördert werden, um
BodenBildung im Sinne von Wissen,
Bewusstsein, Urteilskraft zu ermöglichen oder sogar anzuregen?
Eine erste Aufmerksamkeitsrichtung: Die Landwirtschaft
muss die zentrale Bedeutung
des Bodens wiederentdecken
und öffentlich machen.
Es ist eigenartig: Die Bedeutung
des landwirtschaftlichen Bodens
wird in allen Lehrbüchern betont.
Der Boden steht üblicherweise
auch als Anfangskapitel in den
pflanzenbaulichen Lehr- und
Handbüchern. Die fast mystische
4 Pörksen, Uwe: Plastikwörter, Stuttgart 1988
pannonisch | europäisch | kosmopolitisch
15
Überformung, nicht nur in der
„Blut und Boden“-Propaganda
der Nationalsozialisten, ist
einer durchaus nüchternen,
naturwissenschaftlichen und
in der Hauptsache chemischphysikalischen Darstellung
gewichen, aber die Böden bilden
immer noch die Grundlage jeder
pflanzenbaulichen Lehre.
Die landwirtschaftliche Praxis
ist allerdings einen anderen Weg
gegangen. Mit dem Aufkommen der
synthetischen Düngemittel wurde
der Boden zusehends als Nährstoffreservoir verstanden, dem man die
durch Ernte entzogenen Nährstoffe
einfach wieder durch genau berechnete Düngergaben ersetzen konnte.
Dazu kam eine rasante Entwicklung
der Landmaschinentechnik für die
Bodenbearbeitung. 5
Hier tut sich ein großes Feld für
die Bauern, für landwirtschaftliche
Organisationen, Beratungseinrichtungen und Vermarktungseinrichtungen auf, ihre Aufmerksamkeit in
ihrer täglichen Praxis auf die Bedeutung des Bodens zu richten. Wenn
dies nicht nur als Marketingstrategie eingesetzt wird, sondern als ehrliches Bemühen, einen neuen Umgang
mit den Böden einzuüben, wird dies
auch der Öffentlichkeit sichtbar werden. Es gilt, den Zusammenhang
zwischen dem jeweils besonderen
Boden, dem pfleglichen Umgang mit
diesem und der besonderen Qualität, dem besonderen Geschmack des
eben dort gewachsenen Lebensmittels stärker zu betonen. Ein schwieriges Unterfangen, wenn doch viele
Lebensmittel eher auf Autobahnen
oder Containerschiffen heranreifen
als auf fruchtbaren Böden. Trotzdem: Die zunehmende Bedeutung,
die der Regionalität als Qualitätskriterium für Lebensmittel zukommt,
lassen ein Umdenken in der Gesellschaft erkennen.
5 Vgl. dazu: Uekötter, Frank: Die Wahrheit ist auf
dem Felde. Eine Wissensgeschichte der deutschen
Landwirtschaft, Göttingen 2010
16
Forum Europahaus Burgenland
Eine zweite Aufmerksamkeitsrichtung: Boden und Kunst
„Ist die Sprache der Natur stumm,
so trachtet Kunst, das Stumme zum
Sprechen zu bringen“, sagte Theodor
Adorno. Kunst könnte in unserem
Zusammenhang auch den Böden,
die im öffentlichen Bewusstsein in
Vergessenheit geraten sind, Gehör
verschaffen. Und wie es Manuel
Schneider in einem Beitrag zu den
Terragrafien von Ekkeland Götze
ausgedrückt hat: „So könnte das
durch die Kunst geweckte ästhetische Feingefühl für die Natur den
Sinn für die Eigenwertigkeit von
Natur wecken, den Boden dafür
bereiten, eine Haltung den Dingen gegenüber einzunehmen, die
uns zunächst ungewohnt erscheint:
etwas auch ohne Absicht auf Nutzen
wertzuschätzen und in seiner Eigenart wahrzunehmen und zu achten.“ 6
Eine dritte Aufmerksamkeitsrichtung geht zur Bodenvergessenheit, Bodenverdrängung, ja
Bodenlosigkeit in einem übertragenen Sinne.
Franz Tutzer, geb. 1953 in
Bozen/Südtirol, Studium der Agrarwissenschaften in Wien, seit 1985
Direktor an der Fachoberschule
für Landwirtschaft in Auer/Südtirol
(www.ofl-auer.it).
Kontakt:
[email protected]
Die zunehmende Virtualisierung
vieler Bereiche unseres Lebens, der
Verlust der sinnlichen Wahrnehmung des Bodens unter den Füßen,
der Zwang zur Mobilität, der die Orte
unzugänglich macht, die weit fortgeschrittene Entkoppelung von Lebensmitteln und den Orten ihrer Erzeugung, auch soziale Entwurzelung im
Sinne eines Verlusts von Gemeinschaft und gegenseitiger Verlässlichkeit machen Bodenlosigkeit gewissermaßen zu einer Signatur unserer Zeit.
Ivan Illich hat 1990 gemeinsam
mit einigen Freunden eine „Declaration on soil“ verfasst. Sie rufen in
dieser Erklärung zu einer Philosophie des Bodens auf: „ Die im ökologischen Diskurs über den Planeten Erde enthüllten Tatsachen des
globalen, überall wütenden Hungers
und anderer Lebensbedrohungen,
die niemanden verschonen, nötigen zur Einsicht, wie sehr wir heute
den Boden unter den Füßen verlieren. Dies zwingt zur Aufgabe des
Hochmuts, die Probleme der Erde in
„planetarische Perspektiven“ erfassen und lösen zu wollen. Anstelle
„allumfassende“ (globale) Lösungen
anzustreben, ist es nötig, vorerst
einmal die Augen bescheiden niederzuschlagen, und als Fragwürdigwerdende den Blick aufs Zunächstliegende, auf das Erdreich zu werfen,
auf dem wir stehen. Wir müssen die
Erde unter den Füßen spüren und
nicht bloß auf einem Planeten stehen. …“ Und die Erklärung schließt
mit den Worten: „… Wir rufen zu
einer Philosophie des Erdbodens
auf, zu einer klaren, disziplinierten Analyse jener Erfahrungen und
Überlieferungen über den Boden,
ohne die weder jene Sittenkraft noch
irgendeine Art von Subsistenz, ein
Verweilen in Grenzen, möglich ist.“
Schluss
„Wenn wir uns bilden, arbeiten wir
daran, etwas zu werden – wir streben
danach, auf eine bestimmte Art und
Weise in der Welt zu sein“, so Peter
Bieri. „BodenBildung“ kann in diesem Sinne auch eine nüchterne Suchbewegung sein, dem Boden unter
unseren Füßen nachzuspüren, ohne
mystisch oder romantisch abzudriften, in Anerkennung jener Grenzen,
ohne die persönliche Verantwortung
nicht gelebt werden kann.
Und: Die Wahrnehmung der Welt,
wie sie ist, der Wirklichkeit in ihrer
Vielschichtigkeit ist eine entscheidende Gelingensvoraussetzung für
Bildung. Das bedeutet auch, dass wir
uns der Wirklichkeit zuwenden müssen. Dazu benötigen wir alle unsere
Sinne. Auch in unserem Zusammenhang der „Bodenbildung“ heißt das:
Wir müssen bei Sinnen bleiben.
6 Schneider, Manuel: Farben der Zeit, in: Politische Ökologie, Nov./Dez. 1997
weltgewissen
Nr. 27 – April 2015
17
Vom Verlebendigen der Böden und des Geistes
22. - 24. April 2015, im Burgenland
Seminar des Europahauses Burgenland in Kooperation mit den Bibliotheken Burgenland
begleitet von Dr. Hildegard Kurt
Böden sind wichtiger als Nationen. Und der Geist
ist es erst recht. Etwas davon vermittelt die einstige
Weltsprache Latein, indem »Humus« und »human«
dieselbe Wortwurzel teilen.
Heute sind die Böden weltweit von Erosion bedroht
und zunehmend erschöpft. Oder sie sind, wie vielerorts in Pannonien, kontaminiert – durch kriegerische Konflikte in der Vergangenheit, aber ebenso
durch die Agrarindustrie und andere industriemoderne Vernutzungen. Auch der Geist, ohne den es
keine Humanität gibt, scheint in vielfacher Weise
bedroht, erschöpft, kontaminiert. Ob in den Gärten,
Feldern und Landschaften oder in den Bibliotheken:
Im Blick auf eine Zukunft mit Zukunft gilt es, von
ganz unten anzusetzen.
Die Vereinten Nationen haben das Jahr 2015 zum
Internationalen Jahr der Böden erklärt. Auf den Internationalen Tag der Erde alljährlich am 22. April folgt
am 23. April der Welttag des Buches. Vor diesem Hintergrund laden wir Menschen, die bewusst mit Böden
und Büchern arbeiten, zu einem Seminar ein, das eine
besondere Form des gemeinsamen Denkens im Dialog
mit Elementen der Natur und des Geistes praktiziert.
Auf der Grundlage eines erweiterten Verständnisses von Kunst vermittelt das Seminar eine Reihe von
kreativen Methoden, die helfen, Verhärtetes aufzulockern und Verdorbenes so durchzuarbeiten, dass
Wandel möglich wird; die mithin helfen, sowohl
Böden als auch den Geist neu zu verlebendigen.
Inwiefern ist der Schutz von Böden und ihre Wiederbelebung an ein Verlebendigen und Kultivieren unserer humana geknüpft? Worin besteht jene »Kultur des
inneren Menschen«, die, so einst Ernst F. Schumacher,
Ökonom und Präsident der britischen Soil Association,
unverzichtbar sei, weil sonst Selbstsucht die dominierende gesellschaftliche Kraft werde? Inwiefern kann
gerade die Auseinandersetzung mit Böden helfen,
bewusste, lernende Gemeinschaften herauszubilden?
Diese Fragen laden in ein tiefes, offenes Reflektieren
ein. Vielleicht können sie das Feld, das wir als Mitwirkende im Seminar gemeinsam bilden und worauf
wir einander begegnen, schon ein wenig aktivieren.
pannonisch | europäisch | kosmopolitisch
Wie in vorangehenden Aktivitäten des Europahauses
Burgenland mit Hildegard Kurt ist die Einladung, in
der eigenen Region gemeinsam Wege hin zu einem
kosmopolitischen Bewusstsein und zu einer ökologischen Humanität zu erkunden, ernst gemeint. Daher
kann es bei diesem Seminar kein durchgehend im Voraus festgelegtes Programm geben.
Stattdessen werden wir nach einigen einführenden
Impulsen und Prozessen ab der zweiten Hälfte des
zentralen Arbeitstages miteinander erkunden, was
es braucht, um die Zusammenkunft wirklich fruchtbar werden zu lassen.
Wegweisend hierbei kann ein so bescheidenes Wesen
wie der Regenwurm sein: Sich unermüdlich bewegend,
öffnet er den Boden, führt ihm neu Luft zu, was dessen
Fruchtbarkeit nährt. Das griechische pneuma bedeutet »Luft«, »Wind«, »Atem«, aber zugleich auch »Geist«!
So war denn auch »Bodenwürmer und Bücherwürmer – Durchlüfter des pannonischen Geisteslebens«
der Titel, mit dem wir uns diesem Seminar anfangs
angenähert haben.
Zur Teilnahme eingeladen sind alle, denen Böden und
Bücher, das pannonische Geistesleben und das Mitgestalten einer Zukunft mit Zukunft am Herzen liegen.
Zugunsten eines intensiven Arbeitens ist die Zahl der
Teilnehmenden auf max. 16 Personen begrenzt. Wer
mitwirken möchte, möge es bitte ermöglichen, von
Anfang bis Ende dabei zu sein.
Vielleicht wird aus diesem Miteinander eine neuartige gemeinsame Initiative entstehen.
Dr. Hildegard Kurt ist Kulturwissenschaftlerin, Autorin und Mitbegründerin des »und.Institut für Kunst,
Kultur und Zukunftsfähigkeit e.V.« (und.Institut)
in Berlin. In Seminaren und Werkstätten verbindet
sie das seit Joseph Beuys erweiterte Verständnis von
Kunst – »jeder Mensch ist ein Künstler« – mit Fragen
der Gestaltung einer zukunftsfähigen Zivilisation.
www.hildegard-kurt.de und www.und-institut.de
18
Forum Europahaus Burgenland
Globales Lernen –
Orientierungssuche statt Navi.
Eine Erzählung - Ein Bildungsweg durch
sechs Jahrzehnte
Als Schüler erfuhr ich eine sehr autoritäre Erziehung. Die Professoren im Gymnasium trugen graue
und weiße Mäntel und unterrichteten von einem
erhöhten Katheder herunter, der ihre Bedeutung
noch unterstreichen sollte.
von Helmuth Hartmeyer
Fingernägelkontrollen, Eintragungen ins Klassenbuch, Vorladungen an die Eltern dienten der nachdrücklichen Disziplinierung der
Bubenschar. Prüfungen bestanden
aus der Wiedergabe von Angelerntem: der Nürnberger Trichter und
das was Paulo Freire das Bankierskonzept nannte galten als Erfolgskonzepte. Ich bezeichne es heute als
Bulimiepädagogik: zuerst Lernstoff
hineinstopfen und am Prüfungstag
herauskotzen. Im guten Fall: danach
vergessen.
den Zugang zu Henry Miller, James
Joyce oder Samuel Beckett – Literatur über österreichische Biedermeierlichkeit hinaus. Das Studium
der Geschichte rückte das politische
Engagement in seinen historischen
Kontext. Gerechtigkeit wurde zu meinem politischen Kernanliegen. Wirtschafts- und Sozialgeschichte interessierten mich besonders; sie waren in
meinem Jahrzehnt davor noch keine
Zugänge gewesen. Pädagogik fand
aber trotz Lehramtsstudium nur am
Rande statt.
Ich habe 1968 maturiert, ein Jahr,
das fast mythisch in die politische
Chronik einging. Mit Erinnerungen
an Proteste gegen den Staub aus
1000 Jahren in den Talaren, Demos
gegen den Schah in Persien und die
USA in Vietnam. Lernen verlagerte
sich auf die Straße. Die auf lokalen
Stolz auf eine Wiener Vorstadtschule
zusammengestutzten Inhalte wurden
erstmals zu internationalen. Und wir
sangen sie, die Internationale. Texte
der Rolling Stones und anderer Epigonen aufmüpfiger Rock- und Folkmusik bewogen mich Englisch zu
studieren. Dies eröffnete mir auch
Sie nahm im nun folgenden Jahrzehnt einen zentralen Raum ein.
Als Lehrer an einer Schule, die den
Aufbruch aus erstarrten Lehr- und
Lernformen erfahrbar machte. Ich
durfte fortschrittliche Schulleitungen erleben, die den Projektunterricht förderten. Es gab die (zumindest gelegentliche) Aufhebung von
Klassenverbänden und 50 MinutenTakten. Dies ließ mich Bildung als
didaktische Befreiung erleben und
in ihr aufgehen. Thematisch rückten wir die Anliegen der Friedensbewegung (im Antlitz des Ost-WestKonfliktes), der Umweltbewegung
weltgewissen
Nr. 27 – April 2015
(mit dem Atomkraftwerk in Zwentendorf als Kristallisationspunkt) und
der Solidaritätsbewegung (etwa mit
einem größeren Polisario-Projekt) in
den Mittelpunkt. Eine nachholende
Entwicklung, denn für Dag Hammarskjöld, den diese Tagung, aber
auch ein Wiener Gemeindebau an der
Oberen Alten Donau würdigt, waren
die Umweltfrage, die nukleare Bedrohung und die Entkolonialisierung
Afrikas schon in den 1950er Jahren
Leitanliegen gewesen. Wir begannen
global zu lernen, auch wenn wir noch
kein Wort dafür hatten.
Die 1980er Jahre führten mich in
die Welt der entwicklungspolitischen
NGOs. Mich bewegten die Möglichkeiten zu engagierter systemkritischer Bildungsarbeit, ausgedrückt
durch eine Analyse über die 3. Welt
im Schulbuch, die Beschäftigung
mit Paulo Freire, erste Lehrgänge
zur Entwicklungspolitik, die Gestaltung von Aktionen und Kampagnen.
Doch was verstanden wir unter entwicklungspolitischer Bildung? Es
ging darum, über Aufklärung und
die Veränderung der Strukturen bei
uns zu lebenswürdigeren Verhältnissen in den Entwicklungsländern
beizutragen.
In den 1990er Jahren wurde der
Begriff des Globalen Lernens ein
immer wichtigerer – in der Schweiz,
in Deutschland, auch in Österreich.
Im angelsächsischen Raum gab
es ihn als Global Education schon
einige Zeit davor. Der Europarat
machte das Konzept mit Gründung
seines Nord-Süd Zentrums in Lissabon zu einem Schwerpunkt seiner Bildungsarbeit. Die Maastrichter Erklärung aus 2002 bildete den
Höhepunkt seiner diesbezüglichen
wertvollen Arbeit. Der internationale Diskurs zum Globalen Lernen,
zu dem Personen wie (der jüngst verstorbene) Alfred Treml, Klaus Seitz,
Annette Scheunpflug, Gregor LangWojtasik, aber auch Doug Bourn,
Liisa Jääskeläinen und Liam Wegimont sehr wichtige Impulse lieferten,
pannonisch | europäisch | kosmopolitisch
19
führte die entwicklungspolitische Bildung aus einer oft aktionistischen
NGO-Perspektive hin zu einer pädagogischen Konzeption. Er machte
sie damit relevant für die Strukturen, die man beeinflussen wollte (wie
Lehrpläne oder Institutionen der
Lehrerbildung).
Im ersten Jahrzehnt des neuen
Jahrtausends wurde der Wechsel von
der entwicklungspolitischen Bildung
hin zum Globalen Lernen vielerorts
vollzogen. Das gängige Entwicklungsparadigma verlor an Strahlkraft. Mit der Gründung von GENE
(Global Education Network Europe)
wurde der internationale Austausch
auf gesamteuropäischer Ebene stark
gefördert, der Beitritt zahlreicher
ehemals kommunistischer Staaten
zur EU erweiterte den Raum. Durch
Peer Reviews zu Global Education
wurden inhaltliche und strukturelle
Stärken und Schwächen in einzelnen
Ländern sichtbar. Modelle der Veränderung (Strategien zum Globalen
Lernen) wurden entwickelt. Lehrplanreformen in der Schweiz oder
Finnland machten Nachhaltigkeit
und Entwicklung zu Kernthemen der
formalen Bildung.
Im nunmehrigen neuen Jahrzehnt bewegt sich die Diskussion in
eine neue Vielfalt. Qualitätsfragen
im Globalen Lernen rückten in den
Mittelpunkt. Einem vielfach handlungstheoretischen Zugang v.a. in
NGO-Programmen wurde ein stärker
systemtheoretischer Zugang gegenübergestellt. Das Bewusstsein, dass
wir in globalisierten Gesellschaften
leben, ist Allgemeingut geworden.
Die Ver-Eine-Welt-lichung bedeutet eine starke Zunahme an individuellen Möglichkeiten (Internet),
aber auch eine beträchtliche Vereinzelung der Menschen: „Lost in
the universe“. Traditionelle Heimaten wie Beziehungen, Familien, Parteien, Gewerkschaften, Kirchen zerfallen. Menschen suchen neu: in der
Ferne (Migration, Reisen), in der
Nähe (Parship boomt), sie finden
20
Forum Europahaus Burgenland
vermeintlich Anschluss über viele
Freunde auf Facebook. Die Sehnsucht nach Zugehörigkeit verführt
manche, sich als Krieger für den Islamischen Staat zu melden. Sie finden
Emotionen, die attraktiv sind und
es ihnen erlauben, ihre Aggressionen auszuleben. Andere wollen dem
ausschließlichen Ruf des Geldes folgen. Weil sie Geiz geil finden und es
sich wert sind. Doch immer gibt es
auch das Andere: das Genügsame,
das „Weltgewissen“, das Solidarische.
nahe legen, über Aufklärung und
Bildungsprogramme eine Veränderung der Verhältnisse herbeiführen
zu wollen. Die häufige Annahme ist,
man müsse nur beim kleinen Kind
mit der „richtigen“ Wissensvermittlung beginnen und schon würden wir
eine nächste Generation von Besserwissenden und mündigen Demokraten erleben. Der Glaube besteht, dass
Fortschritt und das Paradies auf
Erden so unter Garantie produziert
werden können.
Ich habe diese Geschichte der
sechs Jahrzehnte, meine Geschichte
der sechs Jahrzehnte, erzählt, um
mir selbst etwas erklären zu können.
Um zu verstehen, warum ich heute so
denke und handle. Erzählen bedeutet
einen Prozess der Selbsterkenntnis.
Sich bilden und nicht gebildet werden (cit. Gronemeyer). Und sie räumt
die Chance ein zu reflektieren, was
um uns und mit uns geschieht bzw.
wir selbst darin tun.
Bildung sollte jedoch nicht auf
letztgültige Resultate abzielen, nicht
auf den Einsatz von Navis, sondern
ist immer nur ein vorläufiges Ergebnis von pädagogischen Bemühungen; immer nur eine Orientierung.
Auf dieses stete Provisorium hinzuweisen, scheint besonders wichtig in
einer historischen Situation, in der
die Fähigkeit der Menschen zu Verhaltensänderungen mit dem Tempo
des gesellschaftlichen Wandels nicht
mehr Schritt zu halten scheint. Wir
stehen und sitzen vor einem Überangebot an Informationen und Daten.
Eigentlich müsste uns beigebracht
werden, was wir nicht zur Kenntnis zu nehmen brauchen. Mehr als je
zuvor sind wir gefordert, immer wieder und immer wieder neu über das,
was wir wahrnehmen und tun, nachzudenken, unser Handeln und die
ihm zugrunde liegenden Entscheidungen zu überdenken. Die Umwelt
von Menschen kann sich innerhalb
eines Menschenlebens so häufig und
so radikal verändern, dass das gestern Erlernte immer weniger für das
Leben morgen taugt. Wir sind Zeuginnen und Zeugen sowie Teilnehmende einer Entwicklung in eine
Weltgesellschaft. Das ist zugleich faszinierend wie verunsichernd. Je nach
Bildungsstand, Interessenlagen und
persönlicher Geschichte wird dies als
Chance oder als Bedrohung erlebt.
Das einzelne Individuum muss eine
große Orientierungsleistung erbringen. Macht etwa ist nicht immer
lokalisierbar, schon gar nicht immer
Erzählen ist etwas anderes als zu
belehren, erklären ist etwas anderes
als Gefolgschaft zu organisieren. Deshalb will ich mich kritisch mit einigen aktuellen Tendenzen im Globalen Lernen auseinandersetzen und
sie vor dem Spiegel meiner eigenen
pädagogischen Erfahrungen und Einsichten analysieren.
Ja: Weltverbesserung ist ein essenzielles Anliegen. Aber: sie ist nicht
geeignet als Bildungsprogramm.
Globales Lernen beschäftigt sich
inhaltlich mit Negativ-Themen von
eigentlich unvorstellbarem Ausmaß:
Die Zahl der täglich an Hunger sterbenden Menschen, der Opfer von Vertreibung und Flucht, der Raubbau an
den Ressourcen unseres Planeten,
die Zahl der Opfer von Kriegen und
gewaltsamen Konflikten die weithin empfundenen Gräben zwischen
kulturellen Entwürfen, der Kampf
um Arbeit und ein menschenwürdiges Einkommen. Der Zustand in
der Welt kann deshalb den Schluss
weltgewissen
Nr. 27 – April 2015
personalisierbar, umso bedeutender
ist es, Machtstrukturen zu erkennen.
Vor diesem Hintergrund ist der
Anspruch, über Bildungsprogramme
zu einer verbesserten Welt zu kommen, kritisch zu hinterfragen. Es
stellt sich mir die Frage, ob es sich
dabei nicht um den stets wiederkehrenden Versuch handelt, der Zukunft
ihre unsichere Seite zu nehmen, sie
endlich „in den Griff zu bekommen“.
Man soll Bildungsvorhaben jedoch
nicht zuschreiben, ein fertiges Programm zur Bewältigung der Zukunft
zu liefern. Es soll ihnen auch nicht die
Aufgabe „Bewusstseinsveränderung“
aufgebürdet werden, um dadurch den
Menschen und der Welt zu helfen.
Es führt dies zu normativ verordnendem Lehren. Mehr noch, es verkehrt
Bildung und macht sie zum Mittel
für politische oder wirtschaftliche
Absichten. T-Shirts einer österreichischen Bildungs-NGO tragen den
Aufdruck „Ich bin ein Weltverbesserer“. Der Anspruch, über Bildungsprogramme den Weltverbesserungshunger stillen zu wollen, birgt die
Gefahr, dass solche Programme zur
Programmatik werden, dass man
vermeint, das hohe Ziel Zukunftsgestaltung nur durch noch mehr Planung und Effizienz erreichen zu können. Es drohen dabei Empfindungen
und Besinnen, Betrachten und Mitfühlen, Freude und Trauer, Freundsein und Fremdsein verloren zu
gehen. Werden sie dem Götzen der
Zielbesessenheit geopfert? Doch nicht
alle, die die Welt umfahren möchten
- real oder gedanklich - kommen ihr
dadurch näher. Mehr noch: sie fahren sie mit um.
Mittels Globalem Lernen soll vielmehr dem bereits Vorhandenen und
dem Intendierten eine Form gegeben,
Sinn, Entwicklung und Konsequenz
immer wieder neu erfragt werden.
Dies erfordert Zeit und Raum, Muße
und Gelassenheit. Der oft hechelnd
artikulierte Slogan „Es ist so viel zu
tun“ beschleunigt weder Lernprozesse, noch führt er rascher zum Ziel.
pannonisch | europäisch | kosmopolitisch
21
Eine bessere nachhaltigere Welt lässt
sich nicht über Pläne verordnen, sondern es braucht gesellschaftlichen
Dialog und Ringen um Konsens. Dies
alleine legt die pädagogische Latte
schon sehr hoch.
Doch der Glaube, dass Erziehung
und Bildung per se etwas Gutes sind
und folglich zu etwas Gutem führen,
scheint ungebrochen. In seiner aktuellen Global Education First Initiative ist Ban Ki-Moon überzeugt, dass
Bildung die Macht hat „to shape a
sustainable future and better world“.
Er bezeichnet deshalb Bildung als
„smart investment“, jeder investierte
Dollar rechnet sich ihm folgend 10
bis 15fach. Wer in Bildung investiert, schafft Geschlechtergerechtigkeit, Gesundheit, ökonomischen
Wohlstand und ökologische Nachhaltigkeit. Bildung wird die Macht
zugeschrieben Menschen in diese
Richtung zu verändern. Berichte
über Schulalltage in Japan oder Südkorea, das Klassensystem im britischen Schulwesen oder auch das
duale Bildungssystem für Neunjährige in Österreich lehren uns anderes. Es führt in die Sackgasse, die
Grenzen von Bildung nicht anzusprechen, nicht zu sehen wie sich Eliten
ein Bildungssystem zu ihren eigenen Vorteilen zimmern; zu leugnen,
dass auch Bildung in Widersprüchen
stattfindet. Um Brecht zu bemühen:
es gibt keine richtige Bildung in einer
falschen Welt.
Global Citizenship
Education
Das UNESCO Programm zu Global Citizenship Education (2014), das
sich nicht zuletzt auch auf Ban KiMoon beruft, verspricht eine konzeptuelle Neuorientierung. Es gehe um
die Bedeutung von Bildung für das
Verstehen und Lösen globaler Fragen in ihren sozialen, politischen,
kulturellen, ökonomischen und ökologischen Dimensionen. Ist das eine
konzeptuelle Neuorientierung? Der
Ansatz erinnert vielmehr an lineare
22
Forum Europahaus Burgenland
Zugänge in der entwicklungspolitischen Bildung der 1980er Jahre. In
den Mittelpunkt wird die Anerziehung von Werten, Fähigkeiten und
Einstellungen gerückt, welche die
UNESCO vordefiniert hat.
Lernende sollen darin unterstützt
werden, unterschiedliche Ebenen von
Identität zu verstehen, über globale
Themen gut Bescheid zu wissen, kritisch denken zu können, soziale Kompetenzen zu erwerben und gesellschaftlich verantwortlich zu handeln.
Es wird auf die Spannungen zwischen globaler Solidarität und globalem Wettstreit, zwischen lokalen
und globalen Identitäten und Interessen und auf die Rolle von Bildung
im Lichte jeweils aktueller Herausforderungen verwiesen. Und es werden Lernprinzipien angeführt, die ein
offenes Umfeld für universelle Werte
und eine auf Transformation ausgerichtete Praxis befördern sollen.
Dazu zählt eine Bildung, die sich auf
die Lernenden bezieht, die holistisch
ist, zu Dialog und Respekt ermutigt,
kulturelle Normen anerkennt, Kritik und Kreativität fördert, Widerstandsfähigkeit und Handlungskompetenz entwickeln hilft.
All dem ist zuzustimmen. Doch
weder die Auflistung der verbindenden Elemente, die angeführten Spannungsfelder, schon gar nicht die von
der UNESCO benannten Prinzipen
von Global Citizenship Education
oder ihre Aktionsfelder (wie Lehrerbildung, ICT, Sport, Kunst und Kultur, oder community-based education) bieten etwas Neues. Sie sind
allesamt Ansatz im Interkulturellen
Lernen, im Globalen Lernen, auch
in der Bildung für Nachhaltige Entwicklung. Reformpädagogisches Allgemeingut weithin.
Und woran soll der Erfolg gemessen werden?
To what extent do global environmental challenges require you to
change your own behaviour?
How often do you make a special
effort to sort glass, tins, plastics or
newspapers for recycling?
Das sind einfach gestrickte Vorstellungen zur Messbarkeit der Wirksamkeit von Bildung. Relevante
Impulse zur Weiterentwicklung
kosmopolitischen Lernens kann ich
keine erkennen.
In einer österreichischen Abwandlung dieses Ansatzes plädieren Werner Wintersteiner, Heidi Grobbauer
und Gertraud Diendorfer für ein Verständnis von Global Citizenship Education als Politische Bildung für die
Weltgesellschaft. Der neue Begriff
(in auffällig englischer Sprache) soll
Interkulturelles Lernen, Globales
Lernen, weltbürgerliche Bildung,
Friedenserziehung und Politische
Bildung zusammenfassen und damit
ersetzen; denn diese würden nur Teilaspekte erfassen.
Globales Lernen stünde den Autoren folgend für eine Vorstellung von
der Einen Welt ohne politische Konflikte. Es würde sich auf das Einbringen der globalen Dimension, der globalen Zusammenhänge beschränken.
Es fehlt mir dafür der empirische
Beleg. Global Citizenship Education
würde hingegen eine klare moralische Perspektive für die Gestaltung
einer gerechten Welt bieten. Global
Citizenship Education wird als eine
transformative Bildung verstanden:
sie führt die Lernenden nicht nur in
die Welt ein, sie befähigt sie, aktiv
an ihrer Umgestaltung teilzunehmen („development of active participation“, International Civic and Citizenship Education Study 2010).
Wird Bildung dabei zu einer Heilslehre hochgewürdigt? Mir scheint die
Kritiker der Macht drängen selbst
zur Macht. Sich zu durchzusetzen
mit dem „besseren Konzept“, Zugriff
auf die Mittel zu erhalten: Geld,
Lehrpläne, „zentrale Steuerungsimpulse“, Ausbildung/ Kurse, letztlich
auf die Schüler und Schülerinnen.
weltgewissen
Nr. 27 – April 2015
23
Doch verkörpert der Satz „young people are not future citizens, but active
citizens now“ die Vision, die Hoffnung
von Pädagogen, die jungen Menschen
sollen es unter ihrer Anleitung richten? Mit ihnen den Weg gehen? Eine
wesentliche „politische“ Dimension
geht verloren: die kritische Auseinandersetzung. Die Welt wird als
Gewissheit erklärt, als durchanalysiert; universalistische Wahrheit
wird beansprucht.
Machtgefüge, die Endlichkeit von
Ressourcen und damit verbunden
die Wachstumsfrage, zunehmende
soziale Klüfte, der Klimawandel)
erfordert individuelle und kollektive Suchprozesse. Global Citizenship hin, Global Education her: es
geht um die Zulassung von Vielfalt,
um das Erschließen von Erfahrungsund Lernalternativen. Um das Eintauchen in die komplexen Beziehungen von Mensch und Welt.
Auch ein Teil der europäischen
NGO Gemeinschaft hat sich der Global Citizenship Education verschrieben. Das entwicklungspolitische Bildungsprogramm des Dachverbandes
CONCORD trommelt seit kurzem für
ein Bildungsprogramm, das zukünftige Generationen darauf vorbereiten
soll, eine gerechtere Welt herzustellen. Ihrer Vorstellung nach soll Global Citizenship Education die Traditionen von BNE, Global Education,
Interkulturellem Lernen, Menschenrechtsbildung und Friedenserziehung vereinen. Kritiker daran würden es vereinnahmen nennen. Neue
Namen für traditionelle Programme
erlauben neue Kämpfe um traditionelle Zielgruppen und vor allem wohl
auch Geldtöpfe.
Die Kraft des Konzepts Global
Citizenship Education liegt in seinem Fokus auf der politischen Komponente von Lernprozessen in einem
globalen Kontext, in seinem Fokus
auf die gesellschaftlichen Strukturen. Education of the global citizen
richtet hingegen seinen Fokus auf
das Individuum. Es bedeutet individuellen Kosmopolitismus. Die Gefahr
ist, dass er zum pädagogischen Synonym eines weltumspannenden neoliberalen Wirtschaftsmodells wird.
17 Global Education Primary Schools
in Wien übersetzen es in moderne
Wirklichkeit: mit Englisch als
Arbeitssprache und dem forcierten
Einsatz moderner Technologien. Kinder am Fitnessparcours für die Globalisierung, Bildung als Ausbildung für
den weltweiten Konkurrenzkampf.
Einige NGOs bei CONCORD
reklamieren, dass angesichts neuer
Weichenstellungen (Auslaufen der
MDGs, auch der BNE Dekade, Erarbeitung der SDGs, das Muscat Agreement der UNESCO) eine neue Bildungsinitiative erforderlich ist.
Dabei sollten aber meines Erachtens
die pädagogischen Dimensionen, die
das Arbeitsfeld zu einem qualitativ
wertgeschätzten machten, nicht über
Bord geworfen werden. Die Formulierung Education for Global Citizenship lässt dies befürchten. Bildung
im Dienste einer von außen gesteuerten Agenda. Um eine globale Bewegung herzustellen, die die Weltprobleme lösen soll.
„The Great Transformation“
(epochale Umbrüche im globalen
pannonisch | europäisch | kosmopolitisch
Bildung sollte sich diesen Tendenzen widersetzen. Vielmehr sollte eine
Lernumwelt geschaffen werden, die
an die konkreten Erfahrungen und
Erlebnisse der Menschen anschließt,
Differenzierung fördert und es dem
Bewusstsein ermöglicht, sich eigene
Wege zu suchen. Im Humanismus
war die Idee von Bildung die Selbstformung des Menschen. Heute soll
Bildung wie eben illustriert dazu
dienen, auf die Weltwirtschaftsgesellschaft vorzubereiten, die neuen
Generationen für den Kampf auf dem
globalisierten Markt zu rüsten. Nach
dem Philosophen Konrad Paul Liessmann wird Wissen auf eine bilanzierbare Kennzahl des Humankapitals
reduziert. Bildung wird zur Ware,
deren Erwerb Wettbewerbsvorteile
24
Forum Europahaus Burgenland
verspricht. Sollte es nicht viel mehr
um die Ermächtigung zu einer genügsamen Lebens- und Wirtschaftsweise
gehen, die ein gutes Leben für alle
im Auge hat?
Edgar Morin spricht vom “planetarischen Bewusstsein“ (Morin
1999). Die globalen Entwicklungen und Bedrohungen betreffen alle
Menschen. Sie machen mehr denn
je eine Weltinnenpolitik notwendig.
Die Konflikte anerkennt, denn trotz
geteilter Risiken haben nicht alle die
gleichen Interessen.
Der Global Citzen ist ein Kosmopolit, der die Menschenrechte hoch
hält, für Gerechtigkeit und Menschenwürde eintritt, der versteht
und Verantwortung übernimmt. So
verstanden ist Global Citizenship
ein strukturelles, politisches, kulturelles Handlungsfeld, situativ und
systembezogen.
Ich befürworte eine Global Citizenship Education, die das Verständnis des Politischen als Voraussetzung für eine Weltinnenpolitik
fördert und zur Ausweitung von
Demokratie beiträgt. Eine Bildung,
deren ethisches Ziel Empathie und
globale Solidarität, eine Kultur des
Friedens befördert. Eine Bildung, die
uns ermächtigt und befreit. Ich kritisiere hingegen einen Zugang, der
über Bildung die Lebensentwürfe
aller bestimmen will. Sie verbirgt
ein unilineares Verständnis, das über
Bildung neue politische Verhältnisse
herstellen will, eine Erzeugungsstatt einer Ermächtigungsdidaktik.
Globales Lernen als
solidarische Erzählung
Soll Bildung Erfolgsgeschichten begründen, besteht die Gefahr,
dass sie als Teil eines individuellen Lebenshilfekonzepts verstanden
wird. Wie bestehe ich am globalen
Arbeitsmarkt? Wie werde ich glücklich in einer immer schnelleren, lauteren, bedrängenderen Welt?
Bildung soll das Individuum
stärken, aber auch gemeinschaftlichen Zusammenhalt fördern. Das
Ziel wären Bildungsprozesse, die
den Menschen Vertrauen, Stabilität, Selbstbewusstsein und Lebensfreude gewähren. Sie sollten unsere
Identität im Spannungsfeld zwischen
Individuum und Gemeinschaft zum
Thema machen. Im Globalen Lernen
ist das eine große Herausforderung,
denn dem Individuum steht eine
Welt- und Konkurrenzgesellschaft
gegenüber, welche das Einüben von
Gemeinsamkeit schon rein räumlich
erschwert. Die universelle Betroffenheit ist eine Fiktion. Wir sind nicht
unbegrenzt zu Gemeinschaft fähig.
Aber durch Zusammenarbeit und
Zusammenleben können Solidarität
und soziale Tugenden gefördert und
die Fähigkeit zu einem kooperativen
Verständnis und Vorgehen auch im
Alltag gestärkt werden.
Ist kollektives Lernen möglich
und wie? Wie kommen wir vom Wissen zum Handeln? Wie kann es zu
gesellschaftlicher Veränderung kommen? Bildung sollte Kreativität und
vielfältige Lösungen fördern. Beides
ist notwendig angesichts einer ungewissen Zukunft und auf der Suche
nach Orientierung in einer komplexen Welt. Fertigkeiten können trainiert werden. Grundkompetenzen,
die helfen, das Leben zu meistern,
können jedoch nur durch ein stetes
sich „Empor-Irren“ erworben werden. Ein neuer Irrtum ist mir lieber
als proklamierte Gewissheit. Bildung
fördert die Einsicht in die eigene
Verstricktheit in die Grundfragen
des Lebens. Paulo Freire nennt es
„die Welt enthüllt sehen“. Menschen
und Gruppen können sich und ihre
Interessen vor dem Hintergrund oft
komplexer Zusammenhänge leichter
erfassen. So ermöglicht Bildung die
Entdeckung von Denk- und Handlungsweisen, die es erlauben, verantwortungsvolle Entscheidungen
zu treffen.
weltgewissen
Nr. 27 – April 2015
Jean-Francois Lyotard vertritt die
These vom Ende der großen Erzählungen. Ich widerspreche. Globales Lernen
braucht eine Erzählung. Thujen und
Rosen können sie erzählen. Thujen die
Geschichte, wie Pädagogik nicht sein
soll; gleichförmig und in sich geschlossen. Rosen jene, wie Offenheit und Vielfalt Entwicklung und Entfaltung des
Individuums wie einer ganzen Gesellschaft ermöglichen. Bildung ist wie eine
Rosenlandschaft: bunt, vielfältig, dornenreich und pflegebedürftig.
25
Literatur
Diendorfer., Gertraud/ Grobbauer, Heidi/ Wintersteiner, Werner:
Global Citizenship Education. Poltische Bildung für die Weltgesellschaft. In: Österreichische UNESCO Kommission (Hg.): UNESCO
ASP Schulen. Wien 2014, S.1-14.
Hartmeyer, Helmuth: Die Welt in Erfahrung bringen. Frankfurt/
Main 2007.
Hartmeyer, Helmuth: Von Rosen und Thujen. Globales Lernen in
Erfahrung bringen. Münster 2012.
Lang-Wojtasik, Gregor: World Society and the Human Being: The
possibilities and limitations of global learning in dealing with
change. In: International Journal of Development Education and
Global Learning, vol.6, no1, pp.53-74.
Melber, Henning: Welche Entwicklung in wessen Welt? In: Weltgewissen, No26, August 2014. S. 48-55.
UNESCO: Global Citizenship Education. Preparing learners for the
challenges of the 21st century. Paris 2014.
UN Secretary General: Global Education First Initiative. New York
2012
Wintersteiner, Werner: Global Citizenship Education: Bildung zu
WeltbürgerInnen. In: KommEnt (Hg.): Globales Lernen in Österreich. Potenziale und Perspektiven. Salzburg 2013, S. 18-29.
ZEP: Kann durch Erziehung die Gesellschaft verändert werden.
ZEP1/2 (29) 2006.
Helmuth Hartmeyer, war Leiter der Abteilung Förderungen
Zivilgesellschaft in der Austrian
Development Agency (links im
Bild) im Gespräch mit Gregor
Lang-Wojtasik, Pädagogische
Hochschule Weingarten (Württemberg), Direktor des Zentrums für Erwachsenenbildung,
Senatsbeauftragter für Indien,
Co-Hrsg. des Handlexikons
Globales Lernen während der
internationalen Tagung „Global
Citizenship Education - zu kosmopolitischen Dimensionen des
Globalen Lernens“ vom 10. – 12.
November 2014 in Eisenstadt..
pannonisch | europäisch | kosmopolitisch
26
Forum Europahaus Burgenland
Taumeln mit
Sündenbock
Ein Essay zum Versagen der
politischen Eliten Europas
Die Geostrategen sind wieder da. Sie waren nie weg,
aber die politische Klasse war es zufrieden, davon
nichts wissen zu müssen, und die medial erzeugte
Öffentlichkeit erst recht. Plötzlich, aus dem heiteren
Himmel der Geschäfte und der Spaßgesellschaft heraus lassen die Geostrategen aus Ost und West uns
fühlen, wie die reale Welt so läuft; die Ukraine als
aktueller Brennpunkt.
von Erich Kitzmüller
Europas politische Klasse samt
medialer Öffentlichkeit ist bestürzt:
Wirtschaftskrieg, Kalter und womöglich der Große Heiße Krieg, wo wir
doch in Europa so friedlich unseren
Werten und Geschäften nachgehen!
Da muss eine Grenze gezogen, muss
sanktioniert werden, und zunächst,
immer brav diplomatisch, muss eine
Vermittlerin her. Jetzt soll die Regierungschefin eines etwas gewichtigeren Kleinstaats, Deutschlands, für
ganz Europa die Dinge einrenken.
Eine zugleich komische und tragische
Personalisierung; wie jede Personalisierung eine Illusion. Denn Frau
Merkel steht mit leeren Händen da.
Die Abwesenheit Europas
Zusammen mit ihren Machtkollegen hat sie all die Jahre dazu
beigetragen, dass aus dem historischen Zwischenschritt „Europäische
Union“ keine staatliche Handlungsfähigkeit im Maßstab des Jahrhunderts entstehen konnte. Bloß ein
Wirtschaftsraum, wenn auch mit
allerlei Beiwerk. Keine einheitlich
handlungsfähigen Institutionen, im
Inneren sozialpolitisch unzuständig
und unfähig, nach innen und außen
kein kraftvoller Zähmer der Finanzindustrie und der Geheimdienste,
kein weltpolitisch ernst zu nehmender Friedensfaktor.
Ein grotesker Zustand, erklärbar
nur aus der Unterwürfigkeit und
einer ideologischen Verblendung der
politischen Klasse - und einem parallelen teilweisen Versagen der zivilgesellschaftlichen Opposition in ihrer
Zersplitterung und Staatsblindheit.
Denn auch ein im Abstieg befindliches Europa hätte noch kulturelles
und produktives Potential, ist eine
latente Macht, aber mangels demokratischer Institutionen auf Augenhöhe mit den Machtzentren weltweit
(und zu Hause) bleibt dieses Potential nur Spielmaterial für die weltweit Mächtigen.
Das epochale Versagen der politischen Eliten: Wo Staat nötig wäre
- als Verfassung für die Dynamik
der Zivilgesellschaft, als rechtsstaatliches Gewaltmonopol mit
einer Regierung und einem Parlament als einheitlich handelnden
und global wirksamen Akteuren fehlt er. Statt dessen spielen kleinstaatliche möchte-gern-Machthaber
weltgewissen
Nr. 27 – April 2015
verschiedenen Kalibers samt intergouvernementalen Hilfseinrichtungen sich auf, als seien sie Staat,
lassen Verwaltungsapparate samt
ihren Lobbies wuchern. Allerhand
Eingriffe in den Alltag, doch keine
Änderung der Spielanordnung und
des Spielfelds, nur Anpassung an
die vorgefundene Machtverteilung.
So wurde die institutionelle Dimension eines notwendigen politischen
Wandels diskreditiert.
Macht, insgeheim die zentrale
Norm der lokalen und nationalen
Politikspiele, ist in der europäischen Dimension ein pfui-Wort. Als
ob die nötige Dienstbarmachung der
Finanzindustrie, ihre Neudimensionierung, um das verfemte Wort
Schrumpfung zu vermeiden, nicht
zu oberst eine Machtfrage wäre;
die entscheidende Machtprobe dieser Jahrzehnte. Als ob der ökologische Ruin und die voraussehbaren
Kriege um die asymmetrische Aneignung von Ressourcen allein durch
die unzähligen, so begrüßenswerten
Initiativen „von unten“ abgewendet, dabei aber die Machtverhältnisse ignoriert werden könnten. Als
ob die Durch-ökonomisierung des
Globus und die weltweite Zunahme
von Gewalt, mit Verelendung und
überfordernden Flüchtlingswellen
als voraussehbaren Folgen, vom jetzigen Kleinstaatenchaos Europas
friedlich und befriedend beeinflusst
werden könnten.
Der aktuelle Testfall für die Abwesenheit Europas aber ist die Ukraine,
also der neu aufflammende geostrategische Konflikt über die Einflusssphären des neuen Zarenreichs
und des „Westens“. Zunächst: Wer
ist das, der Westen? Für die herrschenden Gruppen und ihre Medien
ist die Antwort leicht: herausgefordert - durch „Putin“ -sind „unsere
Werte“. Hinter diesen löblichen Werten wird jedoch die reale Machtkonstellation verdrängt und vernebelt.
Europa, fraglos Teil „des Westens“,
existiert nicht als souveräner Staat.
pannonisch | europäisch | kosmopolitisch
27
Die Klein- und Zwergstaaten, die
fallweise sich als „Europa“ aufspielen, genießen nur eine Schön-WetterSouveränität, doppelt eingeengt. Die
globalisierte Finanzindustrie und
andere transnationale Machtkomplexe sind von den Kleinstaaten aus
nicht zu zähmen. Und sobald Interessenskonflikte zum geostrategischen Konflikt mutieren, ist Europa
ein Protektorat der USA.
Was dadurch nicht besser, sondern schlimmer wird, dass der Protektor selber schwächer geworden
ist und wohl weiter schwächer wird.
Vor 25 Jahren noch die allein übrig
gebliebene Supermacht, erodieren inzwischen alle drei Pfeiler dieser Sonderstellung. Salopp gesagt,
Wall Street, Pentagon, Hollywood,
oder anders gesagt der Dollar als
Weltgeld, die US Forces als Garant
dafür, jeden Krieg führen und gewinnen zu können, nicht zuletzt die Verführungskraft des aggressiven Wirtschafts- und Lebensstils - alle diese
Faktoren wirken weiter, werden
aber schwächer; schon seit Vietnam
haben die USA keinen Krieg gewinnen können. Europa ist zwar eine
bedeutende Provinz der globalen
Finanz-, Konsum- und Sicherheitsindustrie, jedoch politisch ein Niemand im Schwebezustand zwischen
einer sich erst in Umrissen abzeichnenden multipolaren Mächtekonstellation voll Ungewissheiten und dem
alten Protektorat, das in jeder Hinsicht unzuverlässig wird.
Die westlichen Werte
Europa ist Teil des Westens,
gewiss. Aber wie ist dieses ominöse
Wertebündel strukturiert? Der zentrale Wert für den Westen ist die
Feindschaft gegenüber all jenen, die
einen bestimmten Teilkomplex eben
dieses Wertebündels ablehnen, nämlich den Vorrang eines Amalgams
von Zielvorstellungen für Staat und
Wirtschaft, bezeichnet etwa mit den
Worthülsen „demokratische Marktwirtschaft“ oder „marktkonforme
28
Forum Europahaus Burgenland
Demokratie“. Im Klartext: Vorrang
für profitorientiertes Wirtschaften
und dafür brauchbare Institutionen
und politische Helfer. Dieser praktizierte Zentralwert des Westens bleibt
verdeckt und verschwiegen hinter
einer Rhetorik der Menschenrechte.
Gewiss, die Erfindung der Menschenrechte ist die wohl bedeutendste Errungenschaft der Neuzeit, und insofern macht die Rede
von den westlichen Werten dann
doch Sinn. Von Westlern aus dem
eigenen Erbe heraus formuliert und
bruchstückhaft praktiziert, sind sie
längst nicht mehr nur westliche, sondern genuin menschheitliche Rechte
und Ansprüche.
Doch der real existierende Westen hat in seinen Taten laufend sich
selber desavouiert. Das rächt sich
nicht allein in Europas Osten, ebenso
in den Konflikten im Nahen Osten
oder Afrika; aber das ist eine andere
Geschichte.
Erich Kitzmüller ist Sozialwissenschaftler und Wirtschaftsphilosoph. Kitzmüller verfasste 1982 das
erste programmatische Papier der
Gruppe Alternative Liste Österreichs,
einer Vorgängerpartei der Grünen Partei Österreichs.
Seine Themenschwerpunkte sind
Geldwirtschaft und Grundeinkommen.
Im Verhältnis zu den Nachfolgern
der Sowjetunion freilich war den
Akteuren Europas die geostrategische Komponente der Beziehungen
offensichtlich nicht präsent. Die entscheidende Weichenstellung schien
ihnen gleichsam selbstverständlich:
Das Militärbündnis rund um die
USA, nämlich seine unaufholbare
Hochrüstung hatte, zusammen mit
den Systemschwächen im Inneren,
die Niederlage der Sowjetunion im
Kalten Krieg unabwendbar gemacht.
Nach dem Sieg entbehrlich, wurde
die NATO aber nicht rückgebaut
und aufgelöst. Wie so oft, hat auch
diesmal der Sieg die Sieger geblendet; jedenfalls die Europäer. Für den
Protektor seinerseits blieb die NATO
weiter das Unterpfand der eigenen
Sonderstellung.
Für die folgenden Jahrzehnte vor
der jetzigen Zuspitzung des Konflikts bedurfte es sodann allseits
keines bösen Willens. Die Nachfolgestaaten am Rand Russlands waren
als Völkerrechtssubjekte frei, den
Anschluss an den Westen zu suchen,
per NATO, da es sie eben gab, und
per Europäischer Union, die selber
keine Sicherheitspolitik hatte und
sie gar nicht anstrebt.
Anders für den Protektor und
seine europäischen Propagandisten.
Für sie, dressiert auf Geostrategie,
war und ist Sicherheitspolitik identisch mit dem Anspruch, das anscheinend zur Regionalmacht abgesunkene Russland fügsam zu machen
für die Strategien der westlichen
Vormacht. Schluss mit Blockaden
und Störmanöver im UNO Sicherheitsrat! Russland als williger Partner für westliche Manöver etwa im
Nahen Osten - und vor allem in den
absehbaren Konflikten um die globale Machtteilung mit den aufkommenden ganz großen Rivalen!
Darum allein geht es in der begonnenen Eskalation, nicht um Menschenrechte oder die Interessen der
Ukraine und anderer Völker am
Rand Russlands. In Russland selber
ist die Entdemokratisierung und die
Auslieferung des Landes an neue
Feudalherren und eine ökonomische
Fehlsteuerung hausgemacht. Jetzt
läuft der Test, kann das neue Zarenreich, immerhin Nuklearmacht und
ständiges Mitglied des Sicherheitsrats, sich als gleichrangige Weltmacht behaupten, mit der Ukraine
und anderen Ländern am Rand als
strategischem Vorfeld, abgesichert
gegen die Ausdehnung von NATO
und einer Europäischen Union als
Teil dieses Protektorats.
Ablenkung durch
Moralisierung
Die transatlantische Öffentlichkeit und speziell die europäische ist
versessen darauf, den Streit allein
moralisch zu verstehen. Wer hat
aktuell Schuld am Krieg in der Ukraine? Mit der Schuldfrage scheinen
alle Fragen erledigt. Und nichts ist
leichter als das, tatsächlich ist der
weltgewissen
Nr. 27 – April 2015
Übeltäter rasch identifiziert. Am
besten per Personalisierung. Ist es
nicht Putin, der in Russland eine
Diktatur errichtet, Kritiker gewaltsam ausschließt oder töten lässt,
der einer schwächelnden Regionalmacht die Rolle einer Weltmacht
eingeredet und damit den Boden
für nationale Feindschaft aufbereitet hat? Ohne Zweifel war es
Putin, der mit dem gewaltsamen
Anschluss der Krim das Völkerrecht missachtet hat. (Wobei die
lange Serie „westlicher“ Verletzungen des Völkerrechts und von
Menschenrechten, mit dem Krieg
im Irak als extremem Beispiel, in
der westlichen Öffentlichkeit unter
den Tisch fällt.)
Der Vorteil der Moralisierung
liegt darin, dass mit der Schuldfrage die Komplexität des Geschehens, die wechselseitige Verknüpfung von Interessen, Absichten,
Ausnützen von Fehlern der Gegner und eigenen Fehlern ausgeblendet wird. Aber Schuldzuweisungen ersparen uns nicht, bis zu
den Ursachen der Ereignisse vorzudringen. Und erst jenseits der
Schuldvorwürfe kann begonnen
werden, Alternativen zu erfinden.
Europa hat weder die Institutionen noch die informierte Öffentlichkeit noch den gemeinsamen
Willen, die es befähigen könnten,
zugleich gegenüber Russland und
der Ukraine nachhaltig konstruktiv zu handeln. Europa ist in den
Konflikt um die Ukraine hinein
getaumelt und hat sich dazu verurteilt, weiter zu taumeln. War
überhaupt etwas anderes zu erwarten von einem Kleinstaatenhaufen,
der seine Sicherheit längst einem
geostrategischen Protektor ausgeliefert hat?
Waffen oder Geld?
Die Nicht-Union in Praxis.
Einige der 28 liefern ein wenig
Militärhilfe, Berater, Ausbildner
pannonisch | europäisch | kosmopolitisch
29
und allerlei Waffen. Doch andere
sehen voraus, man muss kräftig
aufrüsten. Wieder andere haben
erkannt, die militärische Eskalation könnte ungewollt in den
Großen Krieg münden; die einzige Alternative: Europa muss die
Ukraine finanzieren.
oder Waffen auffährt, man kann
vermuten, dass Putin auf längere
Frist schlechte Karten hat. Doch
nichts ist weniger berechenbar und
gefährlicher als ein Verlierer mit
Nuklearwaffen.
Doch die Sanierung der Ukraine ist ohne Zusammenarbeit mit
Russland schwerlich möglich. Eine
im Unfrieden hausgemachte Sanierung mit der Überwindung von
Oligarchenherrschaft und Korruption als Kernstück könnte nicht
von außen erzwungen werden und
bleibt fraglich; also ein Fass ohne
Boden. Nach dem Debakel der
Finanzkrise, die unter Verzicht
auf den Primat der Politik durch
Bankenrettung hinausgeschoben
wird, werden die 28 in der Epoche
der Renationalisierung schwerlich
viele Jahre lang viele Milliarden
aufbringen.
Europa taumelt hinein in eine
vielleicht unbeherrschbare Eskalation der Gewalt und Feindschaft.
Bleibt der Große Krieg aus, wird
das nicht das Verdienst Europas
gewesen sein. Ohne den Entschluss
zur Staatlichkeit, ohne Reue und
Einfühlen in den Feind, ohne ein
kraftvolles Angebot zur Zusammenarbeit zugleich an Russland
und Ukraine kein Friede.
In der Weltsicht der Geostrategen kann die jetzt anlaufende
Eskalation nur mittels Sieg und
Niederlage erledigt werden. Ob mit
Geld, da sollten die Europäer an die
Front, oder mit Waffen. Der Starke
schlägt den Schwachen, mehr an
Überlegung braucht es nicht. Jetzt
kalkuliert der Starke die Schwäche
Russlands.
Niemand weiß, ob Russlands
Wirtschaft, die außer Waffen und
fossilen Brennstoffen wenig vorzuweisen hat, noch länger als Unterfutter eines expansiven Zarensystems taugt. Niemand weiß, ob die
Kosten einer Eskalation, dann
eventuell die Zahl der Toten die
nationalistische Großmachthysterie einstürzen lassen oder umgekehrt sie ins Extrem treiben. Niemand weiß, ob das hohe Maß an
Rationalität, das Putins Handeln
bisher ausgezeichnet hat, auch
in einer kriegerischen Eskalation
die Führer Russlands leiten wird.
Gleich, ob „der Westen“ mit Geld
Wer kann Alternative?
Aber nein, wir haben ja den
Schuldigen! Ein gewöhnlicher Sündenbock ist schuldlos, Zar Putin
aber ist zu Recht als Aggressor
und Lügner entlarvt; der ideale
Sündenbock.
Ein Sündenbock erspart beides:
die Besinnung auf den eigenen
Anteil am Entstehen der Bedrohung, und erspart die Umkehr, den
Aufbruch zu einer Alternative heraus aus dem Protektorat, heraus
aus der selbstverschuldeten, verantwortungslosen Kleinstaaterei
und hin zum Vorrang der Politik
gegenüber Bereicherung, Durchökonomisierung und Aufrüstung.
Europa taumelt, aber mit Sündenbock taumelt es sich leichter.
30
Forum Europahaus Burgenland
Kants Konzeption
kosmopolitischer Bildung
Üblicherweise wird beim Kosmopolitismus, der Theorie, dass alle Menschen unabhängig von Ethnie,
Religion oder politischer Zugehörigkeit einer weltumspannenden Gemeinschaft angehören oder angehören sollen, zwischen verschiedenen Formen bzw.
Varianten unterschieden.
von Georg Cavallar
Wenn heute von Kosmopolitismus
die Rede ist, wird meist auf seine
politische Variante Bezug genommen, die für eine bestimmte Art von
globaler Rechtsordnung plädiert,
etwa für einen Weltstaat. Wird bei
der Begründung vertragstheoretisch argumentiert, kann auch von
einem kontraktualistischen Kosmopolitismus gesprochen werden. Ökonomischer oder kommerzieller Kosmopolitismus, die Auffassung ‚that
the economic market should become
a single global sphere of free trade‘
(Pauline Kleingeld), wird heute
meist mit dem Namen Adam Smith
und anderen Vertretern des Scottish Enlightenment in Zusammenhang gebracht. Der naturrechtliche
Kosmopolitismus, der auf antike und
mittelalterliche Quellen zurückgeht,
ist wohl die älteste Form des Kosmopolitismus in der europäischen
Frühen Neuzeit. Der Grundgedanke
besagt, dass naturrechtliche Normen
zur globalen Anwendung kommen,
d.h. auf alle Menschen angewandt
werden sollen. Im Laufe der Frühen
Neuzeit verwandelte sich dieser Kosmopolitismus der Naturrechtstradition in einen menschen- bzw. individualrechtlichen und/oder einen
juridischen Kosmopolitismus.
Bei Kant bezieht sich der epistemologische oder kognitive Kosmopolitismus auf den Weltbürger.
(Ich werde in meinem Beitrag oft
die männliche Form gebrauchen,
da Kant eindeutig bei seinen Ausführungen an den männlichen, selbständigen Staatsbürger gedacht hat
und nicht an Frauen mit Wahlrecht
etc. Das ist nicht abwertend gemeint,
soll aber den historischen Kontext
Kants betonen, der auch teilweise
Kind seiner Zeit war). Der Weltbürger versucht, den ‘Egoismus der Vernunft’ zu transzendieren, der in der
mangelnden Bereitschaft besteht,
seine eigenen Urteile mit Hilfe der
Urteile anderer zu testen. Das normative Ideal besteht in einer der
drei Maximen der allgemeinen Menschenvernunft: der erweiterten Denkungsart. ‚Dem Egoism kann nur
der Pluralism entgegengesetzt werden, d. i. die Denkungsart: sich nicht
als die ganze Welt in seinem Selbst
befassend, sondern als einen bloßen Weltbürger zu betrachten und
zu verhalten‘ (Kant, Vorlesung zur
Anthropologie). Wer versucht, den
eigenen logischen Egoismus zu überwinden, versucht, Sachverhalte aus
der Perspektive anderer zu sehen,
deren Standpunkt einzunehmen und
die eigenen Urteile mit jenen anderer
weltgewissen
Nr. 27 – April 2015
zu vergleichen. Das erinnert etwa an
Adam Smith und dessen Figur des
‚impartial spectator‘. WeltbürgerInnen in diesem Sinn versuchen, ihr
eigenes Denken zu erweitern und im
Urteilen jene Konsistenz und Universalität zu erreichen, die Moralität kennzeichnet. Im Idealfall wird
eine kosmopolitische Perspektive
erreicht, die die ‘subjektiven Privatbedingungen des Urteils’ transzendiert. Ein Mensch mit erweiterter
oder kosmopolitischer Denkungsart
reflektiert ‘aus einem allgemeinen
Standpunkte (den er dadurch nur
bestimmen kann, dass er sich in den
Standpunkt anderer versetzt) über
sein eigenes Urteil’ (Kant, Kritik der
Urteilskraft).
Diese Denkungsart muss gelehrt
und geübt werden. Das entscheidende Element ist eine bestimmte
Denkungsart, der letztlich eine
bestimmte Gesinnung - die ‚oberste
Maxime‘ einer Person, die in deren
‚Willkür‘ aufgenommen wird –
zugrunde liegt. Denkungsart unterscheidet Kant von der Sinnesart, die
sich auf Empirie bezieht; die Denkungsart beruht auf Prinzipien. Im
Versuch der Verwirklichung dieser erweiterten Denkungsart können auch die eigenen ethnozentrischen Vorurteile abgelegt werden.
Ich nenne ein Beispiel aus dem 18.
Jahrhundert. Naturrechtsautoren
wie Locke und Vattel entwickelten
das so genannte ‘agricultural argument’ zugunsten europäischer Kolonisation, indem sie argumentierten, dass rechtmäßiger Besitz auf
der intensiven Nutzung von Boden
basiere. Mit Hilfe dieser Theorie ließen sich die Besitzansprüche der
nomadischen Ureinwohner Nordamerikas, der Native Americans oder
first nations sowie der nicht-europäischen Einwohner anderer Kontinente ignorieren. Autoren wie Wolff
oder Diderot kritisierten das Argument als illegitim – eine Kritik, die
als Beispiel für kognitiven Kosmopolitismus gelesen werden kann. Kant
selbst schloss sich Wolff und Diderot
pannonisch | europäisch | kosmopolitisch
31
an, und zwar mit einem prinzipiellen rechtsphilosophischen Argument:
die Sphäre äußerer Handlungsfreiheit ist bei allen Menschen zu respektieren, solange sie mit der gleichen Freiheit anderer vereinbar ist.
Europäer dürfen in Nachbarschaft
dieser Völker siedeln, ‘wenn es aber
Hirten- oder Jagdvölker sind (wie
die Hottentotten, Tungusen und die
meisten amerikanischen Nationen),
deren Unterhalt von großen öden
Landstrecken abhängt, so würde dies
nicht mit Gewalt, sondern nur durch
Vertrag, und selbst dieser nicht mit
Benutzung der Unwissenheit jener
Einwohner in Ansehung der Abtretung solcher Ländereien, geschehen
können’ (Kant, Rechtslehre). Die
erweiterte Denkungsart ist sensitiv
was Kontexte betrifft – in diesem Fall
berücksichtigt sie, dass nomadische
Völker eine Lebensweise haben, die
sie von kommerziellen Gesellschaften unterscheidet. Andererseits werden kontingente Aspekte ausgeblendet – etwa europäische Maßstäbe von
Eigentum, Souveränität oder Staatlichkeit -, um universalen Prinzipien
zum Durchbruch zu verhelfen. In diesem Fall ist es das gleiche Recht auf
Handlungsfreiheit, das Instrumentalisierungsverbot oder das Verbot
von vorsätzlicher Täuschung. Die
Vernunft wird kultiviert, indem sie
Einsicht in ihre eigene Tragfähigkeit
und Grenzen gewinnt. Im Falle der
nomadischen Völker findet sie das
tragfähige Rechtsprinzip wechselseitiger äußerer Freiheit, das den Streit
der Gelehrten entscheidet.
Die erste systematische Stellungnahme des kritischen Kant zum Kosmopolitismus steht in der ‚Kritik der
reinen Vernunft‘. Hintergrund der
Ausführungen ist das griechische
Wort ‚kosmos‘ für ‚Welt‘ oder eben
‚Kosmos‘, das übrigens nicht mit
dem Begriff der ‚Realität‘ ident ist.
‚Philosophie nach dem Weltbegriffe’
befasst sich mit ‘der Beziehung aller
Erkenntnis auf die wesentlichen
Zwecke der menschlichen Vernunft‘,
zu denen die Selbstgesetzgebung der
32
Forum Europahaus Burgenland
praktischen Vernunft und unsere
moralische Bestimmung gehören.
Der Weltbegriff unterscheidet sich
vom scholastischen Konzept der Philosophie, der es lediglich um die theoretische Systematisierung des Wissens geht. Beim Weltbegriff geht es
also um die praktische, systematische Einheit oder Totalität der intelligiblen oder moralischen Welt, die
Kant unter dem Begriff des Reichs
der Zwecke fasst. An dieser Stelle
geht der kognitive in einen moralischen Kosmopolitismus über.
Ich kann hier nicht näher auf die
soziale und politische Dimension des
kognitiven Kosmpolitismus eingehen. Das Herzstück von Kants Überlegungen ist die Einsicht, dass wir
nur mit Hilfe anderer unsere eigene
Vernunft und Urteilskraft kultivieren können. Der Anhänger des ‚agricultural argument‘ veranlasst uns
beispielsweise, die Argumentation
zu prüfen oder nach einem prinzipiellen Gegenargument zu suchen –
aber immer mit der vorurteilsfreien
Denkungsart und Gesinnung, dass
das bessere Argument zählt. In seinem Aufklärungsaufsatz definiert
Kant die Grenzen der Privatheit
neu: das entscheidende Element ist
die Fähigkeit zur sprachlichen Kommunikation. Wir sind alle potentielle
Gelehrte, die rational argumentieren
können, zur Selbstreflexion fähig
sind und damit eine kosmopolitische
Gemeinschaft bilden – im Gegensatz
zu einer bloß lokalen oder privaten.
‘Dare to make your village cosmopolitan’, formuliert Pablo Muchnik im
Sinne Kants.
Kant hat sein formales Verständnis von Bildung, das sich teilweise
mit dem des Neuhumanismus überschneidet, mit dem Ziel des autonomen Menschen in vier Aspekte aufgeschlüsselt. Erziehung beginnt mit der
Disziplinierung als Kunst der Beherrschung von Trieben, Bedürfnissen
und Aggressionen, die nicht mit
Vernunftprinzipien vereinbar sind.
Sie setzt sich fort als Kultivierung
der Geschicklichkeit in der Realisierung selbst gesetzter Zwecke und
in der Zivilisierung als Klugheit im
Umgang mit anderen. Ziel von Erziehung und Bildung ist die Moralisierung als Verwirklichung eines moralisch guten Willens und moralischer
Tugend. Kants Sprachgebrauch ist
in seinen Schriften uneinheitlich.
In der ‚Pädagogik‘ (herausgegeben
1800, basiert aber wahrscheinlich
auf einem Vorlesungsmanuskript
aus den 1770er Jahren) fällt Bildung mit ‚Zucht und Unterweisung‘
zusammen, wobei Zucht der Disziplinierung, Unterweisung in etwa der
Erziehung zur Geschicklichkeit entspricht. In den 1790er Jahren häuft
sich die Verwendung des Bildungsbegriffes. In der Religionsschrift (1793)
ist bereits von ‚moralischer Bildung‘
im Sinne einer Kultivierung der
Moralität die Rede.
Ich werde nun Kants Konzeption
kosmopolitischer Bildung in den folgenden Abschnitten skizzieren. Der
erste Schritt lautet:
Vom Faktenwissen zur
erweiterten Denkungsart
Als Ausgangspunkt wähle ich
die Aufgabenstellung der zentralen
Deutschmatura vom Mai 2014. Was
ging schief bei den unbekannten Mitarbeiter/innen des BIFIE, die eine
kompetenzorientierte Aufgabenstellung zusammen stellen wollten und
in fast schon genialer Ahnungslosigkeit den nationalsozialistischen Hintergrund des Autors Manfred Hausmann übersehen, ignoriert haben?
Ich glaube es gab Mängel bei den drei
folgenden Bereichen:
1.Wissenserwerb als unverzichtbarer Ausgangspunkt von Bildung.
Die Mitarbeiterinnen sind offenbar dem Mythos von der Irrelevanz
der Inhalte erlegen; ein ‚Basiswissen‘ über den Nationalsozialismus,
etwa über die Manipulation der
Kinder in der Volksschule fehlte.
weltgewissen
Nr. 27 – April 2015
2.R eflexionswissen und vernetztes Wissen. Stattdessen werden
heute Kompetenzen propagiert,
die angeblich an jedem beliebigen
Inhalt ‚trainiert‘ werden können.
Beim Reflexionswissen und dem
vernetzten Wissen geht es darum,
Zusammenhänge zu erkennen, das
erworbene Wissen mit anderen
Inhalten in Beziehung zu setzen
und darüber zu urteilen. Im Fall
der Deutschmatura: ich vermute,
dass in Deutschland und Österreich nach 1945 auch in publizierten Texten nicht alle Spuren der
NS-Ideologie plötzlich verschwunden sind; ich bin misstrauisch,
auch wegen der Beispiele Martin
Heidegger und Carl Schmitt (über
die ich Bescheid weiß).
3.Die drei Maximen des Denkens
nach Kant (KdU § 40): Selberdenken, das Motto der Aufklärung
und die vorurteilsfreie Denkungsart; zweitens sich in die Lage oder
Perspektive anderer zu versetzen,
das ist die erweiterte Denkungsart, von der ich am Anfang gesprochen habe; drittens Widerspruchsfreiheit oder mit sich einstimmig
denken, das nennt Kant die konsequente Denkungsart.
Wären die Mitarbeiter/innen in
diesem dreifachen Sinn gebildet
gewesen, wäre der Fehler wohl nicht
unterlaufen. Es mangelte offenbar
schon am ganz banalen Faktenwissen, ganz zu schweigen vom vernetzten Wissen, das Urteilskraft voraussetzt. Aufgabe kosmopolitischer
Bildung ist es, diese drei Bereiche,
in der Begrifflichkeit Kants die Kultivierung von Verstand, Urteilskraft
und Vernunft, zu fördern (zur Rolle
der praktischen Urteilskraft siehe
Wille 2013). Der Verstand als Vermögen der Begriffe oder Kategorien
bezieht sich dabei auf Anschauungen, auf die Ebene des Faktenwissens. Die Urteilskraft ist entweder
reflektierend oder bestimmend und
bezieht das Allgemeine auf das Konkrete. Die Vernunft ist schließlich
pannonisch | europäisch | kosmopolitisch
33
das Vermögen von formalen und abstrakten Prinzipien.
Von der Wertevermittlung
zur praktischen Vernunft
In unserer gegenwärtigen Gesellschaft ist gerne von ‚Wertevermittlung‘ die Rede, wenn es etwa darum
geht, Rechtsradikalismus oder Fremdenfeindlichkeit einzudämmen.
Wertevermittlung sollte aber auch
möglichst häufig den Übergang zur
praktischen Vernunft versuchen.
Diesen teile ich auf in – erstens –
Rousseaus Vermächtnis und zweitens in Kants Thesen einer kosmopolitischen Bildung.
Rousseaus Vermächtnis besteht in
dem, was ich eingebetteten und dynamischen Kosmopolitismus nenne.
Rousseau warnte vor einer oberflächlichen kosmopolitischen Erziehung.
In einer berühmten Passage aus
dem ‚Émile‘ heisst es: ‚Misstraut den
Kosmopoliten, die in ihren Büchern
Pflichten in der Ferne suchen, die
sie in ihrer Nähe nicht zu erfüllen
geruhen. Mancher Philosoph liebt die
Tartaren, damit er seinen Nächsten
nicht zu lieben braucht‘. Die Stelle
wird seit der Französischen Revolution meistens als Bekenntnis
zum Nationalismus missverstanden; tatsächlich argumentiert Rousseau jedenfalls im Émile für einen
moralischen Kosmopolitismus, der
sich durch zweierlei auszeichnet.
Erstens ist er nicht etwas, das zur
kultivierten Moralität hinzugefügt
werden soll oder muss, denn er ist
ident mit ihr. In den Worten Rousseaus: ‘unsere Liebe für die Menschen
ist nichts anderes als Liebe für die
Gerechtigkeit. […] Um zu verhindern, dass das Mitleid in Schwäche
ausartet, muss man es […] verallgemeinern und auf das ganze menschliche Geschlecht ausdehnen. Man
überlässt sich ihm nur insoweit, als
es gerecht ist […]‘. Zweitens ist dieser
Kosmopolitismus eingebettet, nämlich in die gelebten Nahbeziehungen von Émile; erst am Ende seiner
Univ.-Doz. Dr. Georg
Cavallar (geb. 1962) ist Lehrbeauftragter an der Universität Wien
und unterrichtet am Wiener Wasagymnasium Englisch, Geschichte,
Psychologie und Philosophie. Er
publiziert über Kants politische Philosophie sowie die Geschichte des
Völkerrechts, der Europaideen und
des kosmopolitischen Denkens. Zu
seinen Veröffentlichungen gehören:
The Rights of Strangers: Theories of
international hospitality, the global
community, and political justice since
Victoria. Aldershot: Ashgate, 2002,
Die europäische Union – Von der
Utopie zur Friedens- und Wertegemeinschaft. Wien: Lit, 2006,
Imperfect cosmopolis: studies in the
history of international legal theory
and cosmopolitan ideas. Cardiff: University of Wales Press, 2011 sowie
Kant's Embedded Cosmopolitanism:
History, Philosophy and Education
for World Citizens (eingereicht bei
Kant-Studien Ergänzungshefte, de
Gruyter).
34
Literatur
Albrecht, Andrea, 2005. Kosmopolitismus. Weltbürgerdiskurse in Literatur,
Philosophie und Publizistik um 1800.
Berlin and New York: de Gruyter.
Cavallar, Georg (2011a). Imperfect
cosmopolis: studies in the history of
international legal theory and cosmopolitan ideas. Cardiff: University of
Wales Press.
Cavallar, Georg (2015). Kant‘s Embedded Cosmopolitanism: History, Philosophy and Education for World Citizens
(in Vorbereitung).
Kleingeld, Pauline (2012). Kant and
Cosmopolitanism: The Philosophical
Ideal of World Citizenship, Cambridge:
Cambridge University Press.
Koch, Lutz (2003). Kants ethische
Didaktik, Würzburg: Ergon.
Langthaler, Rudolf (2014). Geschichte,
Ethik und Religion im Anschluss an
Kant. Philosophische Perspektiven
‚zwischen skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz‘. Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 19, 2 vols., Berlin: de Gruyter.
Munzel, G. Felicitas (2012). Kant’s
Conception of Pedagogy. Toward Education for Freedom. Evanston, Illinois:
Northwestern University Press.
Forum Europahaus Burgenland
Bildung erweitert er seine Denk- und
Handlungsräume auf andere Kulturen, Staaten und Gesellschaften.
Kants Thesen einer kosmopolitischen Bildung können folgender
Maßen zusammengefasst werden.
Erstens: kosmopolitische Bildung
ist ident mit Erziehung zur moralischen Freiheit. Deshalb fordert
Kant, dass die ‚Anlage zu einem
Erziehungsplane‘, dessen Ziele nicht
nur Geschicklichkeit und Klugheit,
sondern auch und vor allem moralische Bildung umfassen soll, ‚kosmopolitisch gemacht werden‘ soll.
Moralische Gesinnung kann nur
das Resultat der Anstrengung
eines Individuums sein, ansonsten
würde der Bezug zur Freiheit fehlen; andererseits kann die Pädagogik die Bedingungen formen, die
die Erreichung dieses Zieles wahrscheinlicher machen. Zweitens: das
Ziel der kosmopolitischen Bildung
ist es nicht, bestimmte kosmopolitische Werte einzutrichtern – auch
das würde dem Prinzip der Autonomie und der Aufklärung (dem Selberdenken) widersprechen. ‚Denn es ist
sehr was Ungereimtes, von der Vernunft Aufklärung zu erwarten, und
ihr doch vorher vorzuschreiben, auf
welche Seite sie notwendig ausfallen
müsse‘ (Kritik der reinen Vernunft).
Kosmopolitische Bildung, die diesem
Begriff gerecht wird, kann nur eine
Bildung zur Mündigkeit sein. Damit
enthält kosmopolitische Bildung aber
auch ein Element der Unverfügbarkeit. Wie jede Art von Bildung ist
diese nicht machbar oder herstellbar, denn sie beinhaltet immer
schon die Freiheit des Denkens und
Handelns. Sie ist eben nicht auf der
Ebene der Klugheit oder Geschicklichkeit angesiedelt. Drittens: Kantische moralische Bildung verweist
die Lernenden auf ihre eigene Vernunft, und dieser Verweis bringt sie
dazu, den so genannten ‘generalized
other’ anzunehmen; denn die angenommene Maxime und Denkungsart
soll verallgemeinerbar sein und die
vernünftige Zustimmung aller finden
können. In interiore homine habitat
veritas. Es kommt darauf an, selber
denken und urteilen zu lernen, differenzieren zu lernen – etwa zwischen
Klugheit und Moralität. In unserer
eigenen Vernunft finden wir die vernünftige Allgemeinheit und diese
macht uns zu Mitgliedern der weltumspannenden polis.
Ein großzügiges Angebot
Jetzt schlag schon ein
Sei kein Spielverderber
Jude
In die Zukunft müssen wir blicken
Wen schert, was vor
Sekunden war
Wenn du vergißt, daß seine
Groben Mörderhände
Schmutzig sind
Der Herr Leutnant im Ruhestand
Ist nicht stets bei so generöser
Laune
Er weiß doch, wie du
nackt aussiehst
Schafft das nicht
Intimität?
Will er im Gegenzug vergessen
Daß du der Schmutz warst
Der sie schwärzte
Er ist bereit zu vergessen
Daß du ein Hund warst und er
Ein Herr
Eine Firma will er gründen
Wo nicht Rasse, sondern wo nur
Leistung zählt
Drum schlag schon ein, Jude
Sei kein Spielverderber oder
Wir schlagen andere Töne an
Klara Sonnenschein, aus:
Haikus in meine Haut geritzt
weltgewissen
Nr. 27 – April 2015
35
Chronik einer fröhlichen
Verschwörung
Der neue Roman von Richard Schuberth
Vor der Tür des siebzigjährigen Philosophen Ernst Katz steht die Schülerin Biggy. Sie kennen einander von einer Bahnfahrt: Katz, dem verschrobenen letzten Mohikaner der Kritischen Theorie, war das Mädchen wegen
seines scharfzüngigen Mundwerks aufgefallen. Mit einem Wiedersehen
hatte er nicht gerechnet. Er nimmt Biggy bei sich auf und weiht sie ein in
seinen Plan, den „Holocaustroman“ eines Jungschriftstellers zu verhindern – einen Roman über eine außergewöhnliche Frau, mit der Katz ein
Geheimnis verbindet. Doch ihre kühnen Methoden drohen zu scheitern.
Richard Schuberths Debüt ist ein moderner Schelmenroman und eine
rasante Außenseiterballade zweier ungleicher Zeitgenossen.
Was Ernst Katz an
der Verwertung des
Holocaust nicht mag
Biggy und Ernst Katz saßen im
firmeneigenen Restaurant eines
Möbelhauses und aßen Schnitzel
mit Pommes und Senf um unglaubliche drei Euro fünfzig. Biggy war
schon bei der zweiten Portion, als sie
Ernst Katz ein weiteres Mal fragte,
was er gegen diesen René Mackensen habe. Mackensen als Person und
schon gar als Persönlichkeit sei ihm
egal, wie oft solle er das wiederholen. Denn gebe es die Maden in den
Kulturredaktionen nicht, die sich
an solch einem Scheißdreck labten,
hätten es die Mackensens schwerer
und gute Autoren leichter. Warum
er die jungen Schriftsteller allesamt
ablehne, wollte Biggy wissen. Das
sei eine Unterstellung, erwiderte
Ernst und zählte drei Schriftsteller auf, die er vorbehaltlos bewundere. Biggy kannte sie nicht. Nach
einem Schluck Bier gab Ernst zu,
sie auch nicht zu kennen und soeben
erfunden zu haben. Sie, Biggy, solle
ihn nicht quälen, er halte es für
pannonisch | europäisch | kosmopolitisch
durchaus wahrscheinlich, dass sich
unter der neuen Generation passable Köpfe befänden, doch er habe bis
jetzt keine Zeit gehabt, sie zu lesen,
da er mit den toten Autoren noch
lange nicht durch sei. Aber, dabei
hob er die rechte Hand, er schwöre
bei diesem Wiener Schnitzel, dass
er seine Pflichtschuld einlösen und
die Lektüre all der jungen Literaturstars nachholen werde – sobald sie
gestorben seien.
Ernst Katz lachte über seinen
eigenen Scherz und wollte auch
Biggy dazu animieren. »Warum
wehrst du dich so dagegen, dass der
Typ den Roman schreibt?«
Als Biggy Ernsts Unsicherheit
spürte, hakte sie nach: »Darfst nicht
glauben, dass ich auf seiner Seite
bin. Ich möchte’s nur von dir hören.«
Diese Besänftigung mäßigte
Ernsts Nervosität, und er begann
einen gemächlichen Monolog.
Prinzipiell, sagte Ernst, dürfe
Kunst alles, und Literatur habe man
Richard Schuberth, Jahrgang
1968, schreibt Essays, Satiren, Theaterstücke, Drehbücher. Darüber hinaus
war er Intendant des Musikfestivals
Balkan Fever und ist als Schauspieler und DJ tätig. 2014 erschien "Das
Neue Wörterbuch des Teufels". "Chronik einer fröhlichen Verschwörung" ist
sein erster Roman.
36
Richard Schuberth, Chronik
einer fröhlichen Verschwörung,
Roman, Verlag Zsolnay,
480 Seiten,
Fester Einband
ISBN 978-3-552-05714-2
Forum Europahaus Burgenland
Themen weder
vorzuschreiben
noch zu verbieten. Doch als
Geigerzähler
des kritischen
Bewusstseins
und
Rächer
der missachteten Wahrheiten mache es
ständig grrzzegrrmm
und
krock-krrzzzzpchhh, wenn
er mit seinem
Zählrohr die
Kunst nach Verstrahlung durch
Opportunismus
und Dummheit prüfe. Der
Faschismus und
die Massenvernichtung der
europäischen
Juden seien
nicht irgendein
melodramatischer Topos der Vergangenheit wie
die Zeit der Drei Musketiere oder das
coole Künstlerleben am Montmartre
um 1900, sondern der Brennpunkt
der abendländischen Zivilisation.
Nichts, was sich danach ereignete, sei ohne diesen zu verstehen,
noch in Hunderten Jahren würden
im Feinstaub, den wir aus unserer
Nase bohren und der sich in unseren Bronchien festsetzt, Partikel aus
den Schloten der Vernichtung schweben. Auschwitz sei die ewig glosende
Kernschmelze des Fortschritts,
nach der jede Naivität zum Verbrechen werde. Auschwitz zu gedenken
heiße aber nicht Kränze niederzulegen, heiße weder Trauerarbeit noch
Mystifikation, noch das voyeuristische Ejakulieren von filmreifem Tragikschleim, gedenken heiße nichts
als denken, nur so ließe die Bezeichnung Denkmal sich rechtfertigen, es
sei die nicht abreißen dürfende Reflexion und Bekämpfung aller Kräfte,
die den Menschen zum Barbaren
machen, um jegliche Gleislegung in
Richtung künftiger Barbarei schon
nach der ersten Schwelle zu sabotieren, selbst wenn im Bewusstsein der
Zeitgenossen noch nichts von dieser
Richtung kündet und einem deren
Gegnerschaft einträgt.
»Zu schnell«, unterbrach ihn
Biggy. Ernst verlangsamte seine
Rede, um bald wieder in das alte
Tempo zu kommen.
»Gedenkarbeit aber ist nicht
Denkarbeit.« Ein Großteil dessen,
was sich als Memento Auschwitz und
Vergangenheitsbewältigung ausgebe, trage nicht zur Erhellung, sondern zur Kolorisierung des Geschehenen bei. Zur Tröstung der Täter und
ihrer Kinder. Und zur Institutionalisierung eines schlechten Gewissens,
das das Hirn lähme und die politisch
inkorrekten Tölpel ganz zu Recht zur
Provokation einlade. Der Holocaust,
das sei der bislang unerreichte Gipfel menschlicher Bestialität, dessen
Gleichstellung mit anderen Verbrechen gegen die Menschheit einzig auf
Unwissen oder Schäbigkeit beruhe,
dessen Beschreibung an die Grenzen
der Unbeschreiblichkeit stoße, und
dessen realistische Abbildung nur
zur Banalisierung und Verharmlosung des Schreckens führe. Aber,
sagte Ernst im bedrohlich anschwellenden Ton eines amerikanischen
Wanderpredigers, es müsse auch
herhalten als Rohmaterial menschlichen Leids, mit dem Künstler
unter dem Vorwand der Aufklärung
das Geschäft der Banalisierung und
der Verharmlosung betrieben. Das
Nazi-Musical, das engagierte KZDrama und die beherzte filmische
Anklage gehörten mittlerweile zum
Genrerepertoire wie die Verwechslungskomödie und der Mantel-undDegen-Film, weil die Epoche, die sie
verwursteten, längst zur historischen
Requisite für Suspense und Tragik erklärt worden sei. Ein zweites
Mal seien die Gemordeten wehrlos
gegen ihre industrielle Verwertung.
Die Nazis hätten Lampenschirme
weltgewissen
Nr. 27 – April 2015
aus ihren Häuten gemacht, die engagierten Künstler kritzelten darauf, wie arm
die Opfer und wie böse die Täter gewesen
seien, oder bemalten sie mit erschütternden Actionszenen. Dafür regnete es Literaturpreise und Césars und Oscars und Goldene Bären. Es sei die Heuchelei, die ihn
wütend mache, mit der sich jeder dahergelaufene Schmierfink und Szenefilmer in
diesem Geschichtsmuseum des Schreckens
bedienen dürfe. Die Heuchelei, mit der sie
sich ihre zeitgeistige Doppelperversion von
Nekrophilie und Erfolgsgeilheit von den
dressierten Affen des Kulturmarkts als
hohen intellektuellen Wert oder mutiges
Engagement anrechnen ließen.
Was brauche er den hundertzwanzigsten
Flüchtlingsroman, was die dreitausendste
jüdische Familiengeschichte von irgendwelchen erfahrungslosen Schwundstufen
großer Literatur und großer Essayistik?
Wer sich mit jener Zeit, deren Aschewolken uns heute noch die Sonne verdunkelten, beschäftigen wolle, der solle mit den
großen Zeitzeugen darüber denken lernen.
Diese Menschen seien nicht die einzig legitimen Chronisten, weil sie Überlebende
waren, sondern die Gedankenschärfe und
Eindringlichkeit, mit denen sie Zeugnis
ablegten, seien bereits Mitgrund ihrer
Verfolgung gewesen. Jene Wahrhaftigkeit, mit der sie unter Aufbietung ihrer
größten geistigen Kräfte die hypnotische
Starre der totalen Verdinglichung lösten.
Jegliche auktoriale Eitelkeit und Koketterie indes, jeglicher Hang zum Genrebild
habe sich, falls überhaupt vorhanden, in
der Distanz zum Unsagbaren in nichts
aufgelöst. Ein René Mackensen könne
noch so oft zu heiß oder zu kalt duschen
oder absichtlich auf die Herdplatte greifen, er komme den Opfern dadurch nicht
näher. Und solle sich glücklich schätzen,
solch Leiden entkommen zu sein, welches
das Denken der Überlebenden gleichsam
hemmte wie antrieb.
Die kulturindustrielle Verwurstung von
Nazizeit und Judenmord aber zeige uns
klar die Wahrheit jeglicher Verwertung.
Seit Jahrzehnten arbeiteten Heere an nonkonformistischen Konformisten daran, die
Erinnerung dem gehobenen Publikumsgeschmack anzupassen; kaum merklich, mit
pannonisch | europäisch | kosmopolitisch
37
winzigen Pinselstrichen, je realistischer,
desto verzerrter bastelten sie an historischen Rekonstruktionen, die sich Stück für
Stück vors verblassende Original schöben,
bis sie sich unserer Wahrnehmung allein
als Wahrheit aufdrängten, der gegenüber
das Original als Hochstapler figuriere.
Wenn die letzten Überlebenden und mit
ihnen die letzten Instanzen des Widerrufs
zu Grabe getragen würden, dann gehörten
Auschwitz und Hitler endlich uns. Mächtige Vorarbeit darin habe der gefährlichste
Apostel der Leichenschändung, Steven
Spielberg, geleistet. Mit seinem hyperrealistischen und dadurch umso kitschigeren Machwerk. Großes Gefühlskino,
handwerklich brillant und dramaturgisch
einwandfrei, so habe er sich die Akzeptanz
derer erschlichen, die alles fressen, was
der Markt ihnen in den Saukoben schüttet. Doch wer mit den Originalen zu denken gelernt habe, der sei Spielberg nicht
auf den Leim gegangen. Gerade in diesem
dokumentarischen Realismus verriete sich
der Wechselbalg. Dieses Art-déco-LuxusSchwarzweiß. Dieser bemühte DokuFokus. Als hätten die Juden im Lager
Ebensee die Berge ringsumher nicht beinahe in dem knalligen Grün jener judenfreien Heimatfilme bewundert, mit denen
die Täter wenige Jahre danach sowohl über
die Opfer als auch über guten Geschmack
triumphierten. Wie könne man so schäbig
und dumm sein, zu glauben, der schrecklichen Realität mit ästhetischem Realismus beikommen zu können. Doch hinter
Spielbergs amerikanischer Naivität verberge sich das stille Einverständnis des
Actionregisseurs mit seinem Publikum.
Das zeige sich im verhaltenen Sadismus
seiner Detailverliebtheit bei Gewaltszenen. Die sündteuren Special Effects, das
Zerspringen von Schädelkapseln, das Rauchen der Schusswunde, das pulsierende
Blut und Spielbergs unbestreitbare Pionierleistung der filmischen Lebensnähe
für Feinkostvoyeure, das Geräusch der
Patronenhülsen beim Aufschlagen auf
Kopfsteinpflaster. Mel Gibson würde eine
sadistische Sau genannt, aber Spielberg
dürfe wie eine dressierte Robbe Ehrendoktorhüte von philosophischen Fakultäten auffangen. Und der Sinn des ganzen
KZ-Sandalen-Dramas, die Wirklichkeit
der sechs Millionen nach Fallen des
38
Forum Europahaus Burgenland
Kinovorhangs ins Requisitenlager
der Geschichte abzuschieben – die
Täter können ihren Opfern endlich
verzeihen.
Am meisten aber, Ernsts Stirnadern füllten sich mit Blutfluten
biblischen Zorns, widerte ihn der
postume Kannibalismus der Täter
und ihrer Nachfahren an, mit dem
sie sich an allem echten und eingebildeten Jüdischen gütlich täten.
Klara Sonnenschein sei es schon in
den sechziger Jahren aufgefallen,
mit welch lässiger Beiläufigkeit die
Wiener jiddische Begriffe in ihre
Alltagssprache kidnappten, die sie,
als deren Sprecher noch lebten, nie
verwendet hätten. Heinrich Himmler habe in den letzten Kriegstagen
den Deutschen anempfohlen, dass,
wenn sie bis jetzt Juden ausgerottet
hätten, sie von nun an Judenpfleger sein müssten. Keine Grabschändung konnte gut genug gemeint sein,
um das Geschehene ungeschehen zu
machen und die Schuld zu tilgen.
Doch was den Nazis mit ihren Nürnberger Rassengesetzen nur bedingt
gelungen sei, das hätten ihre linken
und antifaschistischen Enkel vollendet durch die Vorstellung eines jüdischen Volkstumes, an dessen faszinierender Eigenheit man sich wider
gutes Gewissen zum eigenen Volkstum habe machen können.
Aus Richard Schuberth: Chronik einer
fröhlichen Verschwörung © Paul Zsolay
Verlag Wien 2015. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags.
Die kannibalistische Aneignung
jüdischer Kultur oder dessen, was
man sich darunter vorstellte, teilte
sich mit dem Antisemitismus die Verachtung der kulturlosen Juden. Jüdische Vornamen für Kinder, deren
Kinder die ihren wieder Horst und
Odo würden nennen dürfen, das kreischende Singen von chassidischen Ojjoj-jojs, um wieder jodeln zu dürfen,
die Aberhunderten arischen Klezmerbands, die sich das Recht, Israel
die Leviten zu lesen, mit herzzerreißenden Klarinettensoli erspielten, die verkitschte Rekonstruktion
des guten alten niedergebrannten
Schtetls, mit dem sich das antifaschistische Dorf in chassidischer
Eintracht gegen Stadt und Moderne
verbünden konnte. Ernst Katz begann
zu schreien: Und dann dieses sentimentale Seufzen bei der Beschwörung des unwiederbringlichen jüdischen Humors! Schon immer hätte
er, wenn einer dieser linken Idioten
nur mit dem lachhaften Imitat eines
Jiddisch, dem kein Jiddischsprachiger mehr widersprechen konnte,
einen Witz anfing – Sogt der Grynberg zum Teitelbaum –, schon immer
hätte er denen am liebsten eine in
die Goschen gehaut und habe es auch
schon öfters angedroht. Unter der
Geiselhaft durch den Antisemitismus spiele sich der kulturalistische
Philosemitismus als Zoo- und Museumswärter alles Jüdischen auf, jiddische Kochrezepte, Adorno, Woody
Allen und die schönsten chassidischen Kreistänze. Und niemand sei
so qualifiziert, der israelischen Politik auf die Finger zu klopfen wie die
Kinder der Täter, die ja ihren Teil zur
Wiedergutmachung mehr als genug
geleistet hätten, jetzt würde es langsam Zeit, dass die Opfer auch was
dafür leisteten, sonst würden andere
Saiten aufgezogen, aber hallo. Ach,
schrie Katz, käme nur ein Golem,
der nicht nur den rechten Abschaum
zerschmettere, sondern den Judenfreunden ihre Plüschrabbis entreißen
und die verwöhnten Fingerchen brechen würde.
Dann ging Ernst Katz der Atem
aus, und er sagte kein Wort mehr.
Biggy blickte ihn mit leuchtenden
Augen an, mehr hingerissen von seiner altersungemäßen Cholerik und
der Eloquenz, die ihm diese verlieh,
als vom Inhalt der Worte selbst,
deren Gehalt sie nachprüfen musste.
Jetzt merkte Katz erst, dass es im
ganzen Restaurant mucksmäuschenstill war, alle blickten ihn an,
entsetzt, fassungslos, erstaunt, die
Gäste wie die Kellnerinnen. Eine
ältere Dame packte ihre zwei Riesensäcke mit Abverkaufsteppichen und
verließ heulend das Lokal.
weltgewissen
Nr. 27 – April 2015
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Notizen zu Satire
Notizen zu Charlie Hebdo
Notizen zur freien
Meinungsäußerung
Beginnen wir bei Null:
Europäische Werte – was ist das?
Menschenrechte – Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit, unter anderem auch Meinungsfreiheit.
Bedeutet Meinungsfreiheit
ALLES, aber auch ALLES zu dürfen womit man „aufrütteln“, oder
aber auch Geld verdienen kann,
alles zu sagen, zu zeichnen und zu
publizieren?
Die Allgemeine Erklärung der
Menschenrechte wurde geschaffen um die Rechte jedes Menschen
gegenüber staatlichen und religiösen
Institutionen und auch jedem Mitmenschen gegenüber zu gewährleisten. Dazu gehört auch das Recht sich
gegen Beleidigung – Entwürdigung
– zu wehren.
Die „Europäischen Werte“ sind aus
unserem ethischen Gefühl, aus dem
humanistisch–christlichen Gedankengut entstanden. Sie finden ihren
Niederschlag in unserem Allgemeinen Gesetzbuch und unterscheiden
sehr wohl zwischen Satire und beleidigender Demütigung. Auch gegenüber religiösen Überzeugungen, die
nichts mit Terror zu tun haben.
Kurt Tucholsky, der im Bezug zur
Ermordung der Charlie Hebdo Mitarbeiter immer wieder zitiert wird,
sagte 1919: “Satire darf ‚alles‘.“
Alles? Ich schätze Tucholsky sehr,
aber in diesem Punkt hätte er differenziert, um Missverständnissen
pannonisch | europäisch | kosmopolitisch
vorzubeugen, Satire von Beleidigung
abgrenzen müssen.
Satire bedeutet ironisch – witzige, literarische oder künstlerische Darstellung, die durch Über­
treibung, Spott und Ironie Kritik
üben möchte. Sie muss Ungerechtigkeit oder Gemeinheit eines Geschehens deutlich machen, dessen Perfidie dem oberflächlichen Betrachter
vielleicht nicht klar geworden ist.
Von Lichtenberg stammt eine treffende Definition: „Die feinste Satire
ist unstreitig die, deren Spott mit
so wenig Bosheit und mit so vieler
Überzeugung verbunden ist, dass er
selbst diejenigen zum Lächeln nötigt,
die er trifft.“
Wenn ich mir diesen Satz vor
Augen halte, muss ich sowohl die
künstlerische Qualität als auch die
gedankliche Qualität – wie weit
darf „Freiheit“ gehen – dem Charlie
Hebdo “Erzeugnis“ absprechen.
Diese Überlegungen wollen keinerlei Verständnis mit dem verabscheuungswürdigen Terror islamischer Gruppierungen wecken.
Aber der Versuch Terror dadurch
lächerlich zu machen ist absurd
von Eva Meloun
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Eva Meloun ist freischaffende
Künstlerin.
Ihre Arbeiten bestehen aus Landschaften abstrakten Bildinhalten, Materialbildern, Porträts,
Objekten, Porträts und Texten.
Publikationen in österreichischen
und deutschen Kunstzeitschriften
und Büchern.
Forum Europahaus Burgenland
und den Opfern gegenüber eine
Respektlosigkeit.
Zu Recht scheuen wir davor zurück
die Bilder der grausamen Enthauptungen offiziell in den Medien zu zeigen, um die Würde dieser getöteten
Menschen nicht zu verletzen. Ihr entsetzlicher Todeskampf soll und darf
nicht zur Schau gestellt werden.
Die Würde der so furchtbar ums
Leben gekommenen Opfer muss
gewahrt bleiben und darf nicht
geschmacklos durch die Verzerrung
einer „originellen“ Darstellung –
einer „Satirebrille“, verharmlosend
dem Publikum nahegebracht werden.
Daher empfinde ich die in Charlie Hebdo dargestellten „satirischen
Zeichnungen“ z. B. die “ lustige“ Karikatur eines Moslems, der in einerBadewanne voll roter Farbe – Blut
– planscht, als Beleidigung für die
Opfer dieser radikal grausamen Terroristen. Und auch als Beleidigung
der Angehörigen der Opfer. Es entsprechen diese und andere schon
erwähnten Karikaturen in keiner
Weise der Tragik tatsächlich stattgefundener Geschehnisse, der gefilmten Abschlachtungen, der grausamen
Enthauptungen oder der Verschleppung hunderter zur Prostitution
gezwungener Mädchen.
Denken Menschen, die in ihrem
eitlen Zeitgeistgehabe demonstrativ den Bleistift, den Kugelschreiber, die Füllfeder in die Höhe halten,
um für die „Freiheit der Meinungsäußerung“, in diesem Fall für fragwürdige, geschmacklose Karikaturen zu demonstrieren, auch an
die realen Bilder grausam vergewaltigter Frauen, geköpfter Kinder oder an die Leichenberge in den
Konzentrationslagern?
Wäre es in Deutschland oder
Österreich möglich satirische Bilder und Texte zum Holocaust zu
publizieren?
Würden sie, diese ach so Toleranten, auch dann, wenn es sie selbst
beträfe, „Satire“ dieser Art als
adäquates Mittel betrachten?
Es gibt Geschehnisse vor denen
man fassungslos steht, die keiner
weiteren „Bearbeitung“ bedürfen!
Hier bleibt nur Entsetzen und
Trauer über das, was Menschen
anderen Menschen antun können.
Die Zeitschrift „Charlie Hebdo“
trägt gezielt zur Polarisierung bei,
d.h. sie schürt innere Konflikte. Die
Frage stellt sich, wer sich diesbezüglich einen Vorteil verspricht, um
daraus Kapital zu schlagen. Welche
Gruppierungen arbeiten an einer
Destabilisierung? Nun vielleicht wie
so oft die Rüstungsindustrie ...
Vielleicht diente das PolitikerGruppenfoto – alles in schwarzer
Trauer – nur dazu, längst fällige
Gesetze offiziell auch laut überdenken zu dürfen? Und zugleich einer
vielleicht stagnierenden Waffenproduktion auf die Beine zu helfen?
Wer trägt schwarze Mäntel
wegen der Greueltaten in Ruanda,
wegen Auspeitschungen im Sinne
der Scharia an Männern, Frauen
und Kindern?
Eine Horrorvision: 2030 – Europaein Schlachtfeld, durch bürgerkriegs­
ähnliche Zustände verarmt und
brutalisiert.
Hüten wir uns also vor undifferenziertem Schwarz-Weiß-Denken,
hüten wir uns vor gruppendynamischen Massenphänomenen und
vor gedankenlosem Demonstrieren!
Und es stellt sich die Frage: Welche
manipulierende Macht spielen die
Medien? Wird hier nicht auch überflüssigen, kontraproduktiv wirkenden Provokationen gewaltbereiter
Fanatiker Vorschub geleistet?
weltgewissen
Nr. 27 – April 2015
Journalismus, in welcher Form
immer, hat politische Verantwortung!
Aber auch jeder „Normalbürger“
trägt in seinem Umfeld Verantwortung und muss sich immer wieder
sachlich mit einem Thema auseinandersetzen. “Verantwortung“, ein
Thema, das nicht früh genug in der
elterlichen Erziehung und in der
Schule den Kindern und Jugendlichen nahegebracht werden muss.
Eine persönliche Geschichte:
Ich, damals 7 Jahre, erinnere
mich: In ging in die erste Klasse
Volksschule (in einem oberösterreichischem Dorf) und äußerte meiner Großmutter gegenüber etwas
Unschönes gegen einen 9 jährigen
Mitschüler. Er war der uneheliche Sohn einer Magd, der schon in
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diesem Alter als Knecht bei einem
Bauern arbeitete. Er sollte auch in
diesem Schuljahr die Klasse wiederholen müssen, denn da er um ½
5 Uhr in der Früh die Kühe melken
musste, schlief er in der Schule regelmäßig ein und konnte dem Unterricht nicht folgen. Damals hielt mir
meine Großmutter mein verständnisloses Verhalten vor und erklärte mir
Vieles, das für mich heute noch wegweisend ist.
Denn:
Wehe den Menschen durch welche
Ärgernis kommt. (Matthäus 18,7)
Bildausschnitt
Eva Meloun
„Dag Hammarskjöld“
Öl auf Leinwand
42
Forum Europahaus Burgenland
NICHT!
Warum Mitgespielten und Mitspielern die Lust am
Mitspielen vergehen soll.
Thesen und Kündigungen
von Franz Schandl
„Alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen
Welt, der Verhältnisse auf den Menschen selbst. Die politische Emanzipation ist die Reduktion des Menschen, einerseits auf das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, auf das
egoistische, unabhängige Individuum, andererseits auf den
Staatsbürger, auf die moralische Person. Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich
zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen Gattungswesen geworden ist, erst
wenn der Mensch seine „forces propres“ (eigenen Kräfte) als
gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und
daher die gesellschaftlichen Kräfte nicht mehr in der Gestalt
der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist menschliche Emanzipation vollbracht.“ (MEW 1:370)
Nicht nur weil Demos und Populus das Gleiche bezeichnen, ist die
Behauptung, dass Demokratie und
Populismus sich widersprechen,
äußerst fragwürdig. Die Mobilisierung von Stimmungen und ihre Verwandlung in Stimmen ist doch die
der Marktwirtschaft analoge Aufgabe
der Politik. Der Erfolg des Populismus in der Politik läuft parallel zur
Systematisierung der Public relations. Seriosität und Diskretion sind
in der Arena einer rücksichtslos
reklamierenden politischen Auseinandersetzung auf jeden Fall weniger geschäftstüchtig, das heißt Stimmen akkumulierend, als Anmache
und Aufdringlichkeit. Es ist davon
auszugehen, dass die populistische
Zurichtung von Politik sich inzwischen verallgemeinert hat. Nicht nur
Populisten agieren populistisch.
beschwören, wird nicht als gemeinsame Basis identifiziert. Doch
gerade das verbindet sie: pro Arbeit,
pro Leistung, pro Konkurrenz, pro
Standort, pro Werbung, pro Kulturindustrie. Dumme Frage: Warum ist
eigentlich die Forderung nach mehr
Staat populistisch und die nach mehr
Markt nicht?
Dass sowohl der Liberalismus
als auch der Populismus den Markt
Zweifellos gibt es ein populistisches Bedürfnis, Populismus ist
Die abgefeimteste Variante des
Populismus ist der Liberalismus
selbst, eben weil er sich als einzige
nichtpopulistische Variante zu verkaufen versteht und diesbezügliche
Kritik erfolgreich unterläuft. Seine
Demagogie ist eine, die die gängigsten Phrasen am deutlichsten ausdrückt, in etwa: „Gearbeitet werden
muss“, „Menschen bedürfen der Konkurrenz“, „Der Markt entspricht der
menschlichen Natur“ etc.-
weltgewissen
Nr. 27 – April 2015
auch mehr als ein politischer Stil.
Der Modus der Kulturindustrie ist
vielmehr zum Formzwang von Demokratie und Politik geworden. Seine
Programmatik lässt sich eher an
Fernsehprogrammen ablesen als in
politischen Erklärungen nachlesen.
Serienhelden dienen als Matrizen
für die Parteiführer. Sie sind die zur
Nachahmung empfohlenen Vorlagen.
Aufgrund seiner Verankerung in den
kulturellen Reproduktionen des Alltags darf die Analyse des Populismus
nicht auf die Politik verengt, ja nicht
einmal auf sie zentriert werden.
Der Populismus ist seinem Wesen
nach nicht der Gegner der Demokratie, sondern ihre Fortsetzung mit
entschiedeneren Mitteln. Die Demokratisierung der Demokratie führt
geradewegs zum Populismus. Der
Populismus ist die reinste Form der
Demokratie. Und diese Kommerzialisierung der Politik ist in der politischen Konkurrenz selbst angelegt, sie kommt nicht von außen. Wo
Populismus draufsteht, ist Demokratie drinnen.
Wenn herkömmliche Politik keine
bewegenden Gefühle mehr zu erzeugen versteht und nur noch kapitalistische Rationalität in öffentliche
Verwaltung übersetzt, tritt die Simulation, das Spektakel, die Inszenierung, an ihre Stelle. Diese sind nicht
mehr bloßer Zusatz, sondern der
mächtige Ersatz einer zerbröselnden Form, die nur noch die Hülle zur
Verfügung stellt. Der heute grassierende Populismus kann als adäquates Zerfallsprodukt absterbender
Politik gelten.
An die Regierung gekommen
erweist der Populismus sich stets
als unfähig und hilflos. Durchstarten kann er nicht, also muss er lavieren. Seine Präpotenz erscheint als
lächerlich. Das fällt selbst den eigenen Wählern auf und daher auf jenen
zurück. Und doch überlebt der Populismus stets den Absturz der Populisten. Auch wenn sich die Typen
pannonisch | europäisch | kosmopolitisch
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laufend blamieren, tut dies dem
Typus keinen Abbruch.
Politik ist der Angriffspunkt,
nicht der Populismus. Anti-Politik
ist gefordert, nicht Antipopulismus,
letzterer ist nur eine Facette. Es gilt
also eine doppelte Front zu beziehen:
gegen den Populismus und seine liberalen Gegner. Der obligate Antipopulismus ist hingegen eine Falle zum
Zweck der Eingemeindung.
Das Subjekt muss gegen das Subjekt aufgestachelt werden. Es geht
um die Entsubjektivierung der Menschen, um eine Ablösung von den Rollen und Charaktermasken. Nicht
darum, bestimmte Subjekte oder gar
Massen zu erreichen, sondern Menschen. Emanzipation ist nur als emotionale und sinnliche Erhebung des
Selbst zum Ich denkbar, nicht jedoch
als Organisierung von Masse und
Macht, von Widerstand, Interesse
und Bewegung. Das sind selbst Formen bürgerlicher Gesellschaftlichkeit. Nicht nur der Klassenkampf ist
zu überwinden, sondern überhaupt
jede Affirmation des Kampfes. Der
Kampf ist selbst eine regressive Form
gesellschaftlicher Beziehungen, sei’s
als Konkurrenz oder Krieg.
Politik heißt auf die Interessen
von Charaktermasken zu setzen
und auf sie abzustellen, Anti-Politik heißt Menschen gegen ihre sozialen Zwangsrollen zu aktivieren. Das
ist der Unterschied zwischen: „Ich
nehme meine Interessen wahr“, also
etwas mir durch Stellung im System
Zugeordnetes, zu „Ich nehme mich
wahr“, „Ich will mich verwirklichen“.
Wenn man von Bedürfnissen spricht,
an die anzuknüpfen wäre, gilt es sorgfältig zu unterscheiden und deren
Beschaffenheit genau anzuschauen.
Handelt es sich um Bedürfnissen von
Rollenträgern =Interessen; oder um
Bedürfnisse wider den Rollenzwang
=Ansprüche.
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Forum Europahaus Burgenland
Eine Kündigung in 19 Pointen
1. Politik ist ganz vom Spiel der Verwertung und der
Konkurrenz geprägt, aus dem sie nicht ausbrechen kann,
weil sie ihm ehern zugehörig ist. Politik ist eine Form
der Kapitalherrschaft, sie ist mit dieser entstanden und
wird mit dieser verschwinden.
2. Politik ist ein staatsbürgerliches und daher bürgerliches Programm. Mit ihr kann nur so weitergemacht
werden wie bisher. Aber auch das funktioniert zunehmend abnehmend.
3. Politik idiotifiziert. Sie macht nicht frei, sondern
dumm. Sie befreit von Engagement und Initiative,
von Reflexion und Selbstermächtigung, indem sie uns
zum Kunden von Parlamentarismus und Populismus
macht, uns die Stimmen abnimmt und als Legitimation
konsumiert.
4. Politik als solche ist zu hinterfragen, nicht bloß sind
deren Mandatare oder Funktionäre, deren Apparatschiks
oder Bürokraten zu skandalisieren. Das Personal ist um
keinen Deut schlechter als das System, für das es steht.
5. Politik, das ist eine Falle der Immanenz. Sie hat
keine Perspektive und sie ist keine Perspektive. Sie bietet keine Lösung, sie ist ein Problem.
6. Politik hat ausgedient. Sie ist nicht das Feld der
Selbstbestimmung, sondern der Ort der Stimmabgabe.
Wahlen sind dazu da zu rechtfertigen, was gegen uns ist.
7. Wähler werden in diesem aufgeregten, aber doch
todlangweiligen Spiel zusehends zur Verschubmasse der
Kulturindustrie. Wähler sind nicht der Souverän, sie
schwanken vielmehr darin, eine genügsame Herde oder
eine aufgebrachte Horde zu sein.
8. Frei sind Menschen nur dann, wenn sie weder
Herde noch Horde sind. Wenn sie wirklich selbstbestimmte Individuen sein können und nicht formatierte
Exemplare, deren Affekte über Wut und Empörung nicht
hinauskommen.
9. Der herrschenden Politik, aber auch ihren Scheinalternativen, dem Populismus und dem Obskurantismus
ist eine entschiedene Absage zu erteilen. Politikverdrossenheit ist kein Übel, sondern ein Ansatz.
10. Zu Demagogie und grober Anmache, zu Reklame
und gesundem Menschenverstand ist entschieden NEIN
zu sagen. Wo es nichts zu wählen gibt, gibt es nichts
zu wählen.
11 „Keine Politik ist möglich!” ist erstens eine Absage
an alle herkömmlichen Varianten der Politik, zweitens
ist es aber auch eine Absage an die Politik generell. Und
drittens ist das Motto eine transpositive und offensive
Ansage. „Ist möglich” heißt es, nicht „ist unmöglich”.
12. Angesagt ist keine andere Politik, sondern etwas
anderes als Politik. Der Käfig der bürgerlichen Form wird
nicht anerkannt. Partout NICHT!
13. NICHT mitzutun und NEIN zu sagen, wo auch
immer, ja selbst unter schwierigsten Bedingungen, ist
die Prämisse, dass sich wirklich etwas ändern kann.
14. Das NEIN ist der Ausgangspunkt und die Motivation der Aktivierung. Das NICHT steht als Zeichen
nicht für den Zusammenbruch sondern für den Aufbruch.
Akteure des Lebens wollen wir sein, nicht Kunden des
Geschäfts.
15. Nur das NICHT sagt NEIN zur Destruktion, es
verhält sich destruktiv zur großen Destruktivität und
ist daher wahrhaft konstruktiv.
16. NICHT meint nicht Resignation, es ist vielmehr
ein bewusster Schritt gegen Verdrängung und Depression. Wir sind nicht wir, solange wir dafür sind.
17. Wir wollen NICHT mehr wollen. Wir kündigen.
Wir sind nicht wir, solange wir mitspielen.
18. Postulieren und praktizieren wir dieses NICHT, wo
immer es möglich ist, aber auch wo immer es unmöglich
erscheint. Jeder Erscheinung erhöht die Möglichkeiten.
19. Das NEIN ist heute das beste JA zu Lust und
Leben, zu Freundschaft und Liebe, ein JA, das sich von
der traurigen Existenz der Versäumnisse und Pflichten
deutlich unterscheidet. Das NICHT ist leise noch, aber
es wird lauter werden....
weltgewissen
Nr. 27 – April 2015
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Der Sieg der Nichtwähler.
Die Chance für Österreichs Demokratie
wird ausgeblendet.
von Hans Göttel
Bei den letzten Wahlen zum Nationalrat sind die Nicht-Wähler die weitaus größte Gruppe gewesen. Würde
man sie im Endergebnis berücksichtigen, so fielen auf die SPÖ um die 19
%, auf die ÖVP um die 15% der Stimmen. In Österreich gibt es, wenn es
nach der Wahlzustimmung der Bürgerschaft geht, eigentlich nur mehr
Klein- und Kleinstparteien. Das ist
ein gutes Zeichen, aber nicht genug.
Österreich ist ein Land, das der
Demokratie von Anfang an entwöhnt
wurde. In der Verfassung der ersten
Republik sollte um jeden Preis verhindert werden, dass der einfache
Staatsbürger, der überhaupt nur
als Wähler in Frage kam (!), anders
denke und wähle, als es die Parteiinstanzen vorzuschreiben für gut
befanden – so der österreichische
Politik- und Rechtswissenschafter
Manfried Welan in einem „Plädoyer
für direkte Demokratie“ (Demokratiezentrum 2013). Die Demokratie
wurde in Österreich von Anfang an
im Parlamentarismus gefesselt und
alles lief auf eine Diktatur der Parteien hinaus.
Wenn in der aktuellen Debatte um
mehr direkte Demokratie führende
Vertreter der Republik vielsagend
argumentieren, dass direkte Demokratie den Parlamentarismus schwächen würde, so kann man sich fragen,
ob sie dabei die Entfaltung von Demokratie überhaupt im Sinn haben oder
nicht vielmehr auf die Stabilisierung
des Parteienfeudalismus setzen. Und
so werden unsere Klein- und Kleinstparteien weiterhin wie staatstragend
daherkommen, wiewohl sie vor allem
die Pfründe davontragen.
Das Mindeste, wenn man sonst
nichts tun kann, wäre es, den Schein
der Einstimmigkeit zu vereiteln
(Pierre Bourdieux). Immerhin das
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tun die Nicht-Wähler. Was immer
ihre je einzelnen Motive sein mögen,
durch ihre Wahlverweigerung schaden sie nicht der Demokratie sondern
sie schwächen die Legitimation des
Parlamentarismus. Soziologische
Befunde zeigen auch, dass Wahlverweigerungen überwiegend auf
bewussten Entscheidungen vieler
kluger Köpfe beruhen. Nicht-Wählen bedeutet also eine klare politische
Positionierung gegenüber der Politik,
freilich ohne Folgen für die Zahl von
Politikerposten oder für die Höhe der
Parteienförderungen.
sondern ob es genug Menschen gibt,
die dem ungebärdigen Spiel der politischen Parteien, das sich in Hinterlist und Korruption verbraucht, entsagen. Was die Demokratie braucht,
sind Pflanzstätten der vom öffentlichen Diskurs Abgesonderten. Jedes
versprengte Häuflein von Nichteinverstandenen ist für den Erhalt des
allgemeinen Verständigungssystems
wertvoll – frei nach dem „Bockgesang“
des Schriftstellers Botho Strauß vor
rund 20 Jahren. Sie sorgen dafür,
dass die Sprache Schutzzonen finden kann, in kleinen Versammlungen, in Experimenten, Meditationen
und Aktionen, die sich nicht beirren
lassen von der fertigen Politik.
Nicht-Wähler sind politik(er)verdrossen, nicht demokratieverdrossen,
und sie sind statistisch gesehen eine
ziemlich starke Kohorte, wie gesagt:
weit mehr Leute, als die stärkste Partei am Wahltag an Stimmen bekommen hat. Es ist unangebracht, sie
aus den medialen Darstellungen des
Wahlergebnisses auszublenden, wie
das üblicherweise geschieht, und es
gibt auch keinen Grund, sie als undemokratisch einzuordnen, nur weil sie
nicht wählen.
Diese kostet uns sowieso genug.
Österreich ist Weltspitze bei der Parteienförderung und sein Parlament
sorgt dafür, dass eine gesetzliche
Regelung für die Finanzierung der
politischen Bildung nur für die Parteien gilt.
Die Frage für die Demokratie
ist nicht, ob eh alle wählen gehen,
Werden Sie aktiv!
Wählen Sie NICHT.
Es sind noch immer viel zu Viele,
die das wählen.
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Forum Europahaus Burgenland
Zarwos des Gonze?
oder Wer braucht das wirklich?
von Franz Bittner
Irgendwie bewegen viele Menschen in diesem Land die Vorgänge
in der sogenannten «großen» Politik. Unbehagen macht sich breit
und breiter. Und vor allem: das
Zutrauen, dass die Verantwortlichen Lösungen bringen könnten,
dieses Zutrauen schwindet, vielleicht ist es schon ganz weg. Gehen
wir ins Detail:
Stichwort:
Hypo
Jetzt ist es heraussen. Das Fiasko
mit der Hypo in Klagenfurt haben
alle, die damit befasst waren,
vergeigt. Natürlich wird alles
dementiert. Nach dem alten Floriani-Prinzip: nicht ich – wo kommen wir denn dahin!? –die anderen sind schuld. Bei den früheren
FinanzministerInnen hat man es
ja ohnehin bemerkt: völlig überfordert, keine notwendige Sachkompetenz. Wozu leisten wir uns diese
Personen in diesen Strukturen. Sie
kommen uns teuer zu stehen. Es
sind aber eben nicht nur die Personen (ich glaube nämlich nicht,
dass sie bewusst Scheiß bauen, sie
arbeiten im guten Glauben, sind
aber völlig überfordert), es liegt
an den überbordenden Strukturen, an nicht klar abgestimmten
Zuständigkeiten.
Stichwort: Bildungsreform
Die (Schul)Bildungsreform steht
seit Jahren auf der Tagesordnung. Getan, besser: reformiert,
wurde bis heute nichts. Es wird
mit Begriffen herumgeschleudert
- offensichtlich verstehen die meisten der in diesem Bereich Tätigen
- überhaupt nicht, was für ein Bildungssystem notwendig und wichtig ist. Da wird natürlich vor allem
herausgestrichen, dass das Besoldungssystem für die Lehrer sakrosankt ist. Vor allem die Bezahlung muss in der unterschiedlichen
Einstufung erhalten bleiben. Da
wird die Bedeutung der gemeinsamen Schulen der 10 bis 14 Jährigen betont oder verdammt. Manche
meinen, es muss eine strukturelle
Differenzierung in g’scheite und
dumme SchülerInnen geben. Was
haben die Betroffenen, nämlich die
SchülerInnen, davon? Warum wird
nicht über die Lehr- und Lerninhalte gesprochen, warum finden
Methoden der modernen Pädagogik keinen Platz in der Diskussion?
Vielleicht braucht es das gar nicht.
Ich kenne viele Pädagoginnen und
Pädagogen im Schulbereich, die die
Sache selbst in die Hand genommen haben. Sie organisieren sich
neue Formen selbst, kooperieren
mit Kollegen und Kolleginnen,
betreiben teamteaching. Es wird
nicht gefragt, ob sie es dürfen. Es
wird einfach gemacht.
Das ist vielleicht ein Beispiel
für künftige Entwicklungen. Die
Menschen in diesem Land benötigen die schwerfälligen und die
meiste Zeit mit sich selbst beschäftigten Verwaltungsstrukturen und
deren Vertreterinnen und Vertreter einfach nicht mehr. Sie haben
ausgedient.
Stichwort: Verwaltungsreform
Da geht ja überhaupt nichts weiter. Da oder dort werden „Erfolge“
gemeldet. Die Grundfragen der
Lösung unserer Probleme werden
nicht einmal angesprochen: der
in Österreich praktizierte Föderalismus gehört abgeschafft. Wie
kommen die Menschen dazu, insgesamt über 400 unterschiedliche
Regelungen zu verstehen und zu
verfolgen? Es gibt in Wien in einem
Aussenbezirk eine sehr lange
Straße (über 400 Hausnummern.
Die eine Seite der Straße gehört
zum Land Wien, die gegenüber liegende zu Niederösterreich. Wie soll
jemand verstehen, dass ein Wiener
Jugendlicher bis 24 Uhr weggehen
darf, der gleichaltrige Freund von
vis a vis jedoch nur bis 22 Uhr. Die
Wahnsinnigkeiten können fortgesetzt werden. Es verwalten die
Bundesländer ihre Budgets - mit
Geld aus dem Bund. Sie überziehen
ihren Ausgabenrahmen - der Bund
zahlt. Da können die „Landeskaiser“ aber schon sehr froh darüber
sein. Ist das doch noch ein Relikt
aus der Monarchie - die „Kaiser“?
Es gibt eine Reihe von Beispielen, in denen völlig unabhängig von
den sog. demokratischen Strukturen gearbeitet wird, manche davon
haben auch eine breite Zustimmung der Bevölkerung. Z. B. die
Bestellung von Geschworenen bei
Prozessen. Da wird nicht gewählt,
das Zufallsprinzip ist hier tätig.
Warum kann man, ein Beispiel,
nicht auch die Abgeordneten im
Parlament im Zufallsprinzip losen?
Ich denke, es wird klar: unser
derzeitiges politisches System ist
eigentlich nicht reformierbar. Zu
viele Lobbies und Interessensgruppen sind da tätig.
Wir müssen - radikal NEIN sagen.
weltgewissen
Nr. 27 – April 2015
47
tERMINE – vORHABEN 2015
MO, 20. April 2015, 19:00 Uhr
MO, 18. Mai 2015 um 19.15 Uhr-
MI – FR, 21. – 23. Oktober 2015
„Menschenwürde unter
Besatzungswillkür“
Wie bewahren Palästinenser ihre persönliche
Würde unter menschenunwürdigen Bedingungen? Bewundernswerte Zeugnisse von Begegnungen mit Menschen in den besetzten Gebieten Palästinas im Herbst 2014 von Mary und Josef Pampalk.
Ort: Europahaus Burgenland
LANGE TAFEL IM KOSMOPOLITISCHEN GARTEN
Abendessen und musikalisches Festprogramm
im Rahmen der Tagung „Über-Leben mit /ohne
Politik?“ – Sicherheit, Entwicklung und Menschenrechte im Lichte europapolitischer, antipolitischer und kosmopolitischer Entwürfe.
Ort: Kosmopolitischer Garten
DO, 22. Oktober 2015, 18:00 Uhr
MI – FR, 22.-24. April 2015
MO, 8. Juni 2015
Seminar „Vom Verlebendigen
der Böden und des Geistes“
mit Hildegard Kurt
Seminar anlässlich der UN-Welttage: 22. April
Internationaler Tag der Erde, 23. April Welttag
des Buches und des Internationalen Bodenjahres 2015, gemeinsam mit dem und-Institut,
Berlin. Ein Angebot für Büchereileiter/innen im
Burgenland und für die Lehrerfortbildung - in
Kooperation mit dem Landesverband Burgenländischer Bibliothekare und Bibliothekarinnen.
Ort: Europahaus Burgenland
Tiefenökologie. Eine liebevolle Sicht auf die Erde
von Elisabeth Loibl, Dipl.Ing.in, Vertreterin der
Subsistenzperspektive und Tiefenökologin an
der Bundesanstalt für Bergbauernfragen in Wien.
MO, 27. April 2015, 19:00 Uhr
in Kooperation mit Attac Burgenland
Filmvorführung
„Wer rettet wen?“
Die Krise als Geschäftsmodell auf Kosten von
Demokratie und sozialer Sicherheit. Ein Film von
Leslie Franke und Herdolor Lorenz – DE 2015
Seit sechs Jahren werden Banken gerettet. PolitikerInnen schaffen immer neue Rettungsfonds, während mitten in Europa Menschen
wieder für Hungerlöhne arbeiten. Es wird gerettet, nur keine Rettung ist in Sicht. Der Film „Wer
rettet wen?“ zeigt, wer wirklich gerettet wird.
Ort: Europahaus Burgenland
DO, 7. Mai 2015, 19:00 Uhr
FRONTEX
Keiner kommt hier lebend rein, Eine mediterrane
Groteske in zwei Akten“
vom österreichischen Schriftsteller und Satiriker
Richard Schuberth anlässlich des Europatages des
Europarates am 5. Mai.
Das groteske Lese-Drama über Rassismus und
Identitätskannibalismus und die versöhnende
und konformistische Kraft schlechten Humors
hat Richard Schuberth im Hinblick auf die großen
Flüchtlingstragödien im Mittelmeer geschrieben.
Ort: Europahaus Burgenland
4. - 21. Mai 2015
Kunstinstallation
„Lampedusa“
in Kooperation mit der werkstätte für kunst im leben
Ort: Europahaus Burgenland
MO-MI, 18. – 20. Mai 2015
Internationale Begegnung in Pannonien – Teil I
„Über-Leben mit /ohne Politik“
– Sicherheit, Entwicklung und Menschenrechte
im Lichte europapolitischer, antipolitischer und
kosmopolitischer Entwürfe.
Konferenz zu Philosophie von Antipolitik
Ort: Europahaus Burgenland und
Seminarhaus im Karmeliterkloster in
Wandorf bei Sopron
pannonisch | europäisch | kosmopolitisch
Welttag der Umwelt
WELT / UMWELT-GESPRÄCH
Buchpräsentationen:
Vielfältige Geographien. Entwicklungslinien für
globales Lernen und Wertediskurse; von Ingrid
Schwarz u.a., Waxmann-Verlag.
Ort: Europahaus Burgenland
MO, 27. Juli 2015, 19:00 Uhr
Fest zu Ehren
Carl Michael Bellmans
Mit Michael Korth , Autor, Sänger und Librettist.
Er übersetzte mit H. C. Artmann Lieder des größten Dichterkomponisten des 18. Jahrhunderts,
des Schweden Carl Michael Bellman, singbar ins
Deutsche.
Ort: Kosmopolitischer Garten
22. August bis 5. September 2015
Internationale Begegnung in Pannonien – Teil II
„Über-Leben mit /ohne Politik“
Festveranstaltung im Gedenken an die Gründung
der Vereinten Nationen, mit einer Aufführung von
Beethovens 9. Sinfonie mit Bezug zum 24. Oktober (Tag der Vereinten Nationen).
Ort: Europahaus Burgenland
zum Tag der Vereinten Nationen
im Rahmen der Tagung Internationale Begegnung in Pannonien – Teil II
„Witz & Spott im Dritten Reich“
dramatisiert, vorgetragen und gesungen von
Franz Richard Reiter; Violine: Mosa Sisic; nach
dem Buch Franz Danimann, Flüsterwitze und
Spottgedichte unterm Hakenkreuz
Ort: noch offen
9. November bis 11. Dezember 2015
WANDERAUSSTELLUNG im
Rahmen von “Finnland
kommt nach Eisenstadt”.
MO, 16. November 2015
Ausstellungsfest
Alltäglich fantastisch: Kindergeschichten aus
Finnland
Die Wanderausstellung des Finnland-Instituts
lädt zu einer Lesereise nach Finnland ein: Alltäglich fantastisch: Kindergeschichten aus Finnland
präsentiert eine handverlesene Auswahl finnischer Kinderbücher in deutscher Übersetzung.
Ort: Kosmopolitische Bibliothek, Europahaus Burgenland
Ausstellungsprojekt
„DIE ANKUNFT DER DINGE“
24. 8. Themenbezogener Gesprächskreis
1. 9. Charity Lesefest mit Ana Schoretits,
Musik: Waltraud Theil
Ausstellungsort: werkstätte für kunst
im leben, Müllendorf
MO, 9. November 2015, 16:00 Uhr
MO, 5. Oktober 2015, 16:00 Uhr
MO, 30. November 2015, 16:00 Uhr
Erster Samowar Nachmittag
Russland und Europa
Inhalt noch offen. Gestaltung im Hinblick auf
einen thematischen Schwerpunkt „RusslandEuropa“ im Jahr 2016.
Ort: Europahaus Burgenland
Zweiter Samowar Nachmittag –
Russland und Europa
„Russland als
multiethnischer Staat.“
Vortrag von Prof. Pusztay János
Ort: Europahaus Burgenland
Dritter Samowar Nachmittag
Russland und Europa
Inhalt noch offen. Gestaltung im Hinblick auf
einen thematischen Schwerpunkt „RusslandEuropa“ im Jahr 2016.
Ort: Europahaus Burgenland
DO, 10. Dezember 2015, 19:00 Uhr
Tag der Menschenrechte
Filmvorführung und
Diskussion
JAKARTA DISORDER – Ist Demokratie möglich? Ein
Film von Ascan Breuer
Jakartas Slumbewohner nehmen die neue Demokratie Indonesiens beim Wort – und mischen sich
in den Präsidentschaftswahlkampf ein: Im Herzen der Megacity Jakarta sollen über Jahrzehnte
gewachsene Slumsiedlungen einem gigantischen
Wohnbauprojekt weichen. Zwei Frauen proben
den Widerstand gegen die lokale Gesetzeswillkür.
Ort: Europahaus Burgenland
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Forum Europahaus Burgenland
Europa passt in
keine Plutzer
Das Burgenland, üppig alimentiert
und armselig regiert, nimmt man
besser vom Tropf.
Ein Plädoyer für Pannonien.
In Niedertracht geht das Land
dahin irrt sein Gesinde
verschlagen von Herrschaftsgebärden
grenzwertig
wie geschaffen
aus dem Geschick großer Politik.
Bekümmert ist Europa
einst Freiheitsfigur
nun verdingt
durch Bankräuber und Parteisoldaten
auf einem Strich am Rande der Pußta
im Visier des Pleitegeiers
um den Mehrwert des politischen Geschäfts.
Ein Mehrwert, der sich mehrt
krisensicher
von Hans Göttel
Erlebniswelt von Landespolitik
mit echt wirkenden Figuren
die im Auto herumgeführt werden
und im Landtag Platz nehmen,
wenn Schulklassen kommen,
bestens vorbereitet
von einer Lehrerschaft der Parteiregime
inspiziert von politischen Kommissaren, die
eingeschult auf Lebenszeit
das Denken hinunterzurichten
bis es drinsteckt in einem Phantom
mit einem politischen Apparat, der
in Taktik und Hinterlist verbraucht
staatstragend in Stellung gebracht
gegen alles,
was trotzdem noch kreucht und fleucht.
in alimentierten Behörden,
die Anträge ohne Stallgeruch nicht erkennen
Der Landtag als Kontrollorgan?
Fast ein Burgenländerwitz!
Als die Landesbank ohne Geld war, vergaß man sogar
zu fragen, wohin…
es war wohl nicht notwendig, zu fragen.
in einem alimentierten Landtag,
mit dem Gerhirnschmalz einer Kopiermaschine
Die Kriminalisierung eines Ausländers genügte,
der Feigheit gewiss.
in üppig alimentierten Parteien,
die sich eine Republik halten
als ihre Ermessensausgabe
Und Gesetzgebung?
Das war früher, und damals schon
mehr Gebärde als Gestaltung
ungebärdige Postenbesetzgebung.
in einer fürstlich alimentierten Regierung,
ohne Kompetenz, Wille,
nicht einmal Manieren.
Rundum Alimentierte, die sich davon machen
mit dem Europäischen Geld im Beutel
und der Europäischen Idee als Beute
hinterlassen eine Euregio
als Lumpenprovinz (lat. pannulus – Lumpen)
von Winden angetrieben
statt durchlüftet
Landespolitik sieht keine Probleme,
sie ist das Problem!
Schafft sie ab, schafft sie ab, schafft sie ab, schafft sie
ab, schafft sie ab, ab, ab, ab, ab – muss man es wirklich neunmal sagen:
Abschieben das Pack!
Wenn es nicht arbeitet
wenn es nicht Deutsch kann
wenn es schmarotzt
wenn sie ihre Familien nachholen
auf die Versorgungsposten
weltgewissen
Nr. 27 – April 2015
wenn sie die Banken ausrauben
Schulden nicht bezahlen
ständig am Tropf hängen
frech unser Geld nehmen
für Ihre Sippschaft, ihre Partei,
ihre Interessen, ihre Macht
wie die Mafia für die Famiglia.
Ein Hauch von Despotie im Aufmarschgebiet des
Seewinkel-Napoleons, verschlagen, gerade noch…
er mag keine Erhebungen, er mag keine Fremden,
keine Akademiker, keine Intellektuellen,
keine Friedensuni, kein Europahaus,
keine Bibliotheken, keine Bücher,
nix,
was eh niemand versteht.
Die Polizei genügt.
Die Putinisierung Ungarns
an der Langen Lacke?
EU-gefördert?
Damit er sich mehrt, der Mehrwert
in den Niederungen
des politischen Geschäfts
mehrt er sich
parasitär, krisensicher
zur Alimentierung von Landespolitik
während das irrende Gesinde
seine zagen Stimmen
in die Urnen legt
zur ewigen Ruhe.
In einem so üppig alimentierten
und doch so armseligen Land?
Her mit Pannonien
her mit den Fetzen
Vogelscheuchen braucht das Land
ein neues Bürgertum,
das am Stecken sich aufrichtet
und fetzig daherkommt,
zerfetzt
die fertige Politik
die sich alles einnäht
her mit kräftigen Stimmen, die
nicht abgegeben werden
einfältig
pannonisch | europäisch | kosmopolitisch
49
in eine Urne
sondern erheben
die Dinge von ganz unten
als geistreiches Unternehmen
das von unten nimmt –
und aushebelt
auf die Schaufel mit der Landespolitik
und auf den Misthaufen damit,
wo die Stallgerüche harmonieren.
So schön ist ein Land,
wie es zur Freiheit führt.
Sonst ist es nicht schön
sondern hässlich –
mit einer Herrschaft,
die sich ungebärdig und frech selbst bedient
und einer Zivilgesellschaft,
die sich billig gibt
als Sekundärelite am Gängelband.
Her mit Vogelscheuchen,
die nicht buckeln und nicht kriechen,
die dem Wind ins Gesicht lachen
die Räuber verarschen
fetzig, sinnlich, unerschrocken
antipolitische Fratzen
um jedes Dorf,
vor jedem Haus,
bei jedem Baum
in jeder Schule!
Mit noch so viel EU-Geld:
Europa passt in keine Plutzer.
Sie braucht ein Land –
frei,
und weit,
geistreich und gütig,
keine Landespolitik,
da geht sie ein,
da geht alles ein
da geht alles,
gehen alle,
weil es einem vergeht,
wenn alles eingeht.
Geht, wird schon gehen, geht,
geht doch,
ein Weg bildet sich, indem man ihn geht.
Fetzig, pannonisch!
Mal sehen,
ob Europa da mitkommt?
Gehen wir!
50
Frontex
Forum Europahaus Burgenland
Buchtipps
Keiner kommt hier
lebend rein
Als alle tot waren,
hatten wir ein
schönes Land
expeditionen
ins Afrikanische
Österreich
Eine mediterrane Groteske in zwei Akten
Gedichte, Edition pen Bd. 5
Ein Reisekaleidoskop
Richard Schuberth
Helmut Stefan Milletich
Walter Sauer
«Frontex – Keiner kommt hier
lebend rein» ist eine Theatergroteske, die – angesiedelt im
südlichen Mittelmeer – das
heuchlerische Verhältnis Europas zur Migration (in diesem
Fall aus afrikanischen Ländern) problematisiert.
Die politischen Gedichte von
Helmut Stefan Milletich sind
ein Produkt der stets wachsenden Zeitzeugenschaft der europäischen Geschichte der letzten
vierzig Jahre.
Warum Eisenstadt in Karl Mays
»Sklavenkarawane« vorkommt, was
Salzburg mit dem südafrikanischen
Burenkrieg zu tun hat oder ob der
erste schwarze Sklave Österreichs
tatsächlich in Kärnten lebte - derlei Fragen stellten sich dem Autor
im Verlauf seiner Fahrt durch das
»Afrikanische Österreich«.
Ein Schiff der Grenzschutzbehörde
Frontex rammt ein Flüchtlingsboot. Die einzigen Überlebenden,
LaBoeuf, ein larmoyanter FrontexOffizier, Swantje van Eycken, eine
Arte-Aufdeckungsjournalistin, Flo
Hagenbeck, eine Berliner Performance-Künstlerin und ein stummer Flüchtling (der „Schwarze Körper“) landen auf einer unbewohnten
Insel. Es gibt kein Fleisch – und
irgendwann muss einer der Überlebenden ein Hölzchen ziehen ...
Richard Schuberth
Frontex
Keiner kommt hier lebend rein
Paperback 128 Seiten
DRAVA 2014
ISBN: 978-3-85435-744-5
Die Gedichte verfolgen keinen parteipolitischen Zweck. Sie setzen
sich mit dem auseinander, was in
uns allen politisch ist und was dieser Drang zur Polis auslöst. Auch
der Rückzug in die Privatheit ist
ein ähnlicher Vorgang, nur in der
umgekehrten Richtung. Die über
Jahrzehnte gehende Aufmerksamkeit des Autors, mit der er die Vorgänge – vor allem Österreichs und
Mitteleuropas – beobachtet, hat
sich auch in den über Jahre laufenden (politischen) Wochenkommentaren in Radio Burgenland
manifestiert. Sie wurden von allen
Parteien bekämpft, es kam nur darauf an, welches Thema der Autor
gerade bearbeitete.
Helmut Stefan Milletich
Als alle tot waren, hatten wir ein schönes Land
Broschur, 111 Seiten
LÖCKER
ISBN 978-3-85409-654-2
Entstanden ist daraus ein Reiseführer besonderer Art, der nach
dem »grabe, wo du stehst« Prinzip afrikanischen Spuren in Wien
und den Bundesländern nachgeht
und dabei überraschende Facetten
österreichischer Geschichte und
Gegenwart freilegt.
Walter Sauer
Expeditionen ins afrikanische Österreich
Ein Reisekaleidoskop
Broschur 480 Seiten
MANDELBAUM
ISBN: 978385476-451-9
weltgewissen
Publikationen
Europa im Unterricht. Eine neue
Dimension in der Bildungsarbeit
Dokumentation von Veranstaltungen des
Europahauses in den Jahren 1991-1993.
Eisenstadt, 1994
Haus „mit weiten Augen“ -
Europahaus Jahresbericht 1994.
Gestaltet von Margarethe van Maldegem.
Eisenstadt, 1995
Lernen und Lehren um 5 vor 2000.
Bildungsbemühungen für eine
unmögliche Welt.
Sammlung verschiedener Beiträge, Interviews
und Stellungnahmen zu den Themen zu
Bildungspolitik und -philosophie. Mit Interviews.
Mandelbaum Verlag, Wien 1996,
ISBN 3-85476-001-9
Bis hierher und trotzdem weiter 30 Jahre Europahaus im Burgenland
Festschrift mit Fotos und Interviews.
Eisenstadt, 1997
Lehrer(in) sein in Mitteleuropa
Dokumentation einer empirischen Untersuchung in Österreich, Slowenien, Ungarn,
Tschechien und der Slowakei.
Autorin: Renate Seebauer.
Mandelbaum Verlag, Wien 1997,
ISBN 3-85476-08-6
Europahaus Burgenland
Almanach 1998
Jahrbuch zur Arbeit des Europahauses
mit literarischen und künstlerischen
Beiträgen und Interviews.
Gestaltet von Margarethe van Maldegem.
Eisenstadt, September 1998
Polis Pannonia - Lesarten zur
Bildung des Politischen,
Hrsg. Hans Göttel.
(Europahaus Burgenland Almanach 2000)
Eisenstadt, 2000
Weltverantwortung und Bildung
Ein Lese- und Bilderbuch zur
Jubiläumsakademie 2001 und zu ähnlichen
Versammlungen, die Grund zur Freude waren.
Hrsg. Hans Göttel
und Ilse Hirschmann.
(Europahaus Burgenland Almanach 2002)
Eisenstadt, 2002
Pannonien - Regionsbildung für die
europäische Zivilgesellschaft
Geschichte, Fakten, Strategien, Bilder.
Hrsg. Hans Göttel und Eef Zipper.
Europahaus Burgenland_Dossier,
96 Seiten, Verlag Rötzer, Eisenstadt 2002
Bürgernähe durch Mitbestimmung
Die Potentiale von Initiative und Referendum
für den europäischen Einigungsprozess.
Thesenpapier für ein europäisches Projekt.
Broschüre, 32 Seiten.
Hrsg. Europahaus Burgenland und Initiative &
Referendum Institute, Europe, Amsterdam
Transnational Democracy
in the Making
Handbook on the New Challenge of European
Initiative(s) & Referendum(s) after the
Convention. Report on the project
„A participative Union closer to it’s citizens“.
192 Seiten. Hrsg. von Europahaus Burgenland,
Initiative & Referendum Institute Europe.
Eisenstadt, 2003
Merkwürdige Welten
Bilder- und Lesebuch zu europäischen
Versammlungskulturen.Dokumentation einer
Grundtvig-Lernpartnerschaft.
96 Seiten. Verlag Rötzer.
Europahaus Burgenland_Dossier.
Eisenstadt 2003
Europahaus Burgenland
Almanach 2004
Der Geschmack von Nachhaltigkeit
in der entwicklungspolitischen Polemik
Ein Lese- und Bilderbuch.
In memoriam Ivan Illich
Auswahl der Texte & Fotos: Hans Göttel
Gestaltung des Bildteils: Ilse Hirschmann
Bestellung frei im Europahaus
Die Demokratische Stimmung
von Europa
Wege zu einer atonalen Harmonie?
Europahaus Burgenland_Dossier,
80 Seiten, Verlag Rötzer, Eisenstadt 2004
A Fortune for Empowering Europe –
Activating an Educational Fortune
by Citizens Initiatives and Adult
Education
Forum Europahaus Burgenland Spezial,
48 Seiten, Verlag Rötzer, Eisenstadt 2005
Von Antipolitik bis Zukunft
Stichwörter zum demokratischen Leben
der Europäischen Union,
Forum Europahaus Burgenland Spezial,
76 Seiten, Verlag Rötzer, Eisenstadt 2006
Pannonien – Kosmopolitische Heimat
Europahaus Burgenland Almanach
Herausgegeben
von Margarethe van Maldegen
Eisenstadt 2011
pannonisch | europäisch | kosmopolitisch
IMPRESSUM
WELTGEWISSEN
wird vom Europahaus
Burgenland herausgegeben.
Redaktion:
Hans Göttel
Titelbild und Illustrationen:
Klaus Pitter
Layout und Grafik:
Helga Kuzmits,
Europahaus Burgenland
Druck:
Rötzer-Druck Ges.m.b.H.
Joseph-Haydn-Gasse 32
7000 Eisenstadt
[email protected]
www.roetzerdruck.at
Auflage:
3.000 Stück
Anschrift der Redaktion:
Europahaus Burgenland
Campus 2, 7000 Eisenstadt
Telefon: +43 2682 72190-5933
Telefax: +43 2682 72190-5931
[email protected]
www.europahaus.eu
Redaktionsschluss
für das Heft 28:
30. Juni 2015
Nachweis der Fotografien:
Europahaus Burgenland
Umschlagseiten von Klaus Pitter abgedruckt in:
„Gehirn für Einsteiger“ und „Gehirn für Fortgeschrittene“ von Manuela Macedonia und Stefanie Höhl, mit Illustrationen von Klaus Pitter.
www.macedonia.at
52
Forum Europahaus Burgenland
Unvermeidbare Schicksale von Propheten?
Beitrag von den Familien Lang, Mayerhofer-Sebera, Pampalk und Smutny.
Ist das Schicksal der Untergrundkirche der ehemaligen Tschechoslowakei ein vorprogrammiertes Prophetenschicksal oder ein
„bleibender Schandfleck kurialer
römischer Selbstherrlichkeit“? wie Quart, Zeitschrift des Forums
Kunst-Wissenschaft-Medien es
beim Namen nennt (Nr. 4/2014, S.
23, vgl. www.quart-online.at).
Dass der Eiserne Vorhang jede
Information und Kommunikation
verhindert hat, das macht unsere
Wissenslücke von 50 Jahren verständlich, fast entschuldbar. Aber
höchstens damals. Seit der Wende
sind 25 Jahre vergangen, die beiden Nachfolgestaaten Slowakei
und Tschechien sind schon über 10
Jahre bei der EU; mit uns zusammen. Jedoch haben sich Nichtwissen und Teilnahmslosigkeit
unsererseits geändert oder verfestigt? Bleibt Wissen ohne nachzufragen nicht de facto ein Nichtwissen? Ignoriert es nicht, dass
unser Desinteresse denen in die
Hände spielt, die auf „die biologische Liquidation der Untergrundkirche“ und ihrer noch lebenden
Mitglieder setzen?
Tatsächlich gab es selbst unter
dem ärgsten Kommunismus eine
lebendige Untergrundkirche, zu
deren Gründung und Strukturaufbau durch geheime Weihen
Pius XII selbst beauftragt hatte.
Zum Schutz vor Geheimdiensten
und Verfolgung konnte diese Kirche im Verborgenen nicht zentral, sondern nur in dezentralen,
voneinander unabhängigen Kreisen überleben und florieren. Der
brünner Untergrundbischof Felix
Maria Davidek (1921 – 1988) hat
in 20 Jahren 17 Priester geheim zu
Bischöfen geweiht, darunter 1979
Dušan Špiner (* 1950). Dieser ist
einer der jüngsten Bischöfe dieser
Gemeinschaft („Koinótés“) und
repräsentiert ihre pastoralen Visionen und spirituellen Erfahrungen.
Mit Recht denunziert er die amtskirchliche Unterdrückung nach der
Politischen Wende von 1989: „Die
Kommunisten haben uns nicht
zum Schweigen gebracht, erst der
Vatikan.“
Das Regime hatte seine eigene
Strategie geplant mit kollaborierenden oder zumindest konformen
„Friedenspriestern“. Mit diesen
ging die „Ostpolitik“ des Vatikans
Kompromisse ein, anstatt zu den
Glaubenszeugen der Geheimkirche
zu stehen (Kirche Intern 12/1999 :
Audienz des „steinharten“ Kardinalstaatssekretärs Casaroli). Von
den oben erwähnten Bischöfen ließ
Rom nach der Wende nur zwei gelten, die sich einer „2. Weihe, sicherheitshalber“ unterworfen hatten.
Wer sich einer zweiten Bischofsweihe verweigerte, musste eine
Verzichtserklärung unterschreiben, so wie Dušan Špiner am
9.3.1992.
Ironischerweise hatte ihm das
ČSSR-Regime seinerseits 1976 die
staatliche Genehmigung entzogen,
sein Priesteramt auszuüben. Erst
nach dem Fall des Regimes durfte
er wieder Seelsorger Dienste übernehmen, nebenbei 2001 an der Universität in Bratislava zum Dr. phil.
promovieren. Erzbischof Jan Sokol,
selber der Kollaboration mit dem
Ex-Regime bezichtigt, und einige
andere Bischöfe verhinderten aber,
dass Špiner ein Lehramt an einer
weltgewissen
Nr. 27 – April 2015
slowakischen Universität ausüben
durfte. Seither ist er Dozent für
Ethik und Religionswissenschaft
an der Pädagogischen Fakultät in
Olmütz, Tschechien. Dort hat ihn
unsere Gruppe von vier Familien
im April 2012 besucht (s. Fotos)
Jedoch „in der Slowakei setzt die
Amtskirche ihre Politik mühelos
und mit Unterstützung der meisten
Gläubigen fort“- stellt er in seinem
Brief fest. Was sehen wir darin?
Das unvermeidbare Schicksal von
Propheten oder doch „Die verratene
Prophetie“? (s. Buch). Verfolgungen
bergen gefährliche Schattenseiten,
können Mentalitäten von Einzelkämpfern überbetonen, selbst über
die Zeit der Verfolgung hinaus. Wie
könnten solche Isolationen, mitverschuldet und fatal verstärkt
durch Interesse- und Teilnahmslosigkeit westlicher Nachbarn, mit
pannonisch | europäisch | kosmopolitisch
53
respektvolleren Schritten bewusst
gemacht und überwunden werden?
Umso bedeutender ist das Brechen des Schweigens Bischof
Špiners in seinem hier abgedruckten Hirtenbrief vom 20. September 2014. Die dringende Auseinandersetzung damit ist sinnvoll! Die
für Glauben und Menschenrechte
ihr Leben riskiert haben, erfuhren bisher eine unwürdig verletzende Behandlung, nicht nur von
Rom. Die doppelt Verdächtigten
haben in einem glaubensfeindlichen Umfeld zukunftsweisende
Ansätze christlichen Zeugnisses
überlegt und getestet, auch für
unsere sich verändernde Welt.
Diese Ausgabe 1/2015 von „Weltgewissen“ hinterfragt daher alle:
Sind wir nur bereit, darauf weiterhin bloß schweigend zu reagieren,
naiv oder betreten?
Bischof Dušan Špiner (3. v. rechts) mit unserer
Familienrunde
„... gemeinsam synodale Wege gehen,
getreu dem prophetischen Geist...“
Bereits vor Jahren hat die Herbert-Haag-Stiftung für „Freiheit
in der Kirche“ (www.herberthaagstiftung.ch) den Totgeschwiegenen
wieder Gehör verschafft , indem sie
ihren Preis 2011 der Untergrundkirche verlieh (Kathpress 3.4.2011)
und folgendes noch im Handel
erhältliche Buch veröffentlichte:
Erwin Koller, Hans Küng und
Peter Križan (Hg.): Die verratene Prophetie: Die tschechoslowakische Untergrundkirche
zwischen Vatikan und Kommunismus. Exodus, Luzern 2011
(s. auch: http://www.pfarre-berndorf-stveit.at/downloads/Pfarrblatt5_2012.pdf )
54
Forum Europahaus Burgenland
Geliebte Schwestern und Brüder,
alle die es betrifft, alle die sich angesprochen fühlen,
empfangen Sie meinen Apostolischen Brief und meinen Jubiläumssegen!
Am 6. Oktober 1979, vor 35 Jahren also, hat mich Bischof Felix Maria Davídek (1921-1988) zum
Bischof geweiht. Ich übernahm den apostolischen Dienst im Rahmen der Verborgenen Kirche in
der damaligen Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (ČSSR). Der Bischof von Rom,
Papst Pius XII., hatte ja bereits in den 50er Jahren den Auftrag erteilt, im Untergrund seelsorgliche Strukturen aufzubauen, damit sich die Freiheit im Sinn der biblischen Botschaft auch unter
antichristlichen und antikirchlichen Mächten entfalten könne. Aufgrund dieser „Mexikanischen
Vollmachten“ bildeten sich Gruppen und Gemeinschaften, in denen wir bischöfliche und priesterliche Vollmachten empfangen und weitergeben durften. Bischof Davídek weihte aus seelsorglichen Gründen auch verheiratete Männer nicht nur zu Priestern, sondern auch zu Bischöfen, sowie – nach Gebet, langen und sorgfältigen Überlegungen und Beratungen - Frauen zu
Priesterinnen. Dieser davídeksche Zweig der Geheimkirche umfasste gegen 25 Bischöfe, 250
Priester und Priesterinnen und hunderttausende von Laien. Diese christliche Freiheit, die wir
erworben hatten, war freilich mit Angst und lebensbedrohlicher Verfolgung verbunden. Einige
bezahlten ihren Einsatz für die christliche Freiheit gar mit dem Tod. Bischof Davídek selbst hat
vierzehn Jahre, von 1950 bis 1964, im Gefängnis verbracht.
Vor 25 Jahren erlebte die Tschechoslowakei eine politische Wende. Dies führte zu einer neuen
politischen und kulturellen Situation. Es stellte sich die Frage, wie die Religionsgemeinschaften
darauf eingehen sollten. Auch die katholische Kirche sah sich herausgefordert. Vom davídekschen Zweig der Verborgenen Kirche her schlugen wir der Kirchenleitung vor, unsere Erfahrungen aus der Zeit der Verfolgung in die Neuorientierung einzubringen. Aber die Kirchenleitung
lehnte dies ab. Sie wollte nicht in kreativer Weise auf die neue Situation eingehen, sondern
knüpfte an die vorkonziliare Kirche der 40er Jahre an. Aus diesem Geist heraus versuchte sie,
die Nachfolgegruppen der Verborgenen Kirche, die auf der Linie von Bischof Davídek weiterdachten, zu ersticken. Nach einer langen Zeit kommunistischer Unterdrückung erfuhr die Verborgene Kirche nun eine amtskirchliche Unterdrückung.
Vor fünf Jahren schrieb ich in meinem Apostolischen Brief zum dreißigjährigen Jubiläum meiner Bischofsweihe: „Ich muss den Tatsachen nüchtern ins Auge sehen und demütig feststellen,
dass die Amtskirche erfolgreich das Programm der biologischen Liquidation der totgeschwiegenen Kirche fortsetzt, indem sie uns am Rand des gesellschaftlichen Geschehens aussterben
lässt. Besonders in der Slowakei setzt die Amtskirche ihre Politik mühelos und mit Unterstützung
der meisten Gläubigen fort.“ Sollte dies das Schicksal der Prophetinnen und Propheten sein?
Inzwischen hat sich eine neue „Wende“ ergeben, in der wir das Wirken des Heiligen Geistes
erkennen. Die „Herbert Haag-Stiftung für Freiheit in der Kirche“ machte international auf diese
Tragik aufmerksam, als sie am 2. April 2011 in Wien dem davídekschen Zweig der Untergrundkirche ostentativ den „Preis für Freiheit in der Kirche“ verlieh. Ludmila Javorová, die erste Priesterin und langjährige Generalvikarin von Bischof Davídek, sowie ich selbst nahmen den Preis
entgegen.
Die Stiftung zeichnete zugleich den Bibelwissenschaftler Prof. Walter Kirchschläger aus. Sie
würdigte die Offenheit und Weite, in der er heiße Eisen der Kirche anpacke, im Blick zurück
auf die Bibel kritische Anfragen an die gegenwärtige Praxis kirchlicher Ämter stelle und Perspektiven für die Zukunft der Kirche entfalte. Kirchschläger reflektierte in seiner Festrede das
Kirchenbild und die Kirchenpraxis der Verborgenen Kirche und nannte das Handeln der Verborgenen Kirche prophetisch – angesichts der Tatsache, dass die neutestamentliche Zeit im
Kontext der christlichen Verkündigung keine „Priester“ kannte und dass Dienste nicht aufgrund
von Geschlecht und Lebensstand übertragen wurden.
weltgewissen
Nr. 27 – April 2015
55
Zur Preisverleihung veröffentlichte die Stiftung für Freiheit in der Kirche das Buch „Die verratene
Prophetie. Die tschechoslowakische Untergrundkirche zwischen Vatikan und Kommunismus“.
An die zwanzig Autorinnen und Autoren zeigen darin auf, wie sich die Verborgene Kirche den
Herausforderungen ihrer Zeit gestellt hat und so heute als Vision für die gesamte katholische
Kirche wirken kann. Aber es sei dennoch eine „verratene Prophetie“, verraten nicht durch ein
politisches Regime, sondern durch die eigene Kirchenleitung.
Dieses internationale Echo ist für uns eine außerordentliche Ermutigung auf dem Weg in die
Zukunft. Dabei möchten wir, dass vor allem eines nicht vergessen wird: Die Freiheit, die wir
kraft der „Mexikanischen Vollmachten“ hatten, war nicht ein Geschenk, sondern ein Auftrag
des Bischofs von Rom. Er wurde dem Petrusdienst gerecht und „ermutigte seine Brüder“, unter
schwierigen Umständen in eigener Verantwortung kirchliche Gemeinschaft zu leben und weiterzugeben. Es war kein „Erteilen“ einer Freiheit, sondern ein „Anerkennen“ der Freiheit, die vom
Evangelium her gegeben ist.
Soll nur vorübergehend gelten, was vom Evangelium her möglich ist? Diese Freiheit ist uns auch
heute apostolischer Auftrag, dies in einer neuen politisch-kulturellen Situation, in der sich das
Scheitern des pastoralen Weges zeigt, den unsere Kirchenleitung nach der politischen Wende
vor 25 Jahren eingeschlagen hat. Wir lassen nicht zu, dass uns diese Freiheit weggenommen
wird. Wir lassen uns nicht einreden, sie sei uns nur als besondere Gunst verliehen worden. Sind
wir etwa Häretiker, die den Glauben verraten haben, oder Verbrecher, die um eine Amnestie
bitten müssten? Darf das Horchen auf Gottes Stimme in einer schwierigen historischen Situation mit dem Gehorsam gegenüber einer kirchlichen Obrigkeit auf gleiche Stufe gesetzt werden? Kann irgendeine Autorität der Welt die prophetische Entdeckung der Verborgenen Kirche
zurückdrehen und vergessen machen?
Geliebte Schwestern und Brüder, diese Fragen bewegen mich in diesen Tagen, da ich in Dankbarkeit und Zuversicht das 35-jährige Jubiläum meiner Bischofweihe feiere. Ich bitte Sie, auf
dem Weg zu bleiben, den wir gemeinsam gegangen sind. Wir wollen in den nächsten Jahren
gemeinsam vertiefen, was uns der „Preis für Freiheit in der Kirche“ und das damit verbundene
internationale Echo neu bewusst macht. Wie können wir die prophetischen Visionen der Verborgenen Kirche für die Kirche des 21. Jahrhunderts weiter entfalten? Was bedeutet die Erneuerung des kirchlichen Leitungsdienstes? Welchen Sinn hat die Ordination in der apostolischen
Nachfolge? Was bedeutet es, dass sich die Argumentationen der Kirchenleitungen gegen die
Frauenordination als Ideologien erweisen, die theologisch überholt sind? Wie können wir ein
biblischeres Verständnis von Ordination und apostolischer Sukzession fördern, das in einer
weltweiten Bewegung spürbar wird und sich durchsetzen kann?
Aber wir wollen diese Fragen nicht nur theoretisch beraten, sondern in Gruppen und Gemeinschaften synodale Wege gehen, getreu dem prophetischen Geist von Bischof Felix Maria Davídek. Wir vertrauen darauf, dass der Bischof von Rom weiterhin den Petrusdienst leistet und
„seine Schwestern und Brüder ermutigt“. Auch wir wollen ihn dazu ermutigen. Der allgemeine
Petrusdienst ist Teil des Gemeinsamen Priesteramtes aller Getauften.
Geliebte, ich ermuntere Sie, einander im Sinn dieses allgemeinen Petrusdienstes zu segnen.
Bitte segnen Sie auch mich und empfangen Sie meinen Apostolischen Jubiläumssegen!
Euer+ Dušan
Olmütz, am 20. September 2014
Genehmigter Abdruck des Apostolischen Briefes von Dušan Špiner.
pannonisch | europäisch | kosmopolitisch
56
Forum Europahaus Burgenland
Unsere Wege – unser Wissen.
Von Pannonien nach Oxford und zurück.
von Hans Göttel
Schon in ganz alten und mittelalterlichen Zeiten gab es Wissenswege,
um irgendwo – in Ephesos, in Chartres oder eben in Oxford – Schriften
oder Gelehrte zu finden, die das Denken berühren und bewegen konnten. So ging der dänisch-norwegische Schriftsteller Ludvig Holberg
Anfang des 18. Jahrhunderts nach
Oxford, weil es dort eine Bibliothek
gab, damals die erste und einzige in
Europa, wo die Bücher frei standen
und man ran durfte ohne zuvor sagen
zu müssen, was man sucht, sondern
durch die unbefangene Begegnung
mit Wissen entdecken durfte, was
man (gar nicht) suchte.
Mit Pannonien starten wir aus
einem ziemlich verkommenen
Gelände. Der Begriff Pannonien wird
fast nur mehr in verluderter Form für
allerhand Touristisches und Kulinarisches gebraucht. An neue bzw. alte
politische Regionalisierung denkt
kaum jemand ernsthaft, obwohl die
Idee der Euregio (West-Pannonien)
genau das beinhalten würde: nämlich ein bürgerliches Zusammenwachsen in Europa in einer alten und
neuen Region. Formen grenzüberschreitender Bürgerbeteiligung, ein
mehrsprachiges pannonisches Schulsystem, ein pannonisches Regionalparlament, eine gemeinsame pannonische Vertretung, zum Beispiel in
Ausschüssen für Regionalfragen in
Brüssel – alles zuverlässig blockiert
durch jene, die eigentlich genau dafür
die Gelder bekommen.
Noch weniger denken wir an
so etwas wie einen pannonischen
Genius, den genius loci unserer
besonderen Region. Das hat aber Gott
sei Dank einer der größten und dennoch sehr wenig bekannten Schriftsteller Pannoniens getan, nämlich
Béla Hamvas. Hamvas starb 1968
und hinterließ, obwohl er als Lagerarbeiter schuften musste (er war bei
den kommunistischen Macht- und
Wachthabern in Ungnade gefallen),
ein umfangreiches lebensfrohes literarisches Werk, das, als er starb,
genau in der Geburtsstunde einer
Weltanschauungsgeneration, der
68er-Bewegung, wie eine Antithese
auf diese Bewegung schien. Sein
Werk war nämlich radikal antipolitisch – und er dachte dabei weit über
die miserable politische Kultur des
Kommunismus hinaus.
Hamvas war begeisterungs- und
berauschungsfähig. Sein köstliches
Buch „Die Philosophie des Weines“
ist ein wahrlich erfahrungsgesättigtes Werk. Aber er bewahrte in
den entscheidenden Augenblicken
eine erstaunliche Nüchternheit. Sie
bewahrte ihn davor, in paradiesische
Scheinwelten abzudriften. Hamvas
bleibt in seinen Essays Realist, ein
spirituell aufgeschlossener, ein poetischer durchglühter Realist. Er hat
gesehen, wie ein Menschenleben dramatisch und verhängnisvoll verlaufen kann, weil der Mensch Gedanken von ungeheurer Kraft in sich
trägt, oft ohne Hoffnung darauf, sie
auch in Wirksamkeit und Wirklichkeit bringen zu können. Der Baum
dagegen, so erkannte Hamvas, hat es
da besser. Er bleibt innerhalb seiner
Möglichkeiten. Der Baum liest weder
die Bergpredigt noch Entwicklungsprogramme, er lässt Früchte in aller
Ruhe ausreifen.
Ein zweiter großer Pannonier,
der uns auf den Weg der Forschung
gebracht hat, ist Marc Aurel, römischer Kaiser vor fast 2000 Jahren,
der sein Imperium über viele Jahre
von Pannonien aus regierte. Er führte
eine Art Tagebuch, die sog. Selbstbetrachtungen, ein großes Dokument
weltgewissen
Nr. 27 – April 2015
57
Bild links: Bodleian Library in Oxford; eine über 400
Jahre alte Präsenzbibliothek,
enthält über 8,5 der 13 Millionen Bände, die der Universität gehören.
der Weltliteratur und der stoischen
Philosophie, in dem sich u.a. dieser
Satz befindet:
„Haben wir das Denkvermögen
miteinander gemein, so ist uns auch
die Vernunft (logos) gemein. [...]
Ist dies so, so haben wir auch das
Gesetz gemein; ist dies so, so sind wir
alle Bürger und nehmen an einem
gemeinschaftlichen Staate teil; ist
dies so, so ist die Welt gleichsam
ein Staat.“
Die „Selbstbetrachtungen“ verfasste Marc Aurel in Carnuntum.
Dieses frühe und kühne Dokument
kosmopolitischen Denkens wurde
also vor fast 2000 Jahren in Pannonien geschrieben.
Mit dem US-amerikanischen
Kunsthistoriker Roger Lipsey haben
wir Carnuntum besucht und die Verbindung, die er in seiner Hammarskjöld-Biographie zwischen Marc
Aurel und Dag Hammarskjöld hergestellt hat, in einer Exkursion nachvollzogen. Lipsey bringt im Vorwort
zu seinem umfangreichen Werk die
Idee ins Spiel, Dag Hammarskjöld
wäre eine Art Marc Aurel des 20.
Jahrhunderts gewesen.
Dag Hammarskjöld war Generalsekretär der VN 1953 - 1961, – und
auch er schrieb eine Art von Tagebuch „Vägmärken“ (auf Deutsch:
„Zeichen am Weg“), das zur Weltliteratur gehört. Wie Hamvas ist auch er
eine faszinierende Figur, mit der sich
weder die Großmachtpolitik noch die
68er Generation einlassen wollte.
Wir lassen uns genau darauf ein,
denn wir im Europahaus sind vor
allem Theoretiker, d.h. immer neugierig und bereit, uns einzulassen.
Wie die antiken Theoretiker Menschen waren, die sich auf die Einladung zu einem Gastmahl eingelassen
haben. Genau das bedeutet nämlich das Wort theoretikos: Teilnehmer einer Festgesandtschaft zu sein.
Wer von einer solchen beschwingt
pannonisch | europäisch | kosmopolitisch
und erzählfreudig von dannen geht,
ist zum Praktiker geworden; denn
das meint der Begriff Praxis: etwas
Schwingendes, Bewegendes weitertragen, weitergeben, etwas in Bewegung bringen. Und wenn das so weit
geht, dass jemand etwas konkret
macht, etwas fertig stellt – etwas
zur Wirklichkeit verdichtet – so darf
er / sie sich Dichter nennen. In der
Antike waren die Poeten die Macher
– heute würde man sagen: die Ingenieure – was durchaus plausibel ist: die
Ingenieure bringen heute die Gesetze
der Natur in unsere Vorhaben (damit
das gebaute Haus nicht umfällt oder
die Brücke nicht einstürzt); die Poeten der Antike brachten damals die
Gesetze des Kosmos unter die Menschen, damit alles seine göttliche
Ordnung bekam. Von der Theorie,
dem passenden Eingelassensein,
über die Praxis, also das Weitertragen bis zum verdichtenden Tätigsein, der Poesie - das ist ein Weg, auf
dem allerdings eine Gefahr lauert,
die Einstein, ein großer Theoretiker
und ein großer Kosmopolit, gesehen
hat. Sie liegt im Versuch, Probleme
in einem Denken zu lösen, das genau
diese Probleme verursacht. Das ist
kaum irgendwo deutlicher zu sehen,
als in der Entwicklungspolitik. David
Bohm, ein Schüler Einsteins und großer Quantenphysiker meinte gar:
„Nicht wir haben das Denken, sondern das Denken hat uns“. Und wir
könnten uns fragen: Wessen Denken
hat uns? Im Schatten welcher Monumente bewegen wir uns? Und welche
Denkmöglichkeiten sind unter dem
Schutt der Geschichte begraben und
müssen wieder geborgen werden?
Was ist eigenes, was ist eigensinniges Denken?
Unser Wissensweg hat uns nach
Oxford geführt, in ein weltweit einzigartiges Forschungslabor für künstlerisches Arbeiten, in die Social Sculpture Research Unit an der Oxford
Brookes University (früher: Oxford
School of Art). Das hat ganz wesentlich damit zu tun - wie ich allen Theoretikern, Praktikern und Poeten
im Europahaus in großer Dankbarkeit sagen möchte – wie im Europahaus gearbeitet wird. In der Art und
Weise, wie wir uns auf die Welt einlassen, liegt der Grund, warum wir
in Oxford eingelassen sind.
Unsere Verbindung besteht in der
künstlerisch angelegten Dag Hammarskjöld-Forschung. Nicht nur
erhebt diese verdichtete, künstlerische Darstellung wissenschaftlichen
Anspruch und bedient sich wissenschaftlicher Mittel, sie behauptet
sogar, gerade in der künstlerischen
Darstellung der Eigenart Dag Hammarskjölds wissenschaftlich gerecht
werden zu können. Diese Auffassung von wissenschaftlicher Darstellung, die an manchen Stellen
soweit gehen mag, Dag Hammarskjöld noch einmal, diesmal als Künstler, tätig werden zu lassen, kommt
aus dem erweiterten Kunstbegriff
der “Sozialen Plastik”1, die der Aktionskünstler Joseph Beuys2 populär
gemacht hatte.
Forschung, so sind wir abgerichtet, zu denken, sei etwas schwer
Verständliches, umständlich Formuliertes, Trockenes usw. Tatsächlich können wir durch die künstlerische Herangehensweise, wie
sie in Oxford gelehrt wird, lernen,
dass wir eher weiter kommen und
vor allem: dass wir tiefer kommen
durch die Kunst der Verwandlung
von Anschauungs- und Denkformen, durch ein Weg-Gehen aus Verhältnissen, die nicht bekömmlich
1 Eine Annäherung an die Idee der Sozialen Plastik bietet das Buch von Shelley Sacks und Hildegard Kurt: „Die rote Blume. Ästhetische Praxis in
Zeiten des Wandels“, thinkoya-Verlag, 2013. Die
Autorinnen entwickeln diese Idee in einem Dialog,
in dem sie den Leser / die Leserin als Agent/innen
des Wandels ansprechen.
2 Joseph Heinrich Beuys, 1921-1986, war ein
deutscher Aktionskünstler, Bildhauer, Zeichner,
Kunsttheoretiker und Professor an der Kunstakademie Düsseldorf. Beuys setzte sich in seinem
umfangreichen Werk mit Fragen des Humanismus,
der Sozialphilosophie und Anthroposophie auseinander. Dies führte zu seiner spezifischen Definition
eines „erweiterten Kunstbegriffs“ und zur Konzeption der Sozialen Plastik als Gesamtkunstwerk, in
dem er Ende der 1970er Jahre ein kreatives Mitgestalten an der Gesellschaft und in der Politik
forderte.
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Forum Europahaus Burgenland
Studienreise nach Oxford und London
gefördert von Erasmus+
Projekttitel: „Kosmopolitisches Denken und Gestalten - ein Gelände europäischer Bildung.
Künstlerisches Arbeiten mit dem geistigen Erbe von Dag Hammarskjöld (1905-1961)
in der Idee der Sozialen Plastik.“
sind. Gerade in der politischen Bildung brauchen wir neben der Pädagogik, der Kunst des Hinführens,
des Begleitens, der Einführung auch
die Apagogik, die Kunst des Wegführens, des Anhaltens, des Schützens
angesichts von umgebenden Todeszonen, wie es Joseph Beuys formuliert hat: „Die Welt ist in Gefahr,
umgehend aus den Parteien austreten“ oder knapp vor seinem Tod: „Ich
bin gegen Politik. Ich bin für Gestaltung.“ Dass immer mehr Menschen
der Politik den Rücken kehren, ist
kein Grund, pädagogisch zu werden.
Es ist vielmehr eine Ressource für
das Umdenken. Im Umdenken zu
leben, ist eine große Herausforderung, die gerade eines besonderen
Könnens bedarf. Im Umdenken zu
leben, ist das einzig Stabile, so Béla
Hamvas: der Schwerpunkt der Welt
ist die Transformation.
Einen Einblick in diese besondere Kunst hat im September 2014
eine kleine Europahaus-Delegation
gewonnen, die sich im Herbst eine
Studienreise nach England geleistet
hat. Zu den Höhepunkten gehörte ein
Seminar an der Universität mit der
Aktionskünstlerin Shelley Sacks und
dem Philosophen Wolfgang Zumdick
sowie ein Treffen mit dem Österreichischen Botschafter in London,
Emil Brix, und seiner Frau, die uns
gleichsam einen workshop zu Fragen der Zivilgesellschaft im Vergleich Großbritannien – Österreich
geboten haben.
Studienreise - Projekttitel: „Kosmopolitisches
Denken und Gestalten - ein Gelände europäischer Bildung. Künstlerisches Arbeiten mit
dem geistigen Erbe von Dag Hammarskjöld (1905-1961) in der Idee der Sozialen
Plastik.“
Ein Erasmus-Projekt ermöglichte einigen Mitarbeiter/innen
des Europahauses diese Weiterbildung, die heuer mit einer Studienreise nach Schweden zu besonderen
Hammarskjöld – Gedenkorten fortgesetzt und abgeschlossen wird. Für
2016 und 2017 sind Studienreisen
nach New York (wo Hammarskjöld
als UN-Generalsekretär gewirkt hat)
und ins südliche Afrika (wo er 1961
beim Versuch, die Kongokrise zu
lösen, ums Leben kam) vorgesehen.
Exkursion mit David Rayner und Amanda
Little nach East London.
Ausgangspunkt und Wirkungsziel
dieser Vorhaben ist und bleibt Pannonien. Doch angesichts der aktuellen
Gefährdung durch landespolitische
Bildungsbarbarei kann es sinnvoll,
womöglich notwendig sein, unser
Atelier für kosmopolitische Theorie,
Praxis und Poesie auf Bildungsreisen
und ausgesuchten Wissenswegen neu
zu begründen: zu transformieren in
eine Freie Akademie Neuburgenland.
kleine Bilderreihe von oben nach unten:
Führung und Gespräch in der East London
Moschee und Muslimisches Zentrum.
Exkursion in das Museum für Einwanderung
und Vielfalt „Princelet Street“.
Zu Gast beim Jüdischen Neujahrsfest in The
Congregation of Jacob Synagogue.
Fish & Chips Mittagessen. Ursprünglich
durch jüdische Immigranten eingeführte
Speise.
Große Bilderreihe von oben nach unten:
Workshop in der Social Sculpture Unit der
Oxford Brookes Universitiy mit Shelley Sacks
und Wolfgang Zumdick.
Eingang Headington Hill, Oxford Brookes
University
Empfang in der Österreichischen Botschaft in
London durch Botschafter Emil Brix.
weltgewissen
Nr. 27 – April 2015
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