Nr. 27 – April 2015 Forum Europahaus Burgenland | Nr. 27 – März 2015 Forum Europahaus Burgenland | Nr. 27 - Jänner 2015 weltgewissen weltgewissen pannonisch | europäisch | kosmopolitisch Gehen wir ! pannonisch | europäisch | kosmopolitisch 1 Generalversammlung des Europahauses Burgenland 2015 20. Feber 2015 in Wandorf/Sopron Editorial Nr. 27 – April 2015 3 Liebe Leserin, lieber Leser, Gehen wir! Europahaus 2015.4 von Hans Göttel die Generalversammlung des Europahauses vom 20. Feber 2015 hat die Weichen gestellt. Personell geht es um die Neuordnung der Leitung des Europahauses. Das Management liegt seit März 2015 bei Geschäftsleiterin Helga Kuzmits, während ich nach 24 Jahren der Geschäftsführung nunmehr als Studienleiter Verantwortung für die inhaltlich-konzeptiven Fragen übernommen habe. Ein neues Gespann für eine neue Richtung! BodenBildung10 von Franz Tutzer Wir werden dabei weiterhin von unserer langjährigen Sekretärin, Maria Jankoschek, und von freien Mitarbeiterinnen unterstützt, arbeiten international und regional gut vernetzt und achten so gut es geht auf die Bedingungen, die Bildung braucht. Eine Definition von Hartmut von Hentig sagt: „Bildung ist das Leben nach bedachten und gewollten Prinzipien und das Schaffen der hierfür bekömmlichen Ordnung“. Vom Verlebendigen der Böden und des Geistes Seminar mit Hildegard Kurt 17 Globales Lernen 18 von Helmuth Hartmeyer Taumeln mit Sündenbock von Erich Kitzmüller 26 Kants Konzeption kosmopolitischer Bildung30 von Georg Cavallar Chronik einer fröhlichen Verschwörung Der neue Roman von Richard Schuberth 35 Notizen zu Satire39 von Eva Meloun Zur Gesamtheit eines Landes gehört auch seine Politik, so lange man sich eine leistet. Dass man diese auch abstellen kann, ist zwar nicht so leicht vorstellbar, aber wer hat je gesagt, dass Bildungsarbeit mühelos sei. Dabei würde eine Einstellung der Landespolitik von den wesentlichen Dingen des Landes, seinen Häusern und Wiesen, seinen Weinbergen und Obstgärten, seiner Landschaft und Kultur und von all jenen, die nicht im Landhaus absitzen, nicht einmal bemerkt werden. NICHT!42 von Franz Schandl Während das Gerede um die Rettung von Banken die Nachrichten füllt, entgehen pikante Geschehnisse unserer Aufmerksamkeit: in Kärnten wird längst nicht mehr die Bank, sondern das Land gerettet, in Griechenland sowieso. Die Burgenländische Landespolitik ist, nachdem sie sich vor 15 Jahren aus dem Verhängnis mit der Landesbank feige gerettet hat, inzwischen zukunftsfit aufgestellt: als EU-gefördertes Freilichtmuseum für die politische Kultur des 16. Jahrhundert. Buchtipps50 Das vorliegende Heft versucht, die eingeschlagene Richtung zu beschreiben und Bedeutsamkeiten dieses Weges zu erkunden – im Lichte kosmopolitischer Ideen und internationaler Bildungsprogramme, wie dem Internationalen Jahr der Böden und dem Europäischen Jahr der Entwicklung, die den Rahmen für unsere Aktivitäten bieten. Einladung zur Tagung – Beilage in der Heftmitte MO-MI, 18. – 20. Mai 2015 „Über-Leben mit /ohne Politik“ – Sicherheit, Entwicklung und Menschenrechte im Lichte europapolitischer, antipolitischer und kosmopolitischer Entwürfe. pannonisch | europäisch | kosmopolitisch Zarwos des Gonze?46 von Franz Bittner Termine – Vorhaben 2015 47 Europa passt in keine Plutzer48 Ein Plädoyer für Pannonien von Hans Göttel Publikationen, Impressum51 Unvermeidbare Schicksale von Propheten?52 Beitrag von den Familien Lang, Mayerhofer-Sebera, Pampalk und Smutny. Unsere Wege – unser Wissen. Von Pannonien nach Oxford und zurück.56 von Hans Göttel Inhalt Hans Göttel Der Sieg der Nichtwähler. 45 von Hans Göttel 4 Forum Europahaus Burgenland Gehen wir! Europahaus 2015. Leicht gekürzte schriftliche Fassung des Berichts an die Ordentliche Generalversammlung des Europahauses Burgenland am 20. Februar 2015 in Wandorf / Sopron. von Hans Göttel Das Europahaus ist kein selbstverständliches Ding, was schon die Frage zeigt, die uns über viele Jahre immer wieder gestellt worden ist: „Was macht´s ihr eigentlich? Und wenn man dann ein paar Hinweise gibt, was man so tue, so löst man damit in der Regel die weitere Frage aus: „Na ja, schon, aber: wer ist da dahinter?“ Womit man, wohl ohne es zu wissen, das Wörtchen „eigentlich“ in seiner mhd. Bedeutung zur Geltung bringt, d.h.: als Wort für „leibeigen“. Was macht das Europahaus eigentlich, heißt nach alter Bedeutung so viel, wie: „wem gehört ihr? auf wen hört ihr?“ Die Idee, dass wir uns selber gehören und daher nichts Eigentliches sondern vielmehr Eigenes eigensinnig tun, braucht, um als wahr wahrgenommen zu werden, die gelegentliche doch wiederkehrende sinnliche und besonnene Wahrnehmung des Eigenen. In geselligen Versammlungen können wir von Mal zu Mal oder besser: von Mahl zu Mahl wahrnehmen, dass das Europahaus ist (und gut isst), um sich die Welt einzuverleiben. Wir sind schon lange nicht mehr bestellt oder gestellt, durch Politik institutionalisiert, um etwas zu leisten, sondern indem wir uns etwas leisten, etwas begeistert unternehmen, sind wir – immerhin und immer noch. Begeistert unternehmen heißt: den Geist von oben empfangen und die Dinge von unten nehmen, um sie ans Licht zu bringen oder – auszuhebeln. Ob die Herrschaften des Landes das wollen, kümmert uns nicht, und zwar schon seit 18 Jahren nicht. Seit damals, seit 1997 gibt es uns nicht, weil die Landespolitik das so beschlossen oder genehmigt hätte, sondern obwohl sie das Gegenteil beschlossen und verkün det hat. Wir sind im Land, weltgewissen Nr. 27 – April 2015 5 doch nicht von Gnaden der Landespolitik. Einer Versammlung, die nicht eigentlich ist, berichten zu dürfen, ist mir über viele Jahre eine große und schöne Herausforderung gewesen. Man könnte es auch so sehen, dass diese meine Berichte – über insgesamt 24 Jahre – versucht haben, uns in eine Richtkraft von fremdbestimmter Eigentlichkeit weg zum Eigensinnigen hin zu bringen und uns jeweils soweit auszurichten, um die jeweils notwendigen und wünschenswerten Schritte in eine freie Arbeit gehen zu können. Das Atelier für kosmopolitische Theorie, Praxis und Poesie, wie ich das Europahaus heute beschreiben möchte, ist kein verwalteter oder verwaltender Zustand, sondern ein Weg, der sich bildet, indem wir ihn gehen. Und so wie ein Weg sich bildet, indem man ihn geht und verschwindet, wenn man ihn nicht mehr geht, so ist das Europahaus ein Phänomen, das sich gemeinsamer Arbeit und Begegnung in Bewegung verdankt. Meinen besonderen Dank an Euch Mitglieder und alle Partner des Europahauses spreche ich also im Gehen aus. Ich freue mich sehr, dass ich von nun an den jährlichen Tätigkeitsbericht nicht mehr alleine machen werde sondern, wie schon heute so auch künftig teilen kann, gemäß einer Arbeitsteilung, die wir uns vorgenommen haben: Helga Kuzmits, die seit über pannonisch | europäisch | kosmopolitisch einem Jahr im Europahaus ist, bringt die Kompetenzen, den Schwung, die Fähigkeiten und Fertigkeiten, auch für die mir zu unheimliche elektronische Welt mit, was für die operative Leitung eines Instituts in der heutigen Zeit notwendig ist; während ich den Abschwung in die Landschaften alter, mittelalterlicher Zeiten vollziehe, von wo, wie schon viele vor mir bemerkt haben, die Gegenwart viel besser zu sehen ist. Gegenwärtig zu sein heißt, wach und aufmerksam zu sein, es heißt, die Archive des Wissens und der Bilder zugänglich und geordnet zu halten, denn jeder Reiz, jede Information, die uns treffen und jede Herausforderung, auf die wir treffen, müssen zuerst im Archiv mit Abermillionen von gespeicherten Bildern abgeglichen werden, damit wir überhaupt erkennen und verstehen können, worum es sich handelt. Verschüttete Archive bedeuten, dass unsere Gegenwärtigkeit behindert wird. Wann immer einer unserer Vorfahren in der Steppe einen Moment stillstand – es war ein sehr wichtiger Moment. Denn das ihn jagende Tier konnte nur flüchtende Wesen als Beute erkennen, eine plötzlich stillstehende Figur war als Jagdbeute nicht wahrnehmbar. Es war als sichtbares Objekt zwar vorhanden, aber für das jagende Wesen als sein Ding des Lebens nicht mehr erkennbar. Der eine kurze Moment des Stillstehens schenkte unserem Vorfahren nicht nur das Überleben, es gewährte ihm die nicht kalkulierbare Zeit, um nichts zu tun und etwas zu erkennen. Und unsere Geschichte kam auf den Weg. Wenn heute die Landespolitik sagt, sie könne nicht erkennen, was das Europahaus ist und was es tut, so heißt das nur: wir bewegen uns nicht so, wie sie es erwarten. In unserer nutzlosen Nachdenklichkeit sind wir ihnen keine erkennbare Figur. Wie sollen sie auch etwas als 6 Forum Europahaus Burgenland landeseigen erkennen, wenn es nicht kriecht? Dafür haben sie kein Wahrnehmungsorgan. Und das schafft uns die Voraussetzung, die ein Denken überhaupt ermöglicht. Sie erkennen es nicht. Das ist eine gute, wenngleich nicht hinreichende Voraussetzung für Bildungsarbeit. Ich habe schon in meinem Bericht vor einem Jahr gemeint, die beste Bezeichnung für das Europahaus wäre: Museum (Musenhaus) für politische Bildung. Ein solches Museum braucht, wie überall, öffentliche Mittel. Es ist etwas, das sich ein Land leistet – oder nicht. Wenn nicht, so meinte ich damals, so meine ich heute, sollten wir den Spieß umdrehen: wir bitten die Musen in die Öffentlichkeit und bringen die Landespolitik ins Museum. Freilich stehen die Enthaftung von Landesbefindlichkeit und das Einfinden in Landeswirklichkeit in einem dialektischen Verhältnis. Natürlich wissen wir, dass wir doch irgendwie zum Land gehören und dass sich niemand aus der Welt der politischen Machtkörper begeben kann. Ein solches Vor-Verständnis erspart uns aber nicht die Aufgabe. Und in dieser Aufgabe steckt im Hinblick auf politische Bildung große Bedeutung, wie es der Philosoph Karl Jaspers (1883-1969) befundet hat: Das Sein gegen die Welt ist nach Karl Jaspers bestimmend für ein Anderswerden der Zustände in der Welt, auch wenn es nur eine Phase ist, nach der ein Wiedereintritt in die Welt erfolgt. Diese Phase muss geschafft werden. Sonst ist es nicht möglich, in den Machtkörpern mit zu leben und in ethischer Verantwortung gegen sich selbst nicht von ihnen aufgesogen zu werden. Das Sein gegen das Land ist bestimmend für ein Anderswerden der Zustände im Land, auch wenn es nur eine Phase wäre, nach der ein Wiederein- tritt in das Land erfolgt. Diese Phase muss geschafft werden. Sonst ist es nicht möglich, im Machtkörper des Landes mit zu leben und in ethischer Verantwortung gegen sich selbst nicht von ihm aufgesogen zu werden. Wegfähigkeit für das Europahaus heißt Weg-geh-fähigkeit in ein Selbstsein, das sich mit anderen – regional, international – verbindet und verbündet. Alleine schafft man so etwas nicht. Der Austritt aus dem Burgenland der Landespolitik ist eine notwendige und zu bestehende Aufgabe, damit wir in ethischer Verantwortung gegen uns selbst Burgenländer bleiben können. Dabei ist vieles schon gemacht worden – man werfe einen Blick in die Statuten des Europahauses: schon seit 18 Jahren ist darin von Landespolitik keine Rede mehr; man blicke zurück in das Jahr 1991, als die Landesregierung gegen ihren Willen weltgewissen Nr. 27 – April 2015 aus den Gremien des Europahauses hinaus komplimentiert wurde; oder 1997, als die politischen Parteien verabschiedet wurden. Der Austritt aus dem politischen Machtkörper des Landes ist im Europahaus gelebte Praxis. Was es noch braucht, ist der Mut, das auch anzuschauen, zu sehen und wahr zu nehmen. Die Kunst, die Dinge in ihrer Wirklichkeit zu sehen, kann man Mystik nennen. Ich wäre völlig einverstanden, wenn jemand sagte: „das fehlte uns noch“. Archive des Wissens helfen mir, gegenwärtig zu sein: In einer im Jahre 1604 in Prag erschienenen Abhandlung über den Kosmopoliten – der Begriff taucht um diese Zeit neu auf – heißt es u.a. „Über die Länder hinweg profiliert sich also eine Lumpen-Intelligenzia, die sich weigert, Phantom-Königreichen oder heruntergekommenen Ländern anzugehören.“ Ich gestehe, dass mir der Begriff Phantom-Königreich für ein von Plutzern regiertes Land ausgezeichnet gefällt. Kosmopoliten waren oft spöttische Leute, pannonisch | europäisch | kosmopolitisch 7 meist hatten sie ja nichts anderes als ihr Wort, ihre spitze Feder. Das ausschalten zu wollen, und sei es auch aus gutgemeinten taktischen Gründen, ist etwas, das mit mir nicht zu verhandeln ist. Im Gegenteil: ich glaube, das Einzige, was wir realistisch betrachtet können oder wollen können, ist, im Geist der Aufklärung die Herrschaften in das Licht der Öffentlichkeit zu tauchen, üblich gewordene und insbesondere üble Denkweisen auf den Kopf zu stellen, ja das Machtgehabe auf die Schaufel nehmen. Die Burgenländische Landespolitik gehört auf die Schaufel genommen, bevor sie im Archiv abgelegt wird, um – und das wäre ihre verbleibende und einzig sinnvolle Funktion - künftigen Generationen einen Grund für Gegenwärtigkeit zu bieten. Wenn es da oder dort heißt, das Europahaus sei nur ein Lesezirkel, irgendwie defizitär und allzu unscheinbar, so frage ich mich, woher dann bei manchen die Sorge kommt, der Landeshauptmann könnte rabiat werden oder das Land gar untergehen? Wegen eines Lesezirkels? Meine eigene Kritik in puncto Lesezirkel ist anders gestrickt: wir haben es nie wirklich geschafft, einen Lesezirkel zu verwirklichen, was sicher schade ist, aber deswegen noch kein Malheur, auch nicht wirklich blamabel, ist doch ein Lesezirkel eine überaus anspruchsvolle Form von Arbeit, wesentlich schwieriger als etwa die Organisation eines Vortrags, eines Konzerts oder sonst eines Hochamts. Und vor allem: es ist nicht zu spät für Lesezirkel! Auch die uns nachgesagte Neigung zur Esoterik ist einer genauerer Betrachtung wert, denn die 8 Forum Europahaus Burgenland Bildungsfähigkeit des Menschen hängt mit seiner Bildfähigkeit zusammenhängt, die nun mal in der Innenwelt eines Denkraumes angelegt wird. Dass es viel Geschäftemacherei mit dummer Esoterik-Industrie gibt, ist uns allen bekannt, aber doch kein hinreichendes Argument, um die Innenwelt abzuwerten. Schließlich gibt es auch eine mindestens ebenso geschäftstüchtige Industrie des Äußerlichen, denken wir an Politikberatung, Lobbying, Coaching und Trainings sowie allerlei Internet aktivismus. Nur in unseren Innenräumen können wir Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart zusammenführen und stille stehen und betrachten - und was das Besondere dabei ist - auch uns selber betrachten, wie wir die Zeiten und Räume betrachten – und: wir können mit den Dingen einschließlich uns selbst, die wir in unseren Innenräumen sehen - spielen; wir können sie verändern und so unsere Ansichten und unser Verhalten ändern. Unsere Denkräume sind Labore, Werkstätten, Spielwiesen, wo wir noch frei sind. Wie ungeschickt, gerade diese Räume meiden zu wollen oder der Verwahrlosung zu überlassen. Sie gehören besonders gepflegt, ausgestaltet, erweitert, vertieft, wohnlich gemacht. Eine Aufgabe, nicht zuletzt für Wohnheime, vielleicht? Schließlich unser angeblich zu hohes Niveau. Albert Einstein war einmal tief beeindruckt von einer Rede, die Dag Hammarskjöld 1954 gehalten hatte - und zwar über den Wert des Wissens für den Menschen. Hammarskjöld hat dabei den Mut und die Demut angesprochen, die in der Begegnung mit Wissen notwendig sind, um allen Änderungen, die wir vornehmen, einen schöpferischen Charakter geben zu können. Im Europahaus geht es um die Begegnung mit Kunst, mit Texten, mit Menschen über eine immer offene und manchmal waghalsige Einladungskultur, die man sicherlich diskutieren und zu Recht kritisieren kann. Mit kundenorientierter Herstellung, zielgruppengerechter Aufbereitung, lernzielgesteuerter Didaktisierung, klientelfokussierter Betreuung uäm. wird sie aber auch weiterhin nichts zu tun haben. Diese Zeichnung stammt von Eduardo Chilida, einem baskischen Künstler, der in Deutschland berühmt geworden ist. Er hat mit dieser Zeichnung der Idee der Handlichkeit Ausdruck gegeben. Die Hand kann in einem gegebenen Raum einen Innenraum bilden und bewahren. Nicht der Inhalt, die Form ist wesentlich. Hier ist sie offen nach oben, um etwas zu empfangen, und zu den Seiten hin, um den Austausch zwischen innen und außen zu ermöglichen. Trotz aller Offenheit gibt es ein Innen und Außen: ein Außen, das unendlich ist; ein Innen, das in diesem Unendlichen trägt und warm hält. Für mich war die Gemeinschaft der Mitglieder und Partner des Europahauses eine handliche Welt, die mir den Schutz, die Wärme und die Offenheit gegeben hat, aus der weltgewissen Nr. 27 – April 2015 9 Verwahrlosung der öffentlichen Bildungsfinanzierung insgesamt zu achten. In Österreich geht es im Grunde nur mehr um Parteienfinanzierung. In der politischen Bildung verlangt man gerne konstruktives Verhalten zu allem und jedem, man lehrt die Kunst der pädagogischen Hinführung zu noch so monströsen und destruktiven Phänomenen. Die Kunst der Apagogik, des Wegführens, Anhaltens, Umgehens, Nicht-Mitmachens, Innehaltens ist so gut wie verschwunden, verschüttet. Erlauben wir uns wenigstens, nicht konstruktiv zum Destruktiven zu sein, vielmehr in einer Handlichkeit zu verweilen, die wir selber bilden. heraus zu arbeiten ein großes Privileg ist, wie ich sehr wohl weiß - und wofür ich euch sehr dankbar bin. Dass in all der Zeit von 24 Jahren diese Hand nie zur beliebig platten Oberfläche wurde und sich nie zur Faust verkrampft hat, ist eine große menschliche Leistung dieser Gemeinschaft gewesen - und ich hoffe, dass auch die neue Führung des Europahauses in einer solchen Handlichkeit geborgen sein wird. Wir können insbesondere Edith Axmann dankbar sein für den unerschütterlichen Halt, den sie über die vielen Jahre als Vorsitzende des Europahauses mir und dieser Gemeinschaft gegeben hat und zu unserem Glück weiterhin geben wird. Den werden wir auch weiter und gerade in den kommenden Jahren brauchen. Denn wir wollen weiter gehen, nicht zurück! Alte Konstellationen und Rückblicke können eine Orientierung sein (und Stoff für Sentimentalitäten), nicht aber das Ziel. Sie können uns helfen, gegenwärtig, also wachsam zu sein. Und eine destruktive Landespolitik ist wie jede destruktive Kraft als Gefahr ernst zu nehmen, mehr noch ist aber auf die pannonisch | europäisch | kosmopolitisch Einstein wurde einmal gefragt, was die wichtigste Frage auf der Welt ist? Sie lautet, so meinte er: „Ist das Universum ein freundlicher Ort oder nicht?“ Die Frage ist nach wie vor nicht beantwortet, aber wir haben es in der Hand, im unendlichen Universum einen freundlichen Ort zu formen. Das Europahaus wird sich wieder einmal umarbeiten müssen. Wenn wir es schaffen, weiter zu kommen statt zurückzufallen, kann das 50-Jahr-Jubiläum im nächsten Jahr ein spannendes Ereignis und spannendes Ergebnis werden. Prozesse der eigenen Umarbeitung, so wusste schon Heraklit 500 v. Chr., bauen auf Sand, wenn sie nicht mit dem bauen, was einem im Innersten wichtig ist. Das Innerste aber aufzufinden und darzustellen braucht immer eine eigene Sprache, das Innerste findet man nur auf dem Poetischen Kontinent. Den zu erreichen, sind wir unterwegs. Der Bericht wurde von der Generalversammlung einstimmig angenommen. Zeichnung von Eduardo Chilida, baskischer Künstler. 10 Forum Europahaus Burgenland BodenBildung Wie entsteht allgemeiner „Bildungshumus“? von Franz Tutzer Immer wenn ein gesellschaftliches Problem, sei es im Bereich der Umwelt, der Gesundheit, in den letzten Jahren verstärkt im Bereich der Ökonomie, ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit tritt, aus einer echten Notwendigkeit heraus oder auch nur medial gesteuert und inszeniert, ergeht bald der Ruf nach einer dementsprechenden pädagogischen Aufgabe an Schulen und Einrichtungen der Erwachsenenbildung. Umweltpädagogik, Gesundheitserziehung, Verkehrserziehung u. a. Bindestrichpädagogiken bzw. Erziehungsprogramme der letzten Jahrzehnte sind Ausdruck dafür. In diesem Sinne haben die Vereinten Nationen die UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung (2005-2014)“ ausgerufen. Diese internationale Bildungsoffensive setzt nachhaltige Entwicklung ganz oben auf die bildungspolitische Agenda, damit dieses globale Leitbild auch in Kindergärten, Schulen und Universitäten umgesetzt und so über die Bildungseinrichtungen auch ins gesellschaftliche Denken und Handeln einmündet. Bei aller Bedeutung, die solchen Programmen auch zukommen mag, bleibt der Zweifel berechtigt, ob Bildung das Ergebnis eines zweckrationalen Vorgangs sein kann, ob Bildung überhaupt „vermittelt“ oder über „Maßnahmen“ erreicht werden kann oder ob Bildung so wie Erziehung nicht vielmehr eher als „Nebenprodukt“, als mögliche Folge eines sorgfältig bedachten Umgangs, einer bewussten Auseinandersetzung mit - verkürzt ausgedrückt - „Sachen“ und Personen zu verstehen ist. Seit Humboldt meint Bildung im Wesentlichen ein „SichBilden“ der Persönlichkeit. Bildung ist so verstanden also nicht ein auf ein bestimmtes „Ziel“ hin fertig abgepacktes Produkt, das die Schule oder eine andere Institution vermitteln könnte, sondern ist stark verknüpft mit eigener Aktivität, Selbstformung und Selbstständigkeit. „Ausbilden können uns andere, bilden kann sich jeder nur selbst“ sagt Peter Bieri, und „Wenn wir uns bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden - wir streben danach, auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein.“ 1 Ein solches Verständnis von Bildung steht im Hintergrund der folgenden Ausführungen über den Zusammenhang von Boden und 1 Bieri, Peter: Wie wäre es gebildet zu sein? Festrede an der Pädagogischen Hochschule in Bern, 2005 weltgewissen Nr. 27 – April 2015 Bildung, über mögliche Wechselwirkungen zwischen Boden und Bildung und über einige Aufmerksamkeitsrichtungen, die sich aus der bewussten Wahrnehmung der Gefährdung von Böden und der zunehmenden Bodenlosigkeit im wörtlichen und übertragenen Sinn ergeben. Wo stehen wir, warum sollten wir überhaupt über Boden und Bildung nachdenken? Wir können ohne Übertreibung eine allgemeine „Bodenvergessenheit“ feststellen: •Böden werden in der Regel als einfach vorhanden angesehen, als etwas Gegebenes, als Natur, über die man nicht nachzudenken braucht. Vielleicht sollten wir statt von „Vergessenheit“ sogar von einer Art „Bodenverdrängung“ sprechen, da Böden immer stärker unserer bewussten Wahrnehmung entzogen werden und weil sie kaum mehr als die Grundlage für die Erzeugung der Lebensmittel verstanden und wahrgenommen werden. •Böden kommen erst dann ins öffentliche Bewusstsein, wenn zu bestimmten Anlässen Zahlen über zunehmende Verbauung und Versiegelung von Böden bekannt werden, wenn aufwändige Sanierungen von Bodenverseuchungen notwendig werden, wenn Erosionsschäden negative Auswirkungen erkennen lassen oder ein Hang abrutscht, wenn eine Gefährdung des Trinkwassers droht oder durch das „land grabbing“ große Teile Afrikas in die Hände ausländischer Investoren fallen. Dies auch nur dann, wenn die mediale Aufmerksamkeit dafür groß genug ist. •Bodenwissen ist kaum vorhanden, wer kennt beispielsweise Bodennamen und Bodentypen wie Rendsina, Braunerde, Podsol, Gley, Löss, wer kann mit Begriffen pannonisch | europäisch | kosmopolitisch 11 wie Bodengare, Krümelstruktur, Bodenprofil, Dauerhumus, Tonminerale etc. noch etwas anfangen? 2 •Böden werden nur mehr als Produktionsfaktor wahrgenommen. •Der Begriff der „Bodenfruchtbarkeit“ spielt in weiten Teilen des öffentlichen Bewusstseins kaum eine Rolle mehr, da die Produktion von Nahrungsmitteln – zumindest in den Gesellschaften des Nordens - als selbstverständlich angesehen wird und in der Hauptsache ja auch als chemisch-technisch steuerbar gedacht wird. Die Mühe und die Künste, die in den verschiedenen geschichtlichen Epochen und den vielfältigen Agrarkulturen mit dem Erhalt der Bodenfruchtbarkeit zu tun hatten (Brache, Bodenbearbeitung, Einbringung von Mist, Verhinderung von Erosion u.a.) sind ziemlich vergessen. •Wir kommen eigentlich nicht mehr in Kontakt mit dem Boden. Böden und Erde werden als „Dreck“ wahrgenommen, den es zu vermeiden bzw. schnell zu beseitigen gilt. •Dass Böden mit Kultur, mit Religion, mit Spiritualität zu tun haben könnten, ist völlig vergessen. Dass Böden nicht nur eine ökonomische oder ökologische Dimension haben können, ist uns inzwischen fremd. Dass Humus und humanus zur selben Wortfamilie gehören, ist nur mehr ferne Erinnerung. Boden und Bildung in der Schule Kann die Beschäftigung mit dem Thema „Boden“ ein geeigneter Anlass für Bildung sein? Wie kann aus der Auseinandersetzung mit den naturwissenschaftlichen, 2 Vgl. dazu: Bodenlos. Zum nachhaltigen Umgang mit Böden. Politische Ökologie Nov./Dez. 97. Die Autoren der Beiträge wurden eingeladen, den Boden, auf dem sie arbeiten oder leben, kurz zu beschreiben. 12 Forum Europahaus Burgenland landwirtschaftlichen, ökologischen und auch politischen Dimensionen des Themas „Boden“ Orientierung erwachsen für die Bildung der inneren Kräfte, für eine Orientierung im Denken und in der eigenen Lebenspraxis? Diese Fragen stehen in der Tradition einer langen Auseinandersetzung um den Bildungswert eines naturwissenschaftlich-technischen Unterrichts. Immer wieder neu wurde dieses Thema in der Geschichte der Pädagogik aufgegriffen: Spencer, Kerschensteiner und Wagenschein seien hier nur stellvertretend genannt für die Bemühungen, den naturwissenschaftlichen Fachbereichen einen eigenständigen Bildungswert zuzusprechen und diesen besonders auch gegenüber einem Bildungsverständnis zu betonen, das sich traditionell eher aus den Bereichen Sprache, Kunst und Geschichte speiste. „Bildung“ – bemerkte einmal Ernst Ulrich von Weizsäcker – „das bedeutet Bewusstsein, Urteilskraft, zwischenmenschliche Fähigkeiten und technisches Wissen“ 3 und knüpft damit an das eingangs erwähnte Bildungsverständnis an. Exemplarisch sollen diese bildungsrelevanten Dimensionen zum Thema Boden im Kontext landwirtschaftlicher Bildungseinrichtungen verdeutlicht werden. Dies vor dem Hintergrund, dass landwirtschaftliche Schulen ja die Beschäftigung mit dem Boden in ihrem Curriculum als einen Schwerpunkt vorsehen und dass die Auseinandersetzung mit bodenbezogenen Fragestellungen in der landwirtschaftlichen Praxis also ein fester Bestandteil der Ausbildung ist. Aber – in Anlehnung an die Unterscheidung zwischen Ausbildung und Bildung von Peter Bieri – verknüpft mit der Überlegung, dass es mit Ausbildung allein hier nicht getan ist, sondern dass es 3 Grußwort von E. U. von Weizsäcker in: Herz, Seybold, Strobl (Hrsg.): Bildung für nachhaltige Entwicklung, Opladen 2001 auch darum geht, aus der Beschäftigung mit dem Thema Boden geeignete Anlässe für Bildung zu schaffen. Vielleicht gehen ja „bodengebildete“ Fachleute anders mit dem Boden um als nur „ausgebildete“. Einige Hinweise zu den angesprochenen Bildungsdimensionen: Bewusstsein Das bewusste Wahrnehmen der Wirklichkeit, so wie sie sich durch den Blick aus den verschiedenen „Fachfenstern“ zeigt, ist eine entscheidende Leistung der Lernenden. Dazu gehört das Verstehen der geschichtlichen Gewordenheit der Böden, ein Gespür für die existentielle Bedeutung der Böden für das Leben auf der Erde, eine Wahrnehmung ihrer Verschiedenheit, auch ihrer Schönheit, ein Verständnis für naturwissenschaftliche, ökologische und ökonomische Zusammenhänge oder das Bewusstsein für die heute wirksamen Gefährdungsprozesse. Dazu gehört auch das Bewusstsein, dass unser Wissen vom Boden fragmentarisch ist, dass vieles trotz der wichtigen Erkenntnisse der Geologie, der Bodenbildungsprozesse, der Bodenchemie und Bodenbiologie im Dunkeln bleibt und dass wir weit davon entfernt sind, die im Boden vor sich gehenden Prozesse biologischer oder chemischer Natur vollständig zu verstehen oder sogar „ in den Griff“ zu bekommen. Urteilskraft Die Befähigung junger Menschen, sich zu strittigen Sachverhalten in den verschiedensten Bereichen ein begründetes Urteil zu bilden und die Befähigung zu werten sind wohl entscheidende Kennzeichen von Bildung. In unserem Zusammenhang: Wie wirken sich technische Entscheidungen in der Landwirtschaft längerfristig in ökologischer Hinsicht auf die Böden aus? Was bedeutet es, wenn Böden nur mehr als Nährstoffspeicher gesehen werden, die durch einfache chemische Eingriffe, weltgewissen Nr. 27 – April 2015 sprich Düngemaßnahmen, steuerbar sein sollen? Sind bestimmte technisch machbare Entwicklungen auch ethisch vertretbar? Solche und ähnliche Fragen zeigen, dass zum technischen Wissen und Können noch eine andere Dimension hinzukommen muss, damit sie sich nicht verselbstständigen. Wissen Die Vermittlung von Kenntnissen, fachlichem Wissen und grundlegenden Fertigkeiten ist nach wie vor unbestrittener Auftrag von schulischem Unterricht. Damit diese Vermittlung aber bildungswirksam werden kann, müssen mehrere Rahmenbedingungen zum Tragen kommen: die Sachinhalte müssen in ihrem Umfang begrenzt sein, sie müssen strukturiert und in ihrem Zusammenhang untereinander erkennbar sein. Und sie müssen bedeutsam sein. Fachliches Wissen ist dabei ebenso unerlässlich wie handlungspraktische Kompetenz. Da Bildung wesentlich das Ergebnis eigenständiger Aktivitäten der Lernenden ist, kommt es gerade auch auf der Ebene des Wissens darauf an, im Unterricht Zugangsweisen zu suchen, die bei den bereits vorhandenen Interessen, Kenntnissen und Fertigkeiten der Lernenden anknüpfen. Wie kann eine Schule diesem Anspruch gerecht werden? Welche Instrumente lassen sich im Werkzeugkasten einer landwirtschaftlichen Bildungseinrichtung finden, die im oben beschriebenen Sinne Anlässe, Kristallisationspunkte und Impulsgeber für Bildung sein können? Ich werde versuchen, einige wenige Instrumente und Voraussetzungen zu beschreiben, die m. E. für das Gelingen einer persönlichkeitsstärkenden und fachlich qualifizierenden Bildung wesentlich sind. •Inhalte Der fachsystematische Unterricht kann für sich auch durchaus pannonisch | europäisch | kosmopolitisch 13 bereits starke bildungswirksame Elemente beinhalten: Im Sinne von Kerschensteiner ist es die Widerständigkeit der Dinge selbst – im Kontext unseres Themas „Boden“ beispielsweise die naturwissenschaftlichen Grundlagen, Entstehungsprozesse, ökologische Zusammenhänge, die konkrete Auseinandersetzung mit den verschiedenen Bodentypen – die einen Bildungswert in der Hinführung zur genauen Beobachtung und zur systematischen Überprüfung und Beurteilung des Beobachteten bereithält. Darüber hinaus bietet der Themenkomplex „Boden“ vielfältige Möglichkeiten, einzelne Sachverhalte aus unterschiedlichen Blickpunkten heraus zu bearbeiten. Boden lässt sich nicht auf seine Funktion als Standort für die landwirtschaftliche Produktion reduzieren, sondern hat genauso eine ökologische, eine soziale, eine ökonomische und kulturelle Dimension. Und gerade der kulturelle Aspekt bietet eine Fülle von Möglichkeiten der Zusammenarbeit auch mit den allgemeinbildenden Fächern, wie z. B. mit Geschichte, Religion oder den Sprachfächern. Aus dieser „agrikulturellen“ Perspektive heraus wird ein fächerübergreifendes Herangehen geradezu zwingend notwendig. Alle oben beschriebenen bildungsrelevanten Dimensionen können auf dieser Ebene wirksam werden. •Lernwege Lernen erfolgt über die Auseinandersetzung mit Inhalten. Die Differenzierung und Erweiterung der Wege und Methoden des Lernens werden jedoch zunehmend als wichtig erachtet, um den unterschiedlichen Begabungen und Fähigkeiten der Lernenden gerecht zu werden. Auch die inhaltliche und sachbezogene Auseinandersetzung mit dem Themenfeld „Boden“ verlangt bereits von der Sache her nach angemessenen 14 Forum Europahaus Burgenland Lern- und Arbeitsformen. Das Ernstnehmen der Mehrdimensionalität beim Thema Boden erzwingt geradezu ein fächerübergreifendes Vorgehen. Im Kontext von Bildung soll noch auf einen besonderen und für eine landwirtschaftliche Schule wesentlichen methodischen Weg hingewiesen werden: das praktische Lernen. Lernen in und an der Landwirtschaft ist notwendigerweise auch praktisches Lernen. Praktisches Lernen darf allerdings nicht nur Lernen am Modell sein, sondern muss auch Ernstcharakter- nicht zuletzt auch über Lernmöglichkeiten außerhalb des schulischen Bereichs haben, um den Schüler/ innen Freude am Tätigsein und an erbrachter Leistung zu ermöglichen, Verantwortungsbewusstsein einzuüben und auch das ästhetische Empfinden durch den direkten, mit allen Sinnen erfahrbaren Umgang mit der Natur, in unserem Kontext mit dem Boden einzuüben. Es ist auch eine Einübung ins Staunen, eine Anregung zur Aufmerksamkeit, ein nur bruchstückhaftes Verstehen, eine nicht völlig aufzulösende Mehrdeutigkeit, eine Anerkennung der „rätselhaften Sinnlichkeit“ (Ivan Illich) der Böden. •Sprache Die Bedeutung von Sprachfähigkeit und Sprachbewusstsein für das Lernen in allen Fachbereichen ist unbestritten. Fachkompetenz ist zum Teil immer auch Sprachkompetenz. In Bezug auf die Bildungswirksamkeit von Sprache geht es aber noch um mehr: Nur über die Sprache ist eine geistige Erschließung der Welt möglich. Das bedeutet auch, dass jede Sprache dem jungen Menschen eine bestimmte Welt eröffnet und mögliche andere verbirgt oder verschließt. Für eine landwirtschaftliche Schule eröffnet sich hier ein weites Feld des Nachdenkens: Genügt die naturwissenschaftlich-, ökonomisch- und technisch geprägte Fachsprache, um dem Heranwachsenden als „Organ des Denkens“ zu dienen und möglichst viele „Welten“ zu erschließen? Wie wirkt sich die verwendete Sprache auf unser Verständnis von Boden und ganz allgemein von bäuerlicher Tätigkeit aus? Ist die Sprache an der Umgestaltung der Böden in ein Nährstoffreservoir, das es nur nachzufüllen gilt, beteiligt? „Die abstrakte Sprache macht die Welt planbar, planiert sie gleichsam, macht sie dem Umgang mit dem Reißbrett zugänglich. Sie schafft weltgewissen Nr. 27 – April 2015 einheitliche übersichtliche Räume, denn sie sieht ab vom sinnlich Konkreten, von der krautigen Vielfalt, den individuellen Unebenheiten, und richtet den Blick auf das, was, wenn man von allen besonderen Beschaffenheiten absieht, übrig bleibt. Sie ist im genauen Sinne des Wortes rücksichtslos. Und eben dadurch schließt sie die Welt für die Verwertung auf“, mahnte Uwe Pörksen.4 BodenBildung kann nicht auf die Schule beschränkt bleiben oder Wie entsteht allgemeiner „Bildungshumus“? Ich verlasse den Raum der Schule. „BodenUnbildung“ ist nicht über die Schule zu lösen. „Bodenlosigkeit“ und „BodenUnbildung“ sind ein im höchsten Grad gesellschaftliches Phänomen und können nicht einfach als pädagogische Aufgabe nur den Schulen zugeteilt werden. Welche Felder, welche Lernfelder in der Landwirtschaft und ganz allgemein in der Gesellschaft sind geeignet, um eine besondere Aufmerksamkeit, ein besonderes Hinsehen, ein neues Nachdenken zum Boden in ökologischer, sozialer, kultureller Hinsicht wachsen und heranreifen zu lassen? Welche Aufmerksamkeitsrichtungen sollten besonders gefördert werden, um BodenBildung im Sinne von Wissen, Bewusstsein, Urteilskraft zu ermöglichen oder sogar anzuregen? Eine erste Aufmerksamkeitsrichtung: Die Landwirtschaft muss die zentrale Bedeutung des Bodens wiederentdecken und öffentlich machen. Es ist eigenartig: Die Bedeutung des landwirtschaftlichen Bodens wird in allen Lehrbüchern betont. Der Boden steht üblicherweise auch als Anfangskapitel in den pflanzenbaulichen Lehr- und Handbüchern. Die fast mystische 4 Pörksen, Uwe: Plastikwörter, Stuttgart 1988 pannonisch | europäisch | kosmopolitisch 15 Überformung, nicht nur in der „Blut und Boden“-Propaganda der Nationalsozialisten, ist einer durchaus nüchternen, naturwissenschaftlichen und in der Hauptsache chemischphysikalischen Darstellung gewichen, aber die Böden bilden immer noch die Grundlage jeder pflanzenbaulichen Lehre. Die landwirtschaftliche Praxis ist allerdings einen anderen Weg gegangen. Mit dem Aufkommen der synthetischen Düngemittel wurde der Boden zusehends als Nährstoffreservoir verstanden, dem man die durch Ernte entzogenen Nährstoffe einfach wieder durch genau berechnete Düngergaben ersetzen konnte. Dazu kam eine rasante Entwicklung der Landmaschinentechnik für die Bodenbearbeitung. 5 Hier tut sich ein großes Feld für die Bauern, für landwirtschaftliche Organisationen, Beratungseinrichtungen und Vermarktungseinrichtungen auf, ihre Aufmerksamkeit in ihrer täglichen Praxis auf die Bedeutung des Bodens zu richten. Wenn dies nicht nur als Marketingstrategie eingesetzt wird, sondern als ehrliches Bemühen, einen neuen Umgang mit den Böden einzuüben, wird dies auch der Öffentlichkeit sichtbar werden. Es gilt, den Zusammenhang zwischen dem jeweils besonderen Boden, dem pfleglichen Umgang mit diesem und der besonderen Qualität, dem besonderen Geschmack des eben dort gewachsenen Lebensmittels stärker zu betonen. Ein schwieriges Unterfangen, wenn doch viele Lebensmittel eher auf Autobahnen oder Containerschiffen heranreifen als auf fruchtbaren Böden. Trotzdem: Die zunehmende Bedeutung, die der Regionalität als Qualitätskriterium für Lebensmittel zukommt, lassen ein Umdenken in der Gesellschaft erkennen. 5 Vgl. dazu: Uekötter, Frank: Die Wahrheit ist auf dem Felde. Eine Wissensgeschichte der deutschen Landwirtschaft, Göttingen 2010 16 Forum Europahaus Burgenland Eine zweite Aufmerksamkeitsrichtung: Boden und Kunst „Ist die Sprache der Natur stumm, so trachtet Kunst, das Stumme zum Sprechen zu bringen“, sagte Theodor Adorno. Kunst könnte in unserem Zusammenhang auch den Böden, die im öffentlichen Bewusstsein in Vergessenheit geraten sind, Gehör verschaffen. Und wie es Manuel Schneider in einem Beitrag zu den Terragrafien von Ekkeland Götze ausgedrückt hat: „So könnte das durch die Kunst geweckte ästhetische Feingefühl für die Natur den Sinn für die Eigenwertigkeit von Natur wecken, den Boden dafür bereiten, eine Haltung den Dingen gegenüber einzunehmen, die uns zunächst ungewohnt erscheint: etwas auch ohne Absicht auf Nutzen wertzuschätzen und in seiner Eigenart wahrzunehmen und zu achten.“ 6 Eine dritte Aufmerksamkeitsrichtung geht zur Bodenvergessenheit, Bodenverdrängung, ja Bodenlosigkeit in einem übertragenen Sinne. Franz Tutzer, geb. 1953 in Bozen/Südtirol, Studium der Agrarwissenschaften in Wien, seit 1985 Direktor an der Fachoberschule für Landwirtschaft in Auer/Südtirol (www.ofl-auer.it). Kontakt: [email protected] Die zunehmende Virtualisierung vieler Bereiche unseres Lebens, der Verlust der sinnlichen Wahrnehmung des Bodens unter den Füßen, der Zwang zur Mobilität, der die Orte unzugänglich macht, die weit fortgeschrittene Entkoppelung von Lebensmitteln und den Orten ihrer Erzeugung, auch soziale Entwurzelung im Sinne eines Verlusts von Gemeinschaft und gegenseitiger Verlässlichkeit machen Bodenlosigkeit gewissermaßen zu einer Signatur unserer Zeit. Ivan Illich hat 1990 gemeinsam mit einigen Freunden eine „Declaration on soil“ verfasst. Sie rufen in dieser Erklärung zu einer Philosophie des Bodens auf: „ Die im ökologischen Diskurs über den Planeten Erde enthüllten Tatsachen des globalen, überall wütenden Hungers und anderer Lebensbedrohungen, die niemanden verschonen, nötigen zur Einsicht, wie sehr wir heute den Boden unter den Füßen verlieren. Dies zwingt zur Aufgabe des Hochmuts, die Probleme der Erde in „planetarische Perspektiven“ erfassen und lösen zu wollen. Anstelle „allumfassende“ (globale) Lösungen anzustreben, ist es nötig, vorerst einmal die Augen bescheiden niederzuschlagen, und als Fragwürdigwerdende den Blick aufs Zunächstliegende, auf das Erdreich zu werfen, auf dem wir stehen. Wir müssen die Erde unter den Füßen spüren und nicht bloß auf einem Planeten stehen. …“ Und die Erklärung schließt mit den Worten: „… Wir rufen zu einer Philosophie des Erdbodens auf, zu einer klaren, disziplinierten Analyse jener Erfahrungen und Überlieferungen über den Boden, ohne die weder jene Sittenkraft noch irgendeine Art von Subsistenz, ein Verweilen in Grenzen, möglich ist.“ Schluss „Wenn wir uns bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden – wir streben danach, auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein“, so Peter Bieri. „BodenBildung“ kann in diesem Sinne auch eine nüchterne Suchbewegung sein, dem Boden unter unseren Füßen nachzuspüren, ohne mystisch oder romantisch abzudriften, in Anerkennung jener Grenzen, ohne die persönliche Verantwortung nicht gelebt werden kann. Und: Die Wahrnehmung der Welt, wie sie ist, der Wirklichkeit in ihrer Vielschichtigkeit ist eine entscheidende Gelingensvoraussetzung für Bildung. Das bedeutet auch, dass wir uns der Wirklichkeit zuwenden müssen. Dazu benötigen wir alle unsere Sinne. Auch in unserem Zusammenhang der „Bodenbildung“ heißt das: Wir müssen bei Sinnen bleiben. 6 Schneider, Manuel: Farben der Zeit, in: Politische Ökologie, Nov./Dez. 1997 weltgewissen Nr. 27 – April 2015 17 Vom Verlebendigen der Böden und des Geistes 22. - 24. April 2015, im Burgenland Seminar des Europahauses Burgenland in Kooperation mit den Bibliotheken Burgenland begleitet von Dr. Hildegard Kurt Böden sind wichtiger als Nationen. Und der Geist ist es erst recht. Etwas davon vermittelt die einstige Weltsprache Latein, indem »Humus« und »human« dieselbe Wortwurzel teilen. Heute sind die Böden weltweit von Erosion bedroht und zunehmend erschöpft. Oder sie sind, wie vielerorts in Pannonien, kontaminiert – durch kriegerische Konflikte in der Vergangenheit, aber ebenso durch die Agrarindustrie und andere industriemoderne Vernutzungen. Auch der Geist, ohne den es keine Humanität gibt, scheint in vielfacher Weise bedroht, erschöpft, kontaminiert. Ob in den Gärten, Feldern und Landschaften oder in den Bibliotheken: Im Blick auf eine Zukunft mit Zukunft gilt es, von ganz unten anzusetzen. Die Vereinten Nationen haben das Jahr 2015 zum Internationalen Jahr der Böden erklärt. Auf den Internationalen Tag der Erde alljährlich am 22. April folgt am 23. April der Welttag des Buches. Vor diesem Hintergrund laden wir Menschen, die bewusst mit Böden und Büchern arbeiten, zu einem Seminar ein, das eine besondere Form des gemeinsamen Denkens im Dialog mit Elementen der Natur und des Geistes praktiziert. Auf der Grundlage eines erweiterten Verständnisses von Kunst vermittelt das Seminar eine Reihe von kreativen Methoden, die helfen, Verhärtetes aufzulockern und Verdorbenes so durchzuarbeiten, dass Wandel möglich wird; die mithin helfen, sowohl Böden als auch den Geist neu zu verlebendigen. Inwiefern ist der Schutz von Böden und ihre Wiederbelebung an ein Verlebendigen und Kultivieren unserer humana geknüpft? Worin besteht jene »Kultur des inneren Menschen«, die, so einst Ernst F. Schumacher, Ökonom und Präsident der britischen Soil Association, unverzichtbar sei, weil sonst Selbstsucht die dominierende gesellschaftliche Kraft werde? Inwiefern kann gerade die Auseinandersetzung mit Böden helfen, bewusste, lernende Gemeinschaften herauszubilden? Diese Fragen laden in ein tiefes, offenes Reflektieren ein. Vielleicht können sie das Feld, das wir als Mitwirkende im Seminar gemeinsam bilden und worauf wir einander begegnen, schon ein wenig aktivieren. pannonisch | europäisch | kosmopolitisch Wie in vorangehenden Aktivitäten des Europahauses Burgenland mit Hildegard Kurt ist die Einladung, in der eigenen Region gemeinsam Wege hin zu einem kosmopolitischen Bewusstsein und zu einer ökologischen Humanität zu erkunden, ernst gemeint. Daher kann es bei diesem Seminar kein durchgehend im Voraus festgelegtes Programm geben. Stattdessen werden wir nach einigen einführenden Impulsen und Prozessen ab der zweiten Hälfte des zentralen Arbeitstages miteinander erkunden, was es braucht, um die Zusammenkunft wirklich fruchtbar werden zu lassen. Wegweisend hierbei kann ein so bescheidenes Wesen wie der Regenwurm sein: Sich unermüdlich bewegend, öffnet er den Boden, führt ihm neu Luft zu, was dessen Fruchtbarkeit nährt. Das griechische pneuma bedeutet »Luft«, »Wind«, »Atem«, aber zugleich auch »Geist«! So war denn auch »Bodenwürmer und Bücherwürmer – Durchlüfter des pannonischen Geisteslebens« der Titel, mit dem wir uns diesem Seminar anfangs angenähert haben. Zur Teilnahme eingeladen sind alle, denen Böden und Bücher, das pannonische Geistesleben und das Mitgestalten einer Zukunft mit Zukunft am Herzen liegen. Zugunsten eines intensiven Arbeitens ist die Zahl der Teilnehmenden auf max. 16 Personen begrenzt. Wer mitwirken möchte, möge es bitte ermöglichen, von Anfang bis Ende dabei zu sein. Vielleicht wird aus diesem Miteinander eine neuartige gemeinsame Initiative entstehen. Dr. Hildegard Kurt ist Kulturwissenschaftlerin, Autorin und Mitbegründerin des »und.Institut für Kunst, Kultur und Zukunftsfähigkeit e.V.« (und.Institut) in Berlin. In Seminaren und Werkstätten verbindet sie das seit Joseph Beuys erweiterte Verständnis von Kunst – »jeder Mensch ist ein Künstler« – mit Fragen der Gestaltung einer zukunftsfähigen Zivilisation. www.hildegard-kurt.de und www.und-institut.de 18 Forum Europahaus Burgenland Globales Lernen – Orientierungssuche statt Navi. Eine Erzählung - Ein Bildungsweg durch sechs Jahrzehnte Als Schüler erfuhr ich eine sehr autoritäre Erziehung. Die Professoren im Gymnasium trugen graue und weiße Mäntel und unterrichteten von einem erhöhten Katheder herunter, der ihre Bedeutung noch unterstreichen sollte. von Helmuth Hartmeyer Fingernägelkontrollen, Eintragungen ins Klassenbuch, Vorladungen an die Eltern dienten der nachdrücklichen Disziplinierung der Bubenschar. Prüfungen bestanden aus der Wiedergabe von Angelerntem: der Nürnberger Trichter und das was Paulo Freire das Bankierskonzept nannte galten als Erfolgskonzepte. Ich bezeichne es heute als Bulimiepädagogik: zuerst Lernstoff hineinstopfen und am Prüfungstag herauskotzen. Im guten Fall: danach vergessen. den Zugang zu Henry Miller, James Joyce oder Samuel Beckett – Literatur über österreichische Biedermeierlichkeit hinaus. Das Studium der Geschichte rückte das politische Engagement in seinen historischen Kontext. Gerechtigkeit wurde zu meinem politischen Kernanliegen. Wirtschafts- und Sozialgeschichte interessierten mich besonders; sie waren in meinem Jahrzehnt davor noch keine Zugänge gewesen. Pädagogik fand aber trotz Lehramtsstudium nur am Rande statt. Ich habe 1968 maturiert, ein Jahr, das fast mythisch in die politische Chronik einging. Mit Erinnerungen an Proteste gegen den Staub aus 1000 Jahren in den Talaren, Demos gegen den Schah in Persien und die USA in Vietnam. Lernen verlagerte sich auf die Straße. Die auf lokalen Stolz auf eine Wiener Vorstadtschule zusammengestutzten Inhalte wurden erstmals zu internationalen. Und wir sangen sie, die Internationale. Texte der Rolling Stones und anderer Epigonen aufmüpfiger Rock- und Folkmusik bewogen mich Englisch zu studieren. Dies eröffnete mir auch Sie nahm im nun folgenden Jahrzehnt einen zentralen Raum ein. Als Lehrer an einer Schule, die den Aufbruch aus erstarrten Lehr- und Lernformen erfahrbar machte. Ich durfte fortschrittliche Schulleitungen erleben, die den Projektunterricht förderten. Es gab die (zumindest gelegentliche) Aufhebung von Klassenverbänden und 50 MinutenTakten. Dies ließ mich Bildung als didaktische Befreiung erleben und in ihr aufgehen. Thematisch rückten wir die Anliegen der Friedensbewegung (im Antlitz des Ost-WestKonfliktes), der Umweltbewegung weltgewissen Nr. 27 – April 2015 (mit dem Atomkraftwerk in Zwentendorf als Kristallisationspunkt) und der Solidaritätsbewegung (etwa mit einem größeren Polisario-Projekt) in den Mittelpunkt. Eine nachholende Entwicklung, denn für Dag Hammarskjöld, den diese Tagung, aber auch ein Wiener Gemeindebau an der Oberen Alten Donau würdigt, waren die Umweltfrage, die nukleare Bedrohung und die Entkolonialisierung Afrikas schon in den 1950er Jahren Leitanliegen gewesen. Wir begannen global zu lernen, auch wenn wir noch kein Wort dafür hatten. Die 1980er Jahre führten mich in die Welt der entwicklungspolitischen NGOs. Mich bewegten die Möglichkeiten zu engagierter systemkritischer Bildungsarbeit, ausgedrückt durch eine Analyse über die 3. Welt im Schulbuch, die Beschäftigung mit Paulo Freire, erste Lehrgänge zur Entwicklungspolitik, die Gestaltung von Aktionen und Kampagnen. Doch was verstanden wir unter entwicklungspolitischer Bildung? Es ging darum, über Aufklärung und die Veränderung der Strukturen bei uns zu lebenswürdigeren Verhältnissen in den Entwicklungsländern beizutragen. In den 1990er Jahren wurde der Begriff des Globalen Lernens ein immer wichtigerer – in der Schweiz, in Deutschland, auch in Österreich. Im angelsächsischen Raum gab es ihn als Global Education schon einige Zeit davor. Der Europarat machte das Konzept mit Gründung seines Nord-Süd Zentrums in Lissabon zu einem Schwerpunkt seiner Bildungsarbeit. Die Maastrichter Erklärung aus 2002 bildete den Höhepunkt seiner diesbezüglichen wertvollen Arbeit. Der internationale Diskurs zum Globalen Lernen, zu dem Personen wie (der jüngst verstorbene) Alfred Treml, Klaus Seitz, Annette Scheunpflug, Gregor LangWojtasik, aber auch Doug Bourn, Liisa Jääskeläinen und Liam Wegimont sehr wichtige Impulse lieferten, pannonisch | europäisch | kosmopolitisch 19 führte die entwicklungspolitische Bildung aus einer oft aktionistischen NGO-Perspektive hin zu einer pädagogischen Konzeption. Er machte sie damit relevant für die Strukturen, die man beeinflussen wollte (wie Lehrpläne oder Institutionen der Lehrerbildung). Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends wurde der Wechsel von der entwicklungspolitischen Bildung hin zum Globalen Lernen vielerorts vollzogen. Das gängige Entwicklungsparadigma verlor an Strahlkraft. Mit der Gründung von GENE (Global Education Network Europe) wurde der internationale Austausch auf gesamteuropäischer Ebene stark gefördert, der Beitritt zahlreicher ehemals kommunistischer Staaten zur EU erweiterte den Raum. Durch Peer Reviews zu Global Education wurden inhaltliche und strukturelle Stärken und Schwächen in einzelnen Ländern sichtbar. Modelle der Veränderung (Strategien zum Globalen Lernen) wurden entwickelt. Lehrplanreformen in der Schweiz oder Finnland machten Nachhaltigkeit und Entwicklung zu Kernthemen der formalen Bildung. Im nunmehrigen neuen Jahrzehnt bewegt sich die Diskussion in eine neue Vielfalt. Qualitätsfragen im Globalen Lernen rückten in den Mittelpunkt. Einem vielfach handlungstheoretischen Zugang v.a. in NGO-Programmen wurde ein stärker systemtheoretischer Zugang gegenübergestellt. Das Bewusstsein, dass wir in globalisierten Gesellschaften leben, ist Allgemeingut geworden. Die Ver-Eine-Welt-lichung bedeutet eine starke Zunahme an individuellen Möglichkeiten (Internet), aber auch eine beträchtliche Vereinzelung der Menschen: „Lost in the universe“. Traditionelle Heimaten wie Beziehungen, Familien, Parteien, Gewerkschaften, Kirchen zerfallen. Menschen suchen neu: in der Ferne (Migration, Reisen), in der Nähe (Parship boomt), sie finden 20 Forum Europahaus Burgenland vermeintlich Anschluss über viele Freunde auf Facebook. Die Sehnsucht nach Zugehörigkeit verführt manche, sich als Krieger für den Islamischen Staat zu melden. Sie finden Emotionen, die attraktiv sind und es ihnen erlauben, ihre Aggressionen auszuleben. Andere wollen dem ausschließlichen Ruf des Geldes folgen. Weil sie Geiz geil finden und es sich wert sind. Doch immer gibt es auch das Andere: das Genügsame, das „Weltgewissen“, das Solidarische. nahe legen, über Aufklärung und Bildungsprogramme eine Veränderung der Verhältnisse herbeiführen zu wollen. Die häufige Annahme ist, man müsse nur beim kleinen Kind mit der „richtigen“ Wissensvermittlung beginnen und schon würden wir eine nächste Generation von Besserwissenden und mündigen Demokraten erleben. Der Glaube besteht, dass Fortschritt und das Paradies auf Erden so unter Garantie produziert werden können. Ich habe diese Geschichte der sechs Jahrzehnte, meine Geschichte der sechs Jahrzehnte, erzählt, um mir selbst etwas erklären zu können. Um zu verstehen, warum ich heute so denke und handle. Erzählen bedeutet einen Prozess der Selbsterkenntnis. Sich bilden und nicht gebildet werden (cit. Gronemeyer). Und sie räumt die Chance ein zu reflektieren, was um uns und mit uns geschieht bzw. wir selbst darin tun. Bildung sollte jedoch nicht auf letztgültige Resultate abzielen, nicht auf den Einsatz von Navis, sondern ist immer nur ein vorläufiges Ergebnis von pädagogischen Bemühungen; immer nur eine Orientierung. Auf dieses stete Provisorium hinzuweisen, scheint besonders wichtig in einer historischen Situation, in der die Fähigkeit der Menschen zu Verhaltensänderungen mit dem Tempo des gesellschaftlichen Wandels nicht mehr Schritt zu halten scheint. Wir stehen und sitzen vor einem Überangebot an Informationen und Daten. Eigentlich müsste uns beigebracht werden, was wir nicht zur Kenntnis zu nehmen brauchen. Mehr als je zuvor sind wir gefordert, immer wieder und immer wieder neu über das, was wir wahrnehmen und tun, nachzudenken, unser Handeln und die ihm zugrunde liegenden Entscheidungen zu überdenken. Die Umwelt von Menschen kann sich innerhalb eines Menschenlebens so häufig und so radikal verändern, dass das gestern Erlernte immer weniger für das Leben morgen taugt. Wir sind Zeuginnen und Zeugen sowie Teilnehmende einer Entwicklung in eine Weltgesellschaft. Das ist zugleich faszinierend wie verunsichernd. Je nach Bildungsstand, Interessenlagen und persönlicher Geschichte wird dies als Chance oder als Bedrohung erlebt. Das einzelne Individuum muss eine große Orientierungsleistung erbringen. Macht etwa ist nicht immer lokalisierbar, schon gar nicht immer Erzählen ist etwas anderes als zu belehren, erklären ist etwas anderes als Gefolgschaft zu organisieren. Deshalb will ich mich kritisch mit einigen aktuellen Tendenzen im Globalen Lernen auseinandersetzen und sie vor dem Spiegel meiner eigenen pädagogischen Erfahrungen und Einsichten analysieren. Ja: Weltverbesserung ist ein essenzielles Anliegen. Aber: sie ist nicht geeignet als Bildungsprogramm. Globales Lernen beschäftigt sich inhaltlich mit Negativ-Themen von eigentlich unvorstellbarem Ausmaß: Die Zahl der täglich an Hunger sterbenden Menschen, der Opfer von Vertreibung und Flucht, der Raubbau an den Ressourcen unseres Planeten, die Zahl der Opfer von Kriegen und gewaltsamen Konflikten die weithin empfundenen Gräben zwischen kulturellen Entwürfen, der Kampf um Arbeit und ein menschenwürdiges Einkommen. Der Zustand in der Welt kann deshalb den Schluss weltgewissen Nr. 27 – April 2015 personalisierbar, umso bedeutender ist es, Machtstrukturen zu erkennen. Vor diesem Hintergrund ist der Anspruch, über Bildungsprogramme zu einer verbesserten Welt zu kommen, kritisch zu hinterfragen. Es stellt sich mir die Frage, ob es sich dabei nicht um den stets wiederkehrenden Versuch handelt, der Zukunft ihre unsichere Seite zu nehmen, sie endlich „in den Griff zu bekommen“. Man soll Bildungsvorhaben jedoch nicht zuschreiben, ein fertiges Programm zur Bewältigung der Zukunft zu liefern. Es soll ihnen auch nicht die Aufgabe „Bewusstseinsveränderung“ aufgebürdet werden, um dadurch den Menschen und der Welt zu helfen. Es führt dies zu normativ verordnendem Lehren. Mehr noch, es verkehrt Bildung und macht sie zum Mittel für politische oder wirtschaftliche Absichten. T-Shirts einer österreichischen Bildungs-NGO tragen den Aufdruck „Ich bin ein Weltverbesserer“. Der Anspruch, über Bildungsprogramme den Weltverbesserungshunger stillen zu wollen, birgt die Gefahr, dass solche Programme zur Programmatik werden, dass man vermeint, das hohe Ziel Zukunftsgestaltung nur durch noch mehr Planung und Effizienz erreichen zu können. Es drohen dabei Empfindungen und Besinnen, Betrachten und Mitfühlen, Freude und Trauer, Freundsein und Fremdsein verloren zu gehen. Werden sie dem Götzen der Zielbesessenheit geopfert? Doch nicht alle, die die Welt umfahren möchten - real oder gedanklich - kommen ihr dadurch näher. Mehr noch: sie fahren sie mit um. Mittels Globalem Lernen soll vielmehr dem bereits Vorhandenen und dem Intendierten eine Form gegeben, Sinn, Entwicklung und Konsequenz immer wieder neu erfragt werden. Dies erfordert Zeit und Raum, Muße und Gelassenheit. Der oft hechelnd artikulierte Slogan „Es ist so viel zu tun“ beschleunigt weder Lernprozesse, noch führt er rascher zum Ziel. pannonisch | europäisch | kosmopolitisch 21 Eine bessere nachhaltigere Welt lässt sich nicht über Pläne verordnen, sondern es braucht gesellschaftlichen Dialog und Ringen um Konsens. Dies alleine legt die pädagogische Latte schon sehr hoch. Doch der Glaube, dass Erziehung und Bildung per se etwas Gutes sind und folglich zu etwas Gutem führen, scheint ungebrochen. In seiner aktuellen Global Education First Initiative ist Ban Ki-Moon überzeugt, dass Bildung die Macht hat „to shape a sustainable future and better world“. Er bezeichnet deshalb Bildung als „smart investment“, jeder investierte Dollar rechnet sich ihm folgend 10 bis 15fach. Wer in Bildung investiert, schafft Geschlechtergerechtigkeit, Gesundheit, ökonomischen Wohlstand und ökologische Nachhaltigkeit. Bildung wird die Macht zugeschrieben Menschen in diese Richtung zu verändern. Berichte über Schulalltage in Japan oder Südkorea, das Klassensystem im britischen Schulwesen oder auch das duale Bildungssystem für Neunjährige in Österreich lehren uns anderes. Es führt in die Sackgasse, die Grenzen von Bildung nicht anzusprechen, nicht zu sehen wie sich Eliten ein Bildungssystem zu ihren eigenen Vorteilen zimmern; zu leugnen, dass auch Bildung in Widersprüchen stattfindet. Um Brecht zu bemühen: es gibt keine richtige Bildung in einer falschen Welt. Global Citizenship Education Das UNESCO Programm zu Global Citizenship Education (2014), das sich nicht zuletzt auch auf Ban KiMoon beruft, verspricht eine konzeptuelle Neuorientierung. Es gehe um die Bedeutung von Bildung für das Verstehen und Lösen globaler Fragen in ihren sozialen, politischen, kulturellen, ökonomischen und ökologischen Dimensionen. Ist das eine konzeptuelle Neuorientierung? Der Ansatz erinnert vielmehr an lineare 22 Forum Europahaus Burgenland Zugänge in der entwicklungspolitischen Bildung der 1980er Jahre. In den Mittelpunkt wird die Anerziehung von Werten, Fähigkeiten und Einstellungen gerückt, welche die UNESCO vordefiniert hat. Lernende sollen darin unterstützt werden, unterschiedliche Ebenen von Identität zu verstehen, über globale Themen gut Bescheid zu wissen, kritisch denken zu können, soziale Kompetenzen zu erwerben und gesellschaftlich verantwortlich zu handeln. Es wird auf die Spannungen zwischen globaler Solidarität und globalem Wettstreit, zwischen lokalen und globalen Identitäten und Interessen und auf die Rolle von Bildung im Lichte jeweils aktueller Herausforderungen verwiesen. Und es werden Lernprinzipien angeführt, die ein offenes Umfeld für universelle Werte und eine auf Transformation ausgerichtete Praxis befördern sollen. Dazu zählt eine Bildung, die sich auf die Lernenden bezieht, die holistisch ist, zu Dialog und Respekt ermutigt, kulturelle Normen anerkennt, Kritik und Kreativität fördert, Widerstandsfähigkeit und Handlungskompetenz entwickeln hilft. All dem ist zuzustimmen. Doch weder die Auflistung der verbindenden Elemente, die angeführten Spannungsfelder, schon gar nicht die von der UNESCO benannten Prinzipen von Global Citizenship Education oder ihre Aktionsfelder (wie Lehrerbildung, ICT, Sport, Kunst und Kultur, oder community-based education) bieten etwas Neues. Sie sind allesamt Ansatz im Interkulturellen Lernen, im Globalen Lernen, auch in der Bildung für Nachhaltige Entwicklung. Reformpädagogisches Allgemeingut weithin. Und woran soll der Erfolg gemessen werden? To what extent do global environmental challenges require you to change your own behaviour? How often do you make a special effort to sort glass, tins, plastics or newspapers for recycling? Das sind einfach gestrickte Vorstellungen zur Messbarkeit der Wirksamkeit von Bildung. Relevante Impulse zur Weiterentwicklung kosmopolitischen Lernens kann ich keine erkennen. In einer österreichischen Abwandlung dieses Ansatzes plädieren Werner Wintersteiner, Heidi Grobbauer und Gertraud Diendorfer für ein Verständnis von Global Citizenship Education als Politische Bildung für die Weltgesellschaft. Der neue Begriff (in auffällig englischer Sprache) soll Interkulturelles Lernen, Globales Lernen, weltbürgerliche Bildung, Friedenserziehung und Politische Bildung zusammenfassen und damit ersetzen; denn diese würden nur Teilaspekte erfassen. Globales Lernen stünde den Autoren folgend für eine Vorstellung von der Einen Welt ohne politische Konflikte. Es würde sich auf das Einbringen der globalen Dimension, der globalen Zusammenhänge beschränken. Es fehlt mir dafür der empirische Beleg. Global Citizenship Education würde hingegen eine klare moralische Perspektive für die Gestaltung einer gerechten Welt bieten. Global Citizenship Education wird als eine transformative Bildung verstanden: sie führt die Lernenden nicht nur in die Welt ein, sie befähigt sie, aktiv an ihrer Umgestaltung teilzunehmen („development of active participation“, International Civic and Citizenship Education Study 2010). Wird Bildung dabei zu einer Heilslehre hochgewürdigt? Mir scheint die Kritiker der Macht drängen selbst zur Macht. Sich zu durchzusetzen mit dem „besseren Konzept“, Zugriff auf die Mittel zu erhalten: Geld, Lehrpläne, „zentrale Steuerungsimpulse“, Ausbildung/ Kurse, letztlich auf die Schüler und Schülerinnen. weltgewissen Nr. 27 – April 2015 23 Doch verkörpert der Satz „young people are not future citizens, but active citizens now“ die Vision, die Hoffnung von Pädagogen, die jungen Menschen sollen es unter ihrer Anleitung richten? Mit ihnen den Weg gehen? Eine wesentliche „politische“ Dimension geht verloren: die kritische Auseinandersetzung. Die Welt wird als Gewissheit erklärt, als durchanalysiert; universalistische Wahrheit wird beansprucht. Machtgefüge, die Endlichkeit von Ressourcen und damit verbunden die Wachstumsfrage, zunehmende soziale Klüfte, der Klimawandel) erfordert individuelle und kollektive Suchprozesse. Global Citizenship hin, Global Education her: es geht um die Zulassung von Vielfalt, um das Erschließen von Erfahrungsund Lernalternativen. Um das Eintauchen in die komplexen Beziehungen von Mensch und Welt. Auch ein Teil der europäischen NGO Gemeinschaft hat sich der Global Citizenship Education verschrieben. Das entwicklungspolitische Bildungsprogramm des Dachverbandes CONCORD trommelt seit kurzem für ein Bildungsprogramm, das zukünftige Generationen darauf vorbereiten soll, eine gerechtere Welt herzustellen. Ihrer Vorstellung nach soll Global Citizenship Education die Traditionen von BNE, Global Education, Interkulturellem Lernen, Menschenrechtsbildung und Friedenserziehung vereinen. Kritiker daran würden es vereinnahmen nennen. Neue Namen für traditionelle Programme erlauben neue Kämpfe um traditionelle Zielgruppen und vor allem wohl auch Geldtöpfe. Die Kraft des Konzepts Global Citizenship Education liegt in seinem Fokus auf der politischen Komponente von Lernprozessen in einem globalen Kontext, in seinem Fokus auf die gesellschaftlichen Strukturen. Education of the global citizen richtet hingegen seinen Fokus auf das Individuum. Es bedeutet individuellen Kosmopolitismus. Die Gefahr ist, dass er zum pädagogischen Synonym eines weltumspannenden neoliberalen Wirtschaftsmodells wird. 17 Global Education Primary Schools in Wien übersetzen es in moderne Wirklichkeit: mit Englisch als Arbeitssprache und dem forcierten Einsatz moderner Technologien. Kinder am Fitnessparcours für die Globalisierung, Bildung als Ausbildung für den weltweiten Konkurrenzkampf. Einige NGOs bei CONCORD reklamieren, dass angesichts neuer Weichenstellungen (Auslaufen der MDGs, auch der BNE Dekade, Erarbeitung der SDGs, das Muscat Agreement der UNESCO) eine neue Bildungsinitiative erforderlich ist. Dabei sollten aber meines Erachtens die pädagogischen Dimensionen, die das Arbeitsfeld zu einem qualitativ wertgeschätzten machten, nicht über Bord geworfen werden. Die Formulierung Education for Global Citizenship lässt dies befürchten. Bildung im Dienste einer von außen gesteuerten Agenda. Um eine globale Bewegung herzustellen, die die Weltprobleme lösen soll. „The Great Transformation“ (epochale Umbrüche im globalen pannonisch | europäisch | kosmopolitisch Bildung sollte sich diesen Tendenzen widersetzen. Vielmehr sollte eine Lernumwelt geschaffen werden, die an die konkreten Erfahrungen und Erlebnisse der Menschen anschließt, Differenzierung fördert und es dem Bewusstsein ermöglicht, sich eigene Wege zu suchen. Im Humanismus war die Idee von Bildung die Selbstformung des Menschen. Heute soll Bildung wie eben illustriert dazu dienen, auf die Weltwirtschaftsgesellschaft vorzubereiten, die neuen Generationen für den Kampf auf dem globalisierten Markt zu rüsten. Nach dem Philosophen Konrad Paul Liessmann wird Wissen auf eine bilanzierbare Kennzahl des Humankapitals reduziert. Bildung wird zur Ware, deren Erwerb Wettbewerbsvorteile 24 Forum Europahaus Burgenland verspricht. Sollte es nicht viel mehr um die Ermächtigung zu einer genügsamen Lebens- und Wirtschaftsweise gehen, die ein gutes Leben für alle im Auge hat? Edgar Morin spricht vom “planetarischen Bewusstsein“ (Morin 1999). Die globalen Entwicklungen und Bedrohungen betreffen alle Menschen. Sie machen mehr denn je eine Weltinnenpolitik notwendig. Die Konflikte anerkennt, denn trotz geteilter Risiken haben nicht alle die gleichen Interessen. Der Global Citzen ist ein Kosmopolit, der die Menschenrechte hoch hält, für Gerechtigkeit und Menschenwürde eintritt, der versteht und Verantwortung übernimmt. So verstanden ist Global Citizenship ein strukturelles, politisches, kulturelles Handlungsfeld, situativ und systembezogen. Ich befürworte eine Global Citizenship Education, die das Verständnis des Politischen als Voraussetzung für eine Weltinnenpolitik fördert und zur Ausweitung von Demokratie beiträgt. Eine Bildung, deren ethisches Ziel Empathie und globale Solidarität, eine Kultur des Friedens befördert. Eine Bildung, die uns ermächtigt und befreit. Ich kritisiere hingegen einen Zugang, der über Bildung die Lebensentwürfe aller bestimmen will. Sie verbirgt ein unilineares Verständnis, das über Bildung neue politische Verhältnisse herstellen will, eine Erzeugungsstatt einer Ermächtigungsdidaktik. Globales Lernen als solidarische Erzählung Soll Bildung Erfolgsgeschichten begründen, besteht die Gefahr, dass sie als Teil eines individuellen Lebenshilfekonzepts verstanden wird. Wie bestehe ich am globalen Arbeitsmarkt? Wie werde ich glücklich in einer immer schnelleren, lauteren, bedrängenderen Welt? Bildung soll das Individuum stärken, aber auch gemeinschaftlichen Zusammenhalt fördern. Das Ziel wären Bildungsprozesse, die den Menschen Vertrauen, Stabilität, Selbstbewusstsein und Lebensfreude gewähren. Sie sollten unsere Identität im Spannungsfeld zwischen Individuum und Gemeinschaft zum Thema machen. Im Globalen Lernen ist das eine große Herausforderung, denn dem Individuum steht eine Welt- und Konkurrenzgesellschaft gegenüber, welche das Einüben von Gemeinsamkeit schon rein räumlich erschwert. Die universelle Betroffenheit ist eine Fiktion. Wir sind nicht unbegrenzt zu Gemeinschaft fähig. Aber durch Zusammenarbeit und Zusammenleben können Solidarität und soziale Tugenden gefördert und die Fähigkeit zu einem kooperativen Verständnis und Vorgehen auch im Alltag gestärkt werden. Ist kollektives Lernen möglich und wie? Wie kommen wir vom Wissen zum Handeln? Wie kann es zu gesellschaftlicher Veränderung kommen? Bildung sollte Kreativität und vielfältige Lösungen fördern. Beides ist notwendig angesichts einer ungewissen Zukunft und auf der Suche nach Orientierung in einer komplexen Welt. Fertigkeiten können trainiert werden. Grundkompetenzen, die helfen, das Leben zu meistern, können jedoch nur durch ein stetes sich „Empor-Irren“ erworben werden. Ein neuer Irrtum ist mir lieber als proklamierte Gewissheit. Bildung fördert die Einsicht in die eigene Verstricktheit in die Grundfragen des Lebens. Paulo Freire nennt es „die Welt enthüllt sehen“. Menschen und Gruppen können sich und ihre Interessen vor dem Hintergrund oft komplexer Zusammenhänge leichter erfassen. So ermöglicht Bildung die Entdeckung von Denk- und Handlungsweisen, die es erlauben, verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen. weltgewissen Nr. 27 – April 2015 Jean-Francois Lyotard vertritt die These vom Ende der großen Erzählungen. Ich widerspreche. Globales Lernen braucht eine Erzählung. Thujen und Rosen können sie erzählen. Thujen die Geschichte, wie Pädagogik nicht sein soll; gleichförmig und in sich geschlossen. Rosen jene, wie Offenheit und Vielfalt Entwicklung und Entfaltung des Individuums wie einer ganzen Gesellschaft ermöglichen. Bildung ist wie eine Rosenlandschaft: bunt, vielfältig, dornenreich und pflegebedürftig. 25 Literatur Diendorfer., Gertraud/ Grobbauer, Heidi/ Wintersteiner, Werner: Global Citizenship Education. Poltische Bildung für die Weltgesellschaft. In: Österreichische UNESCO Kommission (Hg.): UNESCO ASP Schulen. Wien 2014, S.1-14. Hartmeyer, Helmuth: Die Welt in Erfahrung bringen. Frankfurt/ Main 2007. Hartmeyer, Helmuth: Von Rosen und Thujen. Globales Lernen in Erfahrung bringen. Münster 2012. Lang-Wojtasik, Gregor: World Society and the Human Being: The possibilities and limitations of global learning in dealing with change. In: International Journal of Development Education and Global Learning, vol.6, no1, pp.53-74. Melber, Henning: Welche Entwicklung in wessen Welt? In: Weltgewissen, No26, August 2014. S. 48-55. UNESCO: Global Citizenship Education. Preparing learners for the challenges of the 21st century. Paris 2014. UN Secretary General: Global Education First Initiative. New York 2012 Wintersteiner, Werner: Global Citizenship Education: Bildung zu WeltbürgerInnen. In: KommEnt (Hg.): Globales Lernen in Österreich. Potenziale und Perspektiven. Salzburg 2013, S. 18-29. ZEP: Kann durch Erziehung die Gesellschaft verändert werden. ZEP1/2 (29) 2006. Helmuth Hartmeyer, war Leiter der Abteilung Förderungen Zivilgesellschaft in der Austrian Development Agency (links im Bild) im Gespräch mit Gregor Lang-Wojtasik, Pädagogische Hochschule Weingarten (Württemberg), Direktor des Zentrums für Erwachsenenbildung, Senatsbeauftragter für Indien, Co-Hrsg. des Handlexikons Globales Lernen während der internationalen Tagung „Global Citizenship Education - zu kosmopolitischen Dimensionen des Globalen Lernens“ vom 10. – 12. November 2014 in Eisenstadt.. pannonisch | europäisch | kosmopolitisch 26 Forum Europahaus Burgenland Taumeln mit Sündenbock Ein Essay zum Versagen der politischen Eliten Europas Die Geostrategen sind wieder da. Sie waren nie weg, aber die politische Klasse war es zufrieden, davon nichts wissen zu müssen, und die medial erzeugte Öffentlichkeit erst recht. Plötzlich, aus dem heiteren Himmel der Geschäfte und der Spaßgesellschaft heraus lassen die Geostrategen aus Ost und West uns fühlen, wie die reale Welt so läuft; die Ukraine als aktueller Brennpunkt. von Erich Kitzmüller Europas politische Klasse samt medialer Öffentlichkeit ist bestürzt: Wirtschaftskrieg, Kalter und womöglich der Große Heiße Krieg, wo wir doch in Europa so friedlich unseren Werten und Geschäften nachgehen! Da muss eine Grenze gezogen, muss sanktioniert werden, und zunächst, immer brav diplomatisch, muss eine Vermittlerin her. Jetzt soll die Regierungschefin eines etwas gewichtigeren Kleinstaats, Deutschlands, für ganz Europa die Dinge einrenken. Eine zugleich komische und tragische Personalisierung; wie jede Personalisierung eine Illusion. Denn Frau Merkel steht mit leeren Händen da. Die Abwesenheit Europas Zusammen mit ihren Machtkollegen hat sie all die Jahre dazu beigetragen, dass aus dem historischen Zwischenschritt „Europäische Union“ keine staatliche Handlungsfähigkeit im Maßstab des Jahrhunderts entstehen konnte. Bloß ein Wirtschaftsraum, wenn auch mit allerlei Beiwerk. Keine einheitlich handlungsfähigen Institutionen, im Inneren sozialpolitisch unzuständig und unfähig, nach innen und außen kein kraftvoller Zähmer der Finanzindustrie und der Geheimdienste, kein weltpolitisch ernst zu nehmender Friedensfaktor. Ein grotesker Zustand, erklärbar nur aus der Unterwürfigkeit und einer ideologischen Verblendung der politischen Klasse - und einem parallelen teilweisen Versagen der zivilgesellschaftlichen Opposition in ihrer Zersplitterung und Staatsblindheit. Denn auch ein im Abstieg befindliches Europa hätte noch kulturelles und produktives Potential, ist eine latente Macht, aber mangels demokratischer Institutionen auf Augenhöhe mit den Machtzentren weltweit (und zu Hause) bleibt dieses Potential nur Spielmaterial für die weltweit Mächtigen. Das epochale Versagen der politischen Eliten: Wo Staat nötig wäre - als Verfassung für die Dynamik der Zivilgesellschaft, als rechtsstaatliches Gewaltmonopol mit einer Regierung und einem Parlament als einheitlich handelnden und global wirksamen Akteuren fehlt er. Statt dessen spielen kleinstaatliche möchte-gern-Machthaber weltgewissen Nr. 27 – April 2015 verschiedenen Kalibers samt intergouvernementalen Hilfseinrichtungen sich auf, als seien sie Staat, lassen Verwaltungsapparate samt ihren Lobbies wuchern. Allerhand Eingriffe in den Alltag, doch keine Änderung der Spielanordnung und des Spielfelds, nur Anpassung an die vorgefundene Machtverteilung. So wurde die institutionelle Dimension eines notwendigen politischen Wandels diskreditiert. Macht, insgeheim die zentrale Norm der lokalen und nationalen Politikspiele, ist in der europäischen Dimension ein pfui-Wort. Als ob die nötige Dienstbarmachung der Finanzindustrie, ihre Neudimensionierung, um das verfemte Wort Schrumpfung zu vermeiden, nicht zu oberst eine Machtfrage wäre; die entscheidende Machtprobe dieser Jahrzehnte. Als ob der ökologische Ruin und die voraussehbaren Kriege um die asymmetrische Aneignung von Ressourcen allein durch die unzähligen, so begrüßenswerten Initiativen „von unten“ abgewendet, dabei aber die Machtverhältnisse ignoriert werden könnten. Als ob die Durch-ökonomisierung des Globus und die weltweite Zunahme von Gewalt, mit Verelendung und überfordernden Flüchtlingswellen als voraussehbaren Folgen, vom jetzigen Kleinstaatenchaos Europas friedlich und befriedend beeinflusst werden könnten. Der aktuelle Testfall für die Abwesenheit Europas aber ist die Ukraine, also der neu aufflammende geostrategische Konflikt über die Einflusssphären des neuen Zarenreichs und des „Westens“. Zunächst: Wer ist das, der Westen? Für die herrschenden Gruppen und ihre Medien ist die Antwort leicht: herausgefordert - durch „Putin“ -sind „unsere Werte“. Hinter diesen löblichen Werten wird jedoch die reale Machtkonstellation verdrängt und vernebelt. Europa, fraglos Teil „des Westens“, existiert nicht als souveräner Staat. pannonisch | europäisch | kosmopolitisch 27 Die Klein- und Zwergstaaten, die fallweise sich als „Europa“ aufspielen, genießen nur eine Schön-WetterSouveränität, doppelt eingeengt. Die globalisierte Finanzindustrie und andere transnationale Machtkomplexe sind von den Kleinstaaten aus nicht zu zähmen. Und sobald Interessenskonflikte zum geostrategischen Konflikt mutieren, ist Europa ein Protektorat der USA. Was dadurch nicht besser, sondern schlimmer wird, dass der Protektor selber schwächer geworden ist und wohl weiter schwächer wird. Vor 25 Jahren noch die allein übrig gebliebene Supermacht, erodieren inzwischen alle drei Pfeiler dieser Sonderstellung. Salopp gesagt, Wall Street, Pentagon, Hollywood, oder anders gesagt der Dollar als Weltgeld, die US Forces als Garant dafür, jeden Krieg führen und gewinnen zu können, nicht zuletzt die Verführungskraft des aggressiven Wirtschafts- und Lebensstils - alle diese Faktoren wirken weiter, werden aber schwächer; schon seit Vietnam haben die USA keinen Krieg gewinnen können. Europa ist zwar eine bedeutende Provinz der globalen Finanz-, Konsum- und Sicherheitsindustrie, jedoch politisch ein Niemand im Schwebezustand zwischen einer sich erst in Umrissen abzeichnenden multipolaren Mächtekonstellation voll Ungewissheiten und dem alten Protektorat, das in jeder Hinsicht unzuverlässig wird. Die westlichen Werte Europa ist Teil des Westens, gewiss. Aber wie ist dieses ominöse Wertebündel strukturiert? Der zentrale Wert für den Westen ist die Feindschaft gegenüber all jenen, die einen bestimmten Teilkomplex eben dieses Wertebündels ablehnen, nämlich den Vorrang eines Amalgams von Zielvorstellungen für Staat und Wirtschaft, bezeichnet etwa mit den Worthülsen „demokratische Marktwirtschaft“ oder „marktkonforme 28 Forum Europahaus Burgenland Demokratie“. Im Klartext: Vorrang für profitorientiertes Wirtschaften und dafür brauchbare Institutionen und politische Helfer. Dieser praktizierte Zentralwert des Westens bleibt verdeckt und verschwiegen hinter einer Rhetorik der Menschenrechte. Gewiss, die Erfindung der Menschenrechte ist die wohl bedeutendste Errungenschaft der Neuzeit, und insofern macht die Rede von den westlichen Werten dann doch Sinn. Von Westlern aus dem eigenen Erbe heraus formuliert und bruchstückhaft praktiziert, sind sie längst nicht mehr nur westliche, sondern genuin menschheitliche Rechte und Ansprüche. Doch der real existierende Westen hat in seinen Taten laufend sich selber desavouiert. Das rächt sich nicht allein in Europas Osten, ebenso in den Konflikten im Nahen Osten oder Afrika; aber das ist eine andere Geschichte. Erich Kitzmüller ist Sozialwissenschaftler und Wirtschaftsphilosoph. Kitzmüller verfasste 1982 das erste programmatische Papier der Gruppe Alternative Liste Österreichs, einer Vorgängerpartei der Grünen Partei Österreichs. Seine Themenschwerpunkte sind Geldwirtschaft und Grundeinkommen. Im Verhältnis zu den Nachfolgern der Sowjetunion freilich war den Akteuren Europas die geostrategische Komponente der Beziehungen offensichtlich nicht präsent. Die entscheidende Weichenstellung schien ihnen gleichsam selbstverständlich: Das Militärbündnis rund um die USA, nämlich seine unaufholbare Hochrüstung hatte, zusammen mit den Systemschwächen im Inneren, die Niederlage der Sowjetunion im Kalten Krieg unabwendbar gemacht. Nach dem Sieg entbehrlich, wurde die NATO aber nicht rückgebaut und aufgelöst. Wie so oft, hat auch diesmal der Sieg die Sieger geblendet; jedenfalls die Europäer. Für den Protektor seinerseits blieb die NATO weiter das Unterpfand der eigenen Sonderstellung. Für die folgenden Jahrzehnte vor der jetzigen Zuspitzung des Konflikts bedurfte es sodann allseits keines bösen Willens. Die Nachfolgestaaten am Rand Russlands waren als Völkerrechtssubjekte frei, den Anschluss an den Westen zu suchen, per NATO, da es sie eben gab, und per Europäischer Union, die selber keine Sicherheitspolitik hatte und sie gar nicht anstrebt. Anders für den Protektor und seine europäischen Propagandisten. Für sie, dressiert auf Geostrategie, war und ist Sicherheitspolitik identisch mit dem Anspruch, das anscheinend zur Regionalmacht abgesunkene Russland fügsam zu machen für die Strategien der westlichen Vormacht. Schluss mit Blockaden und Störmanöver im UNO Sicherheitsrat! Russland als williger Partner für westliche Manöver etwa im Nahen Osten - und vor allem in den absehbaren Konflikten um die globale Machtteilung mit den aufkommenden ganz großen Rivalen! Darum allein geht es in der begonnenen Eskalation, nicht um Menschenrechte oder die Interessen der Ukraine und anderer Völker am Rand Russlands. In Russland selber ist die Entdemokratisierung und die Auslieferung des Landes an neue Feudalherren und eine ökonomische Fehlsteuerung hausgemacht. Jetzt läuft der Test, kann das neue Zarenreich, immerhin Nuklearmacht und ständiges Mitglied des Sicherheitsrats, sich als gleichrangige Weltmacht behaupten, mit der Ukraine und anderen Ländern am Rand als strategischem Vorfeld, abgesichert gegen die Ausdehnung von NATO und einer Europäischen Union als Teil dieses Protektorats. Ablenkung durch Moralisierung Die transatlantische Öffentlichkeit und speziell die europäische ist versessen darauf, den Streit allein moralisch zu verstehen. Wer hat aktuell Schuld am Krieg in der Ukraine? Mit der Schuldfrage scheinen alle Fragen erledigt. Und nichts ist leichter als das, tatsächlich ist der weltgewissen Nr. 27 – April 2015 Übeltäter rasch identifiziert. Am besten per Personalisierung. Ist es nicht Putin, der in Russland eine Diktatur errichtet, Kritiker gewaltsam ausschließt oder töten lässt, der einer schwächelnden Regionalmacht die Rolle einer Weltmacht eingeredet und damit den Boden für nationale Feindschaft aufbereitet hat? Ohne Zweifel war es Putin, der mit dem gewaltsamen Anschluss der Krim das Völkerrecht missachtet hat. (Wobei die lange Serie „westlicher“ Verletzungen des Völkerrechts und von Menschenrechten, mit dem Krieg im Irak als extremem Beispiel, in der westlichen Öffentlichkeit unter den Tisch fällt.) Der Vorteil der Moralisierung liegt darin, dass mit der Schuldfrage die Komplexität des Geschehens, die wechselseitige Verknüpfung von Interessen, Absichten, Ausnützen von Fehlern der Gegner und eigenen Fehlern ausgeblendet wird. Aber Schuldzuweisungen ersparen uns nicht, bis zu den Ursachen der Ereignisse vorzudringen. Und erst jenseits der Schuldvorwürfe kann begonnen werden, Alternativen zu erfinden. Europa hat weder die Institutionen noch die informierte Öffentlichkeit noch den gemeinsamen Willen, die es befähigen könnten, zugleich gegenüber Russland und der Ukraine nachhaltig konstruktiv zu handeln. Europa ist in den Konflikt um die Ukraine hinein getaumelt und hat sich dazu verurteilt, weiter zu taumeln. War überhaupt etwas anderes zu erwarten von einem Kleinstaatenhaufen, der seine Sicherheit längst einem geostrategischen Protektor ausgeliefert hat? Waffen oder Geld? Die Nicht-Union in Praxis. Einige der 28 liefern ein wenig Militärhilfe, Berater, Ausbildner pannonisch | europäisch | kosmopolitisch 29 und allerlei Waffen. Doch andere sehen voraus, man muss kräftig aufrüsten. Wieder andere haben erkannt, die militärische Eskalation könnte ungewollt in den Großen Krieg münden; die einzige Alternative: Europa muss die Ukraine finanzieren. oder Waffen auffährt, man kann vermuten, dass Putin auf längere Frist schlechte Karten hat. Doch nichts ist weniger berechenbar und gefährlicher als ein Verlierer mit Nuklearwaffen. Doch die Sanierung der Ukraine ist ohne Zusammenarbeit mit Russland schwerlich möglich. Eine im Unfrieden hausgemachte Sanierung mit der Überwindung von Oligarchenherrschaft und Korruption als Kernstück könnte nicht von außen erzwungen werden und bleibt fraglich; also ein Fass ohne Boden. Nach dem Debakel der Finanzkrise, die unter Verzicht auf den Primat der Politik durch Bankenrettung hinausgeschoben wird, werden die 28 in der Epoche der Renationalisierung schwerlich viele Jahre lang viele Milliarden aufbringen. Europa taumelt hinein in eine vielleicht unbeherrschbare Eskalation der Gewalt und Feindschaft. Bleibt der Große Krieg aus, wird das nicht das Verdienst Europas gewesen sein. Ohne den Entschluss zur Staatlichkeit, ohne Reue und Einfühlen in den Feind, ohne ein kraftvolles Angebot zur Zusammenarbeit zugleich an Russland und Ukraine kein Friede. In der Weltsicht der Geostrategen kann die jetzt anlaufende Eskalation nur mittels Sieg und Niederlage erledigt werden. Ob mit Geld, da sollten die Europäer an die Front, oder mit Waffen. Der Starke schlägt den Schwachen, mehr an Überlegung braucht es nicht. Jetzt kalkuliert der Starke die Schwäche Russlands. Niemand weiß, ob Russlands Wirtschaft, die außer Waffen und fossilen Brennstoffen wenig vorzuweisen hat, noch länger als Unterfutter eines expansiven Zarensystems taugt. Niemand weiß, ob die Kosten einer Eskalation, dann eventuell die Zahl der Toten die nationalistische Großmachthysterie einstürzen lassen oder umgekehrt sie ins Extrem treiben. Niemand weiß, ob das hohe Maß an Rationalität, das Putins Handeln bisher ausgezeichnet hat, auch in einer kriegerischen Eskalation die Führer Russlands leiten wird. Gleich, ob „der Westen“ mit Geld Wer kann Alternative? Aber nein, wir haben ja den Schuldigen! Ein gewöhnlicher Sündenbock ist schuldlos, Zar Putin aber ist zu Recht als Aggressor und Lügner entlarvt; der ideale Sündenbock. Ein Sündenbock erspart beides: die Besinnung auf den eigenen Anteil am Entstehen der Bedrohung, und erspart die Umkehr, den Aufbruch zu einer Alternative heraus aus dem Protektorat, heraus aus der selbstverschuldeten, verantwortungslosen Kleinstaaterei und hin zum Vorrang der Politik gegenüber Bereicherung, Durchökonomisierung und Aufrüstung. Europa taumelt, aber mit Sündenbock taumelt es sich leichter. 30 Forum Europahaus Burgenland Kants Konzeption kosmopolitischer Bildung Üblicherweise wird beim Kosmopolitismus, der Theorie, dass alle Menschen unabhängig von Ethnie, Religion oder politischer Zugehörigkeit einer weltumspannenden Gemeinschaft angehören oder angehören sollen, zwischen verschiedenen Formen bzw. Varianten unterschieden. von Georg Cavallar Wenn heute von Kosmopolitismus die Rede ist, wird meist auf seine politische Variante Bezug genommen, die für eine bestimmte Art von globaler Rechtsordnung plädiert, etwa für einen Weltstaat. Wird bei der Begründung vertragstheoretisch argumentiert, kann auch von einem kontraktualistischen Kosmopolitismus gesprochen werden. Ökonomischer oder kommerzieller Kosmopolitismus, die Auffassung ‚that the economic market should become a single global sphere of free trade‘ (Pauline Kleingeld), wird heute meist mit dem Namen Adam Smith und anderen Vertretern des Scottish Enlightenment in Zusammenhang gebracht. Der naturrechtliche Kosmopolitismus, der auf antike und mittelalterliche Quellen zurückgeht, ist wohl die älteste Form des Kosmopolitismus in der europäischen Frühen Neuzeit. Der Grundgedanke besagt, dass naturrechtliche Normen zur globalen Anwendung kommen, d.h. auf alle Menschen angewandt werden sollen. Im Laufe der Frühen Neuzeit verwandelte sich dieser Kosmopolitismus der Naturrechtstradition in einen menschen- bzw. individualrechtlichen und/oder einen juridischen Kosmopolitismus. Bei Kant bezieht sich der epistemologische oder kognitive Kosmopolitismus auf den Weltbürger. (Ich werde in meinem Beitrag oft die männliche Form gebrauchen, da Kant eindeutig bei seinen Ausführungen an den männlichen, selbständigen Staatsbürger gedacht hat und nicht an Frauen mit Wahlrecht etc. Das ist nicht abwertend gemeint, soll aber den historischen Kontext Kants betonen, der auch teilweise Kind seiner Zeit war). Der Weltbürger versucht, den ‘Egoismus der Vernunft’ zu transzendieren, der in der mangelnden Bereitschaft besteht, seine eigenen Urteile mit Hilfe der Urteile anderer zu testen. Das normative Ideal besteht in einer der drei Maximen der allgemeinen Menschenvernunft: der erweiterten Denkungsart. ‚Dem Egoism kann nur der Pluralism entgegengesetzt werden, d. i. die Denkungsart: sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einen bloßen Weltbürger zu betrachten und zu verhalten‘ (Kant, Vorlesung zur Anthropologie). Wer versucht, den eigenen logischen Egoismus zu überwinden, versucht, Sachverhalte aus der Perspektive anderer zu sehen, deren Standpunkt einzunehmen und die eigenen Urteile mit jenen anderer weltgewissen Nr. 27 – April 2015 zu vergleichen. Das erinnert etwa an Adam Smith und dessen Figur des ‚impartial spectator‘. WeltbürgerInnen in diesem Sinn versuchen, ihr eigenes Denken zu erweitern und im Urteilen jene Konsistenz und Universalität zu erreichen, die Moralität kennzeichnet. Im Idealfall wird eine kosmopolitische Perspektive erreicht, die die ‘subjektiven Privatbedingungen des Urteils’ transzendiert. Ein Mensch mit erweiterter oder kosmopolitischer Denkungsart reflektiert ‘aus einem allgemeinen Standpunkte (den er dadurch nur bestimmen kann, dass er sich in den Standpunkt anderer versetzt) über sein eigenes Urteil’ (Kant, Kritik der Urteilskraft). Diese Denkungsart muss gelehrt und geübt werden. Das entscheidende Element ist eine bestimmte Denkungsart, der letztlich eine bestimmte Gesinnung - die ‚oberste Maxime‘ einer Person, die in deren ‚Willkür‘ aufgenommen wird – zugrunde liegt. Denkungsart unterscheidet Kant von der Sinnesart, die sich auf Empirie bezieht; die Denkungsart beruht auf Prinzipien. Im Versuch der Verwirklichung dieser erweiterten Denkungsart können auch die eigenen ethnozentrischen Vorurteile abgelegt werden. Ich nenne ein Beispiel aus dem 18. Jahrhundert. Naturrechtsautoren wie Locke und Vattel entwickelten das so genannte ‘agricultural argument’ zugunsten europäischer Kolonisation, indem sie argumentierten, dass rechtmäßiger Besitz auf der intensiven Nutzung von Boden basiere. Mit Hilfe dieser Theorie ließen sich die Besitzansprüche der nomadischen Ureinwohner Nordamerikas, der Native Americans oder first nations sowie der nicht-europäischen Einwohner anderer Kontinente ignorieren. Autoren wie Wolff oder Diderot kritisierten das Argument als illegitim – eine Kritik, die als Beispiel für kognitiven Kosmopolitismus gelesen werden kann. Kant selbst schloss sich Wolff und Diderot pannonisch | europäisch | kosmopolitisch 31 an, und zwar mit einem prinzipiellen rechtsphilosophischen Argument: die Sphäre äußerer Handlungsfreiheit ist bei allen Menschen zu respektieren, solange sie mit der gleichen Freiheit anderer vereinbar ist. Europäer dürfen in Nachbarschaft dieser Völker siedeln, ‘wenn es aber Hirten- oder Jagdvölker sind (wie die Hottentotten, Tungusen und die meisten amerikanischen Nationen), deren Unterhalt von großen öden Landstrecken abhängt, so würde dies nicht mit Gewalt, sondern nur durch Vertrag, und selbst dieser nicht mit Benutzung der Unwissenheit jener Einwohner in Ansehung der Abtretung solcher Ländereien, geschehen können’ (Kant, Rechtslehre). Die erweiterte Denkungsart ist sensitiv was Kontexte betrifft – in diesem Fall berücksichtigt sie, dass nomadische Völker eine Lebensweise haben, die sie von kommerziellen Gesellschaften unterscheidet. Andererseits werden kontingente Aspekte ausgeblendet – etwa europäische Maßstäbe von Eigentum, Souveränität oder Staatlichkeit -, um universalen Prinzipien zum Durchbruch zu verhelfen. In diesem Fall ist es das gleiche Recht auf Handlungsfreiheit, das Instrumentalisierungsverbot oder das Verbot von vorsätzlicher Täuschung. Die Vernunft wird kultiviert, indem sie Einsicht in ihre eigene Tragfähigkeit und Grenzen gewinnt. Im Falle der nomadischen Völker findet sie das tragfähige Rechtsprinzip wechselseitiger äußerer Freiheit, das den Streit der Gelehrten entscheidet. Die erste systematische Stellungnahme des kritischen Kant zum Kosmopolitismus steht in der ‚Kritik der reinen Vernunft‘. Hintergrund der Ausführungen ist das griechische Wort ‚kosmos‘ für ‚Welt‘ oder eben ‚Kosmos‘, das übrigens nicht mit dem Begriff der ‚Realität‘ ident ist. ‚Philosophie nach dem Weltbegriffe’ befasst sich mit ‘der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft‘, zu denen die Selbstgesetzgebung der 32 Forum Europahaus Burgenland praktischen Vernunft und unsere moralische Bestimmung gehören. Der Weltbegriff unterscheidet sich vom scholastischen Konzept der Philosophie, der es lediglich um die theoretische Systematisierung des Wissens geht. Beim Weltbegriff geht es also um die praktische, systematische Einheit oder Totalität der intelligiblen oder moralischen Welt, die Kant unter dem Begriff des Reichs der Zwecke fasst. An dieser Stelle geht der kognitive in einen moralischen Kosmopolitismus über. Ich kann hier nicht näher auf die soziale und politische Dimension des kognitiven Kosmpolitismus eingehen. Das Herzstück von Kants Überlegungen ist die Einsicht, dass wir nur mit Hilfe anderer unsere eigene Vernunft und Urteilskraft kultivieren können. Der Anhänger des ‚agricultural argument‘ veranlasst uns beispielsweise, die Argumentation zu prüfen oder nach einem prinzipiellen Gegenargument zu suchen – aber immer mit der vorurteilsfreien Denkungsart und Gesinnung, dass das bessere Argument zählt. In seinem Aufklärungsaufsatz definiert Kant die Grenzen der Privatheit neu: das entscheidende Element ist die Fähigkeit zur sprachlichen Kommunikation. Wir sind alle potentielle Gelehrte, die rational argumentieren können, zur Selbstreflexion fähig sind und damit eine kosmopolitische Gemeinschaft bilden – im Gegensatz zu einer bloß lokalen oder privaten. ‘Dare to make your village cosmopolitan’, formuliert Pablo Muchnik im Sinne Kants. Kant hat sein formales Verständnis von Bildung, das sich teilweise mit dem des Neuhumanismus überschneidet, mit dem Ziel des autonomen Menschen in vier Aspekte aufgeschlüsselt. Erziehung beginnt mit der Disziplinierung als Kunst der Beherrschung von Trieben, Bedürfnissen und Aggressionen, die nicht mit Vernunftprinzipien vereinbar sind. Sie setzt sich fort als Kultivierung der Geschicklichkeit in der Realisierung selbst gesetzter Zwecke und in der Zivilisierung als Klugheit im Umgang mit anderen. Ziel von Erziehung und Bildung ist die Moralisierung als Verwirklichung eines moralisch guten Willens und moralischer Tugend. Kants Sprachgebrauch ist in seinen Schriften uneinheitlich. In der ‚Pädagogik‘ (herausgegeben 1800, basiert aber wahrscheinlich auf einem Vorlesungsmanuskript aus den 1770er Jahren) fällt Bildung mit ‚Zucht und Unterweisung‘ zusammen, wobei Zucht der Disziplinierung, Unterweisung in etwa der Erziehung zur Geschicklichkeit entspricht. In den 1790er Jahren häuft sich die Verwendung des Bildungsbegriffes. In der Religionsschrift (1793) ist bereits von ‚moralischer Bildung‘ im Sinne einer Kultivierung der Moralität die Rede. Ich werde nun Kants Konzeption kosmopolitischer Bildung in den folgenden Abschnitten skizzieren. Der erste Schritt lautet: Vom Faktenwissen zur erweiterten Denkungsart Als Ausgangspunkt wähle ich die Aufgabenstellung der zentralen Deutschmatura vom Mai 2014. Was ging schief bei den unbekannten Mitarbeiter/innen des BIFIE, die eine kompetenzorientierte Aufgabenstellung zusammen stellen wollten und in fast schon genialer Ahnungslosigkeit den nationalsozialistischen Hintergrund des Autors Manfred Hausmann übersehen, ignoriert haben? Ich glaube es gab Mängel bei den drei folgenden Bereichen: 1.Wissenserwerb als unverzichtbarer Ausgangspunkt von Bildung. Die Mitarbeiterinnen sind offenbar dem Mythos von der Irrelevanz der Inhalte erlegen; ein ‚Basiswissen‘ über den Nationalsozialismus, etwa über die Manipulation der Kinder in der Volksschule fehlte. weltgewissen Nr. 27 – April 2015 2.R eflexionswissen und vernetztes Wissen. Stattdessen werden heute Kompetenzen propagiert, die angeblich an jedem beliebigen Inhalt ‚trainiert‘ werden können. Beim Reflexionswissen und dem vernetzten Wissen geht es darum, Zusammenhänge zu erkennen, das erworbene Wissen mit anderen Inhalten in Beziehung zu setzen und darüber zu urteilen. Im Fall der Deutschmatura: ich vermute, dass in Deutschland und Österreich nach 1945 auch in publizierten Texten nicht alle Spuren der NS-Ideologie plötzlich verschwunden sind; ich bin misstrauisch, auch wegen der Beispiele Martin Heidegger und Carl Schmitt (über die ich Bescheid weiß). 3.Die drei Maximen des Denkens nach Kant (KdU § 40): Selberdenken, das Motto der Aufklärung und die vorurteilsfreie Denkungsart; zweitens sich in die Lage oder Perspektive anderer zu versetzen, das ist die erweiterte Denkungsart, von der ich am Anfang gesprochen habe; drittens Widerspruchsfreiheit oder mit sich einstimmig denken, das nennt Kant die konsequente Denkungsart. Wären die Mitarbeiter/innen in diesem dreifachen Sinn gebildet gewesen, wäre der Fehler wohl nicht unterlaufen. Es mangelte offenbar schon am ganz banalen Faktenwissen, ganz zu schweigen vom vernetzten Wissen, das Urteilskraft voraussetzt. Aufgabe kosmopolitischer Bildung ist es, diese drei Bereiche, in der Begrifflichkeit Kants die Kultivierung von Verstand, Urteilskraft und Vernunft, zu fördern (zur Rolle der praktischen Urteilskraft siehe Wille 2013). Der Verstand als Vermögen der Begriffe oder Kategorien bezieht sich dabei auf Anschauungen, auf die Ebene des Faktenwissens. Die Urteilskraft ist entweder reflektierend oder bestimmend und bezieht das Allgemeine auf das Konkrete. Die Vernunft ist schließlich pannonisch | europäisch | kosmopolitisch 33 das Vermögen von formalen und abstrakten Prinzipien. Von der Wertevermittlung zur praktischen Vernunft In unserer gegenwärtigen Gesellschaft ist gerne von ‚Wertevermittlung‘ die Rede, wenn es etwa darum geht, Rechtsradikalismus oder Fremdenfeindlichkeit einzudämmen. Wertevermittlung sollte aber auch möglichst häufig den Übergang zur praktischen Vernunft versuchen. Diesen teile ich auf in – erstens – Rousseaus Vermächtnis und zweitens in Kants Thesen einer kosmopolitischen Bildung. Rousseaus Vermächtnis besteht in dem, was ich eingebetteten und dynamischen Kosmopolitismus nenne. Rousseau warnte vor einer oberflächlichen kosmopolitischen Erziehung. In einer berühmten Passage aus dem ‚Émile‘ heisst es: ‚Misstraut den Kosmopoliten, die in ihren Büchern Pflichten in der Ferne suchen, die sie in ihrer Nähe nicht zu erfüllen geruhen. Mancher Philosoph liebt die Tartaren, damit er seinen Nächsten nicht zu lieben braucht‘. Die Stelle wird seit der Französischen Revolution meistens als Bekenntnis zum Nationalismus missverstanden; tatsächlich argumentiert Rousseau jedenfalls im Émile für einen moralischen Kosmopolitismus, der sich durch zweierlei auszeichnet. Erstens ist er nicht etwas, das zur kultivierten Moralität hinzugefügt werden soll oder muss, denn er ist ident mit ihr. In den Worten Rousseaus: ‘unsere Liebe für die Menschen ist nichts anderes als Liebe für die Gerechtigkeit. […] Um zu verhindern, dass das Mitleid in Schwäche ausartet, muss man es […] verallgemeinern und auf das ganze menschliche Geschlecht ausdehnen. Man überlässt sich ihm nur insoweit, als es gerecht ist […]‘. Zweitens ist dieser Kosmopolitismus eingebettet, nämlich in die gelebten Nahbeziehungen von Émile; erst am Ende seiner Univ.-Doz. Dr. Georg Cavallar (geb. 1962) ist Lehrbeauftragter an der Universität Wien und unterrichtet am Wiener Wasagymnasium Englisch, Geschichte, Psychologie und Philosophie. Er publiziert über Kants politische Philosophie sowie die Geschichte des Völkerrechts, der Europaideen und des kosmopolitischen Denkens. Zu seinen Veröffentlichungen gehören: The Rights of Strangers: Theories of international hospitality, the global community, and political justice since Victoria. Aldershot: Ashgate, 2002, Die europäische Union – Von der Utopie zur Friedens- und Wertegemeinschaft. Wien: Lit, 2006, Imperfect cosmopolis: studies in the history of international legal theory and cosmopolitan ideas. Cardiff: University of Wales Press, 2011 sowie Kant's Embedded Cosmopolitanism: History, Philosophy and Education for World Citizens (eingereicht bei Kant-Studien Ergänzungshefte, de Gruyter). 34 Literatur Albrecht, Andrea, 2005. Kosmopolitismus. Weltbürgerdiskurse in Literatur, Philosophie und Publizistik um 1800. Berlin and New York: de Gruyter. Cavallar, Georg (2011a). Imperfect cosmopolis: studies in the history of international legal theory and cosmopolitan ideas. Cardiff: University of Wales Press. Cavallar, Georg (2015). Kant‘s Embedded Cosmopolitanism: History, Philosophy and Education for World Citizens (in Vorbereitung). Kleingeld, Pauline (2012). Kant and Cosmopolitanism: The Philosophical Ideal of World Citizenship, Cambridge: Cambridge University Press. Koch, Lutz (2003). Kants ethische Didaktik, Würzburg: Ergon. Langthaler, Rudolf (2014). Geschichte, Ethik und Religion im Anschluss an Kant. Philosophische Perspektiven ‚zwischen skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz‘. Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 19, 2 vols., Berlin: de Gruyter. Munzel, G. Felicitas (2012). Kant’s Conception of Pedagogy. Toward Education for Freedom. Evanston, Illinois: Northwestern University Press. Forum Europahaus Burgenland Bildung erweitert er seine Denk- und Handlungsräume auf andere Kulturen, Staaten und Gesellschaften. Kants Thesen einer kosmopolitischen Bildung können folgender Maßen zusammengefasst werden. Erstens: kosmopolitische Bildung ist ident mit Erziehung zur moralischen Freiheit. Deshalb fordert Kant, dass die ‚Anlage zu einem Erziehungsplane‘, dessen Ziele nicht nur Geschicklichkeit und Klugheit, sondern auch und vor allem moralische Bildung umfassen soll, ‚kosmopolitisch gemacht werden‘ soll. Moralische Gesinnung kann nur das Resultat der Anstrengung eines Individuums sein, ansonsten würde der Bezug zur Freiheit fehlen; andererseits kann die Pädagogik die Bedingungen formen, die die Erreichung dieses Zieles wahrscheinlicher machen. Zweitens: das Ziel der kosmopolitischen Bildung ist es nicht, bestimmte kosmopolitische Werte einzutrichtern – auch das würde dem Prinzip der Autonomie und der Aufklärung (dem Selberdenken) widersprechen. ‚Denn es ist sehr was Ungereimtes, von der Vernunft Aufklärung zu erwarten, und ihr doch vorher vorzuschreiben, auf welche Seite sie notwendig ausfallen müsse‘ (Kritik der reinen Vernunft). Kosmopolitische Bildung, die diesem Begriff gerecht wird, kann nur eine Bildung zur Mündigkeit sein. Damit enthält kosmopolitische Bildung aber auch ein Element der Unverfügbarkeit. Wie jede Art von Bildung ist diese nicht machbar oder herstellbar, denn sie beinhaltet immer schon die Freiheit des Denkens und Handelns. Sie ist eben nicht auf der Ebene der Klugheit oder Geschicklichkeit angesiedelt. Drittens: Kantische moralische Bildung verweist die Lernenden auf ihre eigene Vernunft, und dieser Verweis bringt sie dazu, den so genannten ‘generalized other’ anzunehmen; denn die angenommene Maxime und Denkungsart soll verallgemeinerbar sein und die vernünftige Zustimmung aller finden können. In interiore homine habitat veritas. Es kommt darauf an, selber denken und urteilen zu lernen, differenzieren zu lernen – etwa zwischen Klugheit und Moralität. In unserer eigenen Vernunft finden wir die vernünftige Allgemeinheit und diese macht uns zu Mitgliedern der weltumspannenden polis. Ein großzügiges Angebot Jetzt schlag schon ein Sei kein Spielverderber Jude In die Zukunft müssen wir blicken Wen schert, was vor Sekunden war Wenn du vergißt, daß seine Groben Mörderhände Schmutzig sind Der Herr Leutnant im Ruhestand Ist nicht stets bei so generöser Laune Er weiß doch, wie du nackt aussiehst Schafft das nicht Intimität? Will er im Gegenzug vergessen Daß du der Schmutz warst Der sie schwärzte Er ist bereit zu vergessen Daß du ein Hund warst und er Ein Herr Eine Firma will er gründen Wo nicht Rasse, sondern wo nur Leistung zählt Drum schlag schon ein, Jude Sei kein Spielverderber oder Wir schlagen andere Töne an Klara Sonnenschein, aus: Haikus in meine Haut geritzt weltgewissen Nr. 27 – April 2015 35 Chronik einer fröhlichen Verschwörung Der neue Roman von Richard Schuberth Vor der Tür des siebzigjährigen Philosophen Ernst Katz steht die Schülerin Biggy. Sie kennen einander von einer Bahnfahrt: Katz, dem verschrobenen letzten Mohikaner der Kritischen Theorie, war das Mädchen wegen seines scharfzüngigen Mundwerks aufgefallen. Mit einem Wiedersehen hatte er nicht gerechnet. Er nimmt Biggy bei sich auf und weiht sie ein in seinen Plan, den „Holocaustroman“ eines Jungschriftstellers zu verhindern – einen Roman über eine außergewöhnliche Frau, mit der Katz ein Geheimnis verbindet. Doch ihre kühnen Methoden drohen zu scheitern. Richard Schuberths Debüt ist ein moderner Schelmenroman und eine rasante Außenseiterballade zweier ungleicher Zeitgenossen. Was Ernst Katz an der Verwertung des Holocaust nicht mag Biggy und Ernst Katz saßen im firmeneigenen Restaurant eines Möbelhauses und aßen Schnitzel mit Pommes und Senf um unglaubliche drei Euro fünfzig. Biggy war schon bei der zweiten Portion, als sie Ernst Katz ein weiteres Mal fragte, was er gegen diesen René Mackensen habe. Mackensen als Person und schon gar als Persönlichkeit sei ihm egal, wie oft solle er das wiederholen. Denn gebe es die Maden in den Kulturredaktionen nicht, die sich an solch einem Scheißdreck labten, hätten es die Mackensens schwerer und gute Autoren leichter. Warum er die jungen Schriftsteller allesamt ablehne, wollte Biggy wissen. Das sei eine Unterstellung, erwiderte Ernst und zählte drei Schriftsteller auf, die er vorbehaltlos bewundere. Biggy kannte sie nicht. Nach einem Schluck Bier gab Ernst zu, sie auch nicht zu kennen und soeben erfunden zu haben. Sie, Biggy, solle ihn nicht quälen, er halte es für pannonisch | europäisch | kosmopolitisch durchaus wahrscheinlich, dass sich unter der neuen Generation passable Köpfe befänden, doch er habe bis jetzt keine Zeit gehabt, sie zu lesen, da er mit den toten Autoren noch lange nicht durch sei. Aber, dabei hob er die rechte Hand, er schwöre bei diesem Wiener Schnitzel, dass er seine Pflichtschuld einlösen und die Lektüre all der jungen Literaturstars nachholen werde – sobald sie gestorben seien. Ernst Katz lachte über seinen eigenen Scherz und wollte auch Biggy dazu animieren. »Warum wehrst du dich so dagegen, dass der Typ den Roman schreibt?« Als Biggy Ernsts Unsicherheit spürte, hakte sie nach: »Darfst nicht glauben, dass ich auf seiner Seite bin. Ich möchte’s nur von dir hören.« Diese Besänftigung mäßigte Ernsts Nervosität, und er begann einen gemächlichen Monolog. Prinzipiell, sagte Ernst, dürfe Kunst alles, und Literatur habe man Richard Schuberth, Jahrgang 1968, schreibt Essays, Satiren, Theaterstücke, Drehbücher. Darüber hinaus war er Intendant des Musikfestivals Balkan Fever und ist als Schauspieler und DJ tätig. 2014 erschien "Das Neue Wörterbuch des Teufels". "Chronik einer fröhlichen Verschwörung" ist sein erster Roman. 36 Richard Schuberth, Chronik einer fröhlichen Verschwörung, Roman, Verlag Zsolnay, 480 Seiten, Fester Einband ISBN 978-3-552-05714-2 Forum Europahaus Burgenland Themen weder vorzuschreiben noch zu verbieten. Doch als Geigerzähler des kritischen Bewusstseins und Rächer der missachteten Wahrheiten mache es ständig grrzzegrrmm und krock-krrzzzzpchhh, wenn er mit seinem Zählrohr die Kunst nach Verstrahlung durch Opportunismus und Dummheit prüfe. Der Faschismus und die Massenvernichtung der europäischen Juden seien nicht irgendein melodramatischer Topos der Vergangenheit wie die Zeit der Drei Musketiere oder das coole Künstlerleben am Montmartre um 1900, sondern der Brennpunkt der abendländischen Zivilisation. Nichts, was sich danach ereignete, sei ohne diesen zu verstehen, noch in Hunderten Jahren würden im Feinstaub, den wir aus unserer Nase bohren und der sich in unseren Bronchien festsetzt, Partikel aus den Schloten der Vernichtung schweben. Auschwitz sei die ewig glosende Kernschmelze des Fortschritts, nach der jede Naivität zum Verbrechen werde. Auschwitz zu gedenken heiße aber nicht Kränze niederzulegen, heiße weder Trauerarbeit noch Mystifikation, noch das voyeuristische Ejakulieren von filmreifem Tragikschleim, gedenken heiße nichts als denken, nur so ließe die Bezeichnung Denkmal sich rechtfertigen, es sei die nicht abreißen dürfende Reflexion und Bekämpfung aller Kräfte, die den Menschen zum Barbaren machen, um jegliche Gleislegung in Richtung künftiger Barbarei schon nach der ersten Schwelle zu sabotieren, selbst wenn im Bewusstsein der Zeitgenossen noch nichts von dieser Richtung kündet und einem deren Gegnerschaft einträgt. »Zu schnell«, unterbrach ihn Biggy. Ernst verlangsamte seine Rede, um bald wieder in das alte Tempo zu kommen. »Gedenkarbeit aber ist nicht Denkarbeit.« Ein Großteil dessen, was sich als Memento Auschwitz und Vergangenheitsbewältigung ausgebe, trage nicht zur Erhellung, sondern zur Kolorisierung des Geschehenen bei. Zur Tröstung der Täter und ihrer Kinder. Und zur Institutionalisierung eines schlechten Gewissens, das das Hirn lähme und die politisch inkorrekten Tölpel ganz zu Recht zur Provokation einlade. Der Holocaust, das sei der bislang unerreichte Gipfel menschlicher Bestialität, dessen Gleichstellung mit anderen Verbrechen gegen die Menschheit einzig auf Unwissen oder Schäbigkeit beruhe, dessen Beschreibung an die Grenzen der Unbeschreiblichkeit stoße, und dessen realistische Abbildung nur zur Banalisierung und Verharmlosung des Schreckens führe. Aber, sagte Ernst im bedrohlich anschwellenden Ton eines amerikanischen Wanderpredigers, es müsse auch herhalten als Rohmaterial menschlichen Leids, mit dem Künstler unter dem Vorwand der Aufklärung das Geschäft der Banalisierung und der Verharmlosung betrieben. Das Nazi-Musical, das engagierte KZDrama und die beherzte filmische Anklage gehörten mittlerweile zum Genrerepertoire wie die Verwechslungskomödie und der Mantel-undDegen-Film, weil die Epoche, die sie verwursteten, längst zur historischen Requisite für Suspense und Tragik erklärt worden sei. Ein zweites Mal seien die Gemordeten wehrlos gegen ihre industrielle Verwertung. Die Nazis hätten Lampenschirme weltgewissen Nr. 27 – April 2015 aus ihren Häuten gemacht, die engagierten Künstler kritzelten darauf, wie arm die Opfer und wie böse die Täter gewesen seien, oder bemalten sie mit erschütternden Actionszenen. Dafür regnete es Literaturpreise und Césars und Oscars und Goldene Bären. Es sei die Heuchelei, die ihn wütend mache, mit der sich jeder dahergelaufene Schmierfink und Szenefilmer in diesem Geschichtsmuseum des Schreckens bedienen dürfe. Die Heuchelei, mit der sie sich ihre zeitgeistige Doppelperversion von Nekrophilie und Erfolgsgeilheit von den dressierten Affen des Kulturmarkts als hohen intellektuellen Wert oder mutiges Engagement anrechnen ließen. Was brauche er den hundertzwanzigsten Flüchtlingsroman, was die dreitausendste jüdische Familiengeschichte von irgendwelchen erfahrungslosen Schwundstufen großer Literatur und großer Essayistik? Wer sich mit jener Zeit, deren Aschewolken uns heute noch die Sonne verdunkelten, beschäftigen wolle, der solle mit den großen Zeitzeugen darüber denken lernen. Diese Menschen seien nicht die einzig legitimen Chronisten, weil sie Überlebende waren, sondern die Gedankenschärfe und Eindringlichkeit, mit denen sie Zeugnis ablegten, seien bereits Mitgrund ihrer Verfolgung gewesen. Jene Wahrhaftigkeit, mit der sie unter Aufbietung ihrer größten geistigen Kräfte die hypnotische Starre der totalen Verdinglichung lösten. Jegliche auktoriale Eitelkeit und Koketterie indes, jeglicher Hang zum Genrebild habe sich, falls überhaupt vorhanden, in der Distanz zum Unsagbaren in nichts aufgelöst. Ein René Mackensen könne noch so oft zu heiß oder zu kalt duschen oder absichtlich auf die Herdplatte greifen, er komme den Opfern dadurch nicht näher. Und solle sich glücklich schätzen, solch Leiden entkommen zu sein, welches das Denken der Überlebenden gleichsam hemmte wie antrieb. Die kulturindustrielle Verwurstung von Nazizeit und Judenmord aber zeige uns klar die Wahrheit jeglicher Verwertung. Seit Jahrzehnten arbeiteten Heere an nonkonformistischen Konformisten daran, die Erinnerung dem gehobenen Publikumsgeschmack anzupassen; kaum merklich, mit pannonisch | europäisch | kosmopolitisch 37 winzigen Pinselstrichen, je realistischer, desto verzerrter bastelten sie an historischen Rekonstruktionen, die sich Stück für Stück vors verblassende Original schöben, bis sie sich unserer Wahrnehmung allein als Wahrheit aufdrängten, der gegenüber das Original als Hochstapler figuriere. Wenn die letzten Überlebenden und mit ihnen die letzten Instanzen des Widerrufs zu Grabe getragen würden, dann gehörten Auschwitz und Hitler endlich uns. Mächtige Vorarbeit darin habe der gefährlichste Apostel der Leichenschändung, Steven Spielberg, geleistet. Mit seinem hyperrealistischen und dadurch umso kitschigeren Machwerk. Großes Gefühlskino, handwerklich brillant und dramaturgisch einwandfrei, so habe er sich die Akzeptanz derer erschlichen, die alles fressen, was der Markt ihnen in den Saukoben schüttet. Doch wer mit den Originalen zu denken gelernt habe, der sei Spielberg nicht auf den Leim gegangen. Gerade in diesem dokumentarischen Realismus verriete sich der Wechselbalg. Dieses Art-déco-LuxusSchwarzweiß. Dieser bemühte DokuFokus. Als hätten die Juden im Lager Ebensee die Berge ringsumher nicht beinahe in dem knalligen Grün jener judenfreien Heimatfilme bewundert, mit denen die Täter wenige Jahre danach sowohl über die Opfer als auch über guten Geschmack triumphierten. Wie könne man so schäbig und dumm sein, zu glauben, der schrecklichen Realität mit ästhetischem Realismus beikommen zu können. Doch hinter Spielbergs amerikanischer Naivität verberge sich das stille Einverständnis des Actionregisseurs mit seinem Publikum. Das zeige sich im verhaltenen Sadismus seiner Detailverliebtheit bei Gewaltszenen. Die sündteuren Special Effects, das Zerspringen von Schädelkapseln, das Rauchen der Schusswunde, das pulsierende Blut und Spielbergs unbestreitbare Pionierleistung der filmischen Lebensnähe für Feinkostvoyeure, das Geräusch der Patronenhülsen beim Aufschlagen auf Kopfsteinpflaster. Mel Gibson würde eine sadistische Sau genannt, aber Spielberg dürfe wie eine dressierte Robbe Ehrendoktorhüte von philosophischen Fakultäten auffangen. Und der Sinn des ganzen KZ-Sandalen-Dramas, die Wirklichkeit der sechs Millionen nach Fallen des 38 Forum Europahaus Burgenland Kinovorhangs ins Requisitenlager der Geschichte abzuschieben – die Täter können ihren Opfern endlich verzeihen. Am meisten aber, Ernsts Stirnadern füllten sich mit Blutfluten biblischen Zorns, widerte ihn der postume Kannibalismus der Täter und ihrer Nachfahren an, mit dem sie sich an allem echten und eingebildeten Jüdischen gütlich täten. Klara Sonnenschein sei es schon in den sechziger Jahren aufgefallen, mit welch lässiger Beiläufigkeit die Wiener jiddische Begriffe in ihre Alltagssprache kidnappten, die sie, als deren Sprecher noch lebten, nie verwendet hätten. Heinrich Himmler habe in den letzten Kriegstagen den Deutschen anempfohlen, dass, wenn sie bis jetzt Juden ausgerottet hätten, sie von nun an Judenpfleger sein müssten. Keine Grabschändung konnte gut genug gemeint sein, um das Geschehene ungeschehen zu machen und die Schuld zu tilgen. Doch was den Nazis mit ihren Nürnberger Rassengesetzen nur bedingt gelungen sei, das hätten ihre linken und antifaschistischen Enkel vollendet durch die Vorstellung eines jüdischen Volkstumes, an dessen faszinierender Eigenheit man sich wider gutes Gewissen zum eigenen Volkstum habe machen können. Aus Richard Schuberth: Chronik einer fröhlichen Verschwörung © Paul Zsolay Verlag Wien 2015. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Die kannibalistische Aneignung jüdischer Kultur oder dessen, was man sich darunter vorstellte, teilte sich mit dem Antisemitismus die Verachtung der kulturlosen Juden. Jüdische Vornamen für Kinder, deren Kinder die ihren wieder Horst und Odo würden nennen dürfen, das kreischende Singen von chassidischen Ojjoj-jojs, um wieder jodeln zu dürfen, die Aberhunderten arischen Klezmerbands, die sich das Recht, Israel die Leviten zu lesen, mit herzzerreißenden Klarinettensoli erspielten, die verkitschte Rekonstruktion des guten alten niedergebrannten Schtetls, mit dem sich das antifaschistische Dorf in chassidischer Eintracht gegen Stadt und Moderne verbünden konnte. Ernst Katz begann zu schreien: Und dann dieses sentimentale Seufzen bei der Beschwörung des unwiederbringlichen jüdischen Humors! Schon immer hätte er, wenn einer dieser linken Idioten nur mit dem lachhaften Imitat eines Jiddisch, dem kein Jiddischsprachiger mehr widersprechen konnte, einen Witz anfing – Sogt der Grynberg zum Teitelbaum –, schon immer hätte er denen am liebsten eine in die Goschen gehaut und habe es auch schon öfters angedroht. Unter der Geiselhaft durch den Antisemitismus spiele sich der kulturalistische Philosemitismus als Zoo- und Museumswärter alles Jüdischen auf, jiddische Kochrezepte, Adorno, Woody Allen und die schönsten chassidischen Kreistänze. Und niemand sei so qualifiziert, der israelischen Politik auf die Finger zu klopfen wie die Kinder der Täter, die ja ihren Teil zur Wiedergutmachung mehr als genug geleistet hätten, jetzt würde es langsam Zeit, dass die Opfer auch was dafür leisteten, sonst würden andere Saiten aufgezogen, aber hallo. Ach, schrie Katz, käme nur ein Golem, der nicht nur den rechten Abschaum zerschmettere, sondern den Judenfreunden ihre Plüschrabbis entreißen und die verwöhnten Fingerchen brechen würde. Dann ging Ernst Katz der Atem aus, und er sagte kein Wort mehr. Biggy blickte ihn mit leuchtenden Augen an, mehr hingerissen von seiner altersungemäßen Cholerik und der Eloquenz, die ihm diese verlieh, als vom Inhalt der Worte selbst, deren Gehalt sie nachprüfen musste. Jetzt merkte Katz erst, dass es im ganzen Restaurant mucksmäuschenstill war, alle blickten ihn an, entsetzt, fassungslos, erstaunt, die Gäste wie die Kellnerinnen. Eine ältere Dame packte ihre zwei Riesensäcke mit Abverkaufsteppichen und verließ heulend das Lokal. weltgewissen Nr. 27 – April 2015 39 Notizen zu Satire Notizen zu Charlie Hebdo Notizen zur freien Meinungsäußerung Beginnen wir bei Null: Europäische Werte – was ist das? Menschenrechte – Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit, unter anderem auch Meinungsfreiheit. Bedeutet Meinungsfreiheit ALLES, aber auch ALLES zu dürfen womit man „aufrütteln“, oder aber auch Geld verdienen kann, alles zu sagen, zu zeichnen und zu publizieren? Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde geschaffen um die Rechte jedes Menschen gegenüber staatlichen und religiösen Institutionen und auch jedem Mitmenschen gegenüber zu gewährleisten. Dazu gehört auch das Recht sich gegen Beleidigung – Entwürdigung – zu wehren. Die „Europäischen Werte“ sind aus unserem ethischen Gefühl, aus dem humanistisch–christlichen Gedankengut entstanden. Sie finden ihren Niederschlag in unserem Allgemeinen Gesetzbuch und unterscheiden sehr wohl zwischen Satire und beleidigender Demütigung. Auch gegenüber religiösen Überzeugungen, die nichts mit Terror zu tun haben. Kurt Tucholsky, der im Bezug zur Ermordung der Charlie Hebdo Mitarbeiter immer wieder zitiert wird, sagte 1919: “Satire darf ‚alles‘.“ Alles? Ich schätze Tucholsky sehr, aber in diesem Punkt hätte er differenziert, um Missverständnissen pannonisch | europäisch | kosmopolitisch vorzubeugen, Satire von Beleidigung abgrenzen müssen. Satire bedeutet ironisch – witzige, literarische oder künstlerische Darstellung, die durch Über treibung, Spott und Ironie Kritik üben möchte. Sie muss Ungerechtigkeit oder Gemeinheit eines Geschehens deutlich machen, dessen Perfidie dem oberflächlichen Betrachter vielleicht nicht klar geworden ist. Von Lichtenberg stammt eine treffende Definition: „Die feinste Satire ist unstreitig die, deren Spott mit so wenig Bosheit und mit so vieler Überzeugung verbunden ist, dass er selbst diejenigen zum Lächeln nötigt, die er trifft.“ Wenn ich mir diesen Satz vor Augen halte, muss ich sowohl die künstlerische Qualität als auch die gedankliche Qualität – wie weit darf „Freiheit“ gehen – dem Charlie Hebdo “Erzeugnis“ absprechen. Diese Überlegungen wollen keinerlei Verständnis mit dem verabscheuungswürdigen Terror islamischer Gruppierungen wecken. Aber der Versuch Terror dadurch lächerlich zu machen ist absurd von Eva Meloun 40 Eva Meloun ist freischaffende Künstlerin. Ihre Arbeiten bestehen aus Landschaften abstrakten Bildinhalten, Materialbildern, Porträts, Objekten, Porträts und Texten. Publikationen in österreichischen und deutschen Kunstzeitschriften und Büchern. Forum Europahaus Burgenland und den Opfern gegenüber eine Respektlosigkeit. Zu Recht scheuen wir davor zurück die Bilder der grausamen Enthauptungen offiziell in den Medien zu zeigen, um die Würde dieser getöteten Menschen nicht zu verletzen. Ihr entsetzlicher Todeskampf soll und darf nicht zur Schau gestellt werden. Die Würde der so furchtbar ums Leben gekommenen Opfer muss gewahrt bleiben und darf nicht geschmacklos durch die Verzerrung einer „originellen“ Darstellung – einer „Satirebrille“, verharmlosend dem Publikum nahegebracht werden. Daher empfinde ich die in Charlie Hebdo dargestellten „satirischen Zeichnungen“ z. B. die “ lustige“ Karikatur eines Moslems, der in einerBadewanne voll roter Farbe – Blut – planscht, als Beleidigung für die Opfer dieser radikal grausamen Terroristen. Und auch als Beleidigung der Angehörigen der Opfer. Es entsprechen diese und andere schon erwähnten Karikaturen in keiner Weise der Tragik tatsächlich stattgefundener Geschehnisse, der gefilmten Abschlachtungen, der grausamen Enthauptungen oder der Verschleppung hunderter zur Prostitution gezwungener Mädchen. Denken Menschen, die in ihrem eitlen Zeitgeistgehabe demonstrativ den Bleistift, den Kugelschreiber, die Füllfeder in die Höhe halten, um für die „Freiheit der Meinungsäußerung“, in diesem Fall für fragwürdige, geschmacklose Karikaturen zu demonstrieren, auch an die realen Bilder grausam vergewaltigter Frauen, geköpfter Kinder oder an die Leichenberge in den Konzentrationslagern? Wäre es in Deutschland oder Österreich möglich satirische Bilder und Texte zum Holocaust zu publizieren? Würden sie, diese ach so Toleranten, auch dann, wenn es sie selbst beträfe, „Satire“ dieser Art als adäquates Mittel betrachten? Es gibt Geschehnisse vor denen man fassungslos steht, die keiner weiteren „Bearbeitung“ bedürfen! Hier bleibt nur Entsetzen und Trauer über das, was Menschen anderen Menschen antun können. Die Zeitschrift „Charlie Hebdo“ trägt gezielt zur Polarisierung bei, d.h. sie schürt innere Konflikte. Die Frage stellt sich, wer sich diesbezüglich einen Vorteil verspricht, um daraus Kapital zu schlagen. Welche Gruppierungen arbeiten an einer Destabilisierung? Nun vielleicht wie so oft die Rüstungsindustrie ... Vielleicht diente das PolitikerGruppenfoto – alles in schwarzer Trauer – nur dazu, längst fällige Gesetze offiziell auch laut überdenken zu dürfen? Und zugleich einer vielleicht stagnierenden Waffenproduktion auf die Beine zu helfen? Wer trägt schwarze Mäntel wegen der Greueltaten in Ruanda, wegen Auspeitschungen im Sinne der Scharia an Männern, Frauen und Kindern? Eine Horrorvision: 2030 – Europaein Schlachtfeld, durch bürgerkriegs ähnliche Zustände verarmt und brutalisiert. Hüten wir uns also vor undifferenziertem Schwarz-Weiß-Denken, hüten wir uns vor gruppendynamischen Massenphänomenen und vor gedankenlosem Demonstrieren! Und es stellt sich die Frage: Welche manipulierende Macht spielen die Medien? Wird hier nicht auch überflüssigen, kontraproduktiv wirkenden Provokationen gewaltbereiter Fanatiker Vorschub geleistet? weltgewissen Nr. 27 – April 2015 Journalismus, in welcher Form immer, hat politische Verantwortung! Aber auch jeder „Normalbürger“ trägt in seinem Umfeld Verantwortung und muss sich immer wieder sachlich mit einem Thema auseinandersetzen. “Verantwortung“, ein Thema, das nicht früh genug in der elterlichen Erziehung und in der Schule den Kindern und Jugendlichen nahegebracht werden muss. Eine persönliche Geschichte: Ich, damals 7 Jahre, erinnere mich: In ging in die erste Klasse Volksschule (in einem oberösterreichischem Dorf) und äußerte meiner Großmutter gegenüber etwas Unschönes gegen einen 9 jährigen Mitschüler. Er war der uneheliche Sohn einer Magd, der schon in pannonisch | europäisch | kosmopolitisch 41 diesem Alter als Knecht bei einem Bauern arbeitete. Er sollte auch in diesem Schuljahr die Klasse wiederholen müssen, denn da er um ½ 5 Uhr in der Früh die Kühe melken musste, schlief er in der Schule regelmäßig ein und konnte dem Unterricht nicht folgen. Damals hielt mir meine Großmutter mein verständnisloses Verhalten vor und erklärte mir Vieles, das für mich heute noch wegweisend ist. Denn: Wehe den Menschen durch welche Ärgernis kommt. (Matthäus 18,7) Bildausschnitt Eva Meloun „Dag Hammarskjöld“ Öl auf Leinwand 42 Forum Europahaus Burgenland NICHT! Warum Mitgespielten und Mitspielern die Lust am Mitspielen vergehen soll. Thesen und Kündigungen von Franz Schandl „Alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse auf den Menschen selbst. Die politische Emanzipation ist die Reduktion des Menschen, einerseits auf das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, auf das egoistische, unabhängige Individuum, andererseits auf den Staatsbürger, auf die moralische Person. Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine „forces propres“ (eigenen Kräfte) als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftlichen Kräfte nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist menschliche Emanzipation vollbracht.“ (MEW 1:370) Nicht nur weil Demos und Populus das Gleiche bezeichnen, ist die Behauptung, dass Demokratie und Populismus sich widersprechen, äußerst fragwürdig. Die Mobilisierung von Stimmungen und ihre Verwandlung in Stimmen ist doch die der Marktwirtschaft analoge Aufgabe der Politik. Der Erfolg des Populismus in der Politik läuft parallel zur Systematisierung der Public relations. Seriosität und Diskretion sind in der Arena einer rücksichtslos reklamierenden politischen Auseinandersetzung auf jeden Fall weniger geschäftstüchtig, das heißt Stimmen akkumulierend, als Anmache und Aufdringlichkeit. Es ist davon auszugehen, dass die populistische Zurichtung von Politik sich inzwischen verallgemeinert hat. Nicht nur Populisten agieren populistisch. beschwören, wird nicht als gemeinsame Basis identifiziert. Doch gerade das verbindet sie: pro Arbeit, pro Leistung, pro Konkurrenz, pro Standort, pro Werbung, pro Kulturindustrie. Dumme Frage: Warum ist eigentlich die Forderung nach mehr Staat populistisch und die nach mehr Markt nicht? Dass sowohl der Liberalismus als auch der Populismus den Markt Zweifellos gibt es ein populistisches Bedürfnis, Populismus ist Die abgefeimteste Variante des Populismus ist der Liberalismus selbst, eben weil er sich als einzige nichtpopulistische Variante zu verkaufen versteht und diesbezügliche Kritik erfolgreich unterläuft. Seine Demagogie ist eine, die die gängigsten Phrasen am deutlichsten ausdrückt, in etwa: „Gearbeitet werden muss“, „Menschen bedürfen der Konkurrenz“, „Der Markt entspricht der menschlichen Natur“ etc.- weltgewissen Nr. 27 – April 2015 auch mehr als ein politischer Stil. Der Modus der Kulturindustrie ist vielmehr zum Formzwang von Demokratie und Politik geworden. Seine Programmatik lässt sich eher an Fernsehprogrammen ablesen als in politischen Erklärungen nachlesen. Serienhelden dienen als Matrizen für die Parteiführer. Sie sind die zur Nachahmung empfohlenen Vorlagen. Aufgrund seiner Verankerung in den kulturellen Reproduktionen des Alltags darf die Analyse des Populismus nicht auf die Politik verengt, ja nicht einmal auf sie zentriert werden. Der Populismus ist seinem Wesen nach nicht der Gegner der Demokratie, sondern ihre Fortsetzung mit entschiedeneren Mitteln. Die Demokratisierung der Demokratie führt geradewegs zum Populismus. Der Populismus ist die reinste Form der Demokratie. Und diese Kommerzialisierung der Politik ist in der politischen Konkurrenz selbst angelegt, sie kommt nicht von außen. Wo Populismus draufsteht, ist Demokratie drinnen. Wenn herkömmliche Politik keine bewegenden Gefühle mehr zu erzeugen versteht und nur noch kapitalistische Rationalität in öffentliche Verwaltung übersetzt, tritt die Simulation, das Spektakel, die Inszenierung, an ihre Stelle. Diese sind nicht mehr bloßer Zusatz, sondern der mächtige Ersatz einer zerbröselnden Form, die nur noch die Hülle zur Verfügung stellt. Der heute grassierende Populismus kann als adäquates Zerfallsprodukt absterbender Politik gelten. An die Regierung gekommen erweist der Populismus sich stets als unfähig und hilflos. Durchstarten kann er nicht, also muss er lavieren. Seine Präpotenz erscheint als lächerlich. Das fällt selbst den eigenen Wählern auf und daher auf jenen zurück. Und doch überlebt der Populismus stets den Absturz der Populisten. Auch wenn sich die Typen pannonisch | europäisch | kosmopolitisch 43 laufend blamieren, tut dies dem Typus keinen Abbruch. Politik ist der Angriffspunkt, nicht der Populismus. Anti-Politik ist gefordert, nicht Antipopulismus, letzterer ist nur eine Facette. Es gilt also eine doppelte Front zu beziehen: gegen den Populismus und seine liberalen Gegner. Der obligate Antipopulismus ist hingegen eine Falle zum Zweck der Eingemeindung. Das Subjekt muss gegen das Subjekt aufgestachelt werden. Es geht um die Entsubjektivierung der Menschen, um eine Ablösung von den Rollen und Charaktermasken. Nicht darum, bestimmte Subjekte oder gar Massen zu erreichen, sondern Menschen. Emanzipation ist nur als emotionale und sinnliche Erhebung des Selbst zum Ich denkbar, nicht jedoch als Organisierung von Masse und Macht, von Widerstand, Interesse und Bewegung. Das sind selbst Formen bürgerlicher Gesellschaftlichkeit. Nicht nur der Klassenkampf ist zu überwinden, sondern überhaupt jede Affirmation des Kampfes. Der Kampf ist selbst eine regressive Form gesellschaftlicher Beziehungen, sei’s als Konkurrenz oder Krieg. Politik heißt auf die Interessen von Charaktermasken zu setzen und auf sie abzustellen, Anti-Politik heißt Menschen gegen ihre sozialen Zwangsrollen zu aktivieren. Das ist der Unterschied zwischen: „Ich nehme meine Interessen wahr“, also etwas mir durch Stellung im System Zugeordnetes, zu „Ich nehme mich wahr“, „Ich will mich verwirklichen“. Wenn man von Bedürfnissen spricht, an die anzuknüpfen wäre, gilt es sorgfältig zu unterscheiden und deren Beschaffenheit genau anzuschauen. Handelt es sich um Bedürfnissen von Rollenträgern =Interessen; oder um Bedürfnisse wider den Rollenzwang =Ansprüche. 44 Forum Europahaus Burgenland Eine Kündigung in 19 Pointen 1. Politik ist ganz vom Spiel der Verwertung und der Konkurrenz geprägt, aus dem sie nicht ausbrechen kann, weil sie ihm ehern zugehörig ist. Politik ist eine Form der Kapitalherrschaft, sie ist mit dieser entstanden und wird mit dieser verschwinden. 2. Politik ist ein staatsbürgerliches und daher bürgerliches Programm. Mit ihr kann nur so weitergemacht werden wie bisher. Aber auch das funktioniert zunehmend abnehmend. 3. Politik idiotifiziert. Sie macht nicht frei, sondern dumm. Sie befreit von Engagement und Initiative, von Reflexion und Selbstermächtigung, indem sie uns zum Kunden von Parlamentarismus und Populismus macht, uns die Stimmen abnimmt und als Legitimation konsumiert. 4. Politik als solche ist zu hinterfragen, nicht bloß sind deren Mandatare oder Funktionäre, deren Apparatschiks oder Bürokraten zu skandalisieren. Das Personal ist um keinen Deut schlechter als das System, für das es steht. 5. Politik, das ist eine Falle der Immanenz. Sie hat keine Perspektive und sie ist keine Perspektive. Sie bietet keine Lösung, sie ist ein Problem. 6. Politik hat ausgedient. Sie ist nicht das Feld der Selbstbestimmung, sondern der Ort der Stimmabgabe. Wahlen sind dazu da zu rechtfertigen, was gegen uns ist. 7. Wähler werden in diesem aufgeregten, aber doch todlangweiligen Spiel zusehends zur Verschubmasse der Kulturindustrie. Wähler sind nicht der Souverän, sie schwanken vielmehr darin, eine genügsame Herde oder eine aufgebrachte Horde zu sein. 8. Frei sind Menschen nur dann, wenn sie weder Herde noch Horde sind. Wenn sie wirklich selbstbestimmte Individuen sein können und nicht formatierte Exemplare, deren Affekte über Wut und Empörung nicht hinauskommen. 9. Der herrschenden Politik, aber auch ihren Scheinalternativen, dem Populismus und dem Obskurantismus ist eine entschiedene Absage zu erteilen. Politikverdrossenheit ist kein Übel, sondern ein Ansatz. 10. Zu Demagogie und grober Anmache, zu Reklame und gesundem Menschenverstand ist entschieden NEIN zu sagen. Wo es nichts zu wählen gibt, gibt es nichts zu wählen. 11 „Keine Politik ist möglich!” ist erstens eine Absage an alle herkömmlichen Varianten der Politik, zweitens ist es aber auch eine Absage an die Politik generell. Und drittens ist das Motto eine transpositive und offensive Ansage. „Ist möglich” heißt es, nicht „ist unmöglich”. 12. Angesagt ist keine andere Politik, sondern etwas anderes als Politik. Der Käfig der bürgerlichen Form wird nicht anerkannt. Partout NICHT! 13. NICHT mitzutun und NEIN zu sagen, wo auch immer, ja selbst unter schwierigsten Bedingungen, ist die Prämisse, dass sich wirklich etwas ändern kann. 14. Das NEIN ist der Ausgangspunkt und die Motivation der Aktivierung. Das NICHT steht als Zeichen nicht für den Zusammenbruch sondern für den Aufbruch. Akteure des Lebens wollen wir sein, nicht Kunden des Geschäfts. 15. Nur das NICHT sagt NEIN zur Destruktion, es verhält sich destruktiv zur großen Destruktivität und ist daher wahrhaft konstruktiv. 16. NICHT meint nicht Resignation, es ist vielmehr ein bewusster Schritt gegen Verdrängung und Depression. Wir sind nicht wir, solange wir dafür sind. 17. Wir wollen NICHT mehr wollen. Wir kündigen. Wir sind nicht wir, solange wir mitspielen. 18. Postulieren und praktizieren wir dieses NICHT, wo immer es möglich ist, aber auch wo immer es unmöglich erscheint. Jeder Erscheinung erhöht die Möglichkeiten. 19. Das NEIN ist heute das beste JA zu Lust und Leben, zu Freundschaft und Liebe, ein JA, das sich von der traurigen Existenz der Versäumnisse und Pflichten deutlich unterscheidet. Das NICHT ist leise noch, aber es wird lauter werden.... weltgewissen Nr. 27 – April 2015 45 Der Sieg der Nichtwähler. Die Chance für Österreichs Demokratie wird ausgeblendet. von Hans Göttel Bei den letzten Wahlen zum Nationalrat sind die Nicht-Wähler die weitaus größte Gruppe gewesen. Würde man sie im Endergebnis berücksichtigen, so fielen auf die SPÖ um die 19 %, auf die ÖVP um die 15% der Stimmen. In Österreich gibt es, wenn es nach der Wahlzustimmung der Bürgerschaft geht, eigentlich nur mehr Klein- und Kleinstparteien. Das ist ein gutes Zeichen, aber nicht genug. Österreich ist ein Land, das der Demokratie von Anfang an entwöhnt wurde. In der Verfassung der ersten Republik sollte um jeden Preis verhindert werden, dass der einfache Staatsbürger, der überhaupt nur als Wähler in Frage kam (!), anders denke und wähle, als es die Parteiinstanzen vorzuschreiben für gut befanden – so der österreichische Politik- und Rechtswissenschafter Manfried Welan in einem „Plädoyer für direkte Demokratie“ (Demokratiezentrum 2013). Die Demokratie wurde in Österreich von Anfang an im Parlamentarismus gefesselt und alles lief auf eine Diktatur der Parteien hinaus. Wenn in der aktuellen Debatte um mehr direkte Demokratie führende Vertreter der Republik vielsagend argumentieren, dass direkte Demokratie den Parlamentarismus schwächen würde, so kann man sich fragen, ob sie dabei die Entfaltung von Demokratie überhaupt im Sinn haben oder nicht vielmehr auf die Stabilisierung des Parteienfeudalismus setzen. Und so werden unsere Klein- und Kleinstparteien weiterhin wie staatstragend daherkommen, wiewohl sie vor allem die Pfründe davontragen. Das Mindeste, wenn man sonst nichts tun kann, wäre es, den Schein der Einstimmigkeit zu vereiteln (Pierre Bourdieux). Immerhin das pannonisch | europäisch | kosmopolitisch tun die Nicht-Wähler. Was immer ihre je einzelnen Motive sein mögen, durch ihre Wahlverweigerung schaden sie nicht der Demokratie sondern sie schwächen die Legitimation des Parlamentarismus. Soziologische Befunde zeigen auch, dass Wahlverweigerungen überwiegend auf bewussten Entscheidungen vieler kluger Köpfe beruhen. Nicht-Wählen bedeutet also eine klare politische Positionierung gegenüber der Politik, freilich ohne Folgen für die Zahl von Politikerposten oder für die Höhe der Parteienförderungen. sondern ob es genug Menschen gibt, die dem ungebärdigen Spiel der politischen Parteien, das sich in Hinterlist und Korruption verbraucht, entsagen. Was die Demokratie braucht, sind Pflanzstätten der vom öffentlichen Diskurs Abgesonderten. Jedes versprengte Häuflein von Nichteinverstandenen ist für den Erhalt des allgemeinen Verständigungssystems wertvoll – frei nach dem „Bockgesang“ des Schriftstellers Botho Strauß vor rund 20 Jahren. Sie sorgen dafür, dass die Sprache Schutzzonen finden kann, in kleinen Versammlungen, in Experimenten, Meditationen und Aktionen, die sich nicht beirren lassen von der fertigen Politik. Nicht-Wähler sind politik(er)verdrossen, nicht demokratieverdrossen, und sie sind statistisch gesehen eine ziemlich starke Kohorte, wie gesagt: weit mehr Leute, als die stärkste Partei am Wahltag an Stimmen bekommen hat. Es ist unangebracht, sie aus den medialen Darstellungen des Wahlergebnisses auszublenden, wie das üblicherweise geschieht, und es gibt auch keinen Grund, sie als undemokratisch einzuordnen, nur weil sie nicht wählen. Diese kostet uns sowieso genug. Österreich ist Weltspitze bei der Parteienförderung und sein Parlament sorgt dafür, dass eine gesetzliche Regelung für die Finanzierung der politischen Bildung nur für die Parteien gilt. Die Frage für die Demokratie ist nicht, ob eh alle wählen gehen, Werden Sie aktiv! Wählen Sie NICHT. Es sind noch immer viel zu Viele, die das wählen. 46 Forum Europahaus Burgenland Zarwos des Gonze? oder Wer braucht das wirklich? von Franz Bittner Irgendwie bewegen viele Menschen in diesem Land die Vorgänge in der sogenannten «großen» Politik. Unbehagen macht sich breit und breiter. Und vor allem: das Zutrauen, dass die Verantwortlichen Lösungen bringen könnten, dieses Zutrauen schwindet, vielleicht ist es schon ganz weg. Gehen wir ins Detail: Stichwort: Hypo Jetzt ist es heraussen. Das Fiasko mit der Hypo in Klagenfurt haben alle, die damit befasst waren, vergeigt. Natürlich wird alles dementiert. Nach dem alten Floriani-Prinzip: nicht ich – wo kommen wir denn dahin!? –die anderen sind schuld. Bei den früheren FinanzministerInnen hat man es ja ohnehin bemerkt: völlig überfordert, keine notwendige Sachkompetenz. Wozu leisten wir uns diese Personen in diesen Strukturen. Sie kommen uns teuer zu stehen. Es sind aber eben nicht nur die Personen (ich glaube nämlich nicht, dass sie bewusst Scheiß bauen, sie arbeiten im guten Glauben, sind aber völlig überfordert), es liegt an den überbordenden Strukturen, an nicht klar abgestimmten Zuständigkeiten. Stichwort: Bildungsreform Die (Schul)Bildungsreform steht seit Jahren auf der Tagesordnung. Getan, besser: reformiert, wurde bis heute nichts. Es wird mit Begriffen herumgeschleudert - offensichtlich verstehen die meisten der in diesem Bereich Tätigen - überhaupt nicht, was für ein Bildungssystem notwendig und wichtig ist. Da wird natürlich vor allem herausgestrichen, dass das Besoldungssystem für die Lehrer sakrosankt ist. Vor allem die Bezahlung muss in der unterschiedlichen Einstufung erhalten bleiben. Da wird die Bedeutung der gemeinsamen Schulen der 10 bis 14 Jährigen betont oder verdammt. Manche meinen, es muss eine strukturelle Differenzierung in g’scheite und dumme SchülerInnen geben. Was haben die Betroffenen, nämlich die SchülerInnen, davon? Warum wird nicht über die Lehr- und Lerninhalte gesprochen, warum finden Methoden der modernen Pädagogik keinen Platz in der Diskussion? Vielleicht braucht es das gar nicht. Ich kenne viele Pädagoginnen und Pädagogen im Schulbereich, die die Sache selbst in die Hand genommen haben. Sie organisieren sich neue Formen selbst, kooperieren mit Kollegen und Kolleginnen, betreiben teamteaching. Es wird nicht gefragt, ob sie es dürfen. Es wird einfach gemacht. Das ist vielleicht ein Beispiel für künftige Entwicklungen. Die Menschen in diesem Land benötigen die schwerfälligen und die meiste Zeit mit sich selbst beschäftigten Verwaltungsstrukturen und deren Vertreterinnen und Vertreter einfach nicht mehr. Sie haben ausgedient. Stichwort: Verwaltungsreform Da geht ja überhaupt nichts weiter. Da oder dort werden „Erfolge“ gemeldet. Die Grundfragen der Lösung unserer Probleme werden nicht einmal angesprochen: der in Österreich praktizierte Föderalismus gehört abgeschafft. Wie kommen die Menschen dazu, insgesamt über 400 unterschiedliche Regelungen zu verstehen und zu verfolgen? Es gibt in Wien in einem Aussenbezirk eine sehr lange Straße (über 400 Hausnummern. Die eine Seite der Straße gehört zum Land Wien, die gegenüber liegende zu Niederösterreich. Wie soll jemand verstehen, dass ein Wiener Jugendlicher bis 24 Uhr weggehen darf, der gleichaltrige Freund von vis a vis jedoch nur bis 22 Uhr. Die Wahnsinnigkeiten können fortgesetzt werden. Es verwalten die Bundesländer ihre Budgets - mit Geld aus dem Bund. Sie überziehen ihren Ausgabenrahmen - der Bund zahlt. Da können die „Landeskaiser“ aber schon sehr froh darüber sein. Ist das doch noch ein Relikt aus der Monarchie - die „Kaiser“? Es gibt eine Reihe von Beispielen, in denen völlig unabhängig von den sog. demokratischen Strukturen gearbeitet wird, manche davon haben auch eine breite Zustimmung der Bevölkerung. Z. B. die Bestellung von Geschworenen bei Prozessen. Da wird nicht gewählt, das Zufallsprinzip ist hier tätig. Warum kann man, ein Beispiel, nicht auch die Abgeordneten im Parlament im Zufallsprinzip losen? Ich denke, es wird klar: unser derzeitiges politisches System ist eigentlich nicht reformierbar. Zu viele Lobbies und Interessensgruppen sind da tätig. Wir müssen - radikal NEIN sagen. weltgewissen Nr. 27 – April 2015 47 tERMINE – vORHABEN 2015 MO, 20. April 2015, 19:00 Uhr MO, 18. Mai 2015 um 19.15 Uhr- MI – FR, 21. – 23. Oktober 2015 „Menschenwürde unter Besatzungswillkür“ Wie bewahren Palästinenser ihre persönliche Würde unter menschenunwürdigen Bedingungen? Bewundernswerte Zeugnisse von Begegnungen mit Menschen in den besetzten Gebieten Palästinas im Herbst 2014 von Mary und Josef Pampalk. Ort: Europahaus Burgenland LANGE TAFEL IM KOSMOPOLITISCHEN GARTEN Abendessen und musikalisches Festprogramm im Rahmen der Tagung „Über-Leben mit /ohne Politik?“ – Sicherheit, Entwicklung und Menschenrechte im Lichte europapolitischer, antipolitischer und kosmopolitischer Entwürfe. Ort: Kosmopolitischer Garten DO, 22. Oktober 2015, 18:00 Uhr MI – FR, 22.-24. April 2015 MO, 8. Juni 2015 Seminar „Vom Verlebendigen der Böden und des Geistes“ mit Hildegard Kurt Seminar anlässlich der UN-Welttage: 22. April Internationaler Tag der Erde, 23. April Welttag des Buches und des Internationalen Bodenjahres 2015, gemeinsam mit dem und-Institut, Berlin. Ein Angebot für Büchereileiter/innen im Burgenland und für die Lehrerfortbildung - in Kooperation mit dem Landesverband Burgenländischer Bibliothekare und Bibliothekarinnen. Ort: Europahaus Burgenland Tiefenökologie. Eine liebevolle Sicht auf die Erde von Elisabeth Loibl, Dipl.Ing.in, Vertreterin der Subsistenzperspektive und Tiefenökologin an der Bundesanstalt für Bergbauernfragen in Wien. MO, 27. April 2015, 19:00 Uhr in Kooperation mit Attac Burgenland Filmvorführung „Wer rettet wen?“ Die Krise als Geschäftsmodell auf Kosten von Demokratie und sozialer Sicherheit. Ein Film von Leslie Franke und Herdolor Lorenz – DE 2015 Seit sechs Jahren werden Banken gerettet. PolitikerInnen schaffen immer neue Rettungsfonds, während mitten in Europa Menschen wieder für Hungerlöhne arbeiten. Es wird gerettet, nur keine Rettung ist in Sicht. Der Film „Wer rettet wen?“ zeigt, wer wirklich gerettet wird. Ort: Europahaus Burgenland DO, 7. Mai 2015, 19:00 Uhr FRONTEX Keiner kommt hier lebend rein, Eine mediterrane Groteske in zwei Akten“ vom österreichischen Schriftsteller und Satiriker Richard Schuberth anlässlich des Europatages des Europarates am 5. Mai. Das groteske Lese-Drama über Rassismus und Identitätskannibalismus und die versöhnende und konformistische Kraft schlechten Humors hat Richard Schuberth im Hinblick auf die großen Flüchtlingstragödien im Mittelmeer geschrieben. Ort: Europahaus Burgenland 4. - 21. Mai 2015 Kunstinstallation „Lampedusa“ in Kooperation mit der werkstätte für kunst im leben Ort: Europahaus Burgenland MO-MI, 18. – 20. Mai 2015 Internationale Begegnung in Pannonien – Teil I „Über-Leben mit /ohne Politik“ – Sicherheit, Entwicklung und Menschenrechte im Lichte europapolitischer, antipolitischer und kosmopolitischer Entwürfe. Konferenz zu Philosophie von Antipolitik Ort: Europahaus Burgenland und Seminarhaus im Karmeliterkloster in Wandorf bei Sopron pannonisch | europäisch | kosmopolitisch Welttag der Umwelt WELT / UMWELT-GESPRÄCH Buchpräsentationen: Vielfältige Geographien. Entwicklungslinien für globales Lernen und Wertediskurse; von Ingrid Schwarz u.a., Waxmann-Verlag. Ort: Europahaus Burgenland MO, 27. Juli 2015, 19:00 Uhr Fest zu Ehren Carl Michael Bellmans Mit Michael Korth , Autor, Sänger und Librettist. Er übersetzte mit H. C. Artmann Lieder des größten Dichterkomponisten des 18. Jahrhunderts, des Schweden Carl Michael Bellman, singbar ins Deutsche. Ort: Kosmopolitischer Garten 22. August bis 5. September 2015 Internationale Begegnung in Pannonien – Teil II „Über-Leben mit /ohne Politik“ Festveranstaltung im Gedenken an die Gründung der Vereinten Nationen, mit einer Aufführung von Beethovens 9. Sinfonie mit Bezug zum 24. Oktober (Tag der Vereinten Nationen). Ort: Europahaus Burgenland zum Tag der Vereinten Nationen im Rahmen der Tagung Internationale Begegnung in Pannonien – Teil II „Witz & Spott im Dritten Reich“ dramatisiert, vorgetragen und gesungen von Franz Richard Reiter; Violine: Mosa Sisic; nach dem Buch Franz Danimann, Flüsterwitze und Spottgedichte unterm Hakenkreuz Ort: noch offen 9. November bis 11. Dezember 2015 WANDERAUSSTELLUNG im Rahmen von “Finnland kommt nach Eisenstadt”. MO, 16. November 2015 Ausstellungsfest Alltäglich fantastisch: Kindergeschichten aus Finnland Die Wanderausstellung des Finnland-Instituts lädt zu einer Lesereise nach Finnland ein: Alltäglich fantastisch: Kindergeschichten aus Finnland präsentiert eine handverlesene Auswahl finnischer Kinderbücher in deutscher Übersetzung. Ort: Kosmopolitische Bibliothek, Europahaus Burgenland Ausstellungsprojekt „DIE ANKUNFT DER DINGE“ 24. 8. Themenbezogener Gesprächskreis 1. 9. Charity Lesefest mit Ana Schoretits, Musik: Waltraud Theil Ausstellungsort: werkstätte für kunst im leben, Müllendorf MO, 9. November 2015, 16:00 Uhr MO, 5. Oktober 2015, 16:00 Uhr MO, 30. November 2015, 16:00 Uhr Erster Samowar Nachmittag Russland und Europa Inhalt noch offen. Gestaltung im Hinblick auf einen thematischen Schwerpunkt „RusslandEuropa“ im Jahr 2016. Ort: Europahaus Burgenland Zweiter Samowar Nachmittag – Russland und Europa „Russland als multiethnischer Staat.“ Vortrag von Prof. Pusztay János Ort: Europahaus Burgenland Dritter Samowar Nachmittag Russland und Europa Inhalt noch offen. Gestaltung im Hinblick auf einen thematischen Schwerpunkt „RusslandEuropa“ im Jahr 2016. Ort: Europahaus Burgenland DO, 10. Dezember 2015, 19:00 Uhr Tag der Menschenrechte Filmvorführung und Diskussion JAKARTA DISORDER – Ist Demokratie möglich? Ein Film von Ascan Breuer Jakartas Slumbewohner nehmen die neue Demokratie Indonesiens beim Wort – und mischen sich in den Präsidentschaftswahlkampf ein: Im Herzen der Megacity Jakarta sollen über Jahrzehnte gewachsene Slumsiedlungen einem gigantischen Wohnbauprojekt weichen. Zwei Frauen proben den Widerstand gegen die lokale Gesetzeswillkür. Ort: Europahaus Burgenland 48 Forum Europahaus Burgenland Europa passt in keine Plutzer Das Burgenland, üppig alimentiert und armselig regiert, nimmt man besser vom Tropf. Ein Plädoyer für Pannonien. In Niedertracht geht das Land dahin irrt sein Gesinde verschlagen von Herrschaftsgebärden grenzwertig wie geschaffen aus dem Geschick großer Politik. Bekümmert ist Europa einst Freiheitsfigur nun verdingt durch Bankräuber und Parteisoldaten auf einem Strich am Rande der Pußta im Visier des Pleitegeiers um den Mehrwert des politischen Geschäfts. Ein Mehrwert, der sich mehrt krisensicher von Hans Göttel Erlebniswelt von Landespolitik mit echt wirkenden Figuren die im Auto herumgeführt werden und im Landtag Platz nehmen, wenn Schulklassen kommen, bestens vorbereitet von einer Lehrerschaft der Parteiregime inspiziert von politischen Kommissaren, die eingeschult auf Lebenszeit das Denken hinunterzurichten bis es drinsteckt in einem Phantom mit einem politischen Apparat, der in Taktik und Hinterlist verbraucht staatstragend in Stellung gebracht gegen alles, was trotzdem noch kreucht und fleucht. in alimentierten Behörden, die Anträge ohne Stallgeruch nicht erkennen Der Landtag als Kontrollorgan? Fast ein Burgenländerwitz! Als die Landesbank ohne Geld war, vergaß man sogar zu fragen, wohin… es war wohl nicht notwendig, zu fragen. in einem alimentierten Landtag, mit dem Gerhirnschmalz einer Kopiermaschine Die Kriminalisierung eines Ausländers genügte, der Feigheit gewiss. in üppig alimentierten Parteien, die sich eine Republik halten als ihre Ermessensausgabe Und Gesetzgebung? Das war früher, und damals schon mehr Gebärde als Gestaltung ungebärdige Postenbesetzgebung. in einer fürstlich alimentierten Regierung, ohne Kompetenz, Wille, nicht einmal Manieren. Rundum Alimentierte, die sich davon machen mit dem Europäischen Geld im Beutel und der Europäischen Idee als Beute hinterlassen eine Euregio als Lumpenprovinz (lat. pannulus – Lumpen) von Winden angetrieben statt durchlüftet Landespolitik sieht keine Probleme, sie ist das Problem! Schafft sie ab, schafft sie ab, schafft sie ab, schafft sie ab, schafft sie ab, ab, ab, ab, ab – muss man es wirklich neunmal sagen: Abschieben das Pack! Wenn es nicht arbeitet wenn es nicht Deutsch kann wenn es schmarotzt wenn sie ihre Familien nachholen auf die Versorgungsposten weltgewissen Nr. 27 – April 2015 wenn sie die Banken ausrauben Schulden nicht bezahlen ständig am Tropf hängen frech unser Geld nehmen für Ihre Sippschaft, ihre Partei, ihre Interessen, ihre Macht wie die Mafia für die Famiglia. Ein Hauch von Despotie im Aufmarschgebiet des Seewinkel-Napoleons, verschlagen, gerade noch… er mag keine Erhebungen, er mag keine Fremden, keine Akademiker, keine Intellektuellen, keine Friedensuni, kein Europahaus, keine Bibliotheken, keine Bücher, nix, was eh niemand versteht. Die Polizei genügt. Die Putinisierung Ungarns an der Langen Lacke? EU-gefördert? Damit er sich mehrt, der Mehrwert in den Niederungen des politischen Geschäfts mehrt er sich parasitär, krisensicher zur Alimentierung von Landespolitik während das irrende Gesinde seine zagen Stimmen in die Urnen legt zur ewigen Ruhe. In einem so üppig alimentierten und doch so armseligen Land? Her mit Pannonien her mit den Fetzen Vogelscheuchen braucht das Land ein neues Bürgertum, das am Stecken sich aufrichtet und fetzig daherkommt, zerfetzt die fertige Politik die sich alles einnäht her mit kräftigen Stimmen, die nicht abgegeben werden einfältig pannonisch | europäisch | kosmopolitisch 49 in eine Urne sondern erheben die Dinge von ganz unten als geistreiches Unternehmen das von unten nimmt – und aushebelt auf die Schaufel mit der Landespolitik und auf den Misthaufen damit, wo die Stallgerüche harmonieren. So schön ist ein Land, wie es zur Freiheit führt. Sonst ist es nicht schön sondern hässlich – mit einer Herrschaft, die sich ungebärdig und frech selbst bedient und einer Zivilgesellschaft, die sich billig gibt als Sekundärelite am Gängelband. Her mit Vogelscheuchen, die nicht buckeln und nicht kriechen, die dem Wind ins Gesicht lachen die Räuber verarschen fetzig, sinnlich, unerschrocken antipolitische Fratzen um jedes Dorf, vor jedem Haus, bei jedem Baum in jeder Schule! Mit noch so viel EU-Geld: Europa passt in keine Plutzer. Sie braucht ein Land – frei, und weit, geistreich und gütig, keine Landespolitik, da geht sie ein, da geht alles ein da geht alles, gehen alle, weil es einem vergeht, wenn alles eingeht. Geht, wird schon gehen, geht, geht doch, ein Weg bildet sich, indem man ihn geht. Fetzig, pannonisch! Mal sehen, ob Europa da mitkommt? Gehen wir! 50 Frontex Forum Europahaus Burgenland Buchtipps Keiner kommt hier lebend rein Als alle tot waren, hatten wir ein schönes Land expeditionen ins Afrikanische Österreich Eine mediterrane Groteske in zwei Akten Gedichte, Edition pen Bd. 5 Ein Reisekaleidoskop Richard Schuberth Helmut Stefan Milletich Walter Sauer «Frontex – Keiner kommt hier lebend rein» ist eine Theatergroteske, die – angesiedelt im südlichen Mittelmeer – das heuchlerische Verhältnis Europas zur Migration (in diesem Fall aus afrikanischen Ländern) problematisiert. Die politischen Gedichte von Helmut Stefan Milletich sind ein Produkt der stets wachsenden Zeitzeugenschaft der europäischen Geschichte der letzten vierzig Jahre. Warum Eisenstadt in Karl Mays »Sklavenkarawane« vorkommt, was Salzburg mit dem südafrikanischen Burenkrieg zu tun hat oder ob der erste schwarze Sklave Österreichs tatsächlich in Kärnten lebte - derlei Fragen stellten sich dem Autor im Verlauf seiner Fahrt durch das »Afrikanische Österreich«. Ein Schiff der Grenzschutzbehörde Frontex rammt ein Flüchtlingsboot. Die einzigen Überlebenden, LaBoeuf, ein larmoyanter FrontexOffizier, Swantje van Eycken, eine Arte-Aufdeckungsjournalistin, Flo Hagenbeck, eine Berliner Performance-Künstlerin und ein stummer Flüchtling (der „Schwarze Körper“) landen auf einer unbewohnten Insel. Es gibt kein Fleisch – und irgendwann muss einer der Überlebenden ein Hölzchen ziehen ... Richard Schuberth Frontex Keiner kommt hier lebend rein Paperback 128 Seiten DRAVA 2014 ISBN: 978-3-85435-744-5 Die Gedichte verfolgen keinen parteipolitischen Zweck. Sie setzen sich mit dem auseinander, was in uns allen politisch ist und was dieser Drang zur Polis auslöst. Auch der Rückzug in die Privatheit ist ein ähnlicher Vorgang, nur in der umgekehrten Richtung. Die über Jahrzehnte gehende Aufmerksamkeit des Autors, mit der er die Vorgänge – vor allem Österreichs und Mitteleuropas – beobachtet, hat sich auch in den über Jahre laufenden (politischen) Wochenkommentaren in Radio Burgenland manifestiert. Sie wurden von allen Parteien bekämpft, es kam nur darauf an, welches Thema der Autor gerade bearbeitete. Helmut Stefan Milletich Als alle tot waren, hatten wir ein schönes Land Broschur, 111 Seiten LÖCKER ISBN 978-3-85409-654-2 Entstanden ist daraus ein Reiseführer besonderer Art, der nach dem »grabe, wo du stehst« Prinzip afrikanischen Spuren in Wien und den Bundesländern nachgeht und dabei überraschende Facetten österreichischer Geschichte und Gegenwart freilegt. Walter Sauer Expeditionen ins afrikanische Österreich Ein Reisekaleidoskop Broschur 480 Seiten MANDELBAUM ISBN: 978385476-451-9 weltgewissen Publikationen Europa im Unterricht. Eine neue Dimension in der Bildungsarbeit Dokumentation von Veranstaltungen des Europahauses in den Jahren 1991-1993. Eisenstadt, 1994 Haus „mit weiten Augen“ - Europahaus Jahresbericht 1994. Gestaltet von Margarethe van Maldegem. Eisenstadt, 1995 Lernen und Lehren um 5 vor 2000. Bildungsbemühungen für eine unmögliche Welt. Sammlung verschiedener Beiträge, Interviews und Stellungnahmen zu den Themen zu Bildungspolitik und -philosophie. Mit Interviews. Mandelbaum Verlag, Wien 1996, ISBN 3-85476-001-9 Bis hierher und trotzdem weiter 30 Jahre Europahaus im Burgenland Festschrift mit Fotos und Interviews. Eisenstadt, 1997 Lehrer(in) sein in Mitteleuropa Dokumentation einer empirischen Untersuchung in Österreich, Slowenien, Ungarn, Tschechien und der Slowakei. Autorin: Renate Seebauer. Mandelbaum Verlag, Wien 1997, ISBN 3-85476-08-6 Europahaus Burgenland Almanach 1998 Jahrbuch zur Arbeit des Europahauses mit literarischen und künstlerischen Beiträgen und Interviews. Gestaltet von Margarethe van Maldegem. Eisenstadt, September 1998 Polis Pannonia - Lesarten zur Bildung des Politischen, Hrsg. Hans Göttel. (Europahaus Burgenland Almanach 2000) Eisenstadt, 2000 Weltverantwortung und Bildung Ein Lese- und Bilderbuch zur Jubiläumsakademie 2001 und zu ähnlichen Versammlungen, die Grund zur Freude waren. Hrsg. Hans Göttel und Ilse Hirschmann. (Europahaus Burgenland Almanach 2002) Eisenstadt, 2002 Pannonien - Regionsbildung für die europäische Zivilgesellschaft Geschichte, Fakten, Strategien, Bilder. Hrsg. Hans Göttel und Eef Zipper. Europahaus Burgenland_Dossier, 96 Seiten, Verlag Rötzer, Eisenstadt 2002 Bürgernähe durch Mitbestimmung Die Potentiale von Initiative und Referendum für den europäischen Einigungsprozess. Thesenpapier für ein europäisches Projekt. Broschüre, 32 Seiten. Hrsg. Europahaus Burgenland und Initiative & Referendum Institute, Europe, Amsterdam Transnational Democracy in the Making Handbook on the New Challenge of European Initiative(s) & Referendum(s) after the Convention. Report on the project „A participative Union closer to it’s citizens“. 192 Seiten. Hrsg. von Europahaus Burgenland, Initiative & Referendum Institute Europe. Eisenstadt, 2003 Merkwürdige Welten Bilder- und Lesebuch zu europäischen Versammlungskulturen.Dokumentation einer Grundtvig-Lernpartnerschaft. 96 Seiten. Verlag Rötzer. Europahaus Burgenland_Dossier. Eisenstadt 2003 Europahaus Burgenland Almanach 2004 Der Geschmack von Nachhaltigkeit in der entwicklungspolitischen Polemik Ein Lese- und Bilderbuch. In memoriam Ivan Illich Auswahl der Texte & Fotos: Hans Göttel Gestaltung des Bildteils: Ilse Hirschmann Bestellung frei im Europahaus Die Demokratische Stimmung von Europa Wege zu einer atonalen Harmonie? Europahaus Burgenland_Dossier, 80 Seiten, Verlag Rötzer, Eisenstadt 2004 A Fortune for Empowering Europe – Activating an Educational Fortune by Citizens Initiatives and Adult Education Forum Europahaus Burgenland Spezial, 48 Seiten, Verlag Rötzer, Eisenstadt 2005 Von Antipolitik bis Zukunft Stichwörter zum demokratischen Leben der Europäischen Union, Forum Europahaus Burgenland Spezial, 76 Seiten, Verlag Rötzer, Eisenstadt 2006 Pannonien – Kosmopolitische Heimat Europahaus Burgenland Almanach Herausgegeben von Margarethe van Maldegen Eisenstadt 2011 pannonisch | europäisch | kosmopolitisch IMPRESSUM WELTGEWISSEN wird vom Europahaus Burgenland herausgegeben. Redaktion: Hans Göttel Titelbild und Illustrationen: Klaus Pitter Layout und Grafik: Helga Kuzmits, Europahaus Burgenland Druck: Rötzer-Druck Ges.m.b.H. Joseph-Haydn-Gasse 32 7000 Eisenstadt [email protected] www.roetzerdruck.at Auflage: 3.000 Stück Anschrift der Redaktion: Europahaus Burgenland Campus 2, 7000 Eisenstadt Telefon: +43 2682 72190-5933 Telefax: +43 2682 72190-5931 [email protected] www.europahaus.eu Redaktionsschluss für das Heft 28: 30. Juni 2015 Nachweis der Fotografien: Europahaus Burgenland Umschlagseiten von Klaus Pitter abgedruckt in: „Gehirn für Einsteiger“ und „Gehirn für Fortgeschrittene“ von Manuela Macedonia und Stefanie Höhl, mit Illustrationen von Klaus Pitter. www.macedonia.at 52 Forum Europahaus Burgenland Unvermeidbare Schicksale von Propheten? Beitrag von den Familien Lang, Mayerhofer-Sebera, Pampalk und Smutny. Ist das Schicksal der Untergrundkirche der ehemaligen Tschechoslowakei ein vorprogrammiertes Prophetenschicksal oder ein „bleibender Schandfleck kurialer römischer Selbstherrlichkeit“? wie Quart, Zeitschrift des Forums Kunst-Wissenschaft-Medien es beim Namen nennt (Nr. 4/2014, S. 23, vgl. www.quart-online.at). Dass der Eiserne Vorhang jede Information und Kommunikation verhindert hat, das macht unsere Wissenslücke von 50 Jahren verständlich, fast entschuldbar. Aber höchstens damals. Seit der Wende sind 25 Jahre vergangen, die beiden Nachfolgestaaten Slowakei und Tschechien sind schon über 10 Jahre bei der EU; mit uns zusammen. Jedoch haben sich Nichtwissen und Teilnahmslosigkeit unsererseits geändert oder verfestigt? Bleibt Wissen ohne nachzufragen nicht de facto ein Nichtwissen? Ignoriert es nicht, dass unser Desinteresse denen in die Hände spielt, die auf „die biologische Liquidation der Untergrundkirche“ und ihrer noch lebenden Mitglieder setzen? Tatsächlich gab es selbst unter dem ärgsten Kommunismus eine lebendige Untergrundkirche, zu deren Gründung und Strukturaufbau durch geheime Weihen Pius XII selbst beauftragt hatte. Zum Schutz vor Geheimdiensten und Verfolgung konnte diese Kirche im Verborgenen nicht zentral, sondern nur in dezentralen, voneinander unabhängigen Kreisen überleben und florieren. Der brünner Untergrundbischof Felix Maria Davidek (1921 – 1988) hat in 20 Jahren 17 Priester geheim zu Bischöfen geweiht, darunter 1979 Dušan Špiner (* 1950). Dieser ist einer der jüngsten Bischöfe dieser Gemeinschaft („Koinótés“) und repräsentiert ihre pastoralen Visionen und spirituellen Erfahrungen. Mit Recht denunziert er die amtskirchliche Unterdrückung nach der Politischen Wende von 1989: „Die Kommunisten haben uns nicht zum Schweigen gebracht, erst der Vatikan.“ Das Regime hatte seine eigene Strategie geplant mit kollaborierenden oder zumindest konformen „Friedenspriestern“. Mit diesen ging die „Ostpolitik“ des Vatikans Kompromisse ein, anstatt zu den Glaubenszeugen der Geheimkirche zu stehen (Kirche Intern 12/1999 : Audienz des „steinharten“ Kardinalstaatssekretärs Casaroli). Von den oben erwähnten Bischöfen ließ Rom nach der Wende nur zwei gelten, die sich einer „2. Weihe, sicherheitshalber“ unterworfen hatten. Wer sich einer zweiten Bischofsweihe verweigerte, musste eine Verzichtserklärung unterschreiben, so wie Dušan Špiner am 9.3.1992. Ironischerweise hatte ihm das ČSSR-Regime seinerseits 1976 die staatliche Genehmigung entzogen, sein Priesteramt auszuüben. Erst nach dem Fall des Regimes durfte er wieder Seelsorger Dienste übernehmen, nebenbei 2001 an der Universität in Bratislava zum Dr. phil. promovieren. Erzbischof Jan Sokol, selber der Kollaboration mit dem Ex-Regime bezichtigt, und einige andere Bischöfe verhinderten aber, dass Špiner ein Lehramt an einer weltgewissen Nr. 27 – April 2015 slowakischen Universität ausüben durfte. Seither ist er Dozent für Ethik und Religionswissenschaft an der Pädagogischen Fakultät in Olmütz, Tschechien. Dort hat ihn unsere Gruppe von vier Familien im April 2012 besucht (s. Fotos) Jedoch „in der Slowakei setzt die Amtskirche ihre Politik mühelos und mit Unterstützung der meisten Gläubigen fort“- stellt er in seinem Brief fest. Was sehen wir darin? Das unvermeidbare Schicksal von Propheten oder doch „Die verratene Prophetie“? (s. Buch). Verfolgungen bergen gefährliche Schattenseiten, können Mentalitäten von Einzelkämpfern überbetonen, selbst über die Zeit der Verfolgung hinaus. Wie könnten solche Isolationen, mitverschuldet und fatal verstärkt durch Interesse- und Teilnahmslosigkeit westlicher Nachbarn, mit pannonisch | europäisch | kosmopolitisch 53 respektvolleren Schritten bewusst gemacht und überwunden werden? Umso bedeutender ist das Brechen des Schweigens Bischof Špiners in seinem hier abgedruckten Hirtenbrief vom 20. September 2014. Die dringende Auseinandersetzung damit ist sinnvoll! Die für Glauben und Menschenrechte ihr Leben riskiert haben, erfuhren bisher eine unwürdig verletzende Behandlung, nicht nur von Rom. Die doppelt Verdächtigten haben in einem glaubensfeindlichen Umfeld zukunftsweisende Ansätze christlichen Zeugnisses überlegt und getestet, auch für unsere sich verändernde Welt. Diese Ausgabe 1/2015 von „Weltgewissen“ hinterfragt daher alle: Sind wir nur bereit, darauf weiterhin bloß schweigend zu reagieren, naiv oder betreten? Bischof Dušan Špiner (3. v. rechts) mit unserer Familienrunde „... gemeinsam synodale Wege gehen, getreu dem prophetischen Geist...“ Bereits vor Jahren hat die Herbert-Haag-Stiftung für „Freiheit in der Kirche“ (www.herberthaagstiftung.ch) den Totgeschwiegenen wieder Gehör verschafft , indem sie ihren Preis 2011 der Untergrundkirche verlieh (Kathpress 3.4.2011) und folgendes noch im Handel erhältliche Buch veröffentlichte: Erwin Koller, Hans Küng und Peter Križan (Hg.): Die verratene Prophetie: Die tschechoslowakische Untergrundkirche zwischen Vatikan und Kommunismus. Exodus, Luzern 2011 (s. auch: http://www.pfarre-berndorf-stveit.at/downloads/Pfarrblatt5_2012.pdf ) 54 Forum Europahaus Burgenland Geliebte Schwestern und Brüder, alle die es betrifft, alle die sich angesprochen fühlen, empfangen Sie meinen Apostolischen Brief und meinen Jubiläumssegen! Am 6. Oktober 1979, vor 35 Jahren also, hat mich Bischof Felix Maria Davídek (1921-1988) zum Bischof geweiht. Ich übernahm den apostolischen Dienst im Rahmen der Verborgenen Kirche in der damaligen Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (ČSSR). Der Bischof von Rom, Papst Pius XII., hatte ja bereits in den 50er Jahren den Auftrag erteilt, im Untergrund seelsorgliche Strukturen aufzubauen, damit sich die Freiheit im Sinn der biblischen Botschaft auch unter antichristlichen und antikirchlichen Mächten entfalten könne. Aufgrund dieser „Mexikanischen Vollmachten“ bildeten sich Gruppen und Gemeinschaften, in denen wir bischöfliche und priesterliche Vollmachten empfangen und weitergeben durften. Bischof Davídek weihte aus seelsorglichen Gründen auch verheiratete Männer nicht nur zu Priestern, sondern auch zu Bischöfen, sowie – nach Gebet, langen und sorgfältigen Überlegungen und Beratungen - Frauen zu Priesterinnen. Dieser davídeksche Zweig der Geheimkirche umfasste gegen 25 Bischöfe, 250 Priester und Priesterinnen und hunderttausende von Laien. Diese christliche Freiheit, die wir erworben hatten, war freilich mit Angst und lebensbedrohlicher Verfolgung verbunden. Einige bezahlten ihren Einsatz für die christliche Freiheit gar mit dem Tod. Bischof Davídek selbst hat vierzehn Jahre, von 1950 bis 1964, im Gefängnis verbracht. Vor 25 Jahren erlebte die Tschechoslowakei eine politische Wende. Dies führte zu einer neuen politischen und kulturellen Situation. Es stellte sich die Frage, wie die Religionsgemeinschaften darauf eingehen sollten. Auch die katholische Kirche sah sich herausgefordert. Vom davídekschen Zweig der Verborgenen Kirche her schlugen wir der Kirchenleitung vor, unsere Erfahrungen aus der Zeit der Verfolgung in die Neuorientierung einzubringen. Aber die Kirchenleitung lehnte dies ab. Sie wollte nicht in kreativer Weise auf die neue Situation eingehen, sondern knüpfte an die vorkonziliare Kirche der 40er Jahre an. Aus diesem Geist heraus versuchte sie, die Nachfolgegruppen der Verborgenen Kirche, die auf der Linie von Bischof Davídek weiterdachten, zu ersticken. Nach einer langen Zeit kommunistischer Unterdrückung erfuhr die Verborgene Kirche nun eine amtskirchliche Unterdrückung. Vor fünf Jahren schrieb ich in meinem Apostolischen Brief zum dreißigjährigen Jubiläum meiner Bischofsweihe: „Ich muss den Tatsachen nüchtern ins Auge sehen und demütig feststellen, dass die Amtskirche erfolgreich das Programm der biologischen Liquidation der totgeschwiegenen Kirche fortsetzt, indem sie uns am Rand des gesellschaftlichen Geschehens aussterben lässt. Besonders in der Slowakei setzt die Amtskirche ihre Politik mühelos und mit Unterstützung der meisten Gläubigen fort.“ Sollte dies das Schicksal der Prophetinnen und Propheten sein? Inzwischen hat sich eine neue „Wende“ ergeben, in der wir das Wirken des Heiligen Geistes erkennen. Die „Herbert Haag-Stiftung für Freiheit in der Kirche“ machte international auf diese Tragik aufmerksam, als sie am 2. April 2011 in Wien dem davídekschen Zweig der Untergrundkirche ostentativ den „Preis für Freiheit in der Kirche“ verlieh. Ludmila Javorová, die erste Priesterin und langjährige Generalvikarin von Bischof Davídek, sowie ich selbst nahmen den Preis entgegen. Die Stiftung zeichnete zugleich den Bibelwissenschaftler Prof. Walter Kirchschläger aus. Sie würdigte die Offenheit und Weite, in der er heiße Eisen der Kirche anpacke, im Blick zurück auf die Bibel kritische Anfragen an die gegenwärtige Praxis kirchlicher Ämter stelle und Perspektiven für die Zukunft der Kirche entfalte. Kirchschläger reflektierte in seiner Festrede das Kirchenbild und die Kirchenpraxis der Verborgenen Kirche und nannte das Handeln der Verborgenen Kirche prophetisch – angesichts der Tatsache, dass die neutestamentliche Zeit im Kontext der christlichen Verkündigung keine „Priester“ kannte und dass Dienste nicht aufgrund von Geschlecht und Lebensstand übertragen wurden. weltgewissen Nr. 27 – April 2015 55 Zur Preisverleihung veröffentlichte die Stiftung für Freiheit in der Kirche das Buch „Die verratene Prophetie. Die tschechoslowakische Untergrundkirche zwischen Vatikan und Kommunismus“. An die zwanzig Autorinnen und Autoren zeigen darin auf, wie sich die Verborgene Kirche den Herausforderungen ihrer Zeit gestellt hat und so heute als Vision für die gesamte katholische Kirche wirken kann. Aber es sei dennoch eine „verratene Prophetie“, verraten nicht durch ein politisches Regime, sondern durch die eigene Kirchenleitung. Dieses internationale Echo ist für uns eine außerordentliche Ermutigung auf dem Weg in die Zukunft. Dabei möchten wir, dass vor allem eines nicht vergessen wird: Die Freiheit, die wir kraft der „Mexikanischen Vollmachten“ hatten, war nicht ein Geschenk, sondern ein Auftrag des Bischofs von Rom. Er wurde dem Petrusdienst gerecht und „ermutigte seine Brüder“, unter schwierigen Umständen in eigener Verantwortung kirchliche Gemeinschaft zu leben und weiterzugeben. Es war kein „Erteilen“ einer Freiheit, sondern ein „Anerkennen“ der Freiheit, die vom Evangelium her gegeben ist. Soll nur vorübergehend gelten, was vom Evangelium her möglich ist? Diese Freiheit ist uns auch heute apostolischer Auftrag, dies in einer neuen politisch-kulturellen Situation, in der sich das Scheitern des pastoralen Weges zeigt, den unsere Kirchenleitung nach der politischen Wende vor 25 Jahren eingeschlagen hat. Wir lassen nicht zu, dass uns diese Freiheit weggenommen wird. Wir lassen uns nicht einreden, sie sei uns nur als besondere Gunst verliehen worden. Sind wir etwa Häretiker, die den Glauben verraten haben, oder Verbrecher, die um eine Amnestie bitten müssten? Darf das Horchen auf Gottes Stimme in einer schwierigen historischen Situation mit dem Gehorsam gegenüber einer kirchlichen Obrigkeit auf gleiche Stufe gesetzt werden? Kann irgendeine Autorität der Welt die prophetische Entdeckung der Verborgenen Kirche zurückdrehen und vergessen machen? Geliebte Schwestern und Brüder, diese Fragen bewegen mich in diesen Tagen, da ich in Dankbarkeit und Zuversicht das 35-jährige Jubiläum meiner Bischofweihe feiere. Ich bitte Sie, auf dem Weg zu bleiben, den wir gemeinsam gegangen sind. Wir wollen in den nächsten Jahren gemeinsam vertiefen, was uns der „Preis für Freiheit in der Kirche“ und das damit verbundene internationale Echo neu bewusst macht. Wie können wir die prophetischen Visionen der Verborgenen Kirche für die Kirche des 21. Jahrhunderts weiter entfalten? Was bedeutet die Erneuerung des kirchlichen Leitungsdienstes? Welchen Sinn hat die Ordination in der apostolischen Nachfolge? Was bedeutet es, dass sich die Argumentationen der Kirchenleitungen gegen die Frauenordination als Ideologien erweisen, die theologisch überholt sind? Wie können wir ein biblischeres Verständnis von Ordination und apostolischer Sukzession fördern, das in einer weltweiten Bewegung spürbar wird und sich durchsetzen kann? Aber wir wollen diese Fragen nicht nur theoretisch beraten, sondern in Gruppen und Gemeinschaften synodale Wege gehen, getreu dem prophetischen Geist von Bischof Felix Maria Davídek. Wir vertrauen darauf, dass der Bischof von Rom weiterhin den Petrusdienst leistet und „seine Schwestern und Brüder ermutigt“. Auch wir wollen ihn dazu ermutigen. Der allgemeine Petrusdienst ist Teil des Gemeinsamen Priesteramtes aller Getauften. Geliebte, ich ermuntere Sie, einander im Sinn dieses allgemeinen Petrusdienstes zu segnen. Bitte segnen Sie auch mich und empfangen Sie meinen Apostolischen Jubiläumssegen! Euer+ Dušan Olmütz, am 20. September 2014 Genehmigter Abdruck des Apostolischen Briefes von Dušan Špiner. pannonisch | europäisch | kosmopolitisch 56 Forum Europahaus Burgenland Unsere Wege – unser Wissen. Von Pannonien nach Oxford und zurück. von Hans Göttel Schon in ganz alten und mittelalterlichen Zeiten gab es Wissenswege, um irgendwo – in Ephesos, in Chartres oder eben in Oxford – Schriften oder Gelehrte zu finden, die das Denken berühren und bewegen konnten. So ging der dänisch-norwegische Schriftsteller Ludvig Holberg Anfang des 18. Jahrhunderts nach Oxford, weil es dort eine Bibliothek gab, damals die erste und einzige in Europa, wo die Bücher frei standen und man ran durfte ohne zuvor sagen zu müssen, was man sucht, sondern durch die unbefangene Begegnung mit Wissen entdecken durfte, was man (gar nicht) suchte. Mit Pannonien starten wir aus einem ziemlich verkommenen Gelände. Der Begriff Pannonien wird fast nur mehr in verluderter Form für allerhand Touristisches und Kulinarisches gebraucht. An neue bzw. alte politische Regionalisierung denkt kaum jemand ernsthaft, obwohl die Idee der Euregio (West-Pannonien) genau das beinhalten würde: nämlich ein bürgerliches Zusammenwachsen in Europa in einer alten und neuen Region. Formen grenzüberschreitender Bürgerbeteiligung, ein mehrsprachiges pannonisches Schulsystem, ein pannonisches Regionalparlament, eine gemeinsame pannonische Vertretung, zum Beispiel in Ausschüssen für Regionalfragen in Brüssel – alles zuverlässig blockiert durch jene, die eigentlich genau dafür die Gelder bekommen. Noch weniger denken wir an so etwas wie einen pannonischen Genius, den genius loci unserer besonderen Region. Das hat aber Gott sei Dank einer der größten und dennoch sehr wenig bekannten Schriftsteller Pannoniens getan, nämlich Béla Hamvas. Hamvas starb 1968 und hinterließ, obwohl er als Lagerarbeiter schuften musste (er war bei den kommunistischen Macht- und Wachthabern in Ungnade gefallen), ein umfangreiches lebensfrohes literarisches Werk, das, als er starb, genau in der Geburtsstunde einer Weltanschauungsgeneration, der 68er-Bewegung, wie eine Antithese auf diese Bewegung schien. Sein Werk war nämlich radikal antipolitisch – und er dachte dabei weit über die miserable politische Kultur des Kommunismus hinaus. Hamvas war begeisterungs- und berauschungsfähig. Sein köstliches Buch „Die Philosophie des Weines“ ist ein wahrlich erfahrungsgesättigtes Werk. Aber er bewahrte in den entscheidenden Augenblicken eine erstaunliche Nüchternheit. Sie bewahrte ihn davor, in paradiesische Scheinwelten abzudriften. Hamvas bleibt in seinen Essays Realist, ein spirituell aufgeschlossener, ein poetischer durchglühter Realist. Er hat gesehen, wie ein Menschenleben dramatisch und verhängnisvoll verlaufen kann, weil der Mensch Gedanken von ungeheurer Kraft in sich trägt, oft ohne Hoffnung darauf, sie auch in Wirksamkeit und Wirklichkeit bringen zu können. Der Baum dagegen, so erkannte Hamvas, hat es da besser. Er bleibt innerhalb seiner Möglichkeiten. Der Baum liest weder die Bergpredigt noch Entwicklungsprogramme, er lässt Früchte in aller Ruhe ausreifen. Ein zweiter großer Pannonier, der uns auf den Weg der Forschung gebracht hat, ist Marc Aurel, römischer Kaiser vor fast 2000 Jahren, der sein Imperium über viele Jahre von Pannonien aus regierte. Er führte eine Art Tagebuch, die sog. Selbstbetrachtungen, ein großes Dokument weltgewissen Nr. 27 – April 2015 57 Bild links: Bodleian Library in Oxford; eine über 400 Jahre alte Präsenzbibliothek, enthält über 8,5 der 13 Millionen Bände, die der Universität gehören. der Weltliteratur und der stoischen Philosophie, in dem sich u.a. dieser Satz befindet: „Haben wir das Denkvermögen miteinander gemein, so ist uns auch die Vernunft (logos) gemein. [...] Ist dies so, so haben wir auch das Gesetz gemein; ist dies so, so sind wir alle Bürger und nehmen an einem gemeinschaftlichen Staate teil; ist dies so, so ist die Welt gleichsam ein Staat.“ Die „Selbstbetrachtungen“ verfasste Marc Aurel in Carnuntum. Dieses frühe und kühne Dokument kosmopolitischen Denkens wurde also vor fast 2000 Jahren in Pannonien geschrieben. Mit dem US-amerikanischen Kunsthistoriker Roger Lipsey haben wir Carnuntum besucht und die Verbindung, die er in seiner Hammarskjöld-Biographie zwischen Marc Aurel und Dag Hammarskjöld hergestellt hat, in einer Exkursion nachvollzogen. Lipsey bringt im Vorwort zu seinem umfangreichen Werk die Idee ins Spiel, Dag Hammarskjöld wäre eine Art Marc Aurel des 20. Jahrhunderts gewesen. Dag Hammarskjöld war Generalsekretär der VN 1953 - 1961, – und auch er schrieb eine Art von Tagebuch „Vägmärken“ (auf Deutsch: „Zeichen am Weg“), das zur Weltliteratur gehört. Wie Hamvas ist auch er eine faszinierende Figur, mit der sich weder die Großmachtpolitik noch die 68er Generation einlassen wollte. Wir lassen uns genau darauf ein, denn wir im Europahaus sind vor allem Theoretiker, d.h. immer neugierig und bereit, uns einzulassen. Wie die antiken Theoretiker Menschen waren, die sich auf die Einladung zu einem Gastmahl eingelassen haben. Genau das bedeutet nämlich das Wort theoretikos: Teilnehmer einer Festgesandtschaft zu sein. Wer von einer solchen beschwingt pannonisch | europäisch | kosmopolitisch und erzählfreudig von dannen geht, ist zum Praktiker geworden; denn das meint der Begriff Praxis: etwas Schwingendes, Bewegendes weitertragen, weitergeben, etwas in Bewegung bringen. Und wenn das so weit geht, dass jemand etwas konkret macht, etwas fertig stellt – etwas zur Wirklichkeit verdichtet – so darf er / sie sich Dichter nennen. In der Antike waren die Poeten die Macher – heute würde man sagen: die Ingenieure – was durchaus plausibel ist: die Ingenieure bringen heute die Gesetze der Natur in unsere Vorhaben (damit das gebaute Haus nicht umfällt oder die Brücke nicht einstürzt); die Poeten der Antike brachten damals die Gesetze des Kosmos unter die Menschen, damit alles seine göttliche Ordnung bekam. Von der Theorie, dem passenden Eingelassensein, über die Praxis, also das Weitertragen bis zum verdichtenden Tätigsein, der Poesie - das ist ein Weg, auf dem allerdings eine Gefahr lauert, die Einstein, ein großer Theoretiker und ein großer Kosmopolit, gesehen hat. Sie liegt im Versuch, Probleme in einem Denken zu lösen, das genau diese Probleme verursacht. Das ist kaum irgendwo deutlicher zu sehen, als in der Entwicklungspolitik. David Bohm, ein Schüler Einsteins und großer Quantenphysiker meinte gar: „Nicht wir haben das Denken, sondern das Denken hat uns“. Und wir könnten uns fragen: Wessen Denken hat uns? Im Schatten welcher Monumente bewegen wir uns? Und welche Denkmöglichkeiten sind unter dem Schutt der Geschichte begraben und müssen wieder geborgen werden? Was ist eigenes, was ist eigensinniges Denken? Unser Wissensweg hat uns nach Oxford geführt, in ein weltweit einzigartiges Forschungslabor für künstlerisches Arbeiten, in die Social Sculpture Research Unit an der Oxford Brookes University (früher: Oxford School of Art). Das hat ganz wesentlich damit zu tun - wie ich allen Theoretikern, Praktikern und Poeten im Europahaus in großer Dankbarkeit sagen möchte – wie im Europahaus gearbeitet wird. In der Art und Weise, wie wir uns auf die Welt einlassen, liegt der Grund, warum wir in Oxford eingelassen sind. Unsere Verbindung besteht in der künstlerisch angelegten Dag Hammarskjöld-Forschung. Nicht nur erhebt diese verdichtete, künstlerische Darstellung wissenschaftlichen Anspruch und bedient sich wissenschaftlicher Mittel, sie behauptet sogar, gerade in der künstlerischen Darstellung der Eigenart Dag Hammarskjölds wissenschaftlich gerecht werden zu können. Diese Auffassung von wissenschaftlicher Darstellung, die an manchen Stellen soweit gehen mag, Dag Hammarskjöld noch einmal, diesmal als Künstler, tätig werden zu lassen, kommt aus dem erweiterten Kunstbegriff der “Sozialen Plastik”1, die der Aktionskünstler Joseph Beuys2 populär gemacht hatte. Forschung, so sind wir abgerichtet, zu denken, sei etwas schwer Verständliches, umständlich Formuliertes, Trockenes usw. Tatsächlich können wir durch die künstlerische Herangehensweise, wie sie in Oxford gelehrt wird, lernen, dass wir eher weiter kommen und vor allem: dass wir tiefer kommen durch die Kunst der Verwandlung von Anschauungs- und Denkformen, durch ein Weg-Gehen aus Verhältnissen, die nicht bekömmlich 1 Eine Annäherung an die Idee der Sozialen Plastik bietet das Buch von Shelley Sacks und Hildegard Kurt: „Die rote Blume. Ästhetische Praxis in Zeiten des Wandels“, thinkoya-Verlag, 2013. Die Autorinnen entwickeln diese Idee in einem Dialog, in dem sie den Leser / die Leserin als Agent/innen des Wandels ansprechen. 2 Joseph Heinrich Beuys, 1921-1986, war ein deutscher Aktionskünstler, Bildhauer, Zeichner, Kunsttheoretiker und Professor an der Kunstakademie Düsseldorf. Beuys setzte sich in seinem umfangreichen Werk mit Fragen des Humanismus, der Sozialphilosophie und Anthroposophie auseinander. Dies führte zu seiner spezifischen Definition eines „erweiterten Kunstbegriffs“ und zur Konzeption der Sozialen Plastik als Gesamtkunstwerk, in dem er Ende der 1970er Jahre ein kreatives Mitgestalten an der Gesellschaft und in der Politik forderte. 58 Forum Europahaus Burgenland Studienreise nach Oxford und London gefördert von Erasmus+ Projekttitel: „Kosmopolitisches Denken und Gestalten - ein Gelände europäischer Bildung. Künstlerisches Arbeiten mit dem geistigen Erbe von Dag Hammarskjöld (1905-1961) in der Idee der Sozialen Plastik.“ sind. Gerade in der politischen Bildung brauchen wir neben der Pädagogik, der Kunst des Hinführens, des Begleitens, der Einführung auch die Apagogik, die Kunst des Wegführens, des Anhaltens, des Schützens angesichts von umgebenden Todeszonen, wie es Joseph Beuys formuliert hat: „Die Welt ist in Gefahr, umgehend aus den Parteien austreten“ oder knapp vor seinem Tod: „Ich bin gegen Politik. Ich bin für Gestaltung.“ Dass immer mehr Menschen der Politik den Rücken kehren, ist kein Grund, pädagogisch zu werden. Es ist vielmehr eine Ressource für das Umdenken. Im Umdenken zu leben, ist eine große Herausforderung, die gerade eines besonderen Könnens bedarf. Im Umdenken zu leben, ist das einzig Stabile, so Béla Hamvas: der Schwerpunkt der Welt ist die Transformation. Einen Einblick in diese besondere Kunst hat im September 2014 eine kleine Europahaus-Delegation gewonnen, die sich im Herbst eine Studienreise nach England geleistet hat. Zu den Höhepunkten gehörte ein Seminar an der Universität mit der Aktionskünstlerin Shelley Sacks und dem Philosophen Wolfgang Zumdick sowie ein Treffen mit dem Österreichischen Botschafter in London, Emil Brix, und seiner Frau, die uns gleichsam einen workshop zu Fragen der Zivilgesellschaft im Vergleich Großbritannien – Österreich geboten haben. Studienreise - Projekttitel: „Kosmopolitisches Denken und Gestalten - ein Gelände europäischer Bildung. Künstlerisches Arbeiten mit dem geistigen Erbe von Dag Hammarskjöld (1905-1961) in der Idee der Sozialen Plastik.“ Ein Erasmus-Projekt ermöglichte einigen Mitarbeiter/innen des Europahauses diese Weiterbildung, die heuer mit einer Studienreise nach Schweden zu besonderen Hammarskjöld – Gedenkorten fortgesetzt und abgeschlossen wird. Für 2016 und 2017 sind Studienreisen nach New York (wo Hammarskjöld als UN-Generalsekretär gewirkt hat) und ins südliche Afrika (wo er 1961 beim Versuch, die Kongokrise zu lösen, ums Leben kam) vorgesehen. Exkursion mit David Rayner und Amanda Little nach East London. Ausgangspunkt und Wirkungsziel dieser Vorhaben ist und bleibt Pannonien. Doch angesichts der aktuellen Gefährdung durch landespolitische Bildungsbarbarei kann es sinnvoll, womöglich notwendig sein, unser Atelier für kosmopolitische Theorie, Praxis und Poesie auf Bildungsreisen und ausgesuchten Wissenswegen neu zu begründen: zu transformieren in eine Freie Akademie Neuburgenland. kleine Bilderreihe von oben nach unten: Führung und Gespräch in der East London Moschee und Muslimisches Zentrum. Exkursion in das Museum für Einwanderung und Vielfalt „Princelet Street“. Zu Gast beim Jüdischen Neujahrsfest in The Congregation of Jacob Synagogue. Fish & Chips Mittagessen. Ursprünglich durch jüdische Immigranten eingeführte Speise. Große Bilderreihe von oben nach unten: Workshop in der Social Sculpture Unit der Oxford Brookes Universitiy mit Shelley Sacks und Wolfgang Zumdick. Eingang Headington Hill, Oxford Brookes University Empfang in der Österreichischen Botschaft in London durch Botschafter Emil Brix. weltgewissen Nr. 27 – April 2015 pannonisch | europäisch | kosmopolitisch 59 60 Forum Europahaus Burgenland P. b. b. Verlagspostamt 7000 Eisenstadt 07Z037226M weltgewissen pannonisch | europäisch | kosmopolitisch
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