Predigt beim ökumenischen Kanzeltausch auf Borkum gehalten von Pastor Jörg Schulze (ev.-luth.) in der Ev.-ref. Kirche 31.05.2015 Liebe Gemeinde, "Flüchtlinge wären das Ende für die Urlaubsinsel Borkum", so titelte am 12. Februar die Borkumer Zeitung mit dem Zitat eines populistischen Kreistagsabgeordneten aus Leer. Entsetzen und entschiedener Widerspruch waren bei vielen Menschen auf Borkum die Folge. Es wurden Leserbriefe geschrieben, der Bürgermeister distanzierte sich von dieser Aussage, und bald darauf gründete sich auf Initiative der "Ökumene auf Borkum" das Borkumer Forum für Flüchtlinge, das sich seitdem für eine "Willkommenskultur" auf Borkum stark macht und sich auf Flüchtlinge vorbereitet, denn es ist wahrscheinlich, dass bei dem wachsenden Zustrom von Flüchtlingen auch auf Borkum einige von ihnen ein neues Zuhause finden werden. Menschen sind auf der Flucht. So zeigt es das Hungertuch in seinen Bildern. Ein regelrechtes "Wimmelbild" voller Szenen und Geschichten, die von Flucht und Vertreibung erzählen. Geschichten von damals, aus biblischen Zeiten, und heute. Der Künstler hat versucht, Bilder und Szenen unserer heutigen Welt mit biblischen Erzählungen zu verbinden. Wenn wir das Bild betrachten, gewinnen wir den Eindruck, eine ganze Welt sei in Bewegung, unterwegs, auf Wanderung, - ein Entdeckerbild voll spannender Details. Menschen sind auf der Flucht. Mehr als 51 Mill Menschen weltweit sind es zur Zeit; die höchste Zahl seit Ende des 2. Weltkriegs. 50% von ihnen sind übrigens Kinder. Nur wenige sind auf der Flucht in ein anderes Land. Die meisten sind auf der Suche nach neuen Existenzmöglichkeiten innerhalb ihres eigenen Landes oder Kontinents. Sie alle sind aufgebrochen, weil ihre Lebensumstände unerträglich geworden waren. Aufgebrochen in eine neues Leben. In eine Welt, in der man überleben kann. Dürre, Hunger, Seuchen, traumatisierende Kriege, Terror, Genozid, Verfolgung, Unterdrückung, Armut, Bevölkerungswachstum, Zerstörung der Umwelt und Lebensgrundlagen durch das veränderte Klima oder profitgierigen Raubbau an der Natur, - es gibt viele Gründe. Sie alle sind auch unterwegs auf der Suche nach Geborgenheit, nach Sicherheit, nach Heimat, nach Sinn und Anerkennung, nach Leben in seiner Fülle. Aufgebrochen aus einer Welt, in der man sich nicht zuhause fühlen kann. Dass Menschen flüchten, sie ihre Zelte abbrechen, den Ort ihrer Geburt und Herkunft verlassen, weil sich ihnen dort keine Zukunftsperspektive bietet, ist nichts Neues in der Welt. Schon die Bibel ist voller Geschichten davon. Ja, die Geschichte Gottes mit seinem Volk ist eine Geschichte der Wanderschaft, der Flucht und der Suche nach einem guten Neuanfang, der Leben und Zukunft verheißt. Der Suche nach dem Land, in dem Milch und Honig fließen und die Menschen frei von Unterdrückung und Not miteinander leben können. Und immer ist Gott selbst dabei, als Mitwandernder, der hilft, rettet, bewahrt, eine neue Perspektive aufzeigt, wo es aussichtlos erscheint. Das Hungertuch erzählt von diesen Geschichten. Eine soll von ihnen uns heute besonders beschäftigen. Sie sehen sie auf ihrem Handzettel herausgehoben. "Der Herr sprach zu Abram: Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde. Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen, und du sollst ein Segen sein. … In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden" (Gen 12,1-2.3b). Abraham ist der erste Migrant aus der uns bekannten Literatur. Abraham, der Urvater des Volkes Israel - und den Juden, Christen und Muslime gemeinsam als Vater des Glaubens anerkennen. Jedes Mal, wenn er glaubte, angekommen zu sein, musste er weiter: von Ur nach Haran, von Haran nach Ägypten, von Ägypten nach Kanaan. All das vermochte Abrahams Vertrauen in Gottes Verheißung nicht zu erschüttern. Und doch besaß er am Ende seines Lebens von dem ihm verheißenen Land nichts als ein paar Quadratmeter Erde, die er für seine Grabstätte gekauft hatte. Abraham blieb bis zu seinem Tode Migrant und Fremdling in dem Land, das Gott ihm versprochen hatte. Das ein Migrant zum Urvater des Volkes Israel wurde, deutet sicher hin auf eine Zeit der Weltoffenheit, der Globalisierung, wie wir heute sagen, in der das Volk Israel die Erfahrung machte, dass man unter anderen Völkern leben kann und dass man auch im eigenen Land mit Menschen anderer Herkunft zusammenleben kann. „Du wirst ein Segen sein. ... In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden“, hatte Gott zu Abraham gesagt. Was für eine weltumspannende und völkerverbindende Verheißung. In Aufbrüchen liegen große Chancen. Nur wer aufbrechen kann, der hat die Chance, Neues zu entdecken. Auf dem Bildausschnitt erkennen wir ganz links: Bei denen, die abgewandt im Zelt sitzen geblieben und nicht mitgezogen sind, breitet sich das Gift der Schlangeneier aus, das an vielen Stellen auf dem Bild vorkommt. Ihre Angst und Trägheit hindert sie am Leben. Gott fordert uns heraus, dass wir uns auf ihn einlassen und mit ihm aufbrechen. Dass wir die alten Zelte unserer Selbstzufriedenheit abbrechen und den Aufbruch wagen. Gott hat etwas mit uns vor. Wenn wir am Alten hängen wie die Menschen in den Zelten, wenn wir das Vertraute festhalten und den Besitzstand wahren wollen, dann bleibt uns der Weg in Gottes Verheißung versperrt. Haben, als hätte man nicht, so lebt Abraham seinen Glauben. Das ist die Freiheit des Menschen, den Gott auf Wanderschaft schickt, hin zu einer großen Zukunft, die Jesus später als Reich Gottes beschreibt. Menschen sind auf der Flucht. Seit Abraham gab es sie immer, auch wenn sie nicht so viele waren wie heute. Wir müssen gar nicht so weit zurückdenken. Viele unserer Eltern und Großeltern waren Flüchtlinge nach dem Krieg. Und wie viele Aussiedler und Flüchtlinge aus anderen Ländern sind heute gut integriert und bereichern unser Leben. Oder wenn wir uns die Geschichte der USA ansehen: seine ganze Bevölkerung besteht fast ausschließlich aus Einwanderern und Flüchtlingen. Ja, im Grunde sind wir alle Migranten. War es nicht ein Segen für die reformierten Christinnen und Christen und ebenso für unsere schöne Insel Borkum, dass sie in der Mitte des 16. Jahrhunderts als Flüchtlinge aus den spanisch-niederländischen Religionskriegen auf Borkum - aber auch an anderen Orten Ostfrieslands - Zuflucht fanden, woran sogar das Siegel der ev.-ref. Landeskirche bis heute erinnert: "Gottes Kirche, verfolgt, vertrieben, hat Gott hier Schutz gegeben". Und im Siegel der ref. Gemeinde auf Borkum lesen wir den Satz, der auch zum Wappenspruch der Insel wurde: "Mediis tranquillus in undis" - "Ruhig inmitten der Wogen". Borkum ist seit eh und je eine Flüchtlingsinsel, auf der auch heute Menschen aus verschiedenen Nationen wunderbar miteinander leben. Wie hier, so war und ist es auch an anderen Orten. Kennen Sie die schönen Sätze Carl Zuckmeyers aus seinem "Des Teufels General", die er über die Rheinländer geschrieben hat? "Und jetzt stellen Sie sich doch einmal Ihre Ahnenreihe vor - seit Christi Geburt. Da war ein römischer Hauptmann, ein schwarzer Kerl, braun wie ‘ne reife Olive, der hat einem blonden Mädchen Latein beigebracht. Und dann kam ein jüdischer Gewürzhändler in die Familie, das war ein ernster Mensch, der ist noch vor der Heirat Christ geworden und hat die katholische Haustradition begründet. Und dann kam ein griechischer Arzt dazu, oder ein keltischer Legionär, ein Graubündner Landsknecht, ein schwedischer Reiter, ein Soldat Napoleons, ein desertierter Kosak, ein Schwarzwälder Flözer, ein wandernder Müllerbursch vom Elsass, ein dicker Schiffer aus Holland, ein Magyar, ein Pandur, ein Offizier aus Wien, ein französischer Schauspieler, ein böhmischer Musikant. Das hat alles am Rhein gelebt, gerauft, gesoffen und gesungen und Kinder gezeugt und der Goethe, der kam aus dem selben Topf, und der Beethoven, und der Gutenberg, und der Matthias Grünewald und - ach was, schau im Lexikon nach. Es waren die Besten, mein Lieber! Die Besten der Welt! Und warum? Weil sich die Völker dort vermischt haben. Vermischt, wie die Wasser aus Quellen und Bächen und Flüssen, damit sie zu einem großen lebendigen Strom zusammenrinnen." "In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden", verheißt Gott Abraham. Als seine Ahnen sind wir alle miteinander verwandt. Und auch im Neuen Testament verschwimmen die Grenzen. Jesus erkennt, dass er eben nicht nur gekommen ist zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel, als ihn die kanaanäische Frau bedrängt, ihre Tochter zu heilen. Und bei Lukas hören wir ihn sagen: "Es werden kommen von Osten und von Westen, von Norden und von Süden, die zu Tisch sitzen werden im Reich Gottes." Jesus zeigt uns, dass wahres Glück nicht in materiellem Reichtum liegt, sondern in geteiltem Leben!!! Und der Hebräerbrief fordert uns auf: Seid gastfrei, denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt. Wo uns Engel begegnen, da begegnet uns Gott. Im Fremden, im Unbekannten. Gott ist ganz anders, als wir ihn denken und erwarten. Er überrascht uns, stellt uns infrage, korrigiert unsere Sicht auf die Welt und unseren Glauben, und ist da gegenwärtig, wo wir aus seinem Geist leben, ihn weitergeben und in die Welt tragen. Engel sind Botschafter Gottes. Und jeder Flüchtling ist eine Botschaft und Aufforderung Gottes an uns, gastfrei zu sein und einander so zum Segen zu werden. Die kleinste der Inseln, Baltrum, hat übrigens bereits drei Neubürger begrüßt. Es sind Eritreer, die nicht nur durch ihre dunkel Hautfarbe auffallen, sondern vor allem durch ihre strahlende Fröhlichkeit, mit der sie an die Arbeit gehen und Einheimische wie Gäste mit einem frischen "Moin!" begrüßen. Einen weiten Weg haben sie vom Roten Meer über den Sudan, Libyen und das Mittelmeer zurückgelegt, bis sie an die Nordsee kamen. Baltrum suchte dringend Arbeitskräfte für die Saison. Und so stellte eine kleine Gruppe von Flüchtlingshelfern aus Leezdorf den Kontakt her. Die Hotelinhaberin Tina Otto, bei der sie arbeiten, ist von ihnen begeistert. Sie sind motiviert, arbeiten gerne und die Kommunikation ist dadurch, dass sie englisch sprechen, gut möglich. Nebenbei lernen sie nun auch deutsch. Der unsägliche Satz des Leeraner Kreistagsabgeordneten führte sich übrigens selbst durch einen amüsanten Fauxpas ad absurdum. Denn wenn wir in der selben Zeitungsausgabe weiterblättern, lesen wir zwei Seiten später die einladende Überschrift: "Die Karnevalsflüchtlinge sind reif für die Insel. Bei einem Kurzurlaub die Ruhe genießen." Menschen sind auf der Flucht. Die Not, die sie forttreibt, ist immer anders, - und manchmal ist es sogar nur der Karneval an Rhein und Main. Seien wir gastfrei und gastfreundlich. Freuen wir uns über den Reichtum, der durch andere Menschen, gleich welcher Nation oder Religion, in unser eigenes Leben kommt. Amen
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