Text zu TIME SHIFT – Magdalena Abele von Johannes Kersting, Künstlerhaus Göttingen, 2015 Eine Reihe von Vögeln an einem Strand, wie an einer Perlenschnur dicht an dicht auf einer horizontalen Linie im Bild angeordnet. Bis auf zwei Ausreisser befinden sich alle exakt auf einer Raumebene, formiert in einer engen Zone zwischen trockenem Sand und Gischt. Und, als würden sie nicht nur auf die topographischen Begebenheiten des Untergrunds reagieren, sondern auch auf die Kanten des Bildes, befinden sie sich exakt im Zentrum der Ansicht. Spätestens hier beginnt man an der Glaubhaftigkeit dieses fotografischen Moments zu zweifeln. Waren die Vögel nun zufällig in dieser Formation anzufinden? Haben sie sich bereitwillig für die Kamera ausgerichtet? Oder handelt es sich hier um eine konstruierte, im Nachhinein retuschierte Anordnung? Genau dieses Wechselspiel aus fotografischem Zufall, der Rückversicherung gegenüber der Realität und der Lust am komponieren und konstruieren ist es was die Bilder von Magdalena Abele auszeichnet. Interessanterweise handelt es sich bei „Sand Castle Birds“ um das einzige Bild der Ausstellung auf dem Tiere statt Menschen zu sehen sind. Aber auch in anderen Arbeiten nimmt Abele den übergeordneten Blick einer Zoologin ein, die das schwarmhafte Treiben ihrer Figuren innerhalb der Landschaft beobachtet. Oft scheint es die Umgebung selbst zu sein, ähnlich wie bei den Vögeln am Strand, auf deren Beschaffenheit die Menschen bewusst oder unbewusst reagieren. In „Zabriskie Point“ etwa wandert eine Schar von Touristen den geschlungenen Weg nach oben zu einer Aussichtsplattform, so dass sich der Betrachter unweigerlich fragen wird, welcher famose Blick es wohl wert ist, sich hier ins Gedränge zu stürzen. Psychologismen, die über den Willen des Einzelnen hinaus gehen scheinen oft federführend zu sein und die Macht des Kollektivs wird nicht nur durch die Vorgaben des Ortes gelenkt, sondern wahrscheinlich auch durch die unwiderstehlichen Versprechen diverser Reiseführer, durch deren Input Touristen zu einer Art ritualisiertem Abgleich der im Katalog zuvor gesehenen Ansichten mit der Wirklichkeit motiviert werden. Doch zurück zu dem bereits erwähnten Vexierspiel zwischen fotografischer Glaubwürdigkeit und irritierender Perfektion: Wie in einem Ballett scheinen die Figuren in „Zabriskie Point“ in wohl austarierten Abständen in einer seltsamen Rhythmik zueinander verteilt zu sein. Ein Schild zu Beginn des Weges bleibt isoliert, eine Sitzbank zur Hälfte der Strecke ebenso. Wie eine Galionsfigur steht ein einzelner Mann links daneben auf einem Felsvorsprung. Dass es sich dabei um den Vortragenden dieser Rede handelt, soll nicht unerwähnt bleiben, ist für die Vollendung des Gedankengangs aber zweitrangig. Man kann nun annehmen Abele hatte hier einfach viel Geduld bis der richtige Moment gekommen schien oder wahnsinniges Glück zum richtigen Zeitpunkt, mit CartierBresson gesprochen, im entscheidenden Moment, auf den Auslöser gedrückt zu haben. Doch dem glücklichen Zufall, enger Verwandter des decisive moments nach CartierBresson wird hier auf die Sprünge geholfen. Erst wenn man noch genauer hinsieht, erhält man Hinweise darauf was tatsächlich vor sich geht: Plötzlich entdeckt man Doppelgänger im Bild. Ein Mann mit roter Mütze und passendem roten T-Shirt, in der rechten Hand eine Kamera schleppend ist mindestens zweimal zu finden. Und sieht man sich die Gruppe Touristen im Vordergrund genauer an, so wird man ebenso erstaunliche Wiederholungen feststellen. Offensichtlich wird so: Dieses Bild zeigt nicht einen einzelnen Augenblick, sondern ein Nebeneinander verschiedener Momente, alle am selben Ort kurz hintereinander fotografiert. Denn, soviel sei verraten, in Magdalena Abeles Arbeiten, sind es nicht die Motive, die frei erfunden oder konstruiert wären, sondern das Konzept der Zeit wird hier auf eine Art interpretiert, die dem klassischen Verständnis der Fotografie völlig zuwiderläuft: Die Simultanität mehrerer Zustände wird innerhalb einer festen Bildbühne 1/3 ausgebreitet. Die Bewegungsrichtungen der Menschen im Raum werden durch die zeitliche Verdichtung erst sichtbar. Durch ein Nebeneinander verschiedener Momente in einem einzigen bildlichen Zustand erreicht Abele gewissermaßen eine Neudefinition der Lesart von Fotografie insgesamt. Die Dimension der Zeit wird zur dehnbaren Größe und verliert ihre punktuelle Beschränkung. „time shift“ der Titel der Ausstellung, die englische Bezeichnung für „Zeitverschiebung“ referiert ebenfalls auf dieses überraschende Spiel mit den Zeitebenen. (Zitat: komplettes Fotografisches Werk aus … Sekunden??) Auch in anderen Bildern Abeles lassen sich hierzu Beobachtungen machen. Die doppelte Anwesenheit des Mannes im auffällig gestreiften Oberteil in „Verzascatal“ etwa, ist kaum abzustreiten. In Torrent de Pareis ist eine Frau mit auffälligem orangem Ganzkörperoutfit zweimal zu finden, farblich humorvoll konterkariert von der Tasche der Frau im Bildvordergrund. So ergeben sich plötzlich ungeahnte Bezüge und man ist gewillt immer tiefer in die Details dieser Bilder einzusteigen. In „Monument View“ ist gar der vollständige Bewegungsablauf einer jungen Frau in Begleitung ihres Freundes nachzuvollziehen, eingefangen in mehreren Posen, zusammengeführt in einer unveränderten Landschaft. Allerdings ist das Zusammenführen mehrerer Augenblicke in einem Bild für die Fotografin, man darf sie so nennen, denn trotz der nachträglichen Eingriffe entstehen ihre Arbeiten gänzlich mit einer Kamera, kein Selbstzweck. Und es handelt sich nie um fiktive Orte, die Fotografie behält ihre Referenz zur gesehenen Wirklichkeit. Bei den subtilen Veränderungen in ihren Aufnahmen verliert sie nie die zentrale Frage aus dem Blick, was eine Fotografie erst zum Bild werden lässt. Konzepte der altmeisterlichen Landschaftsmalerei fließen hiebeir ebenso mit ein, wie Gedanken über die Beschaffenheit technisch erzeugter Bilder. Darüber hinaus erscheinen in Anbetracht dieser Bilder Überlegungen zum Freizeitverhalten der Menschen naheliegend. Hier werden nicht zuletzt Vorstellungen von Zivilisation und Natur illustriert, die als getrennte Kategorien gedacht einem seltsamen Nebeneinander an einem Ort unterstehen. Deren Unversöhnbarkeit findet in der empfundenen Absurdität von Menschenansammlungen vor monumentaler Kulisse einen schönen, passenden Ausdruck. Besonders ratlos wirken die Leute in „Monument View“. Wie bunte Kuchenstreusel wurden sie in der Landschaft verteilt. Welcher monumentale „View“ hier überhaupt zu bewundern ist, verrät die Fotografin nicht, wie in „Zabriskie Point“ wird dieser Aspekt bewusst ausgespart. Stattdessen interessiert sich Abele für die Körpergesten der Touristen die irgendwo zwischen routiniertem Sightseeing und unbeholfenem Posen für das heimische Beweisbild zu verorten sind. Kleine Momente vor großer Kulisse, die nur für Wenige Bedeutung erlangen werden und von aussen betrachtet redundante Floskeln bleiben. Die Landschaft wird hier zu einer schwer konsumierbaren Leerstelle, die rätselhaft bleibt und ihr Geheimnis nicht preisgibt. Die Frau im Zentrum des Bildes „Torrent de Pareis“ wirkt ebenso seltsam isoliert und ratlos angesichts der sie umgebenden, archaischen Felsen. Ausgestattet mit ihrer orangnen Tasche, meint man, sie sei eher einem Einkaufszentrum entsprungen als Teil einer derartigen Szenerie. Als prägnantestes Sinnbild für das Verlorenseins des Menschen in der Natur kann in der Ausstellung sicher die Arbeit „Zion“ gelten. Zu sehen ist eine Gruppe winziger Figuren auf einem Flecken rotem Erde. Umgeben wird dieser Punkt von einem monumentalen, düsteren Wald. Wie Verirrte wirken die Wanderer, gefangen in einem Labyrinth aus tiefgrünen Bäumen und Büschen, den Launen der Wildnis schutzlos ausgeliefert. Der Blick in die Ferne bringt dabei auch keine Erlösung, sondern verstärkt nur das Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit. Hineingeworfen in diese fremde Welt, wirken sie wie fiktive Gemeinschaftsarbeiten von Alberto Giacometti und Duane Hanson. Anderseits scheinen die Menschen die Verhaltensweisen ihrer kulturell codierten Umgebung so sehr verinnerlicht zu haben, dass diese auch in der Natur abrufbar bleiben. 2/3 Als wollte sich der Mensch seiner zivilisatorischen Gewissheiten angesichts des Unbekannten versichern, werden die eingeübten Bewegungsmuster menschlichen Zusammenseins auch in der Wildnis vollzogen. Diesen Eindruck gewinnt man zum Beispiel, wenn man „Angels Landing“ betrachtet, ein Bild auf dem die Wanderer in einem zähflüssigen Gänsemarsch Richtung Tal streben, entlang einer vorgegebenen, sich abenteuerlich nach unten schlängelnden Route, die dem ewigen Fels zuvor abgerungen wurde. Wenn innerhalb dieser visuellen Partituren die Landschaften, das Terrain, die Umgebung, der Boden, kurz alles Unbewegliche als Notenzeile bezeichnet werden kann, so ist klar, welche Rolle den meist menschlichen Protagonisten, den Figuren zukommt. Wie ein Komponist steuert Abele das Geschehen im Bildraum und es ist sicher nicht uninteressant zu erwähnen, dass sie selbst lange Zeit Geige in einem Orchester gespielt hat, also mit dem Zusammenspiel verschiedenster, komplexer Elemente gut vertraut ist. Daher ist es wohl nicht verwegen, diesen Bildern eine visuelle Form der Musikalität und Rhythmik zuzusprechen. Auch liegt der Vergleich zum Bühnenraum des Theaters nahe, da Abele ihre Figuren wir Komparsen in einer großen Opernszene oder einem Ballett in der Landschaft verteilt. Hierfür wählt sie häufig einen Kamerastandpunkt ausserhalb der üblichen Trampelpfade, nicht nur um den teils berühmten Sujets ihrer Bilder neue Ansichten abzugewinnen, sondern auch um einen distanzierteren Gesamteindruck auf das Geschehen zu erlangen. Diese Distanz erst ist es, die eine umsichtige und auch hin und wieder zweifelnde Grundhaltung gegenüber der Beobachtung zulässt. Wie eine Jägerin auf einem Hochsitz ist sie zwar Teil einer selbstverständlichen Anordnung, bleibt aber trotzdem für sich. Aus der Sicht eines quasi auktorialen Erzählers auf die Szenerie bleiben die Figuren ihrer Bilder entindividualisiert und sind nur kleine Zahnräder in einem kollektiven Bewegungsfluss. Die Welt erscheint als riesiges Freiluftmuseum und die darin umherwimmelnden Touristen gleichsam als Fremdkörper und Darsteller, dazu geeignet das absurde Spektakel ritualisierter Naturerfahrung zu komplettieren. Der entscheidende Augenblick wird hier letztlich ersetzt durch einen entscheidenden Blickwinkel, eine Sicht auf die Dinge, die den Vorhang für kurze Zeit öffnet auf eine oftmals fast anrührend hilflose Begegnung von Mensch und Natur. Mit Andreas Gursky gesprochen, werden hier zwar Bilder als bewusst angelegtes Konstrukt unter Zuhilfenahme der vorgefundenen Wirklichkeit geschaffen, doch gerade durch den Eingriff, die Zusammenführung verschiedener Aspekte des Realen werden hier sehr eindrückliche, authentische Ansichten erzeugt, die uns das paradoxe Verhältnis des Menschen zu seiner einst natürlichen Umgebung vorführen. Einerseits sind wir neugierig auf das Ursprüngliche, das wilde Andere, anderseits lässt uns ein Übermass an Fremdheit die eigene Hilflosigkeit fürchten. So sind wir auf die bekannten Pfaden der kontrollierten Begehung von Natur angewiesen, immer auf der Suche nach der Erfahrbarkeit eines Zustand, der unserer Zivilisation, falls er denn je existiert, schon hat vor Jahrhunderten abhanden gekommen ist. 3/3
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