Mexikanisches Skizzenbuch

Mexikanisches Skizzenbuch
s*
VON FRANZ HRASTNIK
Pulqueria um Mitternacht
In der Erscheinung
\»\ die Agave
herber als ihr
fr.inl iflit-i- Name und klassischer al- ihre allgemeine
Verwendung. Mit der Gültigkeit eines archaischen
Ornaments
-Irin ihre gleichbleibende Kontur
mIhv:ii/. vor drin ( ;»lil;:i und des Minndin clr/liihlcn
Landes. Ihre Riesenformen erreichen doppelte I i
dreifache Munncshöhe. Uorh ihr zartes innerstes
Geheimnis wird von ihren hurten Blättern wie von
zackigen Speeren umschlossen. Vergeblich, weil im
der falschen Stelle, versuchte ich hinter dus Geheimnis der Agave zu kämmen, als ich hei 44 Grud Hitze
den Aquädukt des Marques de la Villa del Villar
del Aquila multe. Noch heute versorgt da* himmelhohe Bauwerk die mexikanische Sludt Qucreinro
mit Wasser. Die hlaiigrünen Blätter einer überlebensgroßen Agave vor den ziegelroten, weithin geschwungenen Rundbogen verstärkten die deutliche
Stimmung der römischen Cumpag:ia über dem Tal
mit den hlaueu Bergen in der Kerne. Vom cCerro
de la Campunas», ilem cGlockenhügel» gegenüber
der Stadt und dem Ac|iiädnkt, umlaute Maximilian
noch einmal e
d i strahlende Welt mit seinen Blicken,
ehe ihm dos Exekutionskommando des Juarcz für
immer die Augen schloß. So still ist es im Tal der
verhallten Schüsse, «lal.i man oben im Mauerwerk
beinah dus Wasser rauschen zu hören vermeint.
Doch mit ii.'iii nun persönlich aufgebrachten (von insgesamt 530 000) Franken im Goldwert des Frbauungsjahres 1726 ließ der Marques die mächtigen Pfeiler wie für die Ewigkeit hinstellen: kein
Tropfen fliel.lt daran aus der durchrauschten Kinne
von oben herab.
Aber wie ist es mit den Agaven? Heißt es nicht,
dal*, ihre Blätter gleichfalls köstliches Naß bergen?
Doch das Messer iiuiilt sich umsonst durch die glatte
tierliäutigc Oberfläche der starren Blätter. Es ist bis
ins Innerste wie Leder. Um /.um Saft der Agave zu
kommen, muß man hi- zu ihrem Herzstück zur Zeit
der Blüte vordringen. I ml wirklich nennen die
Indios den kegelförmigen Bausch der Innenblätter
das «Herz», wenn sie es mit scharfem Messer öffnen,
um es während der folgenden Wochen und Monate
ausbluten zu lassen. In langhalsigcn, aufgepfropften
Flaschenkürbissen keltern sie das klare cAguamiel»,
das «Honigwasser», der Agave nb, und dreimal täglich sammeln sie es ein: oft bis zwölf Hektoliter im
folgenden Halbjahr, von re i n e einzigen der geduldigen Pflanzen. Jedoch bereits mich einem Tag verwandelt -ich der klare Agavensnfl zum alkoholischtrüben l'ulqiie. in den haareinwärts umgestülpten
Kuhhäuten, worin seine geheimnisvolle Trans-uh-tauliutinn nach uralten Methoden betrieben und
beschleunigt wird. Dreihundert Hektoliter des berauschenden Getränks sollen täglich allein nach
Mexico City gelangen. Jedoch im ganzen Lande verrät sich bereits außen, was im Innern gewisser
Lokale der Zustand der Frequen tonten enthüllt: in
der l'ul<|iicria wird Pulque uusgeschenkt
Im Stil des originalen Wild-\Vest-«Saloons» liil.it
eine Klapptürc in Buuchhnhc oben die Hüte, unten
aber die Stiefel der Stammkunden erkennen. Mehr
nicht. Ihr Zustand dazwischen liil.it sich nur ahnen.
Vuch die Krauen werden prinzipiell ferngehalten.
Und die- nicht nur wegen der allzu öffentlichen
Toilette mitten im Lokal. Die Wirkung des l'nhinr
oder des ähnlich gearteten Tcquilu ist nämlich
ebenso spontan wie umwerfend. Kür Anfänger und
Fortgeschrittene. Kein praktischer Reiseführer durch
Mexiko wird den Hinweis versäumen, den Besuch
re i n e 1'nhpici ia nur in ortskundiger Begleitung zu
unternehmen, lind doch gab es auch hierfür einen
Gegenbeweis in der düstersten Pulqueria von TaxCO.
In re i n e Nebenstraße der kolonialen Silberstadt,
wo die Häuser immer Niedriger, die Gestalten
immer verwegener und die Touristen immer seltener
werden, leuchtete es unter dem hohen, blauen
Mittcrnaclilsmoud plötzlich noch gelb unter einer
Schwingtür hervor. In westlicher Aufmachung und
wilder Krümmung lehnten drinnen zwei Gestalten
an der Theke, linier der forschenden Feindseligkeil
ihres aufgestörten Blicks hielt ich ebenso lässig wie
vergeblich nach dem Wirl Umschau. Da begann
etwas knapp unter dem Thckcnrand zu piepsen. Ein
Bürschlein von höchstens sechs oder sieben Jahren,
mit flinken Schrägaugen im Indiogesicht, fragte
»
mich nach meinen Wünschen, hantierte mit Flasche
k l e i n Scheiben mit einem großen
und Glus, schnitt e
Messer, summierte und kassierte, während er
allgemein respektiert
mutterseelenallein im besten
Wortsinn «den Laden schaukelte»: der Boß!
ihrer wur/cnliaft aufbrechenden Figurenfülle, ihrer
verwirrenden Ornamentik von Kerben und Furchen
und Höhlen auf dem versteinten Leib gleicht einem
vieliiiigigen, wachsamen Ungeheuer aus anderen
Zeiten: Vergeblich scheint es sich gegen den rätselhaften Sog von unten her anzustemmen, der die
Stadt und ihre Bauten langsam einsinken läßt. Erdbeben haben daneben die ücliqiiicukapcllc mit ihrer
dunkelroten, nach aul.'en gekehrten Vorhungurcliilektur so durcheinandergebracht, daß jetzt deren
prächtige; steinerne Raffung ganz schief ist. Oesllieh
flankiert der Palaeiu Naeional den llaiiptplalz der
Stadt Mexiko an der Stelle der einstigen Residenz
Monteztimas; im Süden ragen monströs Rathaus und
Jiistizpal'jst auf; und westwärts erhebt der «Monte
de l'ieilad . «las Pfandhaus, seine tröstlich-barocke
Kassade. Aber gäbe es nicht jene kuriose braunstichige Photographie, die den ungeheuerlichen
Platz vor der Kathedrale mich im fragliehen
Schmuck fächelnder Palmen, niedrigen Buschwerks,
umherstehender Blumen und bekiester Wege zeigt,
fiele es schwer, sich diese grandiosen Dimensionen
hier, auf «Heimgarlcn» reduziert, vorzustellen
.
Diese Ueberraschllllg butle sich keine Geringere
als die fein- und schön-innige Kaiserin Charlotte
für ihr fremdes Volk ausgedacht. Sie ließ den gim»'ii Platz fraulich-pfleglich mit den exotischen Gewächsen bepflanzen, wie man etwu ein gigantisches
Kreiizstichnuister mit binnen Farben um! Können
ausfüllt. Aber indem nun die Empeiutriz Carlota
den Hauptplatz der Haupt- und Residenzstadt im
Stil der «-Zöcalo» aller übrigen mexikanischen
Städte umgestaltete, schloß sie unwissentlich den
Kreis, der einst
das ganze
von hier ausgehend
Land umspannen sollte.
Denn cZöculoi bedeute! nicht eigentlich Hauptplalz>, -umhin «Sockel:-'. Al-o etwas, was vielleicht
im denkmalfreudigen Mexiko für \\i\\ Hauptplatz
unentbehrlich, aber allein zu wenig ist. Diese Ungereimtheit löst sieh am llauptplatz der Hauptstadt. Dort stand volle zwanzig Jahre hindurch ein
leerer Sockel, den man nach Abzug des letzten
-panischen Vizekölligs mit einem Standbild der
frischgewonnenen Freiheit krönen wollte. Doch al»
es endlieh dazu kam, war es schon zu spät. Der
leere Zöcalo» war inzwischen bereits im ganzen
<
Lande (nach dem hauptstädtischen Vorbild) zum
Spottnamen für jeden Hauptplulz geworden.
Mit -einen Palmen. Bäumen, Blumen. Büschen
und bekiesteu Wegen i-t der cZöcalo» Herzstück
und Mittelpunkt jeder mexikanischen Stadt, schattige Oase in der Mittagsglut, Schauplatz für Korso
und Promenadenkonzerl vor dem obligaten Musikpavillon; und sonntags i-l er da- Zentrum der militärischen Reunionen von Jung-nldal»*n und cAktiErlernung der militanten
zur
ven»
Lebenshaltung in .>2 Lektionen. Denn ein ganze- Jahr hindurch treten die Jungme-lizcn und Indios de« jeweils vorgenommenen Jahrgang-, Sonntag für Sonntag, ab sieben Mir früh auf dem örtlichen /.Tu jh>
vor ihren Keldweibeln und Unteroffizieren an. die
ihnen extra bis hierher nachgereist sind. Eine Zeitlang ist dann der Platz unter den fächernden Wedeln
Von Befehlen durchhaut, die unverzüglich auf den
n
bekiesten Wegen vollzoge
werden: rechtsum, linksuin. dus (tanze kehrt, und halt! Und wenn es später
lagern
heiß wird,
alle ge ein-ain im Schalten.
Das i-t auch in der Ilaupt-Iudl nicht ander-,
/»ar ist dort jedes störende Füllsel längst aus t\vr
verstummendeu Weite der Plaza Major entfernt.
Aber noch ehe der Mond darüber verblaßt, die
Sonne definitiv au- ihren roten Schleiern hervorgetreten ist. zeigt der immense Hnuptplntz seine
lokale Bedeutung al- «Zöcalo». Denn e- i-l gerade
Sonntag, und plötzlich bin ich in eine Nachwuchs'
armee eingekeilt, die nach militärischen Kommandos den letzten Winkel besetzt: rechtsum, liiik-um,
das Ganze kehrt, und halt! Und aus ist's mit dem
Malen.
Das sagenhafte Cibola
Als die Spanier um l.Vil) an die Westküste von
Mexiko gelangt waren und zum ersten Male die
gläsernen Wogen der iSiidsee» unter den schwarz
kreisenden Geiern über der paradiesischen Bucht
des heutigen Acapulco anrollen sahen, glaubten sie
-ich jetzt erst am Ziel. Das heiß), um lieginn ihres
n
eigentliche
Abenteuers. Obwohl es wenig mehr als
zehn Jahre her war. seil sie an der Stelle der
jetzigen «Reichen Stallt vom Wahren Kreuze» gelandet und den gleißenden Sendboten des Goldkönigs Mnnleziima bis ins Herz seines Wunderlandes zwischen Himmel und Knie, inmitten der
bunten Felsen und rauchenden Berge nachgefolgt
waren; obwohl seit kaum neun Jahren von seiner
Haupt- und Heidensladt Teiiochlilbin mit ihren 53
Tempelbiirgen, ihren 2."> künstlichen Gölzcnhcrgcn
und ihren 60 000 gemauerten Bauwerken kein Stein
mehr stund; obwohl seit damals der sündige HeidenSchatz von eineinhalb Millionen Pfund puren, zusammengeschlagenen und gcfii.if teilten Goldes auch
längst schon verschifft und vertan war. und
trotz
peinlicher Befragung - selbst vom letzten Heidenkaiser Cuauhtcmoc, oder Cuautemotzin, nicht die geheimgehaltene Stelle de» versenkten Schatzes im
Weiher von Zuiicopiuea oder seiner andern Schätze
herauszubringen war: trotz dieser raschen und gründliehen l'cberwälligung des mexikanischen Königs,
seiner Schütze und seines Landes litten die Spanier
noch immer an der unheilbaren Herzkrankheit, für
die»
wie ja der Cortez selber einmal zu Monteztuna sagte.
nur das Gold die geeignete Medizin
ist». Und mit dem Auftrag der .-pani-ehen Krone,
«die Inseln der Südsee zu entdecken, zu unterwerfen
und zu kolonisieren», machten sie «ich mit neuem
Eifer und frischer Hoffnung auf die Suche nach
Cibola. Denn die sagenhaften Schütze dieser Stadt
aus Gold und Juwelen, irgendwo hinter den glüserden Wogen der -Süd-ve sollten alles übertreffen, was
sie bisher gesehen, gehortet und geraubt und wieder
verschleudert hatten. So zogen sie mit ihren Karuvellcn unter den schwarz kreisenden Geiern aus der
Märchenbucht von Acapulco in den Pazifik hinaus.
Wie sie einst von Kuba aus das atlantische Ufer
>
«Zöcalo am Sonntag»
in Mexiko am frühen
Als ich den
Morgen betrat, gedachte ich, ein Bild des immensen
l'lai/rr. in aller Ruhe zu vollenden. Noch standen
gleichzeitig die leuchtenden Runen von Sonne und
Mond wie heidnische Symbole über der mächtigen
Kathedrale. Aus den altersschwarzen Trümmern des
großen Aztekentempels errichtet, lagert sie breit,
wuchtig und seltsam fremd über der versunkenen
Heidenstadt Tenochlillän am verschwundenen Texcoeosee.
Diese größte Kirche Amerikas mit ihren vierzehn Kapellen-, Turm- und Kuppelausbuchtungen,
Mexiko- betreten halten, fühlten sie auch jetzt wieder
das große Abenteuer vor sich. Aber was zweimal
geschieht, i-l niemals dasselbe. Wenn auch ihre nunmehr -o eingespielt funktionierende Technik der
Conquista allzu bereitwillig an den geringsten Zeichen und Merkmalen das neuerliche Wunder entdecken; ableiten und bewältigen wollte, war docll
alle Mühe vertan. Obwohl die Spanier auf ihrer
Suche bi- zum Golf von Kalifornien, ja sogar tief
in den Coloradofluß hineingerieten, blieb ihnen diesmal da- Glück versagt. Die Fuhclstudl Cibola lial es
niemals gegeben.
«
Miss Chilpancingo
Als e
d i Amerikaner um 1930 an der We-lkü-te
Mexikos die gläsernen Wogen des Pazifiks zur vergessenen Märcheidnichl de- sagenhaften Acapulco
d i paradiesische Schön.
anrollen sahen, sprach sie e
heil dieses entrückten Erdenflccks so unmittclbur
an. daß -ie ihn unverzüglich al- klimatisch, liulueologisch und währungsterhniseb ideal propagierten.
Mit dem historischen Holelpalast «Las Americas»
(1938) führte ein amerikanischer Promotor das
Fischerdorf Acapulco aus -einer Vergessenheit, in
dir es mich der Entdeckung der neuen Seewege, al-
ein-liger Umschlagplatz am gewinnbringenden Handelsweg von China über Mexiko nach Europa, geraten war. Alsbald folgte Don Carlo- Barnard mit
cEl Mirndor». l'ml li'inderl andere hauten die hun-
dert anderen Hotels -owie Hill. in -ein llillon .
Heute i-l kaum noch Platz au den weilen ('fern.
Denn Acapulco i-l seither mit -einen Vor- und Nachmittagsbuchten, Nachtklub- und Tageskinos, Cafes.
Cafeterias, Fischjagden, Glasbooten, Vndcnkeniiiärkten
iiml Seitengassen-Striptease zum ganzjährigen Reiseziel der «Weißen Götter* geworden. Sie kommen
au- dem gleichen Lande, wo man Seinerzeil die
sagenhaft reiche Stallt Cibola gesucht hatte, gleich-am vergehend zum damaligen Ausgangshafen an
der «Siidsee» zurück. Denn zugleich mil ihnen rollt
auch in immer mächtigeren Wogen der alle- nivellierende und jedem erreichbare Fortschritt ins Land.
Wie weit sind die unbewegten Indio- davon er\\
ih
il.'.tc .la
Sl g' blieb,
iffe
Augen in ihn dunklen, seltsam iiiongoloiden und doch
stets emexikanischen» Gesichtern zu lesen? Wer
vermöchte selbst an ihren schlanken Gestalten (in
der Importkleidung zu erschwinglichen Fixpreisen)
zu -chen. wieviel vom I Iciimilhoden an abwehrender Kraft in sie einströmt? In allem Wechsel rundum sind sie immer die gleichen. Und wenn auf diesem Kontinent ihr nordamerikanischer Nachbar im
Habitus dessen auftritt, der alles erreichen kann, so
trägt ihr Gehaben deutlich e
d i Ruhe derer, die überhaupt nichts wollen.
Genau dazwischen befinden sich die Mädchen
von Chilpancingo. Dort halten die Ileberlnndcars
von Mexiko mich Acapulco. Auf halbem Weg
zwischen der Silhcrstudt Taxeo und dem fernen
Palmenstrand des Pazifiks taumeln hier bündelweise
die erschöpften Reisenden wie blusse Spargeln aus
einer vollen Büchse in die aufklatschende Hitze.
Diesen Augenblick haben die Mädchen von Chilpancingo nur abgewartet. Ihr bunter, anmutiger Reigen
umschließt ulsbuld kurz und unausweichlich jeden
Mann. Jede von ihnen ist hübsch, laut und wendig;
denn in ihnen allen rollt noch -panische.- Blut unter
der glatten, bläßlichen Haut. Alle sind «höhere
Töchter», wie es der behaupteten Stellung ihrer
Väter im vielschichtigen Terrain des Landes und
seiner Geschichte zukommt. Aber die Hübscheste
unter den Hübschen ist zweifellos Mi.-.- Cbilpancingo». Sie wurde kürzlich durch eine Wahl auf der
Höheren Schule von Chilpanciugo ermittelt. Der
Vergleich zeigt, duß es dabei gerecht zuging. Denn
zusammen mit ihren Konkurrentinnen bietet «Miss
Chilpancingo» ihr eigenes Bild au.- einer übervollen
Schachtel (mit lauter <Miss-Chilpiinringo»-Pliotos)
an. Kostenpunkt: 5 Pesos. Dafür kann der Käufer
Neue Zürcher Zeitung vom 01.05.1965
und Fremdling ruhig -piiler das Bild zu Hau-c den
deutlichen Beleg präsentieren:
Freunden uls
das «mexikanische Sweetheart»
Die Geisterstadt Marfil
Eine der aufregendsten Erfahrungen in der
Neuen Weh i-t die immerwährende Wiederkehr der
cKoliinihus-Sitiiation». Dieser i-l jeder Fremdling
noch beute auf dem ganzen amerikanischen Kontinent miii Alaska bis Brasilien, von Peru bis Feuerbind, miii Hoboken bi- Frisco ausgesetzt. Sie besteht darin, daß er m
v o Augenblick seiner Landung
gewissermaßen ausgetrommelt und unsichtbar beobachtet, aber nie mehr au- den Augen gelassen
wird. Wenn weder amtlich muh in den privaten
Reiseberichten jemals davon die Hede i-t, so liegt
es am System, da- keine- ist. Was iiiebl ist. merkt
in. in nicht. Und dennoch merkt es der aufmerksame
Eindringling über kurz oder lang, daß er -ich gleichals seine eigene Stafette
-am selber
von einem
zum näcli-ten seiner unsichtbaren Beobachter weiterreicht. Oft ist c- nur das Aufglimmen einer Zigarette in der Wüste, der plötzliche Doppelkopf au
einer Heiligenfigur in der Kirche, die Säule am verlassenen Portal, die sich beim Näherkommen unvermittelt vom Torschatten löst. Solche und ähnliche
Anzeichen erfüllen den Fremdling jeweils für eine
Weile mit der Gewißheit: lüg Brother i- watching
hat,
von! So lange, bis man es wieder verg
11
Bi- man wieder daran erinnert wird. Beispielsweise scheint heule die Geistcrsladl Marfil selbst von
allen guten und bösen Geistern verlassen zu sein,
die das Silber jemals anzog und an den verlassenen
Urt bannte. Inmitten baumhoch aufwachsender
Kakteen verfallen die beiden Kirchen: oben auf
dem Berg, wo die Bahn i-t, und im Talgrund, wo
die kopflosen Heiligen den barocken Staudamm beschützen. Eine neue Straße kurvt -ich über die sieben
Hügel, dahinter noch immer die aktive Provinzhauptstadl Guanajuato mil ihrem Opernhaus mit
1201)
Plätzen (für 20 000 Einwohner) im maurischen
Stil (für die Mozurt-Gu-tspicIc aus Mexiko), ihren
Mumien. Kirchen. Marktplätzen. Steilgassen, der
Universität auf dem Bergh'ailg und dem Zielbalinbof
mit einem einzigen Geleise. Aber der Kurrenweg,
entlang dem dünnen Flußlauf, der einst zu den
Silbcrniühlen von Marfil hinüberführtc, wird nur
mehr von verirrten Touristen und Kleintieren begangen. Noch immer weist der Uhrzeiger auf der
eingestürzten Talkirche aus der jetzigen Geisterstadt
in die Ewigkeit hinüber. Aber das Portal einer uralten Silberschmiede steht weil offen zur verzauberten Pracht eines Gartens mit den buntesten Blumen und einem Saal mit den köstlichsten Figuren
und Bildern aus den versunkenslen und wertvollsten ftilperioden mexikanisch-devotionaler Kultur.
Verzückl bewundert der Eindringling die Fidle und
augenscheinliche Zufälligkeit der hier ungeschw
nteil Schulze und wundert sieb über die Kennerschaft
in der Auswahl und die Achtlosigkeit der Behandlung, womit der wahre Reichtum im Lande gehortet
und brachgelegt wird. Da tritt hinler einer Hollywoodschaukel ein Elegant hervor. Er ist Europäer,
mit re i n e steinreichen Amerikanerin verheiratet,
und suimiiclt die spanisch-mexikanische Kolonialkunst für den internationalen Bedurf an Antiquitäten.
Seither gilt er als der Putron der verfallenden und
wicderuiifhauhedürftigeu Kirchen im
Lande. Mit
ihm sind etliche amerikanische Künstler mit Farben,
Pinsel, Weib und Wagen nach Marfil gezogen, und
langsam rekonstruiert sieh
neues Leben aus den
Ruinen. Nun durchzieht der tieue Geist die verlas,
sene Geisterstadt, die immer von Fremden geplant,
genützt, aufgegeben und
wiederverwertet blieb. Der
unerschöpfliche Reichtum im Lande liegt
Zugriff leichter erschlossen und scheint fremdem
sich auf
ewig den achtlosen Blicken der stillen
Bewohner zu
entziehen. Denn ihrerseits werden auch sie ja beobachtet und unsichtbar überwacht. Big Brother is
watching. Noch immer.