Hart am Wind und an der Kante

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KULTUR / BÜHNE DRESDEN
DONNERSTAG, 26. MÄRZ 2015 | NR. 72
Der Lärm
von
Gestern
Ostrock
in der
Zeitenwende
Atari Teenage Riot bestehen
heute sicher in der Scheune
Alexander Osang mit
„Comeback“ in Loschwitz
Von AndreAs Körner
Von TomAs GärTner
Manchmal muss es eben hämmern!
Manchmal braucht es zum Gift auch
Galle. Da reicht es nicht, gitarrensaitenweise von Gefahren zu liedermachern,
Staub von Pete-Seeger-Platten zu wischen, ins sparsam verbliebene politische Kabarett zu gehen und gleich gar
nicht die „heute-Show“ zu sehen oder
G. Jauch in seiner Grube zu besuchen.
Manchmal müssen Aufrüttelungen,
Statements, Parolen und Pamphlete mit
aller Vehemenz ins Ohr gebrüllt und mit
sägenden, grellen Kamikaze-Beats,
Hochspannungs-Samples, wimmernden
Schleifgeräuschen und Hardcore-Kakophonie untermalt werden. Manchmal
muss es Atari Teenage Riot (ATR) sein.
Immer noch. Der Krach von Gestern hat
eine Überlebensstrategie entwickelt.
Alexander Wilke-Steinhof ist Alec
Empire. Und Anarchist. Seine „Kinder“,
denen in den Achtzigern der Punk in die
Muttermilch gemischt wurde, flüchtete
mit Beginn der Neunziger zunächst hinters Pult von acid- und technogetriebenen Tanzveranstaltungen, schon 1992
aber – dann keine Flucht mehr – in eine
neue Band, mit der er Punk-Geist, Industrial-Schrauber und Techno-Wucht
zu paaren versuchte. Oszillatorengleich.
Krach allerorten, wo ATR auftraten. Da
brachte auch die feminine Stimme von
Hanin Elias nicht viel Süßes.
Und die internationale Musikwelt
horchte auf. Aus Deutschland stammende Künstler auf der Höhe der Zeit sind
stets gern gesehen. Der einflussreiche
britische Radio-DJ John Peel hat sie immer gemocht! Alec Empire richtete seine Ataris schnell als global agierende
und dementsprechend besetzte Band
aus. Durch Personalwechsel und Pausen
ist sowieso eher von einem Projekt zu
sprechen. Aktuell dabei sind Alec Empire, Nic Endo und zwei Rapper (MC
Rowdy aus den USA, Street Grime aus
England).
Sie drücken „Reset“, so nennt sich
die insgesamt sechste Platte aus dem
Akustik-Schredder. Alec Empire: „Für
uns ist das eine Metapher: Vergiss’
manchmal, was in der Vergangenheit
war und wer in einem Streit Recht hatte,
sondern starte neu durch! Finde Lösungen für die Zukunft!“ Man möchte anfügen: Sympathisiere! Natürlich mögen
ATR ihren Edward Snowden und hassen
Pegida, natürlich schlagen sie sich trotz
aller Anti-Attitüde auch auf die Seite
von Pro, vor allem hin zu ihren Freunden, den Hackern. ATR waren es, die
man fragte, ob sie die Eröffnungshymne
des 30. Chaos-Computer-Club-Kongresses schreiben und einspielen würden.
Die Antwort: Selbstverständlich! Auch
am imaginären Soundtrack von großflächigen Problemlösungen der Community arbeiten ATR seit Jahren.
Atari Teenage Riot waren (einigen
Offiziellen) immer suspekt und ein Dorn
im Ohr. Wieder Empire: „Niemand
braucht eine weitere düstere Vision der
Zukunft von uns. Jeden Tag kommen
neue Wahrheiten ans Licht über Gewalt, Überwachungstechnologien, Korruption. Darauf brauchen wir nicht
hinzuweisen. Worum es bei ,Reset‘ geht,
ist, dass du dir als Hörer eine Menge
Kraft aus der Musik ziehen kannst, um
das alles zu bewältigen. Jetzt ist nicht
die Zeit, sich zu beschweren, jetzt geht
es darum loszulegen! Oder wollen wir
die Welt denen überlassen, die wir verachten?“
„Reset“ als CD funktioniert dennoch
nicht nur als hörbare Wandzeitung, die
einen mit Wucht und Wut ins Gesicht
weht, nicht nur als Wochendemo in
Wohnzimmer oder Club. Sie steht für
komprimierte Kraft zum Aufstehen und
Ver(sehr)lautbarung einer sinnlichen
Komponente. Tanz, wenn dir Aktivismus
nicht gegeben, schrei, wenn es trotzdem
keiner hört! Seele als Waffe. Gegen Lebensmittelverschwendung – und es
meint nicht das Essen!
Alexander Osang konnte das Fiasko aus
nächster Nähe betrachten. Die Jungs von
Pankow wollten’s noch mal wissen. Der
Ostberliner Schriftsteller und Journalist,
Jahrgang 1962, ihr Fan seit DDR-Zeiten,
hat die Ostberliner Band auf ihrer Tournee durch die neue Bundesrepublik begleitet. Um vielleicht dem Geheimnis des
Rock’n’Roll in seiner besonderen DDRVariante auf die Spur zu kommen und
darüber ein Sachbuch zu schreiben.
Doch dann kam Jena. Peinlich wenig
Zuhörer, das traurigste Konzert. Da hat er
es gelassen. „Ich wollte die Band nicht
bestrafen und habe lieber einen Roman
geschrieben“, erzählte er im Kultur-Haus
Loschwitz, wo er den Roman jetzt vorgestellt hat: „Comeback“, ein lebenspralles,
kompaktes und vielschichtiges Buch über
Ostrock in der Zeitenwende.
All jenen, die keins dieser Konzerte
einstiger Ostgrößen verpassen, sei es
dringend empfohlen. Schon als Medizin.
Eine recht bittere freilich.
Nehmt’s ihm und dem Rezensenten
nicht krumm, Männer, aber seine Schilderungen des in die Jahre gekommenen
Fanpublikums zählen zu den schönsten
Stellen, gerade weil sie so schneidend
sarkastisch sind. Etwa der Satz aus der
Perspektive von Carola, einer aus dem
Osten stammenden Stern-Reporterin:
„Die Männer waren schwer geworden
mit den Jahren und nicht mehr besonders
gelenkig, es war, als schlängele sie sich
durch eine Wand aus taumelnden Sandsäcken, grauhaarigen Abrissbirnen in gebügelten Jeans, die im Rhythmus eines
Abschiedsliedes für eine Diktatur
schwangen.“ Dass der Autor die weiblichen Fans hier schont – geschenkt. Osang
kann das ausgezeichnet: Das ganze Dilemma, die ganze zum Heulen komische
Tragik in einem Satz beschreiben, heftig
lakonisch. Solche Sätze findet man viele
in diesem Buch, solide
Schmiedearbeit, kein
überflüssiges Wort.
Das Elend ist nicht
nur eins ostdeutscher
Bands, wie Osang anmerkte: „Am Ende
müssen sie immer
wieder die selben
Songs spielen, die ihnen schon zum Hals
raushängen. Weil die
Leute die immer wieder hören wollen.“ Vielleicht ist es das
menschliche Problem mit der Vergänglichkeit: dass man die Zeiten als gute, alte
erst begreift, wenn sie vorbei sind. Da
nützen diese Wiederbelebungs-Muggen,
wie verständlich immer, nur als Opium
fürs Fan-Volk. Sanfte Droge Erinnerung.
In Osangs Buch ist die ernüchternde
Comeback-Tournee der Steine denn auch
dramaturgischer Höhepunkt. Gebaut ist
die Geschichte nicht chronologisch, sondern als Puzzle, in den Zeiten vor und zurück springend zwischen 1982 und 2014,
also analytisch. In jedem Kapitel begleiten wir eines der Bandmitglieder, deren
Manager oder die Reporterin. Was uns
zeigt, dass es verschiedene Sichten auf
eine Sache gibt. Ein realistischer Mehrwert dieses Buches.
Sängerin Nora, für die Tamara Danz
von Silly Pate gestanden haben dürfte,
erlebt den Zeitensprung 1990 in New
York in „euphorischer Orientierungslosigkeit“, auf der Suche nach Inspiration
für neue Songs. Ernüchtert begreift sie
die Mechanismen des Show-Business,
das Fan-Massen als Kunden braucht, um
zu laufen. Das gilt am Ende auch für den
kleinen Club-Besitzer in Jena, der sich
die Steine als Risiko leistet, aber nur mit
populären Oldie-Veteranen überleben
kann.
Dieses Buch öffnet uns in mehrfacher
Hinsicht die Augen. Auch beim Thema
Stasi. Im Kapitel über die Gespräche des
Gitarristen Alex mit seinem Rock-begeisterten und liebeskranken Führungsoffizier etwa begreifen wir: Es gab Geschichten, von denen die Akten nichts erzählen
können. Beim tiefen Einblick in das Bandleben mit all seinen Beziehungskisten sehen wir, wie das bis heute von vielen für
homogen gehaltene DDR-Volk tatsächlich seine Schichten hatte, zwischen denen es auch knirschte. Da sind Gitarrist
Alex und Sängerin Nora, die bürgerlichen Funktionärskinder, die gerne mal
aus proletarischen Themen Rockopern
basteln, da ist Pianist Vonnie – herrlich! –,
Sohn eines adligen Gemüsehändlers, zudem Katholik. Und Axel, der Schlagzeuger, der einzig wirkliche Proletarier,
kriegt’s mit dem Alkohol nicht in den
Griff und fliegt aus der Band.
Von einer großen Hoffnung spricht das
Buch. Max, Jahrgang 1974, kämpft im
Business als verzweifelter Booker für die
Songs der Elterngeneration. „Herzensangelegenheit“ sind sie ihm geworden. Woher seine Begeisterung? „Das war die Geschichte seines Lebens.“ Das sollte der
Anspruch von Rock’n’Roll sein. Der ist
mit der DDR nicht verschwunden. Zu nostalgischer Schunkelei zu verkommen, hat
der Rock nicht verdient.
Klar, es war schön. Aber lasst die Feuerzeuge stecken. It’s all over now.
Atari Teenage Riot, Vorband: Author &
z Punisher,
heute 21 Uhr, Scheune
RadiopRogRamm
MDR FIGARO: 15.10 Peter Schiff liest „Kubinke“
von Georg Hermann; 15.45 Recherchen; 16.00
Journal; 19.05 Wolfram Berger liest „Der Atem.
Eine Entscheidung.“ von Thomas Bernhard; 19.35
Jazz Lounge; 20.05 Musik modern: Pierre Boulez
zum 90. Geburtstag; 21.00 Jazz: Classics; 22.00
Mit dem Läusekamm durch die Präsenzbibliothek – Poetik-Vorlesung zum 70. Geburtstag von
Harry Rowohlt; 23.00 Nachtmusik
DEUTSCHLANDRADIO KULTUR: 19.30 Wenn die
Welt zusammenbricht – Krisenintervention und
psychosoziale Unterstützung nach Katastrophen;
20.03 Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz, Solisten: „Mondlieder – Oh moon of Alabama“ – Werke von Debussy, Schubert, Pfitzner, Strauss,
Schulhoff, Weill; 22.30 Studio 9 kompakt; 23.05
Fazit
DEUTSCHLANDFUNK: 18.40 Hintergrund; 19.05
Kommentar; 19.15 DLF-Magazin; 20.10 Kulturund Sozialwissenschaften; 21.05 JazzFacts: Die
unablässige Suche nach der Musik – Ein Porträt
des Saxophonisten Sebastian Gille; 22.05
Historische Aufnahmen: Unterschätzte und zu
Unrecht vergessene Interpreten auf Opernbühne und Konzertpodium; 22.50 Sport; 23.10
Der Tag
Die Prinzen: Jens Sembdner, Tobias Künzel, Sebastian Krumbiegel, Henri Schmidt und Wolfgang Lenk (v.l.). Noch dabei: Mathias Dietrich und Ali Zieme.
Foto: D. Flechtner
Sieben von uns
Die Prinzen reißen ihr Publikum in der Semperoper mit Titeln aus 25 Jahren Bandgeschichte vom Sitz
Von nicole czerwinKA
Es kommt wahrlich selten vor, dass Popmusikbands Konzerte in der Semperoper geben. Eines haben diejenigen,
die das schaffen, jedoch mit den großen
Stimmen der Oper gemein: Sie dürfen sich gut und gern zu Musikern erster
Güte zählen. Das gilt auch für Die ‚
Prinzen, die am Dienstag im Rahmen
ihrer Theatertour Sempers Bühne
rockten und den bis in den vierten Rang
restlos ausverkaufen Saal gehörig zum
Brodeln brachten. Dem Leipziger Thomanerchor entsprungen, sangen sie sich
nach 1991 schnell als erste große „OssiBand“ zu deutschlandweiten Erfolgen –
und haben in fast 25 Jahren in gleicher
Besetzung eine Reihe von Hits gesammelt, mit denen sie zweieinhalb Konzertstunden (und mehr) locker füllen
können.
Aus den frechen Jungs von damals
sind Männer geworden, die sich jedoch
ihre kindliche Freude an der Musik bis
heute bewahrt haben. An diesem Abend
reihen sie sich spitzbübisch in die Liste
großer Namen wie Weber, Wagner und
Co. ein, kommen ausnahmsweise in
Schlips und Sakko auf die Bühne „im
schönsten Rock’n’Roll-Club der Welt“ –
und versäumen es nicht, der ewigen Rivalität der Städte Dresden und Leipzig
Tribut zu zollen, auf Prinzenweise: nie
bissig, immer herzlich ironisch, wenn sie
etwa sagen: „Wir kommen ja aus einem
Vorort von Dresden.“ Oder indem sie
Jens Sembdner, den einzigen Kruzianer
in der Band, kurzerhand zum großen
Star des Konzerts krönen.
Der Großteil des Abends bleibt dennoch der Musik vorbehalten. Die Prinzen brauchen dabei weder eine Vorband, noch Zeit, um ihr Publikum warum zu kriegen. Besonders in den 45 Minuten vor der Pause erklingen alte Hits
wie „Mann im Mond“, „Mein Fahrrad“
Preis für Die Prinzen
Für ihre politischen Texte und ihren
Einsatz gegen Fremdenfeindlichkeit
erhalten Die Prinzen den Europäischen Kulturpreis der Stiftung Pro
Europa. „Mit ihrem bürgerschaftlichen
Engagement stärken die Musiker die
Zivilcourage in unserer Gesellschaft“,
teilte Stiftungs-Präsident Tilo Braune
gestern mit. „Wir glauben, dass
gerade Popmusik immer auch mit
einer Haltung einhergeht“, sagte
Sänger Sebastian Krumbiegel. Der
undotierte Preis wird am 2. Oktober
in der Dresdner Frauenkirche verliehen. Die Laudatio hält Komiker Olli
Dittrich.
oder „Alles mit’m Mund“ fast Schlag auf
Schlag, abwechselnd mit Schlagzeug-,
Gitarren- und Pianobegleitung. Die Auswahl ist klug und ausgewogen. Echte
Fans wissen ohnehin längst, dass die
Diskografie der Leipziger nicht nur spaßig-satirische, sondern auch viele nachdenkliche Texte zählt.
Mit Blick auf die Königsloge schöpfen
die Prinzen hier sichtlich begeistert aus
dem Vollen. „Ich könnte nur grinsen,
wenn ich die Kulisse sehe“, sagt Sebastian Krumbiegel. Er holt später sein
Smartphone für ein Selfie hervor. Gewohnt leger in Hemd und T-Shirt steuern die Vollblutprofis mit dem adligen
Namen nach der Pause schließlich zielsicher auf den Siedepunkt zu. Titel wie
„Küssen verboten“, „Ich wär so gerne
Millionär“ oder „Alles nur geklaut“ gehören zu den Schlagern im Prinzen-Repertoire und bringen den Saal vollends
zum Kochen, während bunte Scheinwerfer über die Ränge huschen.
Zwischendurch bleibt auch noch
Zeit für einen kurzen Rückblick. Alle
Prinzen kennen sich schon seit Kindertagen. Neben der grundsoliden Ausbildung im Thomanerchor – einige Bandmitglieder haben anschließend auch
Musik studiert – ist diese frühe Verbindung vielleicht eine Erklärung für den
Erfolg der sieben Musiker. Doch da ist
noch etwas anderes: Ein Großteil des
Publikums kann wohl ebenso wie die
Band auf eine Kindheit und Jugend in
der DDR zurückblicken. Herkunft verbindet. Und die Prinzen haben nie verhehlt, woher sie kommen. Beim Lied „Es
war nicht alles schlecht“ wird es dann
plötzlich ganz still im Saal, wahrscheinlich erinnert sich mancher an die „heiße
Mathelehrerin“ oder „den ersten Ausflug auf eigenen vier Rädern“. Als der
letzte Ton verklungen ist, tobt der Applaus.
Neben dem Blick zurück gibt es jedoch auch ein Versprechen: Nach langer
Pause erscheint im Mai dieses Jahres ein
neues Album der Prinzen. Einen Vorgeschmack geben sie mit dem Titel „Regen“. Ein nachdenkliches, trauriges Lied
von einer zerbrochenen Liebe. Doch
auch hier sind sich die Musiker treu geblieben. Ebenso nachdenklich wie amüsant ist die Geschichte von „Gabi und
Klaus“, der ersten Prinzensingle von
1991, die sie nun weiter gesponnen haben. Vielleicht ist es Zufall, dass der letzte Titel „Unspektakulär“ heißt. Der Applaus aus den inzwischen in Parkett und
Rängen stehenden Reihen beweist jedoch, dass dieser Abend alles andere als
das war – für beide Seiten. Die Prinzen
genießen es sichtlich, lassen sich erst
betteln, dann mit zwei langen Nachspielen aber auch nicht lumpen. Adel verpflichtet eben.
Hart am Wind und an der Kante
Die Spannung zwischen Christopher Lehmpfuhl und Clemens Heinl in der Galerie Ines Schulz
Von Uwe Behnisch
Die Resonanz auf die zurückliegende
Ausstellung von Thomas Kleemann in der
Galerie Ines Schulz im Dresdner Obergraben verleitet zu dem sprachlichen
Bild, im „Buch des Malers“, so der Ausstellungstitel, eine weitere Seite aufzuschlagen. Und wir entdecken zwei Künstler, die in einer ästhetischen Beziehung
und künstlerischen Freundschaft zueinander stehen: den Maler Christopher
Lehmpfuhl und den Bildhauer Clemens
Heinl. Bildende Kunst gehorcht, wenn sie
im Obergraben 21 ausgestellt wird, der
Kategorie des Besonderen. Sie behandelt
stets Ausnahmefälle.
Der eine, Christopher Lehmpfuhl,
Jahrgang 1972 aus Berlin, der bei Wind
und Wetter, vor allem aber mit den Fingern malt. Der andere, Clemens Heinl,
Jahrgang 1959 aus Schwabach, gelernter
Orthopädiemechaniker, der sein anatomisches Wissen zur Ästhetik der schroffen Kanten formt.
Lehmpfuhl, Meisterschüler von Professor Klaus Fußmann an der UDK in Berlin,
hat aus einem Missgeschick eine Tugend
gemacht. Das Malheur: ein umgeworfener Farbtopf. Kurzerhand ließ Lehmpfuhl
den Pinsel links liegen, nahm die auslaufende Farbe mit seinen Händen auf und
entdeckte sein „haptisches“ Jerusalem.
Hart am Wind hieß nun die Devise. Raus
aus dem Atelier, dorthin, wo das Leben
pulsiert. Bei Sonne und Regen, bei Frost
und Hitze entstanden und entstehen
Bildreliefs, die an Unmittelbarkeit, an Atmosphäre authentischer kaum sein können.
Lehmpfuhl hat wie kein anderer Maler den Aufbruch von Berlin nach 1990 in
mehr als 200 Bildern expressiv gegenständlich festgehalten. Eine Annäherung
an seine Arbeiten gelingt über diese
Werkschau am ehesten. Lehmpfuhl ist
ein Chronist. Der frühere Kulturstaatsminister Bernd Neumann sagte 2012 während einer Vernissage, Lehmpfuhl sollte
Ehrenbürger der Bundeshauptstadt werden. Wer Berlin kennt, mag oder nicht,
bezieht das auf die schönen oder auch
morbiden Straßen und Plätze, die typischen Brandmauern, die Wim Wenders
in seinem Film „Der Himmel über Berlin“ dokumentiert hat. Gleichwohl denkt
man bei seinen Arbeiten an die Impressionisten Lesser Ury und Max Liebermann. Man hat den Eindruck, man riecht
die besser gewordene Berliner Luft, man
spürt das Wasser und die Strömung der
Spree, der Alster in der Hamburger Spei-
Clemens Heinl: Elmar Pappel, Bronze, 2010, 180 cm.
cherstadt, den Rhein oder die Ostsee im
Wismarer Hafen.
Lehmpfuhl weiß, wo es schön ist zwischen Helgoland und Karlsruhe, zwischen Hamburg und Dresden. Das Schöne festzuhalten, ist seine Motivation. Er
will Reales in Kunst verwandeln und verleiht seinen gewichtigen Bildern viel
Licht und Schatten. Soll heißen: Nähe
durch Distanz. Seine Bilder sind ausgeleuchtet. Er inszeniert hart am Wind.
Der handwerkliche Prozess verläuft
bei Heinl, Meisterschüler von Prof. Wilhelm Uhlig in Nürnberg, ähnlich wie bei
Michelangelo, dem man nachsagt, er
habe im Stein schon vorher die Figur gesehen. Seine Arbeiten verleiten zu einem
Gedanken des großen österreichischen
Bildhauers Alfred Hrdlicka, der sagte:
„Alle Kunst geht vom Fleische aus.“ Bei
Christopher Lehmpfuhl: Abendlicht Einsiedeln (CH), 2010,
Öl auf Leinwand.
Repros (2): Galerie
Heinl geht alle Kunst vom Menschen aus,
was ja nicht nur eine künstlerische, sondern in seinem Fall auch eine physiognomische Verwandtschaft erkennen lässt.
Auf jeden Fall geben seine Skulpturen
eine Menge Rätsel auf. Allein das Gefühl,
dass man diese Figuren berühren, ja
umarmen möchte oder auch schockiert
von ihnen ist, offenbart, dass Clemens
Heinl immer nah am Menschen dran ist.
Das alles hat ja einen fleischlichen Magnetismus. Ein feinfühliger Franke, der
dem Menschenbild mit einer originären
Holz- und Bronzesprache begegnet. Das
Figurative stellt für ihn nicht den glatten
Ästhetizismus dar, vielmehr sind es
Schwundrisse, Ecken und Kanten, die
ihm das Material bietet. Man kann es
auch ein psychologisches Spiel nennen.
Er macht es uns leicht, eine Beziehung zu
seinen Skulpturen herzustellen. Ihm geht
es um die Freisetzung von Individualität,
die Schnittstelle zwischen Wirklichkeit
und Phantasie. Wohlgemerkt nicht sentimental, aber mit Witz und Farbe. Er ist im
besten Sinne des Wortes ein CharakterDarsteller. Seine Mutter hat er auf diese
Weise gleich zweimal „verkaufen“ können. Auch das hat Charakter.
In den „Maximen und Reflexionen“
von Johann Wolfgang von Goethe, die
1833 posthum herausgegeben wurden,
findet sich der Satz: „Man tut nicht wohl,
sich allzu lange im Abstrakten aufzuhalten. Das Esoterische schadet nur, indem
es exotisch zu werden trachtet. Leben
wird am besten durchs Lebendige belehrt.“
12. April, Galerie Ines Schulz, Obergraben
z bis
21, geöffnet Mo–Fr 11–19, Sa 11–16 Uhr
www.galerie-ines-schulz.de
Alexander Osang: Comeback. S. Fischer. 288
S., 19,99 Euro