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Gysi und die Tanten
Ignorante Hamburg-SPD
Ein Gespräch über Krisen, die LINKE
und das Leiden an der SPD. Seite 2
Gefahrenzonen-Gesetz verstößt gegen
Verfassung? Kein Problem! Seite 13
Zerstörtes
Biotop
Der SC Freiburg
ist aus der ersten
Liga abgestiegen.
Gewarnt hatten
die Badener
schon lange
vorher – vor
Retortenklubs.
Seite 18
Fotos: dpa/Ingo Wagner, dpa/Peter Steffen
Dienstag, 26. Mai 2015
STANDPUNKT
... mehr als die
Summe der Teile
70. Jahrgang/Nr. 119
Bundesausgabe 1,70 €
www.neues-deutschland.de
Die sechs Flügel der SPD
BND-NSA-Skandal: Chef eiert, Generalsekretärin droht, Fraktionschef kuschelt
Debatte nach
Votum zur Öffnung
der Ehe in Irland
Irland, Spanien, Polen: Was ist
Europa?, fragt Tom Strohschneider
Gesetzentwürfe zur Gleichstellung
in Kabinett und Bundestag
Aristoteles hätte es schwer nach
diesem europäischen Wochenende der Abstimmungen: »Das Ganze ist mehr als die Summe seiner
Teile«, lautet eine (verkürzte)
Hinterlassenschaft des Philosophen. Aber was heißt das in einer
EU, in der auf nationaler Ebene so
unterschiedliche, ja: politisch unvereinbare Dinge geschehen?
In Irland, wo vor einigen Jahren Homosexualität noch mit dem
Bann des Strafrechts belegt war,
befreit sich eine Gesellschaft per
Referendum von den Fesseln mittelalterlichen Denkens. In Polen,
nicht minder katholisch geprägt,
sind es wohl die Jüngeren, welche
sich bei der Wahl zwischen rechts
und rechter für Letzteres entscheiden – der Linksliberale Adam
Michnik spricht schon von einer
»Generationsrevolte«. Und wie
passt Spanien dazu, wo das Nein
zum Politsystem der Etablierten
sich in einem vielstimmigen Ja zu
linken Bündnissen und echter Demokratie Ausdruck verschaffte?
Nicht alles lässt sich mit der in
den vergangenen Jahren beobachteten Entwicklung des Europa
der Krise erklären, in dem der
Süden eher nach links und der
Nordwesten und Osten eher nach
rechts tendiert. Und überhaupt:
Wer will es sich denn erklären
lassen? Von einer wirklichen europäischen Öffentlichkeit ist diese
EU der nationalen Interessen weit
entfernt – im Zustand ihrer kapitalistischen Krise wohl weiter
denn je, verglichen mit den heutigen Möglichkeiten. Das ist nicht
das einzige Problem. Solange es
aber so bleibt, ist Europa nicht
einmal die Summe seiner einzelnen Teile. Sondern weniger.
Dublin. In Irland wird es künftig Eheschließungen für gleichgeschlechtliche Paare geben. Bei einem Referendum stimmten 62,1
Prozent der Wähler für die entsprechende
Verfassungsänderung, 37,9 Prozent sprachen sich dagegen aus. Zu den Gegnern hatte vor allem die katholische Kirche gehört. Irland ist damit das erste Land, das per Volksentscheid eine solche Öffnung der Ehe zulässt. Bisher stand dort homosexuellen Paaren nur die Möglichkeit einer eingetragenen
Lebenspartnerschaft offen.
Nach dem Votum der Iren wird auch in
der Bundesrepublik der Ruf nach einer ähnlichen Regelung laut. Grüne und Linkspartei
dringen dabei auf eine rasche Abstimmung
im Bundestag. »Wir werden einen Gesetzentwurf zur Öffnung der Ehe noch vor der
Sommerpause einbringen«, kündigte der innenpolitische Sprecher der Grünen, Volker
Beck, an. »Wir bieten allen Fraktionen an,
den Entwurf als Gruppenantrag einzubringen«, sagte der Oppositionspolitiker »Spiegel Online«. Auch die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Christine
Lüders, sprach sich für eine fraktionsübergreifende Initiative aus. »Das Recht auf Heirat für Lesben und Schwule ist ein Menschenrecht, das gehört nicht in die Parteipolitik«, erklärte sie.
Das Bundeskabinett will bereits am Mittwoch über einen Gesetzentwurf von Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) beraten,
mit dem eingetragene Lebenspartnerschaften rechtlich stärker an die Ehe herangeführt
werden sollen. Das kündigte ein Sprecher des
Ministeriums am Montag an. In vielen rechtlichen Bereichen werden homosexuelle Partner in Deutschland noch immer benachteiligt. Agenturen/nd
Seiten 6 und 8
UNTEN LINKS
Mit einem Reklamefilmchen beging der Coca-Cola-Konzern vor
kurzem das 75-jährige Jubiläum
der Entstehung seiner Limonade
»Fanta«, die einst im Deutschen
Reich als Ersatz für Cola-Limonade
entwickelt wurde. »Um das zu feiern, bringen wir das Gefühl der
guten alten Zeit zurück«, hieß es
freudig in dem Werbe-Clip. Bei so
viel Enthusiasmus ob der »guten
alten Zeit«, in der Leni Riefenstahl
und der Führer hie und da mit einem Glas erfrischender Fanta anstießen, während nebenan fleißig
lebensunwertes Leben getilgt
wurde, fragt man sich, ob das Unternehmen »Fanta«, wenn es
schon so nostalgisch an den Erinnerungen an das Jahr 1940 hängt,
nicht noch andere Gefühle aus der
guten alten goldenen »Fanta«-Zeit
zurückbringen möchte: das einst
erhebende Gefühl, den rechten
Arm nach oben schnellen zu lassen
etwa? Oder das prickelnde Gefühl,
mit einem Knüppel zuzuschlagen,
bis das Judenblut nur so spritzt?
Man weiß es nicht. Ein Fanta-Slogan lautet übrigens: »Spaß ist, was
ihr draus macht.« tbl
ISSN 0323-3375
Fotos: dpa/Michael Reichel
Berlin. Der SPD fehle es an Mumm, eine politische Alternative anzustreben, sagt Linksfraktionschef Gregor Gysi. An einem Tag höre
sich SPD-Chef Sigmar Gabriel an, »als wäre er
kurz davor, Widerstand gegen Angela Merkel
zu leisten. Und am nächsten Tag herrscht wieder eitel Koalitionsfrieden.«
Auch in der Haltung zum BND-NSA-Skandal scheint es in der SPD-Führung diverse Flügel zu geben. Zunächst preschte Gabriel mit der
Oppositionsforderung vor, die Regierung solle
Rückgrat zeigen und die NSA-Selektorenliste
herausgeben. Sie ist Grundlage der vom Bundesnachrichtendienst unterstützten elektronischen Spionageangriffe der USA auch gegen
Regierungen, Firmen und Politiker in der EU.
Dann zog Gabriel wieder den Schwanz ein, behauptete, mit der Äußerung nicht seine Vorgesetzte Angela Merkel gemeint zu haben – und
überließ fortan seiner Generalsekretärin die
Schienbeintritte gegen den Koalitionspartner.
Während die SPD-Vertreter im Untersuchungsausschuss koalitionstreu agieren, stellte
Yasmin Fahimi der Union und Merkel ein halb-
schwangeres Ultimatum. »Ich erwarte, dass das
Kanzleramt bis zur nächsten Sitzungswoche
endlich Klarheit darüber schafft, wie der Bundestag in geeigneter Art und Weise die Selektorenliste prüfen kann. Ein Aussitzen dieser Affäre wird es mit der SPD nicht geben.«
Aber vielleicht mit dem durch die EdathyAffäre angeschlagenen SPD-Fraktionschef
Thomas Oppermann. Er beschwichtigt: »Wir
können und wollen es uns nicht leisten, die
Zusammenarbeit mit den amerikanischen
Diensten zu kündigen.« nd
Seiten 2 und 3
Spanien erlebt »demokratische Revolution«
Bürgerkandidaten lösen nach Kommunal- und Regionalwahlen vielerorts Vertreter etablierter Parteien ab
Linke Basislisten sind die eigentlichen Gewinner der Wahlen
in Spanien, vor allem in den Großstädten. Beobachter sprechen von
einer neuen Ära – und einer demokratischen Revolution.
Von Ralf Streck, Madrid
»Ein Sieg von David gegen Goliath«, erklärte am Montag die Frau,
die nach Kommunal- und Regionalwahlen in Spanien im Mittelpunkt steht. Ada Colau gewann mit
der Bürgerkandidatur »Barcelona
en Comú« (Gemeinsam für Barcelona) in der katalanischen Metropole mit gut 25 Prozent. Das gelang der Aktivistin aus der Bewegung gegen Zwangsräumungen im
Bündnis mit der Empörten-Partei
»Podemos« (Wir können es) und
anderen linken Kräften.
Mit Blick auf andere Großstädte sagte Colau: »Das ist kein
Prozess allein in Barcelona, son-
dern eine demokratische Revolution in Barcelona, Katalonien, des
gesamten spanischen Staats und,
wenn wir es können, im gesamten Süden Europas.« Dieser Vorgang sei unaufhaltsam. Hoffnung
sei statt Resignation geschaffen
worden. »Wir haben uns wie
Ameisen organisiert und gezeigt,
dass es eine Alternative gibt.«
Abgelöst werden nationalistische Christdemokraten (CiU), die
auf knapp 23 Prozent kamen. Die
großen spanischen Parteien, die
erzkonservative Volkspartei (PP)
und die Sozialisten (PSOE), blieben hinter den rechten Ciudadanos (Bürger) und der linksnationalistischen
Republikanischen
Linken (ERC) zurück, die auf jeweils elf Prozent kamen. Sogar die
linksradikale CUP schob sich mit
gut sieben Prozent nahe an die
Sozialisten und die Volkspartei
heran, womit der Linksschwenk
noch deutlicher wird.
Von Podemos gestützte Kandidaturen waren auch in Santiago de Compostela und A Coruña
mit gut 30 Prozent siegreich. In
der PP-Hochburg Galicien wur-
»Wir haben uns
wie Ameisen
organisiert und
gezeigt, dass es eine
Alternative gibt.«
Ada Colau, Wahlsiegerin
den deren konservative Bürgermeister aus den Ämtern gespült.
Das tut ihnen so weh wie der Verlust der Macht in Valencia, die als
PP-Korruptionshochburg gilt.
In Saragossa, Cadiz und in
Madrid siegten die Bürgerkandidaturen zwar nicht, können aber
regieren. In der Hauptstadt erhielt
»Ahora Madrid« (Jetzt Madrid) 32
Prozent. Manuela Carmena kann
nach 24 Jahren konservativer
Herrschaft Bürgermeisterin werden, weil die PP auch mit Ciudadanos keine Mehrheit hätte.
Beim Auftritt mit Richterin Carmena erklärte Podemos-Generalsekretär Pablo Iglesias das »Ende
des Zweiparteiensystems«. Mit
Blick auf die Parlamentswahlen im
Herbst meinte er, »demokratische
Transformationen« in Spanien
würden stets durch »Motoren der
Großstädte« angetrieben.
Die PP wurde landesweit mit 27
Prozent meistgewählte Partei vor
der PSOE. Die könnte in Asturien
und Aragon mit Unterstützung einer starken Podemos regieren, die
auf etwa 19 und 21 Prozent
kommt. Ein Debakel erlebte die
Vereinte Linke (IU). Wo sie sich –
wie in Madrid – der Bürgerkandidatur verweigerte, flog sie oft
aus den Parlamenten.
Duda neuer
Präsident in Polen
Nationalkonservative Opposition
hofft nun auf Parlamentswahl
Warschau. Andrzej Duda hat die Präsidentschaftsstichwahl in Polen am Sonntag für sich
entschieden. Die Wahlkommission teilte am
Montag nach der Auszählung von 28 der 51
Wahlbezirke mit, Duda habe bisher 53,8 Prozent der Stimmen erhalten. Für den unterlegenen Amtsinhaber Bronislaw Komorowski
stimmten 46,2 Prozent der Wähler. Ähnlich
wie im ersten Wahlgang dominierte Duda in
den südlichen und östlichen Regionen und
auf dem Land, während die Wähler im Westen und Norden Polens sowie in den Städten
mehrheitlich Komorowski die Stimme gaben. Das offizielle Ergebnis wurde am späten
Montagabend erwartet.
Duda versprach noch am Wahlabend, er
wolle künftig der Präsident aller Polinnen und
Polen sein: »Die Türen des Präsidentenpalasts werden offen stehen.« Noch bis vor kurzem war der 43 Jahre alte Jurist den meisten
Menschen im Lande weitgehend unbekannt.
Er ist seit dem Vorjahr Mitglied des Europaparlaments und war zuvor unter anderem
Staatssekretär in der Amtszeit von Komorowskis Vorgänger Lech Kaczynski, der 2010
bei einem Flugzeugunglück in Smolensk ums
Leben kam.
Seine Wahl gilt auch als wichtiges Signal
für die anstehenden Parlamentswahlen, war
er doch Kandidat der nationalkonservativen
Oppositionspartei Recht und Gerechtigkeit
(PiS), die im Herbst auf einen Machtwechsel hofft. »Diejenigen, die für mich gestimmt haben, haben für den Wandel gestimmt«, sagte Duda, der voraussichtlich am
6. August als Staatsoberhaupt vereidigt werden soll. In konservativen polnischen Medien herrschte denn auch am Montag Jubelstimmung. »Eine neue Zeit für Polen«, titelte etwa die rechtskatholische Zeitung »Nasz
Dziennik«. Agenturen/nd
Seiten 4 und 7