Rundbrief 2014 - Laurentiuskonvent e.V.

Nach Hause kommen –
aufbrechen
Jahresbrief der Gruppe Laufdorf
des Laurentiuskonvents
Mit der Weihnachtsgeschichte erhalten die Leitworte für unseren diesjährigen Rundbrief Tiefe und Weite.
Die Ehre Gottes verbündet sich mit
der Friedensansage für die Menschen auf der Erde: Gott kommt nach
Hause - und Erde und Menschen
brechen auf.
Der Stall wird für das umher geschobene Paar zum Zuhause - notdürftig und
bergend. Hirten finden die Ankunft des Heilands - mitten im vertrauten Geruch des
Schutzraumes. Weise bergen, jenseits ihres bekannten Herrschaftsgefüges - die
Schätze ihres Lebens bei dem Kind in der Krippe: Bei ihm verwahren sie mit dem
Gold ihren Wert, mit Myrrhe ihren Trost, mit Weihrauch ihr Heil.
Wir in Laufdorf richten im Provisorischen ein Zuhause ein, finden in alltäglichen
Begegnungen Spuren Gottes und entdecken in ihnen tiefe und heilsame Weisheit.
Das Neugeborene wächst. Der Heiland nimmt Gestalt an - zusammen mit denen,
die hören, ankommen, anschauen, ruhen, umkehren, im Scheitern neu beginnen,
sich verwandeln lassen.
Die Hirten brechen auf in ihre Felder: Wie tragen wir Segen in unseren Alltag?
Die Weisen brechen auf und kommen auf einem anderen Weg in ihr Land: Wie
gehen wir in unserer Heimat weise um mit Reichtum, mit Trostworten, mit
Heilsversprechen?
Die Familie bricht auf – aus dem lebensbedrohlichem Land in den Schutz der
großen Exilgemeinde in Ägypten: Wie brechen wir auf aus gewohntem Rahmen,
damit eigenes und anderes Leben Zuflucht findet?
Unser Erfahrungen im Nach Hause kommen und unsere Fragen im Aufbrechen
möchten wir teilen:
Gabriele
„Aus welchem Land kommen Sie?“ höre ich manchmal von echten Hessen, denen
mein Schwäbisch fremdländisch vorkommt, obwohl ich seit 40 Jahren nicht mehr in
Memmingen lebe. Wenn Schwaben sich miteinander unterhalten verstehe ich
inzwischen genauso wenig wie bei den Nachbarschaftsgesprächen in Laufdorf. Die
Sprache verrät kaum, wo ein Zuhause ist.
Nach Hause komme ich mit einem Gang durch die Gärten: Bei meiner Mutter die
Blumenwiese im Frühling mit Schneeglöckchen und Märzenbechern, Lerchensporn
und Szylla - üppig wie in meiner Kindheit. Oder der ehemalige Gemüsegarten heute mit mehrjährigen Stauden und Unkraut bedeckt - und spätestens am zweiten
Tag fange ich an zu jäten. Nach Wochen der Abwesenheit aus Laufdorf, in denen
ich Kinderfreizeiten für die Lebenshilfe leite oder mit Stephan im Urlaub bin,
durchwandere ich - kaum angekommen - die Gärten, die wir bewirtschaften dürfen:
das Gewächshaus mit Tomaten, Gurken und Paprika, der Apfelhain, das Ackerland
nahe des Gemeinschaftshauses. Nach anstrengenden Arbeitstagen suche ich in
ihnen Erholung beim Umgraben und Pflanzen und komme an.
Bei Gesprächen um die Zukunft meines Elternhauses, in dem meine Mutter mit 88
Jahren seit 10 Monaten allein wohnt, ergreift mich Wehmut vor allem, wenn ich an
den Garten denke. Bin ich in Laufdorf, merke ich, dass ich hier gut angekommen
bin, und das liegt mit an den Gärten. Die Ernte ist so
reichhaltig, dass wir zum Teil an Nachbarn
verschenken können oder den Segen im Tausch
gegen Honig und Milch vermehren. So komme ich
auch im Dorf und bei den Menschen hier an.
Im Juni hatten wir Besuch von Mohamed Salah mit
seiner Familie. Er ist Leiter des "Christian
Peacemaker Team" im Norden Iraks. Seine Frau und
die Kinder kamen neugierig mit mir in die Gärten. Sie
genossen das Naschen und erzählten von ihren
großen Anbauflächen zu Hause. Bohnen wüchsen
dort, ganz verschiedene Sorten, und Mais und Obst.
Es sei ein kleines Paradies. Damals konnten sie sich nicht vorstellen, dass der
Krieg bis in ihr Gebiet dringen könnte. Ich fühle mich ihnen sehr verbunden, spüre
ich doch, dass wir die Kraftquelle Garten teilen und die Hoffnung auf Friede,
solange wir Wachstum bewundern können. Oft habe ich dieses Jahr an sie
gedacht.
Ein wenig wie die Weisen aus dem Morgenland hüten wir die von Nachbarn
anvertrauten Garten-Schätze und freuen uns, dank ihrer auf Gemüse und Eier von
Großkonzernen verzichten zu können. Mögen auch unsere Kinder und unser vor 11
Monaten geborener Enkel Simon diese Erde noch wert schätzen und genießen
können!
Stephans Vater sehnt sich nach einem erfüllten Leben inzwischen nach einer
anderen, endgültigen Bleibe im Schoße Gottes. Er ist auf den Rollstuhl
angewiesen, hat kaum mehr Kraft, die Handgriffe zu tun, die die helfenden Hände
ihm noch zutrauen, ist zunehmend verwirrt. Am dritten Advent haben wir ihn wohl
ein letztes mal nach Laufdorf geholt. Die bewegenden Begegnungen mit ihm in
seiner zunehmenden Schwachheit haben mich ihm näher gebracht und mir ein
Teilnehmen auch an Stephans Ursprungs-Zuhause ermöglicht.
Stephan
Das Leben mit Staub, das Klettern auf Gerüste und über Kisten hat endlich ein
Ende. Die Baustellen außen und innen in unseren Häusern der Ringstraße sind
bald abgeschlossen. Die Wohnungen sind größtenteils gedämmt, warm,
freundlicher und sogar teils barrierefrei. Mit großer Erleichterung habe ich die
Endabrechnung an den Lahn Dill Kreis und die Bank als Zuschussgeber und
Finanzierungspartner weiter gereicht.- Puh!
Ich denke zurück an meine ersten Erfahrungen
vor 5 Jahren, am Anfang unserer Zeit in
Laufdorf. Zusammen mit Wolfgang Heins half ich
mit, ein Gästeappartement in der Ringstr. 5
einzurichten. Menschen sollten hier für eine Zeit
Obdach, Ruhe finden vor dem, was im Alltag auf
sie einstürmte. Über dieTür hängten wir dieses
besondere Stoffbild:
Gabriele und ich haben es im Norden Syriens
von der Großmutter einer Bauernfamilie
erhalten. Sie hatten uns an einem kalten
Dezemberabend zu sich hereingebeten: Der Benzinofen bullerte, sie
teilten mit uns Fladenbrot, Kartxoffeln und Zwiebeln, getunkt in Ölivenöl. Wir
erzählten einander mit Photos, Händen und Füßen. Ich holte meine Flöte aus dem
Auto und spielte. 10 Jahre später: Ob unsere Gastgeber von damals noch leben?
Sind sie geflohen? Wohin?
Manchen Besuch hatten wir von Menschen aus dieser Region des mittleren
Ostens:
Mohamed Salah mit seiner Familie war im Sommer bei uns und berichtete von
seiner Arbeit als muslimisches Mitglied des Christian Peacemaker Teams (CPT) in
Erbil in Irak- Kurdistan.
Syrische Menschen, geflohen bis nach Wetzlar, erzählten ihre Geschichten, wir
entdeckten gemeinsame Bekannte, so den Abt Paolo aus dem Kloster Mar Musa,
der seit seinem Kontakt mit der IS im Sommer letzten Jahres nicht mehr
aufgetaucht ist. Zwei syrische Abende in Wetzlar ließen Flüchtlinge zu Gastgebern
mit reicher Kultur werden.
Marie-Noëlle und ich begrüßten die lokale Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen
(ACK) im November und erlebten den Pfarrer der syrischen orthodoxen Gemeinden
in Giessen mit seiner verzweifelten Bitte nach Schutzräumen für die Flüchtenden.
So haben wir gemeinsam beraten und beschlossen, die Familie Ibrahim bei uns
aufzunehmen: 6 Erwachsene, 2 Kleinkinder und ein Säugling, gerade in diesem
Jahr 2014 geboren. Sheikmus Ibrahim lebt schon seit einiger Zeit in Wetzlar. Seine
Familie aus dem Norden Syriens ist im letzten Monat vor den heranrückenden IS
Truppen in den Nordirak geflohen und versucht zurzeit vor den Toren Erbils zu
überleben. Mithilfe des Arbeitskreises Flüchtlinge, der Mitarbeiter des Ausländeramtes des Lahn Dill Kreises und des hessischen Ministeriums haben wir einige der
Türen geöffnet, dass sie mit Flüchtlingsvisa zu uns reisen können und in einigen
unserer Gastzimmer für einige Zeit Obdach finden. Wann sie in den nächsten
Wochen kommen? Wie es dann weiter geht- und wohin ihre Reise geht? Wir
werden sehen - und das Unsere tun. Für mich heißt es dann vielleicht Singen,
Flöten und gemeinsam Musizieren. Und: Auch weiterhin werden wir Menschen und
Gruppen bei uns aufnehmen für Tagungen und Sitzungen. Platz genug werden wir
schon finden.
Eine gute gemeinsame Zuversicht!
Davorka
Ich bin viel unterwegs – für die Arbeit bei Church and Peace, als Präsidentin vom
Internationalen Versöhnungsbund, für die Quäker und dann noch einfach private
Reisen. Nun wohnen wir seit zwei Jahren in Laufdorf und im Konvent – und nach
den Reisen komme ich jetzt wirklich nach Hause. Ich kenne die letzten Stationen
auf den möglichen Zugstrecken und freue mich, Bekanntes zu erkennen und zu
wissen: bald bin ich da. Im ersten Jahr war es befremdlich gewesen, „nach Hause“
zu fahren und nichts zu erkennen. Jetzt ist eine Routine entstanden, die mir gut tut.
Ich finde das Aufbrechen immer viel einfacher als das nach Hause Kommen. Im
besten Fall bringt man einem „Sack voll“ nach Hause – neue Erfahrungen,
Erkenntnisperlen, man durfte sich erproben und wachsen, neue Begegnungen,
neue Menschen kennen lernen … Im vertrauten Kreis kann man „auspacken“ und
vielleicht sogar einen Schatz entdecken und ihn teilen. Die wichtigen Facetten
entstehen oft erst im Mitteilen, weil dann das Erlebte in einen konkreten Kontext
gebracht wird. Erst der Kontext macht aus der Erfahrung etwas Erlebtes, aus dem
Verstehen und Verständnis wachsen kann.
So waren für mich in diesem Jahr die Reisen mit ihrem nach Hause kommen so
wichtig, um aus den vielen Eindrücken dann auch das „nach Hause“ kommen zu
machen, das in die Tiefe geht und verwandelt und verwandeln kann zu etwas
Neuem, das weiter wirken kann. Mich hat sehr berührt, dass für uns Quäker im
Konvent der spirituelle Raum geöffnet wurde für unsere spezifische Andachtsform
des gemeinsamen Wartens in der Stille und Anwesenheit Gottes. Wir üben uns nun
gemeinsam im Hören in der stillen Kapelle morgens, wenn dann im Zyklus der
Andachtsverantwortung Björn oder
ich an der Reihe sind. Aus dieser
Haltung des Hörens gehen wir in den
Alltag – Gott zu loben durch unseren
Alltag.
Johann David mit Björn
Wir haben unser Zuhause. Es fällt
leicht, Menschen aus Familie und
Gemeinschaft und auch noch
Fremde kommen und gehen zu
sehen, selbst kleine und größere
Kreise zu ziehen. Hamburg ist
inzwischen weit weg. Johann Davids
Leben hat eigentlich gerade einen Umkreis von etwa 6 km: vom
wetzlarer Weinberg bis zur Schule in Bonbaden. Ebenso selbstverständlich sind die
größeren Reisen von Mama und Papa, aber auch eigene Besuche bei der Familie in
Berlin, Tuttlingen und München.
Mit den Weinberg Rangern (Kindergruppe des Naturschutzbundes) ging es jetzt
durch das zweite Jahr, was persönlich, geographisch und zeitlich Vertrautheit
schafft. Eine große Besonderheit war der Besuch der Ranger bei uns in Laufdorf,
die damit anfangen konnten, auch das Umfeld ihres Schutzgebiets kennen zu
lernen. So konnten wir gemeinsam Gastgeber sein und auch zeigen, warum wir ein
fledermausfreundliches Haus haben.
Eine besondere Rolle spielen der Hühnerstall (Tür auf, Tür zu, Eier da, Eier weg –
und durch natürliche Abgänge inzwischen vier Hühner weniger als noch vor gut
zwei Jahren) und die vielen Tiergehege. Johann David ist Naturschützer und das
bedeutet in letzter Zeit vor allem Zootierpfleger. Ein weiterer Höhepunkt des Jahres
für Johann David war der Besuch mit Opa im Tierpark Hellabrunn, gut vorbereitet
durch zahlreiche Hellabrunn Tierfilme. Eingezäunt werden die Tiere auch weiterhin
auf unserem Küchenfußboden. Ein Fernglas und Schlüssel am Gürtel erlauben
Überblick und Zutritt. Meine Rolle als „Zoodirektor“ ist sein Angebot – Kümmerer
für Zootierpfleger ist sicher ein guter Inhalt.
Im abgelaufenen Jahr sind unsere Kreise also gefühlt kleiner geworden.
Geborgenheit zeigt sich zum Beispiel im gemütlichen Einschlafen und wieder
Aufwachen, in der Sicherheit, andere gern aufnehmen zu können. Und hoffentlich
auch in der Kraft für Neues im kommenden Jahr.
Ernst
Im September besuchten Marie-Noëlle und ich auf unserer Reise durch Serbien
und Bosnien unsere Freundin Amra Panzo. Sie sagt scherzhaft von sich selbst,
dass sie eine mennonitsche Muslima sei. Vor zwei Jahren hatten wir sie im
Rahmen vom Arbeitskreis Frieden und des Christlich-islamischen Arbeitskreises
eingeladen. Sie ist eine der treibenden Kräfte bei „Gläubige für den Frieden“. Durch
ihren Verein „Kleine Schritte“ (mali koratli) hat sie viel mit Religonslehrerinnen und
-lehrern gearbeitet zu konstruktivem Umgang mit Konflikten.
Neuerdings wird sie auch direkt zur Arbeit mit Schülerinnen und Schülern
eingeladen. Sie erzählte uns eine beglückende Geschichte von einem Mädchen in
einer Schulklasse.
Die Lehrerin hatte Amra vorgestellt und versucht, den Sinn ihres Kommens zu erklären, verfiel aber darüber ins Lamentieren, wie schlimm der Krieg und
seine Folgen seien - eine in Bosnien weit verbreitete Grundstimmung. Das Mädchen entgegnete:
„Frau Lehrerin, wir sind doch neue Kinder!
Verschonen Sie uns damit!“
„Wir sind doch neu!“ An dieser Geschichte
erlebe ich exemplarisch Aufbruchstimmung. Ob alt
oder „neu“, wir teilen die Hoffnung auf ein
fröhliches, solidarisches Europa. Im nächsten
Jahr plant Church and Peace - und unsere
Gemeinschaft ist ein Teil dieses Netzwerkes eine Internationale Tagung im Kosovo. Auch das
ist Aufbruch im Kommen.
Etwas, was mir wie ein Aufräumen im Zuhause der
eigenen Geschichte vorkam, war das Gedenken an die Kriegserklärung
Deutschlands vor 100 Jahren und den Verlauf des 1. Weltkrieges. Die Kirche war
an der Verführung in die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ maßgeblich mit
beteiligt. Marie-Noëlle, Stephan und ich haben uns auf der Basis des Arbeitskreises
Frieden in Gebeten, Andachten und Gottesdiensten öffentlich damit auseinander
gesetzt. Können und wollen die Christinnen und Christen aus den Ländern, die
1914 gegeneinander in den Krieg zogen, sagen: „Wir sind neu“? - Wir leben in
einem "neuen" Bund? Das Leitbild vom "gerechten Frieden" - vor 4 Jahren auf der
Synode Braunfels auf unser Betreiben hin beschlossen - ist doch längst noch nicht
in den Gemeinden angekommen. Dennoch, diese Erinnerungsarbeit hat auf uns
selbst reinigend gewirkt.
Wenn das eigene Haus gereinigt und sauber ist, dann fällt es leichter,
gastfreundlich zu sein. Die Nachrichten vom Flüchtlingselend rund um das
Mittelmeer und im Nahen und Mittleren Osten haben uns natürlich sehr beschäftigt.
Wie können wir unserer Hoffnung auf ein Ende von Gewalt und einer Konversion
von Schwertern zu Pflugscharen Ausdruck verleihen? Wir haben uns gemeinsam
darauf verständigt, unsere Gästezimmer für syrische Flüchtlinge zu öffnen und
wollen ihnen ein vorübergehendes Zuhause anbieten.
Marie-Noëlle
Von Laufdorf für eine Reise aufzubrechen wird dadurch erleichtert, dass
immer jemand bleibt, der nach dem
Rechten schaut. Nicht nur werden die
Hühner und die Gärten versorgt wenn
wir unterwegs sind, sondern die Heim
Gebliebenen essen weiterhin zu Mittag
zusammen und das Gebet findet jeden
Morgen in der Kapelle statt. Dadurch wird eine
Kontinuität der Präsenz der Gemeinschaft garantiert. Bis wir im Herbst wieder
einen gemeinsamen Rhythmus gefunden hatten, dauerte es allerdings dieses Jahr
besonders lange, denn viele waren nacheinander verreist, ob dienstlich oder privat.
Ich selbst war Juli, August und September mehrfach weg - mal in den Alpen mit
Ernst, mal für einen Einsatz als Dolmetscherin, mal für eine unvergessliche Reise
durch Serbien und Bosnien - und es plagte mich das schlechte Gewissen, gerade
in Stoßzeiten (für den Garten) nicht hier gewesen zu sein. Die Treuen, die die
Lücken gefüllt haben, beklagten sich keineswegs; trotzdem hoffe ich, dass wir
unsere Abwesenheiten nächstes Jahr besser koordinieren können.
Ich war insgesamt mehr zu Hause in diesem Jahr als in den Jahren zuvor. Meine
Arbeit bestand hauptsächlich aus Übersetzungen von Artikeln und Büchern ins
Französische und weniger aus Vorträgen und Predigten in Gemeinden oder
Veranstaltungen. Ein Gefühl der Einsamkeit schlich sich manchmal bei mir ein, so
wie die Feststellung: wie schnell gerät man in Vergessenheit, wenn man keine
"offizielle" Funktion mehr hat. Aber das Übersetzen von Erzählungen aus anderen
Ländern ist eine Möglichkeit, in Gedanken aufzubrechen und über das Leben der
Menschen in aller Welt zu lernen und zu reflektieren.
Auch erleben wir immer wieder, dass Menschen aus fernen Orten zu uns ins Haus
kommen und mit uns ihre Erfahrungen teilen. Unter den Vielen, die bei uns einige
Tagen blieben, behalte ich in intensiver Erinnerung den Besuch von Viola Raheb
und ihrem Mann Marwan Abado. Sie leben zur Zeit im Exil in Wien. Sie ließen uns
mit Leidenschaft und Kunst am Schicksal des palästinensischen Volks teilhaben.
Dann gab es Kyoko, eine couragierte 77 jährige Japanerin, die mit dem IFOR
Vorstand hier in Februar war. Sie berichtete über den Kampf der japanischen
Friedensbewegung um den Erhalt des 9. Artikels der Verfassung: darin hatte sich
das japanische Volk 1947 verpflichtet, nie eine Armee zu unterhalten und sich nie
an Kriegen zu beteiligen. Oder auch Jean-Pierre Massamba, ebenfalls
Vorstandsmitglied des Internationalen Versöhnungsbundes, der bei uns am
Frühstückstisch von dem mühsamen Wiederaufbau der Gesellschaft in Kongo
Brazaville, an dem der Versöhnungsbund und die Kirchen beteiligt sind, erzählte.
Und schließlich, im Juni, die Begegnungen mit Gästen aus Burkina Faso bei der
Feier des 40 jährigen Bestehens der Partnerschaft der hiesigen Kirchenkreise, für
die Silvia und ich dolmetschen.
Ein überraschender, kurzer aber sehr herzlicher Besuch von Remzije, unserer
kurdischen Freundin, die mit ihren
Geschwistern von 2002 bis 2004 vor ihrer
Rückkehr in die Türkei bei uns gelebt hatte,
muss noch erwähnt werden. Nach ihrem
Studium in der Türkei arbeitet sie nun in der
Biogas Branche und ist eine richtige
Geschäftsfrau geworden. Sie unterstützt
tatkräftig ihre Familie. Das Wiedersehen war
bewegend. Für uns und für sie. Im Laufe
des Besuches verschwand sie kurz nach
oben, um das Zimmer neben der Kapelle
noch einmal zu sehen, in dem sie mit Aysun
ihrer Schwester vor derer Festnahme durch
die Polizei gelebt hatte. Für sie war damals
der erzwungene Aufbruch eine Chance, in der Türkei die Schule
wiederaufzunehmen, weil sie sich hier als "Illegale" nicht weiter bilden konnte, wie
sie es wünschte. Aysun hingegen musste zuerst die Abschiebehaft erleben, dann
die traumatische Gerichtsverhandlung und das Ende des Traumes, einmal
Krankenschwester zu werden. Ob ihr die Türkei ein besseres Zuhause geworden
ist? Inzwischen ist sie verheiratet und hat ein Kind. Wir wissen durch Kina, die sie
besucht hat, dass es ihr körperlich wie psychisch nicht so gut geht.
Church and Peace ist in neue Räume umgezogen. Davor wurde ich gebeten, mich
um die vielen Dokumente zu kümmern, die nicht Teil des Umzugs sein konnten. Es
bedeutete, viele Ordner zu durchsuchen, Unwichtiges zu entsorgen, Wichtiges zu
behalten. Diese Aufgabe wurde mir zu einer Art Reise in die Vergangenheit. Ich
hatte besonders große Freude, als ich Texte von Wilfried Warneck und von anderen
Menschen, die Church and Peace geprägt haben, entdeckte: Schätze die ohne den
Umzug noch lange verborgen und ungeordnet geblieben wären.
Familiär ist bei uns vieles passiert in diesem Jahr, gerade in Sachen Aufbrechen
und nach Hause kommen: unsere älteste Tochter Josepha heiratete im Frühling
und zog im Sommer mit ihrem Mann Joel nach etlichen Jahren im Ruhrgebiet nach
Hessen zurück. Im Herbst kam ihr erstes Kind Johanna zur Welt. Wir sind voller
Bewunderung vor dem kleinen Menschen und freuen uns, dass die junge Familie
so nahe ist! Wir waren bei einer schönen Feier der evangelischen Hochschule für
Soziale Arbeit in Dresden, als Martha ihr Bachelor erhielt. Sie blieb in Laufdorf
einige Wochen, um ihrer Schwester nach der Geburt zu helfen und hat nun ihre
erste Stelle in einem deutschen Kindergarten in Madrid angetreten. Jacoba ist
ihrerseits für ein Semester mit dem Programm Erasmus in Rom und wird
voraussichtlich nach ihrem Bachelor-Abschluss Pierre-Etienne heiraten.
Theodor
Für mich haben nach Hause Kommen und Aufbrechen zunächst berufliche
Aspekte: der Wechsel zwischen den beruflichen Bezügen und dem privaten
Zuhause. Für die berufliche Seite hat sich Mitte diesen Jahres Entscheidendes
geändert: durch meine Beteiligung am Beratungsunternehmen its-people ERP
GmbH arbeite ich jetzt parallel für mehrere mittelständische Unternehmen und nicht
mehr überwiegend für eine international tätige Firma. Dies kann ich zumeist von
meinem Büro zu Hause aus tun. Aber auch von
hier kehre ich nach Hause zurück, wenn ich
mein Büro verlasse.
Seit Silvia sich aus dem Gruppenleben
weitgehend zurückgezogen hat, hat das Zuhause wiederum 2 Aspekte: Silvia und die
Gruppe. Ich nehme nun häufig am gemeinschaftlichen Mittagessen teil, manchmal aber
habe ich mit Silvia mittags ein tête-à-tête.
Fast jede Woche bin ich nun mit Kochen
dran. Zum Glück haben die Gruppengeschwister nichts dagegen, meist Blechkartoffeln, Kräuterquark, Salat und Kompott
(aus Gruppenherstellung) zu speisen. An den festen Abendterminen
und an der monatlichen Mahnwache zu Friedensthemen nehme ich weiterhin, wie
alle anderen Gruppenmitglieder, regelmäßig teil.
Seit wir uns nach den Zuzügen 2009 in der Gruppe auf die Beibehaltung der
Gebetsform geeinigt haben, die in Laufdorf schon viele Jahre praktiziert wurde,
nehme ich daran nicht mehr teil. Ich hatte mir im Lichte der Weiterentwicklung
meines persönlichen Gottesbildes eine offenere Form gewünscht. Seit dem Zuzug
von Davorka und Björn finden diese Morgengebete turnusgemäß auch als stille
Andachten nach Quäker Art statt. Dies ermöglicht mir nun wieder die Teilnahme
und damit eine Ausweitung des Zuhause in der Gruppe.
Silvia
Aufbrechen, Ankommen... Für mich brachte das Jahr entlang dieser Vokabel und
Inhalte einiges an Erfahrungen und vielleicht Erkenntnissen.
Zunächst, mir etwas vornehmen: nach dem weitgehend in Österreich bei unserer
Tochter Kina und ihrer Familie verbrachten letzten Jahr dachte ich, wieder hier
anzukommen, mit Tagesstruktur, mit Wochenstruktur. Dieser Vorsatz war mit einiger
Aufregung, wie ich es wohl hinbekommen würde und Vorfreude verbunden. Kaum
war er gefasst, kam die Nachricht, dass Kina an einem akuten Bandscheibenvorfall
operiert worden war. So hieß es wieder, meine Siebensachen zu packen, und
zurück nach Hallein zu fahren. Ich übernahm den Haushalt, das Tragen der noch
nicht laufenden Zwillinge und zusätzlich das Packen der vielen Kartons für den
bevorstehenden Umzug in ein benachbartes Dorf. Zwei Monate war ich im Einsatz,
freute mich an den Enkelkindern, der schönen
Landschaft, der guten
Luft, dem Nützlichsein. Aufbruch und
Ankommen dorthin. Theodor blieb wieder
einmal zurück.
Dann kam die Rückkehr ins hessische Dorf,
nach Hause. Seitdem versuche ich, mich hier
wieder zu verwurzeln. Ich bin froh, mich voll
auf die Dinge und Inhalte konzentrieren zu
können, die mir viel bedeuten: Aufstellungsarbeit, Training in gewaltfreier Kommunikation,
Übersetzungen, weitere Entdeckungsreisen in
den biblischen Schriften, ökumenische
Frauenarbeit in der Dorfgemeinde, Nachbarschaft, Singen, Musizieren, ins Gespräch
kommen, Verbindung halten zur großen
Verwandtschaft und zu unserem Freundes-kreis, Daniels Familie
um die Ecke unter-stützen und erleben.
Der Kontakt zur laufdorfer Gruppe ist sehr lose und ich empfinde ihn dennoch als
warmherzig. Sollten die syrischen Flüchtlinge kommendes Jahr Aufnahme in die
Gruppe finden, werde ich vielleicht wieder wie früher Deutschunterricht erteilen und
präsenter sein. Mal sehen.
Nach diesem Jahr schätze ich meine Möglichkeit besonders, verfügbar zu sein,
unter anderem als Großmutter (seit Ende Juli haben wir ein 5. Enkelkind, Claras
kleine Wonja in Dresden). Verfügbarkeit und Planung sind nicht unbedingt kompatibel. Also mache ich mich weiter bereit zu neuen Aufbrüchen und erneuten
Rückkehrphasen...
Christa
Das gravierendste Ereignis in diesem zu Ende gehendem Jahr war die Begleitung
meiner Mutter zum Sterben. So will ich mit einem Gedicht von Annette v.Droste
Hülshoff beginnen:
An meine Mutter
So gern hätt´ ich ein schönes Lied gemacht - von Deiner Liebe, Deiner treuen Weise,
Die Gabe, die für andre immer wacht, hätt´ich so gern geweckt zu Deinem Preise.
Doch wie ich auch gesonnen mehr und mehr, und wie ich auch die Reime mochte stellen,
Des Herzens Fluten wallten drüber her, zerstörten mir des Liedes zarte Wellen.
So nimm die einfach schlichte Gabe hin, von einfach ungeschmücktem Wort getragen
Und meine ganze Seele nimm darin; wo man am meisten fühlt, weiß man nicht viel zu
sagen.
Vor allen Dingen spiegelt sich im letzten Satz, wie es mir
ergangen ist. Meine Mutter hatte mit Vertreibung aus der
Heimat, im April 1946, mit Sorgen für ihr 3 jähriges Kind,
das ich damals war, und für die Schwiegermutter und mit
Sorge um ihren Mann, von dem sie nach Kriegsende
nichts mehr gehört hatte, und mit Sorge für den täglichen
Lebensunterhalt keine Ressourcen mehr für große
Gefühle. Das tägliche Leben musste bestanden werden.
Werktags von morgens bis abends beim Bauern auf dem
Feld für das täglich Brot arbeiten mit mir am Schürzenbändel (ich versuchte mit den Erwachsenen mitzuhalten
mit Garben legen, Kartoffeln oder Dickwurzeln
ausbuddeln, Heu wenden usw.) in einem Dorf im
nördlichen Hessen, weit weg vom Böhmerwald, der Stadt
Krummau, wo wir vorher gewohnt hatten.
Gott sei Dank kam mein Vater schon Oktober 1946 aus russischer Gefangenschaft
zurück. Dank der guten deutschen Bürokratie hat er uns auch wiedergefunden,
wusste er doch in Gefangenschaft nichts von unserer Vertreibung. Dann kamen
ziemlich schnell meine Schwester 1947, mein Bruder 1948 und 1950 noch ein
Bruder zur Welt - da blieb auch für mich nur übrig, auf die Geschwister
aufzupassen. Als mein Vater dann bei der Post in Frankfurt eine Anstellung bekam,
war er nur noch alle 4 Wochen für ein längeres Wochenende zu Hause, bis wir 2
Jahre später alle zusammen eine 3 ½ Zimmer Post-Wohnung beziehen konnten.
Hier kam dann 1955 mein jüngster Bruder zur Welt. Hier normalisierte sich das
Leben. Hier machte ich meinen Schulabschluss und meine Lehre.
Als wir Kinder alle versorgt waren und allmählich unser eigenes Leben lebten, starb
mein Vater. Von nun an lebte meine Mutter allein in der Wohnung - in der sie
bleiben konnte bis dieses Jahr im März. Meine Schwester kaufte ihr einmal
wöchentlich ein, mein Bruder Helmut wohnte in der Nähe, die Nichten Susanne und
Kathrin kamen immer mal vorbei, auch um die Kinder mal bei der Oma (Uroma)
abzugeben.
Als im Februar, nach einem Sturz in der Wohnung, und nach einem Krankenhausaufenthalt die Mutter versorgt werden musste, war ich, die einzige Ruheständlerin,
in der Lage, meiner Mutter beizustehen, so dass sie in ihrem Umfeld bleiben
konnte. Später kam eine Frau aus Polen, Ilona, die meine Tochter Sarah über eine
Vermittlung fand. Sie versorgte die Mutter so gut, dass ich ab und zu wieder in mein
Zuhause nach Laufdorf abreisen konnte. Leider hatte die Mutter vom Krankenhaus
einen dicken Dekubitus mit nach Hause gebracht. Der wurde zwar vom ambulanten
Pflegedienst täglich vorbildlich versorgt, aber die Schmerzen bei der Behandlung
vergällten meiner Mutter jeden Tag neu das Leben.
Der 93. Geburtstag, den wir Kinder, Enkel- und Urenkelkinder bei ihr feierten, war
für sie nur noch eine Last. Sie freute sich, dass wir alle da waren, blieb aber im
Bett. Eigentlich wollte sie nur noch sterben. Am 28. März hat Gott ihr Gebet erhört
und sie zu sich geholt.
Nach der Beerdigung am 7. April musste die Wohnung gekündigt werden und vor
allem geräumt. Da war die Endgültigkeit besiegelt. Diesen Treffpunkt in Frankfurt
gibt es nicht mehr. Aber wir Geschwister beschlossen, uns 2-3 mal im Jahr zu
einem Essen in einem Lokal in der Nähe zu treffen.
Dieses Ereignis ist das Eindrücklichste, dennoch geht das Leben weiter, auch in
den andern Bahnen, die gelegt waren,. Ich bin eingebunden im Alltag in Laufdorf in
unserer Gemeinschaft. Eingebunden auch in unseren Bemühungen mehr zur fairen
und gerechteren Lebensqualität der Arbeiter in den Herkunftsländern unserer
Luxusartikeln, wie Kakao, Kaffee, Tee usw. beizutragen. Jeden Donnerstag öffnen
wir im Rahmen unseres „fairen“ Bananenverkaufs die Schränke und Vorratslager
unserer Eine Welt Waren. Die Ev. Gemeinde stellt uns nach wie vor kostenlos die
Räumlichkeit zur Verfügung. Ein kleines Team wechselt sich ab beim Verkauf und
hilft bei Beratung und Planung der Aktivitäten im Jahreslauf. Es ist immer wieder
erfreulich zu erleben, dass die Menschen im Dorf uns sehen und wahrnehmen und
beim Kauf bereit sind, ihren Beitrag zu leisten.
Mal sehen, ob es im nächsten Jahr noch mehr darüber zu berichten gibt. In diesem
Sinne bin auch ich gespannt, was das Neue Jahr bringen wird und wünsche allen
Lesern ein gesegnetes Neu geboren werden durch das Geburtsfest Jesu
Christi.