SZ-Archiv: A59943432 - Der Süddeutsche Zeitung Wirtschaftsgipfel

Süddeutsche Zeitung
WIRTSCHAFT
Samstag, 18. April 2015
Samstagsessay
München Seite 24
von marc beise
und ulrich schäfer
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de
SAMSTAGSESSAY
Alles in die Wolke
Die globale Verteilung des Wissens: Warum es künftig nicht nur ein
Zentrum der digitalen Revolution gibt – sondern ganz viele. Und warum
viele Deutsche diese Vorstellung als bedrohlich empfinden könnten
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rüher, sagt Torsten Kolind, habe
es für ihn nur eines gegeben: das
Silicon Valley. Sonst nichts. Das
Tal der Erfinder hat auf ihn eine
magische Anziehungskraft ausgeübt. Deshalb ist der junge Däne von Europa nach Kalifornien gezogen, deshalb
hat er hier, im Keller einer ehemaligen
Fleischverpackungsfabrik unweit des Hafens von San Francisco, vor fünf Jahren
sein Unternehmen Younoodle gegründet.
Man muss, um Kolind zu besuchen, eine Treppe hinabsteigen und landet dann
in einem verwinkelten Backsteingewölbe.
Rennräder stehen im Flur, ums Eck auch
eine Tischtennisplatte. Weiter hinten, vor
den schweren Metallklappen, durch die
früher das verpackte Fleisch hinausgewuchtet wurde, hocken junge Menschen
an alten Schreibtischen. Das Mobiliar haben Kolind und seine Kompagnons auf
dem Sperrmüll besorgt. Bei Second-HandMöbelhändlern. Bei Freunden.
gende Neil Young, ist einer der Väter der
Cloud und einer der Paten des Valley.
Wenn in San Francisco die jährlichen ITOscars vergeben werden, die „Crunchies“,
sitzt Benioff natürlich in der ersten Reihe.
In Washington hat er Präsident Obamas
wichtigsten IT-Berater Vivek Kundra abgeworben hat, der den Titel des ersten CTO,
eines Chief Technology Officers, der USRegierung trug, also eine Art Digital-Minister war. Kundra sitzt heute im SalesforceTower und schwärmt von den Möglichkeiten der Cloud und von der visionären Kraft
seines Bosses Benioff.
Die Cloud ist eine bequeme Sache, und
auch eine praktische. Wer einmal sein
iPhone kaputtgemacht und all die schönen Erinnerungen im Postfach und dem
Foto-Ordner verloren hat, erinnert sich
mit Schmerzen daran, dass ihm die Firma
Apple beizeiten angeboten hatte, die Daten auf „iCloud“ zu speichern: Dann wären
sie nämlich jetzt noch da.
Der Vorteil der neuen Technik auch in
der Geschäftswelt ist unmittelbar einsichtig. Die Cloud sprengt alle Grenzen, bietet
alle Möglichkeiten – vor allem für neue Unternehmen. Wenn man sich keinen teuren
Server mehr kaufen muss, ihn nicht mehr
ständig warten und sich nicht ständig
neue Software kaufen muss, sondern all
dies nun mieten kann: die besten Rechner,
die neuesten Programme – dann erleichtert dies den Einstieg ins digitale Geschäft.
Und man bleibt flexibel.
Von all dem profitieren nicht bloß die
großen Cloud-Firmen, sondern auch immer mehr Start-ups, die ihre Miet-Software über die Cloud anbieten, einfach abrufbar übers Internet. „Software as a Service“ heißt dieses schnell wachsende Geschäft. Software zum gelegentlichen Ausleihen gegen Gebühr statt zum Kauf für immer. Die Unternehmen teilen sich Software, so wie sich Verbraucher Wohnungen
oder das Auto teilen.
Wie das Internet der Dinge
unser Leben verändert
Der Kuchen ist verteilt – so war,
so ist es zu lesen. Das ist, gelinde
gesagt, ein ziemlicher Quatsch
ILLUSTRATION: STEFAN DIMITROV
Heute gibt es für Kolind nicht mehr nur
das Valley, nicht nur diesen einen Ort, an
dem man sein muss, wenn man ein erfolgreiches Technologieunternehmen gründen will. Kaum einer kann das so gut nachvollziehen wie er, denn Younoodle sammelt Daten von Zehntausenden Start-ups.
Wenn Konzerne wissen wollen, wo auf der
Welt ein Gründer gerade dies entwickelt
oder jenes kann: Kolind hat die Antwort in
seinen Rechnern. Er versteht sich als einer, der Kontakte vermittelt.
Im Auftrag von Unternehmen oder Finanziers richtet Younoodle Start-up-Wettbewerbe aus: Gründer können, wie es im
Slang der Szene heißt, „pitchen“ – und werden, wenn sie sich, ihre Idee und ihr Geschäft gut genug präsentiert haben, mit einem Preis bedacht, mit etwas Ruhm und
Ehre, was für den späteren Erfolg entscheidend sein kann.
Die Welt in Kolinds Computern: Sie hat
sich verändert. Das Silicon Valley, klar, ist
noch immer der heißeste Ort der InternetIndustrie. Aber er ist nicht mehr der einzige. Rund um den Globus reifen immer
mehr „hot spots“ heran, immer mehr Metropolen oder Regionen. In London oder
Los Angeles gibt es nicht bloß viele Gründer, sondern auch erstaunlich viele Finanziers, die ihr Geld bereitwillig in Start-ups
stecken. Oder Moskau. Rio. Shanghai. Helsinki. Tel Aviv. Na klar, auch Berlin gilt als
„hot spot“. Und selbst in München tut sich
viel. Und sonst? Wenn man gute Leute
sucht, nicht bloß Finanziers, die Millionen
bereitstellen, sind auch Städte wie Bangalore oder Delhi interessant.
Die Kräfte verschieben sich also. Andere Weltregionen drängen nach vorne. Der
Wohlstand, den die Digitalisierung bringen kann, und die wirtschaftliche Dynamik, die sie auslöst, wird breiter verteilt:
auf mehr Länder, mehr Metropolen. Und
das ist gut so.
Der alleinige Fokus auf das Silicon Valley war in den vergangenen Jahren geradezu manisch. Nur dort würden die großen
Ideen entwickelt, nur dort werde die Zukunft erfunden. Das Valley sei uneinholbar voraus. Google, Amazon, Twitter, Facebook – enteilt. Davon. Der Kuchen ist verteilt. So war, so ist es immer noch zu lesen,
und das ist, gelinde gesagt, ein ziemlicher
Quatsch.
Man gelangt zu dieser Das-Valley-ist alles-Position schnell, wenn man allein auf
die Geschäfte schaut, die sich in erster Linie an Verbraucher wenden – und außer
Acht lässt, dass das Internet der Dinge gerade dabei ist, eine Branche nach der anderen umzukrempeln, bis tief in die Industrie hinein. Die komplette vernetzte Fabrik etwa, mit Maschinen und Bauteilen,
die fortwährend miteinander kommunizie-
Das Silicon Valley: Die Fokussierung auf das Tal der Erfinder ist manisch
Die Cloud: Sie macht es so leicht wie noch nie, Firmen zu gründen
Die Mini-Valleys: Rund um den Globus reifen immer mehr „hot spots“ heran
ren, die dank kluger Programme und Prozesse von selbst wissen, was zu tun ist, bietet gerade für deutsche Unternehmen viele Chancen: für Maschinen- und Anlagenbauer, aber auch für Start-ups, die helfen,
die Abläufe zu optimieren.
Vor allem aber hat sich in den vergangenen Jahren das gesamte Umfeld für Startups verändert: Die technischen Hürden,
um ein Unternehmen zu gründen, sind
niedriger als jemals zuvor. Und das hat vor
allem mit dem Silicon Valley selbst zu tun,
mit seinem eigenen Erfolg, der nun auch
anderswo in der Welt Erfolge ermöglicht.
Das immer schnellere Internet dringt in
immer entlegenere Winkel der Erde vor –
per Kabel, aber auch per Mobilfunk, demnächst mit Ballonen, Drohnen oder Satelliten, die um die Erde kreisen und ein SkyFi schaffen, ein Internet am Himmel. Dazu
kommt als weitere entscheidende Neue-
rung etwas, was die Kenner die Cloud nennen. Noch vor zwei, drei Jahren führten
nur die Eingeweihten das Wort im Mund,
heute sollte besser jeder Bescheid wissen,
der im und mit dem Internet leben will.
Die Cloud, die Wolke, das heißt: Irgendwo da draußen stehen gewaltige Server,
riesige Computer, zu denen man seine eigenen Daten schicken, von denen man Daten aber ebenso beziehen kann. Dieser Datenhaufen ist auch ein enormes Geschäft.
Einige Großanbieter orchestrieren ihn mit
ihren Netzwerken von Rechnern.
Einer der Stars unter diesen Anbietern
ist die Firma Salesforce. Das Unternehmen residiert in einem Wolkenkratzer im
Herzen des Finanzviertels von San Francisco. Aber das ist auch schon wieder fast Vergangenheit. Der Konzern baut gleich nebenan das höchste Haus der Stadt. Gegründet im Jahr 1999 vom ehemaligen Oracle-
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Manager Marc Benioff, macht Salesforce
heute einen Jahresumsatz von vier Milliarden Dollar. Der deutsche Softwarekonzern
SAP, der auch auf die Cloud setzt, steht bei
16 Milliarden Euro und ist damit nur
scheinbar auf der sicheren Seite. Denn Salesforce ist eines der am schnellsten wachsenden Unternehmen weltweit.
Die revolutionäre Idee von SAP im Jahr
1972 waren Programme, die Lohnabrechnung und Buchhaltung per Großrechner
ermöglichten. Statt die Daten mechanisch
auf Lochkarten zu speichern, wie bei ihrem Ex-Arbeitgeber IBM, perfektionierten die vier SAP-Gründer die Eingabe am
Bildschirm. Die revolutionäre Idee des
Marc Benioff beinahe drei Jahrzehnte später war es, Unternehmensanwendungen
über das Internet bereitzustellen.
Benioff, der bullige Turnschuhunternehmer mit Bart, befreundet mit Rock-Le-
Es drängen auch immer mehr deutsche
Unternehmen in dieses Geschäft, Taulia etwa, gegründet – wie SAP – von vier Deutschen. Das Unternehmen vermietet eine
Software, die Firmen dabei hilft, ausstehende Beträge schneller einzutreiben und
ihre Barreserven besser zu managen. CocaCola oder Pfizer zählen zu den Kunden. Bisher ist Taulia vor allem in San Francisco zu
Hause. Dort seien sie vor fünf, sechs Jahren leichter an Geld gekommen, sagt Markus Ament, einer der Gründer. Nun aber
gehen sie stärker aus dem Valley raus: Asien, Europa, Deutschland. Denn da sitzen
viele mögliche Kunden, Industrie- und
Handelskonzerne.
Die Cloud eröffnet also weltweit Chancen, im Großen und im Kleinen. Das sieht
man auch, wenn man einen der DemoDays im Silicon Valley besucht, etwa jenen
des Inkubators „500 Start-ups“ in Mountain View, wo Gründer um die Gunst der Investoren buhlen. Die Investoren sind allesamt Amerikaner, das große Geld für riskante Investments sitzt eben immer noch
vor allem hier. Aber die Gründer, sie kommen immer seltener aus den USA, sondern
aus Israel, Brasilien oder der Türkei. Sie
kommen für ein paar Monate ins Valley,
wollen lernen, Geld einsammeln – und gehen dann wieder heim.
Aber die Cloud hat auch ihre dunkle Seite, die man im sonnigen Kalifornien eher
übersieht, die dafür den schwermütigen
Deutschen umso bedrohlicher erscheint:
Nach all den Enthüllungen über den Zugriff der Geheimdienste, vor allem des
amerikanischen NSA, auf die Datenleitungen und Internet-Knoten kann man trefflich bezweifeln, dass die Daten auf fremden Rechnern sicher sind. Ob sie allerdings auf dem heimischen PC wirklich besser geschützt sind als in der Cloud, wenn
man die heimischen Festungsmauern verlässt und auf Reisen durchs Netz geht, ist
noch mal so eine Frage. Hundertprozentige Sicherheit gibt es jedenfalls nicht.
Wie immer man diesen Konflikt für
sich persönlich entscheidet, es ist wie mit
so vielen Neuerungen: Man kann argwöhnen und zetern und schimpfen – aber der
Zug ist nicht aufzuhalten. Die Cloud verändert den Prozess von Innovation und
schöpferischer Zerstörung. Sie schafft
Möglichkeiten, die jenseits des Silicon Valley liegen. Nicht nur in Kalifornien.
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uschaefer