Diplomansprache HFGZ Luzern, 17. April 2015 Franz Hochstrasser1 Liebe Diplomierte, liebe Dozierende, liebe Verwandte und Zugewandte, liebe Leute Gerne richte ich einige Worte an Sie, die Sie nun bald Ihr Diplom erhalten werden. Ich bin erstaunt, oder besser, geradezu ergriffen, mit welcher Energie, mit welchem Fleiss und Durchhaltevermögen Sie und viele andere junge Menschen sich ausbilden. Dafür gebührt Ihnen zuerst ein grosser Dank, denn Sie erweisen sich nicht nur den einzelnen PatientInnen, sondern der ganzen Gesellschaft gegenüber als verantwortungsvoll. Und natürlich gebührt Ihnen auch eine vehemente Gratulation: Ihnen gratuliere ich sehr herzlich zu Ihrem Erfolg, der Sie stark macht für Ihre zukünftigen Aufgaben. Ich freue mich, dass ich heute zu Ihnen sprechen darf. Herrn Direktor Meyer danke ich für die Einladung. Und mich freut, dass Sie Ihren Ausbildungsabschluss zusammen feiern. Nun zu meinem Referat. Ich möchte untersuchen, wie der alltägliche Konsum auch im Pflegebereich zu beobachten ist. Nein, ich denke nicht an Ihre Pausenkaffees, auch nicht an den anschliessenden Apéro, auf den ich mich freue. Vielmehr geht es mir um den stetig wachsenden Konsum, der das Denken, das Fühlen und das Handeln der Menschen prägt, der Menschen, die in einer auf Wachstum angelegten kapitalistischen Welt leben. 1 Franz Hochstrasser, ehem. Direktor der Fachhochschule für Soziale Arbeit Basel, langjähriger Projektarbeiter in Osteuropa im Auftrag der DEZA, publizistisch tätig zur Thematik des Konsums. Seine letzte Veröffentlichung: „Konsumismus. Kritik und Perspektiven“, oekom Verlag München 2 Dabei möchte ich zwei Themen ausloten, antippen – mehr kann es hier nicht sein –, in denen Sie beruflich mit Konsum in Kontakt treten. Lassen Sie uns also zusammen auf durchaus ungewohntem Weg nachdenken und vielleicht etwas nachdenklich werden. Das erste Thema ist das Alter, das immer länger wird und den Tod immer weiter hinausverschiebt. Ich habe es gewählt, weil Sie als Junge viel und wohl immer mehr mit alten Menschen zu tun haben werden. Im zweiten Thema möchte ich den Umgang von PatientInnen mit den Konsumangeboten und den Konsum-Zumutungen der Gesundheitsbranche beleuchten. Auch von dieser Thematik sind Sie in der Praxis betroffen. Alter Zum Altern und damit auch zum Sterben. Neulich sagte ein Mensch aus der Politik: „Heute dürfen wir ein hohes Alter erreichen.“ So sprechen auch viele andere. Es ist tatsächlich schön und bewundernswert, dass Hans Erni bis zu seinem kürzlichen Tod mit 106 Jahren gemalt und Dinge geschaffen hat, an denen sich andere erfreuen. Dann auch ein anderes, persönliches Beispiel: Meine Mutter ist 95 Jahre alt. Sie ist physisch gesund, doch hoch dement geworden, bleibt dabei jedoch fröhlich, fröhlicher gar als früher; wir erleben oft sehr Lustiges miteinander. Dennoch kommt mir die Demenz auch vor wie ein teilweises, vorgezogenes Austreten aus der Realwelt. Oder auch als eine Art Verkürzung eines zu lang gewordenen Lebens, indem demente Personen sehr stark in der Erinnerung, in den Zeiten ihrer Jugend leben. Im Dialekt sprach man früher ja durchaus präzise von der „zweiten 3 Kindheit“, was dann auch eine zweite Abhängigkeit, unter anderem von Pflegepersonen, zur Folge hat. Hohes Alter, wie wir es inzwischen kennen, ist geschichtlich ein junges Phänomen. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei uns sehr hoch. Sie ist u.a. bedingt durch die gute Qualität der Hygiene, durch körperlich weniger belastende Arbeiten, durch den angestiegenen materiellen Wohlstand und nicht zuletzt durch die erweiterten Möglichkeiten der Medizin. Das sind wichtige Errungenschaften und schöne Bedingungen fürs Leben. Doch sie sind kaum nur aus der liebevollen Sorge um die älteren und alten Menschen entstanden. Die Verlängerung des Lebens ist vielmehr auch einem mächtigen wirtschaftlichen Streben geschuldet. Zahlreiche Wirtschaftsunternehmen werben um die alten Menschen und haben ein manifestes Interesse an ihrem langen Leben. Sie, die alten Menschen, bilden ein neues und wachsendes Marktsegment. Sie sollen mehr und neue Produkte konsumieren. Wenn ich die Zeitung lese, finde ich leicht die entsprechenden Konsumwarenanbieter. Es sind dies die Tourismusbranche, der Eigentumswohnungsmarkt, inzwischen auch die Modemacher, dann die Ernährungsindustrie, die medizinische Apparateindustrie und massgeblich auch die chemische Industrie, ohne deren Produkte die langen Lebensdauern oft nicht möglich wären. So ist der immer spätere Tod der Menschen auch ein Ausfluss der wirtschaftlichen Wachstumslogik. Und so geht es auch darum, die alten Leute zum Konsum, zum gesteigerten Konsum zu motivieren. In den Werbeabteilungen wird an den Bedürfnissen der Menschen gearbeitet. Sie werden in einer Weise geformt, moduliert, dass die Menschen den 4 Wunsch nach eben jenen Produkten entwickeln, welche die genannten Anbieter auf den Markt bringen. Wenn ich eine Brücke von der Wirtschaft zur Ethik schlage, muss die folgende Frage erlaubt sein: Ist es legitim, den Tod immer weiter hinauszuschieben, um sich die Menschen als Konsumierende zu erhalten? Ich sage nein. Der Hintergrund meines Neins ist einfach und eigentlich auch der alltäglichen Wahrnehmung zugänglich. Frau Heike Bischoff-Ferrari, Professorin für Prävention chronischer Erkrankungen im Alter an der Uni Zürich sagt es in einem Interview von neulich so: „Wir sind eine alternde Spezies. Es gibt einen Punkt, an dem die Biologie versagt.“ 2 Die erwähnten Bedürfnismodulierer und Konsumwarenanbieter bewegen sich, wenn sie das menschliche Leben über seine biologischen Grenzen hinaus verlängern wollen, in einem ethisch überaus heiklen Bereich. Denn auch hier gilt die Parole der „Grenzen des Wachstums“. Es gäbe noch viele zusätzliche Fragen zu diskutieren, und wir würden vielleicht nicht alle einig werden. Immerhin bin ich mir fast sicher, dass Ihnen in Ihrer Ausbildung solche oder ähnliche Gedanken auch schon im Kopf lagen. Im Übrigen, das möchte ich anfügen, gibt es – auch unter den Menschen, die ihr drittes oder viertes Alter bei guter Gesundheit geniessen können – immer mehr Leute, die eine in ihren Augen unerwünschte Lebensverlängerung ausschliessen und sich dagegen vertraglich mittels Verfügungen absichern. 2 Bischoff-Ferrari, Heike (2015): Ich will eine wilde Alte werden. In: Neue Zürcher Zeitung, 24. März, 15 5 Anspruchsvolle PatientInnen in der Klinik Nun zu meinem zweiten Thema. Ihre berufliche Praxis verändert sich auch dadurch, dass viele PatientInnen heute andere Anforderungen an die Betreuung stellen als früher. Im Alltag beobachten Sie sicherlich unterschiedlichste Typen von PatientInnen. Mit meiner konsumkritischen Brille möchte ich drei davon herausheben. Ich will diese Typen messen am Wunschmodell, das zuweilen formuliert wird. Es sieht so aus, dass der Patient oder die Patientin sich nicht einfach ins Klinikbett legen und die pflegerischen und ärztlichen Dienstleistungen konsumieren soll. Vielmehr fordert das Wunschmodell, dass sie sich an den heilenden Aktivitäten selbst beteiligen und sie so empowered zu KoproduzentInnen ihrer Genesung werden. Dies ist also ein Appell, sich auch im Krankheitsfalle so autonom wie möglich in die Situation einzubringen. Die PatientInnen des ersten Typs nun stehen dem Wunschmodell entgegen. Sie sind der Medizin, auch den medizinischen Autoritäten fast hörig. Im Kern handelt es sich um Menschen, deren Bedürfnisse so moduliert sind, dass sie verhältnismässig unkritisch alle klinischen Massnahmen über sich ergehen lassen bzw. die entsprechenden Produkte konsumieren. Die Leute des zweiten Typs studieren das Internet, sie reden mit Nachbarn oder Bekannten, die auch schon in der Klinik weilten, oder sie lesen Ratgeberliteratur. Sie sind also medizinisch um einiges besser informiert als Patienten in früheren Zeiten. Dementsprechend äussern 6 sie Vorschläge, diskutieren sie mit Ihnen und den Ärztinnen, und sie beanspruchen, Entscheidungen selber zu treffen. Das ist eigentlich der autonome, selbstbewusste Idealtyp. Dieser möchte mit den Fachleuten auf gut informiertem Niveau kooperieren. Auch der dritte Typ scheint in bestimmter Hinsicht dem Wunschmodell des autonomen Patienten zu entsprechen. Doch steht hier nicht Kooperationsbereitschaft und Selbstverantwortung im Vordergrund. Vielmehr formulieren PatientInnen dieses Typs individuelle, manche sagen egoistische Ansprüche, und sie tragen sie zuweilen durchaus vehement vor. Entsprechende Klagen kann man oft hören: die heutigen PatientInnen seien sehr anspruchsvoll, zum Teil im Übermass anspruchsvoll, heisst es etwa. Die klagenden Krankenkassen und Gesundheitspolitiker lassen dabei ausseracht, dass die Anspruchshaltung auch aus modulierten Bedürfnissen heraus entstehen kann. Gewohnt, gegen Cash auch Leistung zu erhalten, leitet dieser Patiententypus aus seinen Prämienund Steuerzahlungen die unbegrenzte Forderung nach Gesundheitsdiensten ab. Solches haben Sie bestimmt schon während Ihrer Ausbildung erlebt, und das Phänomen sorgt nebst der Klinik auch im Sozialbereich oder in den Gemeindekanzleien für Irritation. Wenn beim Typ drei durchaus auch unangenehme Verhaltensweisen auftreten mögen, möchte ich dennoch uns kritisch befragen: Könnte man die überbordende Anspruchshaltung auch anders sehen? Viele Leute erleben das Spital subjektiv als Gesundheitsfabrik mit einem grossen 7 Verwaltungsanteil, den ja auch Sie beklagen. Zuweilen spüren die Leute ein Stück Bevormundung, wenn sie Prozeduren oder Erklärungen nicht verstehen. Auf solche Gemütslagen könnte die Anspruchshaltung ein Reflex sein, also eine Art von Selbstermächtigung, vielleicht auch von Widerstand, sogar Widerstand dagegen, den eigenen, jedoch fremdbestimmten Bedürfnissen ausgeliefert zu sein. In diesem Sinn nähme die Anspruchshaltung den Charakter von Resilienz an und offenbarte damit auch eine gesunde Reaktion. Man könnte diese begrüssen als Basis einer künftigen Koproduktion, also der aktiven Beteiligung am Heilungsprozess. Schlusswort Ich komme zum Schluss. Warum ich all dies berichtete: Wir wissen inzwischen, dass auch der Konsum ein Schlüssel sein muss, wenn wir die ganze Welt oder auch unser eigenes Leben in Richtung sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit verändern wollen. Und so habe ich zwei Themen ausgewählt, die man nicht zum Vornherein mit Konsum in Verbindung sieht. Wir kennen aus Erfahrung die schönen Seiten des Konsums, wissen aber auch um seine schädlichen, teils destruktiven Seiten. Diese müssen wir angehen, wenn wir uns für ein wirklich gutes Leben einsetzen wollen. Sie tun das in spezifischer Weise schon von Berufs wegen. Ihre Pflege beinhaltet die Sorge um andere, kranke Menschen. Sie sind damit in hohem Masse auch sozial tätig. Vorausschauend möchte ich Ihnen nochmals danken, dass Sie diesen Weg gewählt haben und ihn weiter gehen werden. 8 Jetzt freue ich mich auf Ihre freudigen Blicke, wenn Sie nun Ihre Diplome erhalten. Und ich wünsche Ihnen Ausdauer, Kraft und Befriedigung in ihrem Beruf, und auch – das ist sehr wichtig – ausserhalb davon.
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