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Martin Ziegelmüller zur Ausstellung im Kunstkeller Bern vom 25. 4. – 24. 5. 15
Die Entstehung dieser Ausstellung ist turbulent. Völlig überraschend hat mich im
November 2013 eine Ideenflut überschwemmt. Innert Tagen hat sich der
Radierungszyklus „Teilchenbeschleuniger“ entwickelt. Alle meine anderen Pläne
gerieten ins Hintertreffen. Ich spürte gleich, dass der „Teilchenbeschleuniger“ für
längere Zeit im Zentrum meines Schaffens stehen würde. Darum versuchte ich
gleich zu Beginn Klarheit darüber zu bekommen, was da aufbrach. Offenbar ging
es um Fragen der Wahrnehmung und darum, dass sich unser Wissen immer
weiter von dem entfernt, was wir sehen. Wenn für unsere Grossväter ein Stein
noch kompakt, hart und schwer gewesen war, so hat der hinterste Depp unserer
Generation schon etwas von Atomen gehört, die rasend schnell herumwirbeln.
Und dass eigentlich der Stein nichts Kompaktes sei, sondern fast nur aus
Zwischenräumen bestehe. Aber das kann man eben nicht sehen, das wurde von
Wissenschaftlern theoretisch erkannt. Dass wir jetzt mehr zu wissen scheinen, als
wir sehen können, hat uns in eine Wahrnehmungskrise hineinschlittern lassen.
Innerhalb weniger Generationen sind unsere Weltvorstelllungen
wissenschaftlichen Einsichten zum Opfer gefallen. Immer kleinere Materieteilchen
wurden entdeckt, die wir nicht sehen konnten.
Das Unsichtbare wurde für uns immer weniger vorstellbar. In der zweiten Woche
meines Ideenschubs vom November 13, als mir die Unsichtbarkeit von Atomen,
Protonen, Neutronen und jetzt auch noch Quarks das Hirn zu erweichen drohte,
leuchtete mir plötzlich der Rettungsanker auf. Das Licht! Zwar wusste ich, dass
das Licht physikalisch als Welle erklärt wurde, aber Welle hin oder her, Licht sah
man. Und so wurde mir innert Stunden das Licht zum Katalysator, der mir die
sichtbare Welt zurückbrachte. Erst Wochen später stellte ich fest, dass ich mich
am selben Rettungsring festhielt, an den sich die Menschheit seit Jahrtausenden
klammert.
Im gleissend hellen Sonnenlicht haben Religionsstifter ihren Gott zu sehen
geglaubt, wiewohl sie eigentlich nichts mehr sahen als flimmernde Punkte. Ihr
Eingeständnis, dass sie alles nicht so genau erkannten, war die Bezeichnung der
himmlischen Heerscharen. In sie konnte vieles verpackt werden, was vielleicht
nicht ganz göttlichen Ursprungs war.
Im Norden angesiedelte Gottessucher bevorzugten das Aufleuchten von Blitzen
für ihre Erkenntnisse. Doch das Aufscheinen der Blitze ist kurz und zudem
flackernd, was zweifelsfreies Erkennen erschwert.
Auch die Sichten, die an nebligen Tagen in der Dämmerung oder bei Mondschein
gemacht wurden, blieben zweideutig. Aber weil wir Menschen das Bedürfnis
haben, die Welt in der wir leben, zu verstehen, glauben wir, unserem Sehen
nachhelfen zu müssen. Ich denke, diese jahrtausendalte Tradition des
Nachhelfens habe uns in die schwierige Situation gebracht, aus der wir heute
Auswege suchen.
Ich war so richtig im Wahrnehmungsschlamassel von Sehen und Wissen drin, als
mir das Fotobuch „Menschen im Cern“ von Andi Pol in die Hände kam. Die
abgebildeten drastischen Anlagen und das Kabelwirrwarr liessen mich sofort
erkennen, dass ich auf Bildmaterial gestossen war, mit dem die verrückteste
Verrücktheit plausibel gemacht werden konnte. Und vor allem konnte ich damit
sichtbar machen, was uns die Physiker bloss denkbar zu machen versuchten.
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In solchen Momenten bricht bei mir der Humor durch und produziert die
unerwartetsten Bildzusammenhänge und formuliert die tollkühnsten
Glaubensbilder, denen er gleich die Gegenbilder hinstellt.
Wenn auch die Überschwemmung vom November 13 unerwartet und mit
katastrophaler Heftigkeit eintraf, so ist sie doch nichts Ausserordentliches. Immer
wieder habe ich im Laufe der Jahrzehnte erlebt, dass besonders in der
Druckgrafik sich Neues rasant ankündigt, das dann später auf meine Malerei
übergreift. Was selten ohne Probleme geschieht, denn die Ausdrucks- und
Formulierungsmöglichkeiten im Schwarz-Weiss-Bereich meiner Radierungen und
der Farbe in meiner Malerei liegen denkbar weit auseinander.
Als dann um die Mitte von 2014 die letzten Platten des „Teilchenbeschleunigers“
in Arbeit waren und die Probeabzüge zeigten, dass das Ende der Arbeit nahte,
war das eine grosse und vor allem wohltuende Entspannung. Endlich war der
Zwiespalt von Wissen und Sehen behoben. Endlich hat das Sehen, wie es sich für
einen Maler gehört, wieder Vorrang. Und endlich war es vorbei mit all den
Umkehrungen. Seitenverkehrt zeichnen. In schwarz grundierte Platten ritzen, die
dann im Druck als weisses Papier sichtbar sind und die hellen, geritzten Linien
sind dann schwarz. Kommt dazu, dass zwischen dem Ritzen der Linien und dem
Drucken immer noch aufwendige Ätzvorgänge von Wolfgang Zät gemacht werden
müssen. Er bereitet mir heute die Platten vor und druckt sie. Ich bewältige das
alles in meinem Alter nicht mehr. Aber ich muss dann halt warten, bis ich weiter
arbeiten kann.
Zum Abschluss einer Platte arbeite ich meistens mit Sticheln, Rouletten,
Schleifapparat und Polierstahl. Mit mechanischen Eingriffen also. Dann endlich
das „gut zum Druck“. Nach dem letzten „gut zum Druck“ habe ich eine
unglaubliche Befreiung erlebt. Endlich konnte ich wieder an Pinsel und Farbe
denken. Und nach zwei, drei Tagen schon war ich daran, zu malen und mich
darüber zu wundern, wie ich mir so etwas antun konnte wie den
„Teilchenbeschleuniger“. Zwischen Palette und Leinwand ist ein kurzer Weg. Und
die Farbe, die ich auftrage, bleibt so, wie ich sie aufgetragen habe. Gelb bleibt
Gelb und Rot bleibt Rot. Und wenn ich Lust habe, die ganze Leinwand mit Blau
einzustreichen, dann habe ich die Möglichkeit, das da oder dort aufzuhellen oder
zu übermalen. Und dann sieht man gleich, ob ich daraus eine Wolke oder eine
Morgendämmerung machen will. Es ist eine unglaubliche Wohltat nach dreiviertel
Jahren Abwesenheit vom Direktgang wieder dort zu sein, wo Rot Rot ist und Grün
Grün. Die zwei Monate, die mir blieben, um nach Lust und Laune drauflos zu
färben, haben dann ihre Auswirkungen auf die Ausstellung vom November 14 im
KUKU in Rothrist gehabt, aber auch Teile der jetzigen Ausstellung im Kunstkeller
sind dieser kurzen Phase zu verdanken. Dass es nur eine kurze Phase sein
würde, war vorher schon klar.
So etwas wie die Entstehung des „Teilchenbeschleunigers“ ist nicht stressfrei.
Und weil ich seit Jahren schon ein nicht mehr ganz störungsfreies Herz hatte,
verwundert es nicht, dass jetzt eine Renovation fällig wurde. Kurz und gut, ich
habe inzwischen eine Herzoperation überstanden und die dritte Arbeitsphase
dieser Ausstellung ist geprägt von dem Erlebnis dieser Operation und der mit ihr
aufgetretenen Wahrnehmungsveränderungen.
Mein Hausarzt machte mich vor dem Eingriff darauf aufmerksam, dass nach
langen Operationen manchmal derartige Verwirrungen aufträten. Wenn so etwas
vorkäme, sollte ich es melden. Da gebe es Möglichkeiten, etwas dagegen zu tun.
Auf keinen Fall sollte ich es machen wie jener Bauer, der im Dusel nach der
Operation Kartonhasen hätte fangen sollen, die ihm aber immer entwischten.
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Aus Angst, das Pflegepersonal würde ihn als verrückt einstufen, habe er nichts
gesagt. Mir war das Problem schon bewusst, denn einer meiner Brüder hatte
nach einer Operation schlimme Angstzustände. Überall entdeckte er
Geheimdienstagenten, die ihn beobachteten und mit Maschinenpistolen auf ihn
zielten. Trotz Infusionen wäre er beinahe aus dem Spital entflohen. Aber ein
kräftiger Pfleger brachte ihn ins Zimmer zurück.
Ich wäre fast ein wenig enttäuscht gewesen, wenn mir nichts Irritierendes
passiert wäre. Aber schon bald stellte ich fest, dass besonders an der
Zimmerdecke sich Linien bewegten. Und eine Steckdose an der Decke setzte sich
jeweils in Bewegung, wenn ich sie fixierte. Ihr folgte sofort eine Zweite, die etwa
60 cm entfernt montiert war. Übrigens verwandelten die Steckdosen sich alsbald
in Lebewesen, die irgendwo zwischen Fisch und Krebs einzustufen waren. Das
Liniengeflecht seinerseits hatte die Neigung, sich der Situation anzupassen. Es
bewegte sich auffällig wasserähnlich und ich fragte mich, wie es dazu kam.
War ich mit meiner Wasserkenntnis doch irgendwo beteiligt...? Ich hoffte, der
Spuk würde nicht zu rasch vorbei sein. Ich musste mir noch ein paar Gedanken
darüber machen, wie ich mit dieser Situation umgehen sollte. Mir war längst
bewusst, dass der Wahrnehmung unserer Augen nicht zu trauen ist. Sie wird
beeinflusst von überstarken Helligkeiten, intensiven Farben, welche
beispielsweise komplementäre Farbeffekte hervorrufen etc. Eine unverfälschte
Wahrnehmung scheint es mir eher selten zu geben. Zudem war mir bewusst,
dass dabei nicht bloss physikalische Faktoren wirksam sind, sondern auch
Emotionen hineinwirken. Was ist zum Beispiel schön? Was ist hässlich? So klar ist
das ja nicht, denn offensichtlich hat das Hässliche einen unerklärlichen Reiz oder
eine sexuelle Anziehung- Komplex, komplex!
Nach der Operation schaute ich immer wieder auf die Bäume vor dem Fenster
und auf die Stadt hinunter. Inzwischen war die Abenddämmerung angebrochen.
Mir schien dieser ganze Farbaufzug über dem Münster verdächtig intensiv. Woher
kam dieses Caput mortuum das jetzt auch noch eine Neigung zu Kadmiumrot
zeigte? Und was waren das für wandernde Farbflecken in undefinierbarem Gelb,
die um den Turm waberten und zu guter Letzt rasch von Grün ins Violett
wechselten? War da noch auf eine Wahrnehmung Verlass? Und wie stand es um
die Formen? Wie zum Teufel soll man als Maler mit Relativität umgehen? Muss
ich mich als Maler mit der Tatsache auseinandersetzen, dass nichts ist, wie es zu
sein scheint? Woran soll ich mich denn halten? Etwas viel Relativität, nicht nur
bei Einstein! Diese Relativitäten spuken ja überall herum. Zuletzt habe ich einen
ganz typischen Malerkurzschluss gemacht. Ab sofort setze ich jede vermutete
Relativität als fixe Grösse ein. Jedes noch so verdächtige Grünviolett und jedes
unmögliche Rosarot wird nicht mehr angezweifelt. Bis zu seinem Verfall gilt es als
massgebend. Malerei im Zeitalter der Mehrdeutigkeit, der digitalen Überreizung
und der alltäglichen Unsicherheit. Ob wir Künstler mit all dem zurechtkommen,
ist schon sehr fraglich, aber wie sollen die noch viel weniger geübten
Bildbetrachter sich zurechtfinden?
Eine kleine Episode im Zusammenhang mit meinen postoperativen Problemen
muss ich noch erwähnen. Wahrheitsgemäss habe ich in einer Patientenerhebung
angegeben, täglich ca. 4 dl Wein zu trinken. Was einen Internisten dazu
veranlasste, in einem Krankenbericht, den auch mein Hausarzt bekam, die
Vermutung zu äussern, meine Wahrnehmungstrübungen könnten auf
Alkoholismus zurückzuführen sein. Diese Bemerkung hat meinen Hausarzt
wütend gemacht und etwas Unverständliches murmeln lassen, das vermutlich
nicht sehr schmeichelhaft war. Ich meinerseits war froh, feststellen zu können,
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dass ich weder weisse Mäuse sah, noch Entzugserscheinungen hatte.
Eigentlich sollte man annehmen, eine Herzoperation würde eher die graphische
Arbeit unterstützen, skurrile oder abgründige Ideen hervorbringen. Aber nichts
davon ist passiert. Es drehte sich alles um die Farbe.
Ich habe ja Bern oftmals in Bildern verändert. Ich habe es von einem Gletscher
schiefdrücken und in einem neuen Jurameer versinken lassen. Ich habe seine
Gespenster, die sich in Jahrhunderten angesammelt haben, auftreten lassen.
Aber das alles erschien mir jetzt harmlos. Die Unsicherheit und meine trotzige
Antwort darauf, dass ich ja auch jede relative Wahrnehmung als geltende Grösse
nehmen könne, bis sie aus irgendeinem Grund nicht mehr gelte, hat mich in die
dritte Phase dieser Ausstellungsvorbereitung hineingeführt.
Schon im Spital habe ich daran gedacht, ein grosses Stadtbild von Bern zu
malen. Als Gedächtnisstütze habe ich einige Fotos gemacht, sie werden mir aber
wenig helfen, denn das, was dieses Bild ausmachen wird, dreht sich in meinen
Hirnwindungen herum. Ob es sich je herauswindet, wird sich zeigen. Die
Leinwand dazu habe ich mir von Nigg jedenfalls schon spannen lassen. Aber dann
ist wieder etwas dazwischengekommen. Ich fühlte, dass mir die Kraft noch fehlt
zu einem solch grossen Bild. Also habe ich mich dann an die Bilder
herangemacht, die nun schon seit mehr als einem Jahr herumstanden, mehrmals
in Arbeit waren, dann dem verflixten „Teilchenbeschleuniger“ weichen mussten.
Aber jetzt war gerade die richtige Zeit für sie. Und wie gesagt nach dem
Radierungszwang Malerfreiheit! Nach Lust und Laune wählte ich die Bilder aus.
Nach zehn Tagen fiel mir auf, dass ich es immer auf herbstfarbige Bilder mit
Wäldern oder zumindest Baumgruppen abgesehen hatte. Daraufhin ging ich in
meine Bilderlager und sah mir an, ob dort allenfalls noch Bilder wären, die
meinen Qualitätsvorstellungen nicht genügten. Und siehe da, es fanden sich recht
viele. Seither ist mein Farbverbrauch bei Rot und Gelb sehr gestiegen. Ich testete
auch, wie weit Farbwirkungen zu steigern sind, ohne dass sie die
Wirkungsrichtung wechseln.
Und jetzt also das Bild „Bern relativ“. Wir werden sehen, ob die drei Monate bis
zur Vernissage im Kunstkeller ausreichen.
Als Dorothe Freiburghaus und ich im Januar die Ausstellung konzipierten, standen
einige der kleinen Sensegrabenbilder herum, welche wir vor drei Jahren an
meiner letzten Ausstellung im Kunstkeller im Art-room gezeigt haben. Die
meisten dieser Bilder hatten für mich nie ganz das erreicht, was ich mir
vorstellte. Und sind dann vermutlich deswegen zum Auslöser des
Teilchenbeschleuniger-Zyklus geworden. Aber das ist eine andere Geschichte, die
im nächsten Sommer an der Ausstellung im Centre PasquArt in Biel erzählt
werden kann.
Einige dieser Bildchen standen also im Atelier herum, denn ich hatte ab und zu
an ihnen weiter gearbeitet. Und siehe da, jetzt waren daraus humorvolle, etwas
sarkastische Bilder geworden, zu denen ich voll stehen kann. Warum also nicht
nochmals damit in den Art-room? So rundet sich die ärgerliche Geschichte
schlussendlich erheiternd ab.
Martin Ziegelmüller
© 2015 by Martin Ziegelmüller
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