IM ÜBERBLICK Albert Wieblitz Wie Kinder zu Antworten des Glaubens kommen Vom „Hintergrundrauschen“ der Christen Wir erleben eine Zeit des religiösen Traditionsabbruchs. Biblische Geschichten und christliche Rituale sind nicht mehr selbstverständliches Kulturgut in den Familien. Mittlerweile ist eine Elterngeneration herangewachsen, die selbst schon nicht mehr diese Traditionen verinnerlicht hat. Es ist also schon die zweite Generation, die den Traditionsabbruch erlebt oder erleidet. Für viele Kinder bedeutet das, dass ihre Fragen im Elternhaus ins Leere laufen. Die Fragen allerdings sind da. Kinder wollen wissen, woher sie kommen, wer alles gemacht hat, was hinter den Dingen steckt, was es mit Tod und Sterben auf sich hat. Kinder stellen die großen Fragen des Lebens und wollen Antworten darauf erhalten. Dabei ist es den Kindern egal, ob sie in einem „nichtreligiösen“ oder in einem „christlich-geprägten“ Umfeld aufwachsen. Sie suchen nach Antworten. Welche Antworten geben wir als Christinnen und Christen und wie bringen wir sie an die Kinder? Kinder brauchen biblische Geschichten, brauchen notwendig – d.h. „Not-wendend“ - biblische Geschichten. Kinder brauchen diese Geschichten, denn biblische Geschichten sind Literatur gewordene menschliche Erfahrungen. Erfahrungen von Freude und Leid, von Fest und Trauer, von Schuld und Vergebung, von Gerechtigkeit und Unrecht, von Liebe und Hass. Die Begegnung mit diesen Erfahrungen ermöglicht es den Kindern, eigene Erlebnisse zu deuten, zu verstehen, auszuhalten, in Sprache zu fassen - mit einem Wort: zu reflektieren. Aus dieser Reflexion erwachsen eigene Wertmaßstäbe, erwächst eine angemessene Selbsteinschätzung, erwächst Orientierung. ■ Da gibt es Geschichten von Gottes guten Absichten mit dieser Welt – von Gottes Schöpferwillen und Gottes Eingreifen in der Not. Kinder hören: Gott ist da! (Vgl. LW 53 „Du bist da“)* ■ Da gibt es Geschichten von Unterdrückung und Befreiung – von mühsamen Wegen und neuen Möglichkeiten. Kinder hören: Gott geht mit! (Vgl. LW 42 „Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt“) ■ Da gibt es Geschichten von menschlichem Versagen und tiefster Enttäuschung. Kinder hören: Gott vergibt Schuld! (Vgl. LW 3 „Meine Seele wartet“) ■ Da gibt es Geschichten, in denen Jesus die Kinder in die Mitte stellt und ihnen eine besondere Nähe zu Gott bescheinigt. Kinder hören: Bei Gott bin ich wertvoll! (Vgl. LW 36 „Unser Vater“) ■ Da gibt es Geschichten vom Verlorengehen und Wiederfinden, von Irrwegen und Umwegen, von Enttäuschungen und Ängsten: Kinder hören: Gott sorgt sich um mich! (Vgl. LW 65 „Hin zu Noah“) ■ Da gibt es Geschichten von Traurigkeit, Angst und Verlassenheit und von Gottes Beistand. Kinder hören: Angst gehört zum Leben – aber Gott lässt uns nicht allein! (Vgl. LW 54 „Stimme, die Stein zerbricht“) ■ Da gibt es Geschichten von Gottes Gerechtigkeit, die ganz und gar nicht mit unseren Maßstäben zu bewerten und nach unseren Ordnungen einzusortieren ist: Kinder hören: Gottes Güte ist größer als wir uns das denken können! (LW 89 „Wie ein Fest nach langer Trauer“) ■ Da gibt es Geschichten, die bleiben offen. Die haben keine einfachen Antworten, die lassen viele Fragen zurück. Kinder hören: Es gibt Widersprüche und Rätsel, die wir aushalten müssen! (vgl. LW 20 „Wie sollen wir es fassen?“) ■ Da gibt es die Geschichte vom Tod, der nicht das letzte Wort hat. Geschichten von der Begegnung mit dem Auferstandenen. Kinder hören: Gott gibt diese Welt nicht verloren! (Vgl. LW 35 „Wir stehen im Morgen“) FÜR DEN GOTTESDIENST · HEFT 62 · SEPTEMBER 2005 Biblische Geschichten sind Literatur gewordene menschliche Erfahrungen mit Gott. Diese Erfahrungen müssen gedeutet und weitergegeben werden, wenn sie Kindern helfen sollen, sich und ihr Leben zu verstehen, wenn sie helfen sollen, die Hoffnung zu buchstabieren. Die Weitergebenden – die Tradenten oder Tradition-Schaffenden – sind vertrauenswürdige und glaubwürdige Menschen. So sind wir als Christinnen und Christen letztlich alle dafür verantwortlich, dass Kinder zu Antworten des Glaubens finden. Es gibt viele Hilfsmittel (gute Kinderbibeln, Bilderbücher und Gebetssammlungen) und Gelegenheiten (im Religionsunterricht, im Kindergottesdienst, im Familienkreis), biblische Geschichten in die Lebenswelt der Kinder hinein zu tragen. In der Astronomie haben Physiker das Phänomen des Hintergrundrauschens beschrieben. Etwas, das alle Signale des Universums überlagert. Es stammt vermutlich aus den Anfängen der Welt. Ich wünsche mir – für die Kinder – solch eine Art Hintergrundrauschen aus biblischen Geschichten und christlichen Traditionen in unserer Gesellschaft. Es ist eine großartige und herausfordernde Gemeinschaftsaufgabe aller Christinnen und Christen. Es kann dabei unterschiedliche Zugänge und Wege geben, unterschiedliche Deutungen und Methoden. Der christliche Glaube ist ja nicht starr, sondern dynamisch. Er findet immer wieder eine neue Sprache für neue Generationen. Lassen Sie uns mitwirken am großen Rauschen… Gottes Geschenke - die Kinder - haben es verdient. Albert Wieblitz Pastor in der Arbeitsstelle Kindergottesdienst im Haus kirchlicher Dienste, Hannover Diese Gedanken eignen sich als Meditation zu den Liedern, in denen es um Kinder geht:: „Gemeinsam unterwegs“, LebensWeisen 18 „Mehr als dies“, LebensWeisen 26 „Wenn dein Kind dich morgen fragt“, LebensWeisen 16, 27 und 28 „Kinder brauchen Hoffnung“, LebensWeisen 55 * = Liedhinweise sind Anmerkungen der Redaktion 7
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