Die wohl bequemere Alternative lautet: Weitermachen wie bisher

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AUSGABE 09 / MAI 2012
03. PORTRÄT
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Die wohl bequemere Alternative lautet: Weitermachen wie bisher. Auf dem Berufsweg eine andere Richtung einschlagen,
Bewährtes hinter sich lassen und dem eigenen Leben eine Wendung geben – das hingegen erfordert Entschlusskraft und manchmal auch eine gehörige
Portion Mut. Screen.tv porträtiert vier Umsteiger, die sich Reiz und Risiko der Veränderung gestellt haben.
Text: Roland Karle, Neckarbischofsheim Illustration: Büro Linientreu
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DIE FREIHEIT NEHM’ ICH MIR
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*
Turners größter Pitch
öffentlichen Amt vorstellen. Auch weil er nicht dem Klischee des
Das Telefon klingelt, Sebastian Turner nimmt arglos den Hörer
verstrubbelten Werbefuzzis entspricht. Seriös im Auftreten, klar
ab. Der Anrufer Stefan Kaufmann stellt sich als Bundestagsabge-
in der Ansage, aufmerksam im Dialog, über den beruflichen Teller-
ordneter und Vorsitzender der Stuttgarter CDU vor und bittet
rand hinausblickend. „Gute Kreative stellen alles Bekannte in
um ein persönliches Gespräch. Turner hegt keinen Verdacht.
Frage. Sie kommen vom Primitiven über das Komplizierte zum
Warum auch? Der Kontakt mit Chefs aus Wirtschaft und Politik
Einfachen“, hat er zu seiner Werber-Zeit einmal gesagt. Das
ist für den bekannten Werbeunternehmer nichts Ungewöhnliches.
könnte auch ein Leitfaden für den OB Turner sein.
Turner ahnt an diesem Tag im November 2011 nicht,
Der will als „oberster Bürger“ in der Stadt seiner Kindheit
dass das Treffen mit Kaufmann sein Leben verändern wird. „Das
und Jugend das Amt „auf neue Art ausfüllen“ und „den Bürger-
kam aus heiterem Himmel“, schildert er den Moment, als ihm
blick ins Rathaus bringen“. Als Unternehmer denke er vom
sein Gegenüber einen spektakulären Vorschlag macht. „Ich sollte
Kunden her, vertraue auf Ideen und achte auf die Finanzen.
OB-Kandidat in Stuttgart werden.“ Da zeigt sich Turner, sonst
Daraus leitet Turner seine Prinzipien für die Arbeit als Stadtober-
kaum aus der Fassung zu bringen, schwer beeindruckt.
haupt ab: Bürgernähe, neue Lösungen, Sparsamkeit.
Tatsächlich fahndete die Partei nach einem OB-Anwärter,
In der Stadt, wo es nach dem jahrelangen Streit um das
der nicht aus dem üblichen Politiker-Holz geschnitzt ist. Erfahren
Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 tiefe Gräben in der Bevölkerung
in Wirtschaft und Führung sollte er sein, ideenreich und unab-
gibt, und von wo aus das Land Baden-Württemberg erstmals von
hängig, zudem ein guter Kommunikator mit Bezug zu Stuttgart,
Grün-Rot regiert wird, wünschen sich viele einen Neuanfang.
aber ohne Seilschaften in der Stadt. Ein Profil, das auf Turner so
Turner sieht darin „eine historisch einmalige Situation“. Und
präzise passt, als sei sein Lebenslauf die Blaupause dafür gewesen.
sagt Sätze wie: „Stuttgart hat Chancen wie kaum ein anderer Ort
„Innerlich habe ich spontan zu mir gesagt: Das will ich
auf der Welt.“ Der Manager formuliert geschliffen, Worte sind
machen“, erinnert sich Turner. Aber er ist kein Mann, der über-
des Werbers Freunde. Spannend wird sein, ob er damit nicht nur
stürzte Entscheidungen trifft. Also bittet er um Bedenkzeit. Redet
die Hirne, sondern auch die Herzen der Menschen erreicht.
mit wenigen aber wichtigen Parteileuten und bespricht sich mit
seiner Frau. Kurz nach Weihnachten sagt Turner zu.
*
Auf ein persönliches Abenteuer lässt sich
Sebastian Turner ein: Der erfolgreiche Werber kandidiert als
Oberbürgermeister seiner Heimatstadt Stuttgart.
durchgesetzt. Wer ihn kennt, kann sich Turner durchaus in einem
Vor ihm liegen spannende Monate. Als Hauptkonkurrent
gilt der Grüne Fritz Kuhn, ein Politpromi. Der schreckt ihn nicht.
Fast 20 Jahre lang war Werbung sein Tagesgeschäft. Als
Sebastian Turner hat gleich mal eine Forsa-Umfrage in Auftrag
Agenturchef gebar er Ideen und entwickelte Konzepte, kümmer-
gegeben, um die Stimmung in Stuttgart einzufangen. Demnach
te sich um Aufträge und kämpfte um Etats. Am 7. Oktober 2012
wünscht sich die deutliche Mehrheit einen parteilosen OB, im
wartet nun der größte Pitch seines Lebens auf ihn: Dann wird in
direkten Vergleich jedoch liegt Kuhn knapp vor Turner (31 zu 29
Stuttgart der neue Oberbürgermeister gewählt. Die erste Hürde
Prozent). Der glaubt, dass die Zeiten für Quereinsteiger in die
hat der Parteilose genommen und sich bei der Nominierungsab-
Politik günstig sind: Diesen Pitch will er unbedingt gewinnen.
stimmung des CDU-Kreisverbandes gegen Politikprofi Andreas
Renner, den früheren baden-württembergischen Sozialminister,
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Ausstieg nach Plan
Ein Preis, den Krautwald zahlen musste für seinen Plan, der ihm
Die Strategie war wohlüberlegt und das Ziel verwegen genug,
und seiner Familie heute etwas Großes ermöglicht. „Nicht vom
um es unbedingt erreichen zu wollen. Mit Anfang 40, so hatte
Leben zu träumen, sondern unseren Traum zu leben“, wie er
sich Michael Krautwald vorgenommen, würde er einen Strich
sagt. Jetzt, Anfang April, ist es in der Gascogne schon angenehm
unter sein erstes Leben machen und diese „naive Idee“, die er als
warm. Die Äpfel haben rote Backen, man schlüpft barfuß in die
Jugendlicher geboren und dann nie mehr vergessen hatte, in die
Schuhe und nach dem Traktorfahren trägt der Schlossherr ein
Tat umsetzen: Umziehen an einen mediterranen Ort, wo die
sonnengebräuntes Gesicht. „Mein Alltag verläuft heute so, wie
Sonne länger scheint, die Blumen früher blühen und das Obst zei-
ich mir das früher gewünscht habe.“
Krautwald ist zu einem Naturburschen geworden, der
tiger reift.
Er hat es geschafft. Im August 2008 kam Krautwald mit
die Pferde und das Pony, die Hunde, Katzen, Hühner, Gänse,
seiner Frau und den beiden Kindern im Südwesten Frankreichs
Enten mag – und wie selbstverständlich ihre Ställe ausmistet und
an. Im Wohnwagen. Nicht weil ihm der Sinn nach Camping
für sie die Wiese mäht. Auch als Gastronom fühlt er sich wohl,
stand, sondern weil das alte Schloss in Beaumont de Lomagne
kocht für und mit seinen Gästen. Überdies hat der frühere Mana-
von seinem neuen Eigentümer erst noch restauriert werden muss-
ger und Top-Werbeverkäufer nicht die Leidenschaft für seine
te. Einige Jahre lang hatten die Krautwalds nach dem für sie pas-
erste Profession verloren. Er hat nur die Dosis reduziert. „Ich bin
senden Standort gesucht, waren im Urlaub öfter mit Maklern im
heute mein eigener Chef. Einen solchen Freiheitsgrad kannte ich
südlichen Europa unterwegs.
vorher nicht“, sagt Krautwald, der in seinem zweiten Leben auch
Inzwischen ist „Le petit Château Argoumbat“, bestehend
von den 20 Berufsjahren zuvor profitiert. Als Verkaufstrainer,
aus fünf Gästezimmern im Schlossgebäude und einer Ferienwoh-
Management-Coach und Media-Berater hat er sich einen Namen
nung im historischen Turm nebenan, ein beliebtes Urlaubsdo-
gemacht, wird gut gebucht. Krautwald bietet Einzeltraining und
mizil. Mitten in der Natur, malerisch gelegen, mit Blick auf die
Seminare mit bis zu 15 Teilnehmern an, bei sich in Frankreich
Pyrenäen, Atlantik und Mittelmeer sind beide gut zwei Stunden
oder wo immer der Kunde es wünscht.
Ein Bedürfnis nach Land- oder Strandurlaub verspürt
entfernt. „Hier zu leben und zu arbeiten, das war mein Ziel“,
Krautwald nicht mehr. Wenn schon, dann nach einer Städtetour.
sagt Krautwald.
Deshalb hat er nach dem BWL-Studium in München die
Sogar im Stau zu stehen, kann ein Erlebnis sein. „Die Perspektive
Manager-Laufbahn eingeschlagen und klare Prioritäten gesetzt:
ändert sich, man sucht den Kontrast.“ Erfolg ist für den Mittvier-
Der Beruf steht an erster Stelle. Schnell vorankommen, gutes
Geld verdienen, Vollgas geben. Ein klarer, aber durchaus gewagter Lebensentwurf. Krankheiten, berufliches Straucheln oder andere Risiken waren darin nicht vorgesehen. Und für Privates
blieb dem vielbeschäftigten Medienmanager wenig Zeit. Die frühen Lebensjahre seiner Kinder hat er nicht intensiv erlebt. „Das
ist das Einzige, was ich bedauere“, gesteht er.
*
Der frühere Medienmanager Michael Krautwald will nicht
vom Leben träumen, sondern seine Träume leben – das tut er
jetzt als Hotelier und Berater in Frankreich.
ziger, wenn die Kunden zufrieden sind: Ob nun die Gäste im Ferienschloss oder die Geschäftsleute, die er berät. In der Dimension
von Karrierezielen denkt Krautwald nicht (mehr). „Wichtig war
und ist mir, ein Leben im Gleichgewicht zu führen. Und jeden Tag
das Glück zu suchen.“
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Witzig von Beruf
Strauß, Helmut Kohl, Edmund Stoiber. Im privaten Kreis, aber
Die Begegnung liegt fast 30 Jahre zurück, sie verlief unspektakulär
so überzeugend, dass man darüber redet. Beruflich bewegt sich
und doch wird sich Wolfgang Krebs immer an sie erinnern. Ein
Krebs bereits in den Medien, allerdings in der Vermarktung. Er
rumänischer Bauingenieur, der in der Vorweihnachtszeit als Aus-
ist erfolgreicher Werbeverkäufer, bildet sich weiter, schult seine
hilfskraft bei der Augsburger Post mit ihm zusammenarbeitete,
Mitarbeiter in Rhetorik.
sagte zu ihm: „Wolfgang, warum machst du diese Arbeit? Du
hast doch viel mehr Talent.“
„Kollegen Zufall“. Als bei einer Veranstaltung der damalige
Auf den damaligen Lehrling wirkt dieser Satz wie ein
Ministerpräsident Edmund Stoiber seinen Auftritt absagt, erinnert
Weckruf. „Das war ein wichtiger Wendepunkt in meinem Leben,
sich Georg Ried vom Bayerischen Rundfunk (BR) an das Talent
weil er mich geradezu anstachelte, nochmal auf die Schule zu
des ihm beruflich bekannten Wolfgang Krebs – und ersetzt das
gehen“, erzählt Krebs. Zuvor hat er ehrgeizlos den Hauptschul-
Original kurzerhand durch den Imitator. Krebs brilliert in der
abschluss geschafft und eine Lehre bei der Post begonnen. Krebs
Stoiber-Rolle und wird vom BR für die Sendung „Quer“ ver-
holt Versäumtes nach, macht die Mittlere Reife mit Bestnoten
pflichtet, in der er seit 2004 regelmäßig auftritt und immer be-
und will weiterkommen. „Motivation kann so viel Energie frei-
kannter wird.
setzen“, erkennt Krebs damals.
Und doch traut sich Krebs lange Zeit nicht, sein Hobby
Der Schauspieler in ihm, der ist zwar schon da, aber er
zum Hauptberuf zu machen. Erst 2008 steigt er um, kündigt
schlummert noch. „Ich hatte schon früh künstlerische Ambitionen.
seinen Job beim RTL2-Vermarkter El Cartel Media. Ohne zu
Als Kind habe ich mir einen Rahmen gebastelt und Fernsehen ge-
hadern, sagt er: „Ich hätte mich schon früher dazu entschließen
spielt“, erinnert sich der Mann, der heute mühelos in einem Satz
sollen.“ Selbst die spöttische Skepsis seines Sohnes Tobias, damals
mit den Stimmen der Herren Stoiber, Seehofer und Beckstein
ein Teenager, kann ihn nicht mehr aufhalten: „Rennst du jetzt
spricht, dazu ihr Gesicht aufsetzt und sie Pointen stammeln lässt.
nur noch als Kasper durch die Gegend?“ Das tut Wolfgang Krebs
Wolfgang Krebs ist seit jeher witzig – aber erst seit vier-
*
Wolfgang Krebs verkaufte Werbezeiten und
parodiert nun Prominente – hauptberuflich und mit
wachsender Begeisterung.
Für die Kabarettkarriere braucht er jedoch die Hilfe des
bis heute mit Begeisterung.
einhalb Jahren witzig von Beruf. Und wie! Allein 50 feste TV-
Einmal glaubt er, selbst veralbert zu werden. Ein Thomas
Termine im Bayerischen Rundfunk („Quer“) stehen in seinem
Gottschalk meldet sich. Gut imitiert, wie der Angerufene findet.
Kalender, dazu tourt er mit seinem Bühnenprogramm (aktuell:
Er habe Krebs bei einer Feier von Hubert Burda erlebt, das
„3 Mann in einem Dings“) durchs Land und wird für Promipartys
habe ihm gefallen. Ob er denn Zeit und Lust habe, zu seinem
und Firmenfeiern gebucht. Über 200 Auftritte und gefahrene
60. Geburtstag nach New York zu kommen und für seine Gäste
55.000 Kilometer kommen im Jahr zusammen. Der Spielplan ist
zu spielen. Als dem Stoiber-Double dämmert, dass er es mit dem
bis 2013 voll.
echten Gottschalk zu tun hat, werden sich die beiden schnell
Auf der Bühne fühlt sich Krebs wohl. Er tritt im Schul-
einig. Und Krebs bespaßt in den USA die kleine Festgemeinde des
und Laientheater auf, schult sein Talent in Workshops, wird ne-
großen Entertainers. Etwa 35 Leute sind eingeladen, das Ehepaar
benher Sprecher im Hörfunk. Und findet Gefallen daran, in die
Jauch, ZDF-Intendant Markus Schächter und Starkoch Alfons
Rolle von Prominenten zu schlüpfen. Er parodiert Franz-Josef
Schuhbeck waren dabei.
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Der Mut, die Routine gegen Freiheit einzutauschen, hat sich für
Sinner weiterhin ganz im Unternehmen haben oder einen
Krebs gelohnt. „Existenzängste hatte ich in der schnelllebigen
Schlussstrich ziehen wollen. Zudem – eine wirklich gute Nach-
Werbebranche als leitender Angestellter ständig. Du kannst da
richt – hat sich bei den Sinners die Geburt von Tochter Emma an-
jeden Tag weg vom Fenster weg sein. Abfindung und raus“, sagt
gekündigt.
Krebs rückblickend. Heute verdiene er sein Geld schneller und
Der damals 34-Jährige zieht die Konsequenz und steigt
leichter. Sein Ziel sei, noch besser zu werden und an seinen schau-
aus. In der offiziellen Pressemitteilung heißt es zum Rücktritt des
spielerischen Fähigkeiten weiter zu arbeiten. „Ich habe alles er-
Vorstands: „Mit dieser Entscheidung übernimmt Oliver Sinner
reicht“, sagt Krebs, „was ich mir einmal erträumt habe.“
die Verantwortung für die sinkenden Umsätze des Unternehmens.“
Damit ging eine turbulente Zeit für Oliver Sinner zu
*
Ende. Er war das Gesicht der Firma und ein bewunderter Dotcom-Pionier, der in sechs Jahren mindestens so viel erlebte wie
Lebenslang Unternehmer
andere Unternehmer in einem ganzen Leben. „Ich fühlte mich
Wer sich zum Frühstück von einem Millionär bedienen lassen
irgendwann als Getriebener der Szene und des Erfolgs“, sagt er
will, muss einfach mal im kleinen, aber feinen Hotel Seemöwe in
heute. Der Gegenwert kann sich jedoch sehen lassen: Seit dem
Grömitz an der Ostsee einchecken. Oliver Sinner sitzt dort hin
Börsengang im November 1999 ist Sinner wirtschaftlich unab-
und wieder selbst an der Rezeption und umsorgt die Gäste. „Ich
hängig. „Die finanzielle Situation erlaubt mir, mein Leben ohne
mag den direkten Kontakt. Zufriedene Kunden zu haben, das
Zwänge zu gestalten“, sagt er frei von Arroganz, sondern wie
gibt mir was“, sagt er.
einer, der das ehrlich zu schätzen weiß.
Die wenigsten Hotelgäste wissen, dass Sinner mal ein
Zum Vollzeit-Privatier taugt Sinner allerdings nicht. Das
Star der Internet-Branche war. Bis zum 31. August 2002, dem
war ihm eigentlich schon immer klar, und er fand sich nach dem
letzten Arbeitstag in seiner eigenen Firma. 1996 hatte er zusammen
Ausstieg bei SinnerSchrader rasch bestätigt. Eher durch Zufall
mit Matthias Schrader die Internetagentur SinnerSchrader ge-
ergab sich die Gelegenheit, in seinem Geburtsort Grömitz ein
gründet, mitten hinein in die verrückten Zeiten der New Economy.
kleines Hotel zu kaufen und zu renovieren. In der Nachbarschaft
1999 folgte der Börsengang, die Kurse stiegen und die Geschäfte
zur Seemöwe betreibt er seit sechs Jahren außerdem das gut ge-
liefen. „Zwischenzeitlich waren wir sogar D-Mark-Milliardäre“,
hende Restaurant Steakhus mit 80 Plätzen. Und am 4. Juli wird
erinnert sich Sinner.
Sinner an der Bundesstraße 501 ein Motel und ein Grillrestau-
Als das Dotcom-Fieber sinkt und die vermeintlichen
rant eröffnen, gemäß seiner Devise: „Ich halte die Augen offen
Stars auf Normalmaß schrumpfen, würgt die Krise auch Sinner-
und versuche, möglichst jedes Jahr ein neues Projekt umzusetzen.“
Schrader. Weniger Umsatz, rote Zahlen, Personalabbau. Sinner
Den Großteil seiner Geschäfte macht Sinner heute mit
hatte zuvor schon angekündigt, kürzer treten und eine Auszeit
Immobilienprojekten. Zusammen mit Versandhauserbe Frank
nehmen zu wollen. Es kommt einiges zusammen: Stress mit der
Otto sitzt er im Aufsichtsrat des Hamburger Immobilienent-
Gewerkschaft, die einen Betriebsrat durchdrücken will. Wenig
wicklers ABR German Real Estate. Mit dem Ausstieg bei Sinner-
Begeisterung beim Aufsichtsrat und bei Mitgründer Schrader, die
Schrader – er hält noch rund 12 Prozent der Aktien – ist die Lust
*
Nach einer Turbokarriere als Internet-Unternehmer
stieg Oliver Sinner aus seiner Firma aus und stellte fest, was
ein erfülltes Leben ausmacht.
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MICHAEL KRAUTWALD
*
am Unternehmer-Sein nicht erloschen. „Ich bin sogar umtriebiger
als früher, aber nicht mehr auf eine Firma festgelegt, die mich
komplett fordert“, erzählt Sinner.
Stillstand kann der 44-Jährige schwer ertragen. Und er
Schon als Jugendlicher fand Michael Krautwald, 46, großen Ge-
hat nach eigenem Bekunden noch immer Spaß am Geldverdie-
fallen am mediterranen Klima und dem Leben unter südlicher
nen. Er schaut zum Beispiel jeden Tag in die Statistik, kennt den
Sonne. Doch zunächst widmete sich der Münchner engagiert seiner
Umsatz seiner Firmen und Projekte. „Ich habe privates Leben
beruflichen Laufbahn. Von 1988 bis 1992 studierte er Betriebs-
und Arbeiten auf eine glückliche Weise miteinander vereint“,
wirtschaftslehre mit den Schwerpunkten Marketing, Unterneh-
sagt Sinner, der mit seiner Frau, Chefärztin der Kardiologie einer
mensführung, Markt- und Werbepsychologie an der Ludwig-
Klinik am Timmendorfer Strand, und seinen beiden Kindern an
Maximilians-Universität in München. Danach begann der Diplom-
der Ostsee wohnt. Der Zeit als Internet-Star habe er noch keinen
Tag nachgetrauert, sagt er. „Aber Unternehmer werde ich wohl
für immer bleiben.“ — *
SEBASTIAN TURNER
*
Kaufmann als Trainee bei der Werbeagenturgruppe Serviceplan,
wurde dort Geschäftsführer, Gründer und Gesellschafter der
Media- und Internetagenturen Mediaplus und Plan.Net.
Im Oktober 2004 wechselte Krautwald in die Geschäfts-
Autor: Roland Karle
Der 45-Jährige ist im Harz geboren und in Stuttgart aufgewach-
führung von SevenOneMedia, der Vermarktungstochter der
sen. 1990 gründete er kurz vor der deutsch-deutschen Wieder-
ProSieben Sat1 Media AG, und übernahm knapp drei Jahre
vereinigung zusammen mit Thomas Heilmann und Olaf Schu-
später als Nachfolger von Peter Christmann den Vorsitz der Ge-
mann in Dresden die Werbeagentur Delta Design, die wenig
schäftsführung. Ende 2008 verließ Krautwald das Unternehmen
später Teil des Netzwerks von Scholz & Friends (S&F) wurde.
und siedelte mit Frau und zwei Kindern nach Frankreich. In der
Zuvor hatte Turner in Bonn und Durham (USA) Politik und
Nähe von Toulouse eröffneten sie ein Landhotel, in dem Kraut-
Wirtschaft studiert, nebenher für „F.A.Z.“, „Zeit“, „GEO“ ge-
wald selbst kräftig Hand anlegt. Daneben arbeitet Krautwald als
schrieben und 1985 das „Medium-Magazin“ gegründet.
selbstständiger Berater und Coach für Verkaufs- und Vertriebs-
Bis 2001 leitete er als geschäftsführender Gesellschafter
die S&F-Büros in Dresden und Berlin, danach übernahm er zusammen mit Heilmann den Vorstandsvorsitz der Scholz &
Friends Gruppe mit zeitweise mehr als 1000 Mitarbeitern. Nach
seinem Ausstieg engagierte sich Turner in den vergangenen vier
Jahren an der Schnittstelle von Verwaltung und Wissenschaft,
unter anderem als Vorstand der Einstein Stiftung Berlin zur Förderung der Spitzenforschung und als Initiator der Falling Walls
Conference. Mit Unterstützung der CDU will der parteilose
Turner im Oktober zum Oberbürgermeister von Stuttgart gewählt werden. www.turner.de
manager. www.michael-krautwald.de
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OLIVER SINNER
*
Zusammen mit Matthias Schrader gründete Oliver Sinner, 44,
Mitte der 90er Jahre die Internetagentur SinnerSchrader in Hamburg und war einer der bekanntesten New-Economy-Unternehmer Deutschlands. Die Firma wuchs rasant, der Börsengang
spülte Millionen Euro in die Kassen und machte die Eigentümer
wohlhabend. Sinner kümmerte sich als Zivildienstleistender und
später als Streetworker um drogenabhängige Obdachlose, ver-
WOLFGANG KREBS
*
diente jahrelang Geld als Lkw-Fahrer einer Fleischerei, studierte
Jura ohne Abschluss und absolvierte dann eine Ausbildung mit
begleitendem BWL-Studium beim Versandhändler Otto.
Schon als Jugendlicher wusste er, dass er sich irgendwann
Als Kind war Wolfgang Krebs, 45, sehr schüchtern. „Ich ver-
selbstständig machen wollte. Nachdem SinnerSchrader in den
schlief meine Jugend“, sagt er über sich. Nach seinem Haupt-
Strudel der Dotcom-Krise geriet, trat Sinner als Vorstand zurück.
schulabschluss landete Krebs als Auszubildender bei der Post.
Seither lebt er mit Frau und zwei Kindern in seinem Heimatort
Kein Job, der ihn erfüllte. Hoch motiviert bog er auf den zweiten
Grömitz an der Ostsee. Dort hat er das Hotel Seemöwe, ein
Bildungsweg ein, bestand die Mittlere Reife mit Bestnoten. Da-
Appartementhaus und ein Steakhaus aufgebaut, außerdem in-
nach begann Krebs als Werbezeitenverkäufer bei Radio Allgäu,
vestiert Sinner in Immobilien. www.seemoewe.de
stieg zum Studioleiter auf. Er verdiente gut, war erfolgreich und
wechselte 1996 zur damaligen Mediagruppe München (MGM),
die später in SevenOneMedia aufging.
Dort war er Referent der Geschäftsleitung, ehe er 2004
zur RTL2-Vermarktungstochter El Cartel Media wechselte, dort
stellvertretender Verkaufsleiter und dann Leiter Verkaufsmarketing wurde. Ende 2007 kündigte Krebs, um seine bis dahin nebenher ausgeübte Tätigkeit als Parodist nun zum Hauptberuf zu
machen. Mit rund 200 Auftritten auf der Bühne, im Fernsehen
sowie bei Galas, privaten und Firmenfeiern gehört der zweifache
Familienvater aus Kaufbeuren zu den bestgebuchten Kabarettisten hierzulande. www.wolfgangkrebs.com
Hamburger Abendblatt / Andreas Laible