Anarchie des Aufbruchs Kanzlei des Volkes Theater der Hoffnung Ulrich Gutmair beschreibt in »Sound der Wende« das Ostberlin von 1990. Seite 16 Studenten gewähren Mittellosen in Guatemala kostenlose Rechtshilfe. Seite 10 Hamburger Flüchtlinge nutzen auch die Bühne. Seite 8 Foto: imago/nd Foto: dpa/Georg Wendt Dienstag, 11. Februar 2014 69. Jahrgang/Nr. 35 STANDPUNKT Bundesausgabe 1,70 €, Auslandspreis 1,90 € Wie man die NSA austrickst Begrenzter Horizont Katja Herzberg über das Schweizer Referendum gegen Freizügigkeit Die Personenfreizügigkeit ist spätestens mit dem Votum der Schweizer für eine Begrenzung der Zuwanderung durch jährlich festgelegte Kontingente das Wahlkampfthema Nummer eins bei den anstehenden Wahlen in mehreren europäischen Ländern und bei der Europawahl Ende Mai. Das Ergebnis spricht für einen begrenzten Horizont bei zumindest der knappen Mehrheit der Abstimmungsteilnehmer, droht nun aber auch Wellen über die Grenzen hinaus zu schlagen. Denn es zeigt, dass irrationale Ängste wie vor einem vermeintlichen Verlust der Kultur und Heimat oder vor Wohlstandseinbußen schwerer wiegen als alle sachlichen Argumente. Und das, obwohl diese vor allem seitens der Schweizer Wirtschaft nicht gerade von Solidarität und von einem progressivem Freiheitsverständnis à la »Jeder darf aus Prinzip zu uns kommen« geprägt waren. Hier setzt auch nicht die Kritik der EU-Institutionen oder führender europäischer Politiker an. Die Debatte nach dem Erdbeben offenbart: Ein Grundrecht auf Bewegungsfreiheit will keiner dieser Akteure. So weit sind die Rechtspopulisten der SVP und die Regierungsparteien der Schweiz wie fast aller Länder Europa also nicht voneinander entfernt. Dass sich die Schweiz mit der Umsetzung der Volksinitiative aus dem europäischen Menschenrechts-Schutzsystem verabschieden könnte, interessierte nach dem politischen Erdbeben fast niemanden. Einen begrenzten Horizont weisen so nicht nur die Schweizer auf, die am Sonntag mit »Ja« stimmten. Acht Tipps für mehr Privatsphäre im Internet Berlin. In Zeiten immer neuer Enthüllungen über die Ausforschung von Internetnutzern durch Geheimdienste und den massenhaften Diebstahl von Daten sowie Passwörtern fordert eine große Mehrheit der Bundesbürger strengere Richtlinien für Unternehmen und staatliche Organisationen. Das hat nun abermals eine Umfrage ergeben. Doch wie groß ist die Bereitschaft, den eigenen Umgang mit Daten und das eigene Surfverhalten umzustellen? Eher gering: Nur jeder dritte Internetnutzer hat wegen der NSA-Affäre oder der bekannt gewordenen Hackerangriffe seinen Umgang mit persönlichen Daten verändert – zwei Drittel haben keine Konsequenzen gezogen. Dabei ist es gar nicht so kompliziert, etwas für seine Privatsphäre zu tun. Für einen sensibleren Umgang mit Daten und im Netz zu werben, hat auch die Europäische Union einen Aktionstag initiiert. An diesem Dienstag stehen die Veranstaltungen unter dem Motto: »Gemeinsam für ein besseres Internet.« Doch kann man der EU eigentlich trauen? Kann eine vom Segen nationaler Regierungen abhängige Institution glaubhaft den von staatlicher Überwachungswut Betroffenen Datenschutztipps geben? Wir haben acht Ratschläge zusammengestellt, mit denen Sie wirklich auf die sichere Seite des Internets wechseln. Außerdem erklärt der Berliner KryptographieProfessor Rüdiger Weis, wie man mit ein paar Mausklicks die Geheimdienste aussperren kann. Das ist nicht nur eine Frage der Privatsphäre, sondern auch eine der Demokratie. Und zwar eine ganz praktische. Immer öfter wird Politik über das Internet gemacht. Der Landkreis Friesland zum Beispiel hat als erste Kommune die Beteiligungsplattform Liquid Feedback eingeführt. Seitdem kann sich jeder Bürger rund um die Uhr in die Kommunalpolitik einmischen. Ein Besuch in einer dünn besiedelten Gegend, in der die Menschen das Internet als Beteiligungsinstrument entdecken – und dabei hoffentlich ohne ungewollte Begleitung durch NSA und Co. tos Seiten 2 und 3 UNTEN LINKS Das Ergebnis des jüngsten Referendums stellt das Verhältnis der Schweiz zur EU auf die Probe. »Eine Menge Schwierigkeiten« hätten sie verursacht, teilte Wolfgang Schäuble jenen Schweizern mit, die für eine Begrenzung des Zuzugs aus EU-Ländern gestimmt haben. Warum stand das nicht auf den Wahlzetteln: Schwierigkeiten – ja oder nein? Sicher hätten viele dann anders entschieden. Nun muss es darum gehen, den Schaden zu begrenzen, nicht aber die Schweiz. Ein simples Verfahren könnte helfen, den Widerspruch zwischen Freizügigkeit und Wählerwillen aufzulösen: Man müsste lediglich das bewährte Prinzip des Nummernkontos auf die Zuwanderung übertragen. Wer einen Wohnsitz in der Schweiz nehmen will, meldet sich nicht mit seinen Personalien, sondern mit einer anonymen Zahlenkombination. Irgendeine Staatsbürgerschaft wäre so nicht nachzuweisen. Allenfalls am Veto nationaler Steuerfahnder kann dieser Plan scheitern. mha Einzelpreis Tschechien 67/77 CZK ISSN 0323-3375 www.neues-deutschland.de Wowereit und die Dreifaltigkeit des Rausredens Berlins Regierender Bürgermeister wies Vorwürfe zur Steueraffäre ab Berlin. »Ich versuche klar zu machen, dass es drei verschiedene Ebenen gibt«, sagte Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) am Montag in einer Sondersitzung des Abgeordnetenhauses. Die Oppositionsfraktionen von Linkspartei, Grünen und Piraten hatten die Sondersitzung durchgesetzt, um Wowereit zu seinem Umgang mit dem Steuerbetrug seines Kulturstaatssekretärs André Schmitz zu befragen. Schmitz war in der vergangenen Woche kurz nach Bekanntwerden der Steuerhinterziehung zurückgetreten. Klaus Wowereit wies am Montag den Vorwurf des bewussten Wegsehens und der doppelten Moral von sich. »Ich stehe auch heute zu dieser Entscheidung von damals«, sagte er und begründete das mit dem Verweis auf die juristische, die dienstrechtliche sowie die politische Dimension des Vorfalles. In der zweiten Jahreshälfte 2012 habe Schmitz ihn darüber informiert, dass gegen ihn ermittelt werde. Es habe keine Anhaltspunkte dafür gegeben, dass das »außerdienstliche Verhalten« zu einer Verletzung der dienstlichen Pflichten geführt habe, sagte Wowereit. Nach eigener Aussage ließ er Schmitz aber auch aus politischer Erwägung und Loyalität im Amt. Von den eigenen Parteikolleginnen und -kollegen erfuhr der Regierende auch am Montag Rückendeckung: »Ich kann Ihnen sagen, dass wir in internen Beratungen übereingekommen sind (...), dass der Fall Schmitz erledigt ist«, sagte SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi auf die Frage, ob der Fall des wegen eines Steuervergehens zurückgetretenen Berliner Staatssekretärs André Schmitz nicht auch ein Fall Klaus Wowereit ist. Auch vom Regierungspartner muss Wowereit weiterhin keine Kritik fürchten. Cornelia Seibeld, Vizechefin der CDU-Fraktion versicherte noch am Morgen im rbb-Inforadio, die Affäre um Schmitz belaste die Koalition nicht. Die Grünen warfen dem Regierenden ein doppeltes Spiel vor. nd Seite 11 KURZ Icons (von oben links nach unten rechts): The Noun Project/Luis Prado, Edward Boatman, public domain, Florian Huber, Mittu Tigi, Márcio Duarte, Fernando Vasconcelos, Thomas Le Bass. Grafik: nd Schweizer ignorieren Flüchtlingskonvention Nach dem Volksentscheid stehen die bilateralen Verträge des Alpenstaates mit der EU auf dem Prüfstand Die Schweizer Entscheidung, sich gegen Zuwanderer abzuschotten, verletzt das Prinzip des freien Personenverkehrs. Auch für Asylbewerber werden verheerende Folgen befürchtet. Von Aert van Riel Wegen des knappen Votums der Schweizer Bevölkerung gegen »Masseneinwanderung« drohen sich die Beziehungen des Landes zur EU zu verschlechtern. Die Initiative der rechten Schweizerischen Volkspartei sieht vor, dass die Regierung innerhalb von drei Jahren jährliche Quoten für die Einwanderung einführen muss. Die Berner Regierung war gegen diese Begrenzung und kündigte nun Gespräche mit der EU an. Die EU-Kommission kritisierte, dass das Prinzip des freien Personenverkehrs zwischen der EU und der Schweiz verletzt werde. Die Kommission will »die Folgen dieser Initiative für die Gesamtbe- ziehungen zwischen der Union und der Schweiz analysieren«. Seit Jahren existieren EU-Abkommen mit der Schweiz u.a. zur Freizügigkeit für Arbeitnehmer und zum Zugang der Schweiz zum EU-Binnenmarkt. Dabei gibt es auch eine sogenannte GuillotineKlausel: Demnach wird alles nichtig, wenn ein Teil des Abkommens infrage gestellt wird. Es müsse also neu verhandelt werdenn, sagte Frankreichs Außenminister Laurent Fabius. Der Grünen-Fraktionschef im Europaparlament, Daniel CohnBendit, verlangte eine harte Linie der EU: »Es gibt keine Freiheit des Waren- und Kapitalverkehrs ohne Freiheit des Personenverkehrs. Bei einer Einschränkung der Zuwanderung gelten die bilateralen Verträge mit der EU nicht mehr«, sagte er. Wenn es Quoten für Menschen gebe, müsse es auch Quoten für die Geschäfte der Schweizer Banken und Exporte der Schweizer Wirtschaft geben. Der Schweizer Migrationsforscher Gianni D’Amato befürchtet eine Krise in seinem Land. »Der bisherige Konsens über den Weg der Schweiz ist zerbrochen. Die »Die Schweiz steht vor einem Scherbenhaufen.« Gianni D’Amato, Migrationsforscher Schweiz steht vor einem Scherbenhaufen«, sagte er dem »nd«. Denn die Schweiz ist mehr auf die EU angewiesen als die EU auf die Schweiz. Etwa 80 Prozent der schweizerischen Importe kommen aus der EU, rund 60 Prozent der Schweizer Ausfuhren gehen in die EU. Die deutsche Bundesregierung will diese Beziehungen offenbar aufrechterhalten. Re- gierungssprecher Steffen Seibert sagte, er erwarte schwierige Gespräche, Ziel müsse es aber sein, »das Verhältnis EU – Schweiz so eng wie möglich zu bewahren«. Das Ergebnis des Volksentscheids könnte auch Auswirkungen auf die Asylpolitik haben. Pro Asyl wies darauf hin, dass die von den Schweizer Initiatoren geforderten Höchstzahlen »für sämtliche Bewilligungen des Ausländerrechts unter Einbezug des Asylwesens« gelten sollten. »Eine zahlenmäßige Beschränkung des Asylzugangs wäre jedoch mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht vereinbar«, so die Flüchtlingsorganisation. Das Recht auf Prüfung eines Asylantrags eines Schutzsuchenden sei nicht kontingentierbar. Die Umsetzung der Volksabstimmung werfe die Frage auf, »ob sich die Schweiz aus dem europäischen Menschenrechtsschutzsystem verabschieden wird«. Seite 5 Zweites Olympiagold in Sotschi Sotschi. Nach einem fünften Platz in der Abfahrt reichte Maria-Höfl Riesch die drittbeste Slalomzeit zum Sieg in der alpinen Superkombination. Sie holte damit am Montag die zweite Goldmedaille für das deutsche Team in Sotschi. Die Biathleten verpassten im Verfolgungsrennen über 12,5 Kilometer die Podestplätze. nd Seiten 19 und 20 ADAC-Präsident tritt zurück Köln. Die ADAC-Führung hat ihren seit dem Manipulationsskandal in der Kritik stehenden Präsidenten Peter Meyer gestürzt: Nachdem das ADAC-Präsidium am Montag ein Suspendierungsverfahren gegen den 64-Jährigen einleitete, erklärte dieser seinen Rücktritt. AFP/nd Seite 9 Militäreinsatz in Zentralafrika Brüssel. Die EU-Außenminister haben die Entsendung von Soldaten in die Zentralafrikanische Republik beschlossen. Die vermutlich rund 500 Mann starke Truppe soll 1600 französische und 4000 afrikanische Militärs unterstützen. dpa/nd Dutzende Tote bleiben anonym Dhaka. Gut zehn Monate nach dem Einsturz einer Textilfabrik in Bangladesch mit mehr als 1100 Toten besteht kaum noch Hoffnung, bislang unbekannte Opfer zu identifizieren – und Hinterbliebenen damit Schadenersatz zu ermöglichen. Mehr als 100 Leichen konnten nicht identifiziert werden. AFP/nd
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