Die Grenzen der Offenheit

Neuö Zürcör Zäitung
NZZ – INTERNATIONALE AUSGABE
gegründet 1780
Samstag/Sonntag, 21./22. Februar 2015 V Nr. 43 V 236. Jg.
www.nzz.ch V € 2.90
Festhalten am
Minsker Abkommen
Die Grenzen der Offenheit
Der gewiefte
Taktiker Renzi
Weitgehend Ruhe im Donbass
Die skandinavischen Länder haben ihre Türen weit für Zuwanderer geöffnet. Doch vor Problemen
bei deren Integration hat man zu lange die Augen verschlossen. Von Marie-Astrid Langer
Ein Jahr Ministerpräsident
Gigantische
«Schattenwirtschaft»
Der Wert von unbezahlter Arbeit
sko. V Was ist Arbeit wert, wenn sie
nicht bezahlt wird? In der Schweiz rund
401 Milliarden Franken pro Jahr. Obwohl der erreichte Wohlstand ohne unbezahlte Arbeit unmöglich wäre, wird
sie zu wenig geschätzt. Dabei wird in der
Schweiz mehr unbezahlte Arbeit verrichtet als bezahlte. Unsere Gesellschaft
würde ohne die geleistete unbezahlte
Arbeit nicht funktionieren. Weil diese
aber keinen monetären Wert hat, wird
sie wenig geschätzt und führt für Frauen
zu grossen Nachteilen im Sozialversicherungssystem.
Schweiz, Seite 29
Die flexible
Berufslehre
Neue Studie zu Berufswechseln
hus. V Die Berufslehre finden in der
politischen Diskussion in der Schweiz
fast alle gut. Manche Eltern sehen ihre
eigenen Kinder aber lieber im Gymnasium. Das hat mit Prestigedenken zu
tun, doch eine Rolle spielen mag auch
die zuweilen gehörte Mutmassung, dass
Lehrabgänger zu früh eingespurt sein
könnten und deshalb in einem raschen
Strukturwandel eher schlechte Karten
in der Hand halten. Eine neue Studie
über Daten von rund 8000 Personen
von 1999 bis 2012 verweist diese Mutmassung nun ins Reich der Mythen.
Wirtschaft, Seite 11
WETTER
Aus Westen zunehmend bewölkt
In den zentralen und östlichen Regionen bis gegen Mittag mit Föhneinfluss
noch teilweise aufgehellt. Sonst stark
bewölkt und aus Westen aufkommender Regen, Schneefallgrenze um 500
bis 1000 Meter. Im Westen und Süden
meist stark bewölkt und zeitweise Niederschläge. Temperaturen um 4 Grad.
Seite 39
BÖRSE
Dow Jones
17891,92
–0,52%
8850,48
–0,56%
Euro in Franken
1,0676
–1,11%
Erdöl (WTI in $)
51,36
–1,51%
SMI
Kursfeststellung um 15.50 Uhr ME(S)Z.
q
Seite 15
Gäbe es eine Auszeichnung für vorbildlichen Umgang mit Zuwanderern, sie ginge sicher an ein skandinavisches Land.
Schweden heisst derzeit so viele Asylgesuche gut wie kaum
eine andere Nation in Europa, rund 80 000 waren es allein
2014. Auf die humanitäre Krise in Syrien und im Nahen Osten
hat Stockholm mit einem garantierten Aufenthaltsrecht für
jeden syrischen Asylbewerber reagiert – ein in Europa einzigartiges Angebot. Auch Norwegens Türen stehen für Ausländer weit offen, deren Anteil in der Bevölkerung ist in den vergangenen zwanzig Jahren von 4 auf 15 Prozent gestiegen.
Dänemark zeigt sich selbst gegenüber potenziell Radikalisierten verblüffend tolerant, um nicht zu sagen naiv: Sogenannte
Syrien-Rückkehrer empfängt man in Århus und Kopenhagen
mit eigens eingerichteten Auffangzentren, um den reuigen
Rückkehrern die Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu
erleichtern.
Ein Anschlag war lange erwartet worden
Keine noch so vorbildliche Migrationspolitik schützt eine Gesellschaft jedoch vor Terroranschlägen wie den jüngsten in
Kopenhagen. Der Attentäter war selbst gebürtiger Däne,
wenn auch mit Migrationshintergrund, und hat mit seinen
Morden dem skandinavischen Gesellschaftsgefüge einen
Schlag in die Magengrube versetzt. Wirklich überraschend
kamen die Taten allerdings nicht. Seit einigen Jahren häufen
sich Ausschreitungen, speziell in Dänemark und Schweden,
die auf eine Ablehnung der im säkularisierten Skandinavien
so hochgeschätzten Meinungs- und Glaubensfreiheit zurückgehen.
Den Stein des Anstosses bildeten die Mohammed-Karikaturen, die im Jahr 2006 erstmals in dänischen Zeitungen erschienen. Seitdem kann ihr Verfasser Kurt Westergaard keinen Schritt mehr in seiner Heimat ohne Polizeischutz wagen,
nachdem bereits ein Attentat auf ihn verübt worden ist. Ähnlich ergeht es auch seinem schwedischen Kollege Lars Vilks,
der im Jahr 2007 ebenfalls von seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit Gebrauch machte und den Propheten karikierte. Im Jahr 2010 vereitelte die dänische Polizei einen islamistischen Anschlag auf das Zeitungshaus «Jyllands Posten».
Im Mai 2013 kam es in den Vororten der grössten schwedischen Städte tagelang zu Ausschreitungen zwischen Polizisten
und Migranten, die in diesen Quartieren bis zu 80 Prozent der
Bevölkerung ausmachen. Und im vergangenen Jahr haben
islamfeindliche Kräfte mit einem Dutzend Anschlägen auf
schwedische Moscheen gezeigt, wie sie zur Glaubensfreiheit
stehen.
Skandinavische Scheinwelt
Somit reihen sich die jüngsten Attentate in eine Serie von Vorfällen, die Feindseligkeit zwischen Einheimischen und Zugewanderten offenbaren. Derartige Probleme sind zumindest in
Schweden ein Novum und reissen das grösste nordische Land
aus einer schönen Scheinwelt. Seit Jahrzehnten öffnet man
schliesslich seine Tore für Ausländer: in den vierziger Jahren
des 20. Jahrhunderts für die Balten, in den siebziger Jahren für
die Chilenen und Iraner und in den neunziger Jahren für rund
100 000 Personen aus dem von den Bürgerkriegen heimgesuchten Balkan. Lange verlief diese Zuwanderung reibungslos und war für die schwedische Industrie gar überlebenswichtig. Heute braucht man an sich die Ausländer angesichts der alternden Gesellschaft nach wie vor, gefällt sich
aber auch in der Rolle des Wohlfahrtsstaates mit vorbildlicher
Migrationspolitik. In der Stadt Södertälje südlich von Stockholm leben mittlerweile die meisten Iraker ausserhalb des
eigenen Staates.
Dänemark hingegen distanziert sich bewusst von dieser
Politik. Wirtschaftlich und gesellschaftlich mag man Schweden ähneln, doch anders als der nördliche Nachbar strebt man
keine Rolle als «humanitäre Supermacht» an. Früh hat man
sich um den eigenen Wohlstand zu sorgen begonnen und die
Zuwanderung für aussereuropäische Einwanderer begrenzt.
Dafür verantwortlich zeichnet die rechtspopulistische Dänische Volkspartei, die seit den neunziger Jahren fest im Parlament sitzt und die Ausländerpolitik massgeblich mitgeprägt
hat. In Schweden jedoch haben die etablierten Parteien zu
lange die Augen vor den mit Zuwanderung einhergehenden
Problemen verschlossen. Sie überliessen das Thema den
rechtsnationalistischen Schwedendemokraten, die daraus ihre
Daseinsberechtigung ziehen. Die zunehmenden Spannungen
haben im Jahr 2010 schliesslich Realität werden lassen, was in
Dänemark, Finnland und Norwegen längst eingetreten ist:
den Einzug der Rechtsnationalisten ins nationale Parlament.
Mittlerweile haben die Schwedendemokraten ihren Stimmenanteil auf 13 Prozent verdoppelt, und die jüngsten Terroranschläge dürften Wasser auf ihre Mühlen sein. Natürlich bedeuten Zuwanderung und Anschlagsgefahr nicht dasselbe –
aber die Ängste der Bevölkerung zu schüren, versteht die Partei auf geschickte Weise.
Lösungsvorschläge zur Integration gesucht
Tatsächlich gibt es bei der Integration von Ausländern deutliche Defizite. Besonders am zweigeteilten Arbeitsmarkt
offenbaren sich diese, in allen skandinavischen Ländern ist die
Arbeitslosenquote unter Ausländern mehr als doppelt so
hoch wie unter Inländern. Perspektivlosigkeit und Ghettoisierung lassen Parallelgesellschaften mit eigenen Ansichten und
Wertesystemen entstehen.
Die Diskrepanz zwischen der propagierten offenen Migrationspolitik und der nur begrenzt möglichen Integration wird
vor allem im früheren Musterland Schweden immer offensichtlicher. Das Land erinnert an eine Wohngemeinschaft, in
der jeder willkommen ist einzuziehen – und man sich dann
aber wundert, wenn das Zusammenleben schiefgeht. Das Beispiel der dänischen Migrationspolitik zeigt jedoch, dass auch
eine klare Beschränkung der Zuwanderung noch lange keinen
Schutz vor Anschlägen bietet. Heute dienen soziale Netzwerke als Katalysator für extremistisches Gedankengut und
vereinfachen die Radikalisierung von Einzeltätern – unabhängig von deren Nationalität. Schutz bietet wenn überhaupt
nur eine intelligente Kombination aus präventiver Polizeiarbeit und Integration. Wie Letztere gelingen kann, darüber
müssen in Skandinavien endlich auch die etablierten Parteien
diskutieren. Musterschüler zu sein, nützt nichts, wenn die
eigene Gesellschaft darunter leidet.
FOKUS DER WIRTSCHAFT
SCHWEIZ
Seite 6
Seite 14
Seite 30
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WIRTSCHAFT
FEUILLETON
ZÜRICH UND REGION
Seite 9
Seite 21
Seite 33
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WIRTSCHAFT
Burma steht vor
einer rosigen Zukunft
FEUILLETON
Milan Kunderas Roman
als ironische Bilanz
SPORT
Seite 11
Seite 23
Seite 37
Griechische Banken
in Bedrängnis
Sportresultate 36
Finanzmarkt 28
Wie lässt sich unser
Geldsystem erneuern?
Neue Disneyfilme als
Gegenpol der Moderne
Anlagefonds 33–35
Kunsthandel 42
Regierung Valls
bestätigt
Umstrittene Gesetzesreform
but. V In Paris ist am Donnerstag ein
Misstrauensantrag gegen die Regierung wie erwartet gescheitert. Als Zeichen der Stärke für Premierminister
Valls kann das Votum trotzdem nicht
gedeutet werden: Zu dem Misstrauensantrag kam es nämlich, weil die Regierung ein bei den regierenden Sozialisten stark umstrittenes Reformgesetz,
die sogenannte Loi Macron, mit einer
prozeduralen «Abkürzung» ohne Abstimmung durch die Assemblee
´ nationale geschleust hat. Nur auf diese
Weise konnte sich der Premierminister
überhaupt gegen die parteiinternen
Kritiker durchsetzen. Der Opposition
blieb damit nur noch der Griff zur Vertrauensfrage. Neben den Bürgerlichen
stimmten auch Teile der Kommunisten
und der Linkspartei dafür, der Regierung das Vertrauen zu entziehen. Die
bürgerliche UMP geht trotz ihrer Niederlage gestärkt aus dem Kräftemessen
hervor. Die umstrittene Loi Macron
soll Frankreich wieder zu Wachstum
verhelfen.
International, Seite 3
Ein Schmähgedicht
INTERNATIONAL
Schweigemarsch und
Polemik in Argentinien
tst. V Der italienische Ministerpräsident
Matteo Renzi sitzt nach einem Jahr im
Amt fest im Sattel. Er hat zwar nicht
wie versprochen eine Reform pro Monat durchgebracht, mit dem Arbeitsmarkt und dem Wahlrecht konnte er
aber in zwei wichtigen Bereichen Fortschritte verbuchen. Ausserdem konnte
er mit dem Erfolg seines Kandidaten
Sergio Mattarella bei der Präsidentenwahl bei vielen Italienern punkten. Im
Zuge der Wahl kam die parteiübergreifende Unterstützung durch Silvio Berlusconi und seine Forza Italia zu einem
abrupten Ende. Die Art und Weise von
Renzis Politik wird aber auch in den
eigenen Reihen heftig kritisiert. Er sei
ein arroganter Machtmensch und mische sich in die Arbeit der Legislative
ein. Auf jeden Fall konnte er jüngst seinen Willen mit geschicktem Taktieren
und starkem Druck durchsetzen. Die
Drohung mit der Vertrauensfrage verfing besonders gut, weil Neuwahlen
derzeit nur Renzis Partito Democratico
gelegen kämen.
International, Seite 7
Bistum Chur wehrt
sich gegen Vorwürfe
Eine Simbabwerin wird
in Zürich heimisch
Young Boys verlieren
gegen Everton deutlich
Veranstaltungen 42, 44
Kino 44
Redaktion und Verlag: Neue Zürcher Zeitung, Falkenstrasse 11, Postfach, 8021 Zürich, Telefon +41 44 258 11 11,
Leserservice/Abonnements: +41 44 258 15 30, weitere Angaben im Impressum Seite 43.
Tourismus 46
Trauer 8
ANEFO
C. Sr. V Trotz der Einnahme von Debalzewe durch die prorussischen Separatisten klammern sich die Teilnehmer des
Minsker Gipfels an das dort abgeschlossene Abkommen. Umstritten ist, wer
den vereinbarten Waffenstillstand und
den Abzug der schweren Waffen überwachen soll. Den ukrainischen Vorschlag, diese Aufgabe einer EU-PolizeiMission mit einem Uno-Mandat zu
übertragen, wird von Russland abgelehnt. Die prorussischen Separatisten
feierten in Debalzewe ihren Sieg und
setzten einen neuen Bürgermeister ein.
International, Seite 5
Als 1991 die Sowjetunion auseinanderbrach und die Ukraine ihre langersehnte Unabhängigkeit erlangte, geriet darüber ein antisowjetischer russischer
Dichter in Zorn, dem man derlei nicht
zugetraut hätte. Joseph Brodsky schrieb
ein Schmähgedicht, das unlängst erneut
Karriere machte.
Literatur und Kunst, Seite 25