26. September 2006 Mehr Wachstum für Deutschland Aktuelle Themen 366 Kombilohn 0 Was es für den Erfolg braucht Chancen für den Arbeitsmarkt nutzen Die Große Koalition beabsichtigt, bis zum Jahresende die Einführung eines Kombilohns zu beschließen. Mit diesem Instrument wollen die Regie- rungsparteien insbesondere neue Beschäftigungsmöglichkeiten für gering Qualifizierte schaffen – dies ist grundsätzlich zu begrüßen. Deutschland verfügt bereits über einen Niedriglohnsektor. Die Niedrig- lohnschwelle, die gemäß OECD und EU-Kommission bei zwei Drittel des Medianlohns liegt, beträgt monatlich EUR 1.630. Minijobber und gering Qualifizierte sind im Verhältnis zum jeweiligen Beschäftigungsanteil überproportional im Niedriglohnsegment vertreten. Die Hinzuverdienstregelung für Arbeitslosengeld II-Bezieher als unbefristeter Kombilohn ist grundlegend falsch konzipiert. So fördert man keinen Einstieg in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, stattdessen – empirisch belegt – das Verharren im Leistungsbezug. Die bisherigen befristeten Kombilöhne haben nur geringe Beschäftigungseffekte. Sie lassen kaum Spielraum für ein dauerhaft anderes Verhalten auf der Angebots- und Nachfrageseite, zudem sind sie empfänglich für Drehtürund Mitnahmeeffekte. Die Vorschläge der Regierungsparteien für Kombilöhne sind wenig ermutigend. Sie setzen weitgehend auf bestehende befristete Lohnzuschüsse und sind sehr anfällig für Mitnahmeeffekte. Insbesondere die von der SPD vorgeschlagene Entgeltsicherung entfaltet keinerlei Beschäftigungswirkung. Ein Kombilohn-Modell, das sein Heil in der noch stärkeren Ausgestaltung der finanziellen Anreize zur Arbeitsaufnahme sucht, greift zu kurz. Stattdessen sollte im Zuge einer Revision von Hartz IV auf der Leistungssei- Autor Urban Mauer +49 69 910-31886 [email protected] Editor Barbara Böttcher Publikationsassistenz Martina Ebling Deutsche Bank Research Frankfurt am Main Deutschland Internet: www.dbresearch.de E-Mail: [email protected] Fax: +49 69 910-31877 DB Research Management Norbert Walter te die Chance für einen Kombilohn genutzt werden, der systematisch auf der Hinzuverdienstregelung aufbaut, aber konsequent die Arbeitsanreize auf einen Ausstieg aus dem Hilfebezug in höheren Einkommensbereichen setzt. Ein solches Konzept kann nur ein kleiner Baustein in einem umfassenden Programm für eine dynamischere Arbeitsmarktentwicklung sein. Außerdem dauert es, bis sich durch Reformen ausgelöste Verhaltensänderungen im erforderlichen Ausmaß in neuen Arbeitsplätzen niederschlagen. Die gleichzeitige Einführung eines Mindestlohns wirkt gerade deshalb kontraproduktiv und sollte tunlichst unterbleiben. Ein Mindestlohn läuft der Grundidee eines Kombilohns, niedrige Löhne staatlich aufzustocken, diametral entgegen. Er würde Millionen bestehender Arbeitsplätze gefährden und die Wiedereingliederungschancen von Arbeitslosen weiter verschlechtern. Aktuelle Themen 366 Inhaltsverzeichnis I. Seite Einleitung............................................................................................................................... 3 II. Kombilohn und Mindestlohn: Analyse des derzeitigen Arbeitsmarktregimes ................. 4 1. Potentielle Zielgruppen für einen Kombilohn .................................................................4 2. Beschäftigung im Niedriglohnsegment .........................................................................5 3. Grundsicherung und Lohnabstandsgebot.....................................................................6 4. Mindestlöhne: Ein untaugliches Mittel ..........................................................................8 5. Bestehende Kombilöhne in Deutschland....................................................................10 5.1 5.2 Hinzuverdienstfreistellung von Hartz IV als Kombilohn .................................10 5.1.1 Auf halbem Weg stehen geblieben: Von der Sozialhilfe zu Hartz IV..10 5.1.2 Einmal retour: Das Freibetragsneuregelungsgesetz ......................... 11 5.1.3 Inanspruchnahme der Hinzuverdienstregelung folgt Fehlanreizen....13 Andere Formen von Kombilöhnen im geltenden Recht .................................15 III. Kombilöhne: Vorschläge aus Wissenschaft und Politik ..................................................17 1. Vorschläge aus der Wissenschaft ..............................................................................17 1.1 Das Kombilohn-Modell des ifo-Instituts .........................................................17 1.2 Die Magdeburger Alternative.........................................................................18 Exkurs: Das Kombilohn-Modell des Sachverständigenrats ........................................19 2. Die Vorschläge der Regierungsparteien .....................................................................20 IV. Zehn Punkte für einen Erfolg versprechenden Kombilohn .............................................21 2 26. September 2006 Kombilohn - Was es für den Erfolg braucht I. Einleitung Die Regierungsparteien haben sich im Koalitionsvertrag darauf verständigt, die Einführung eines Kombilohn-Modells zu prüfen, auch die Themen Entsendegesetz und Mindestlohn sollen hier eingebettet werden. Die Koalitionäre begründen diesen Schritt insbesondere mit den zu geringen Chancen schlecht qualifizierter Personen auf dem Arbeitsmarkt. Ein besserer Zugang zum Arbeitsmarkt sei für diese meist nur über niedrig entlohnte Tätigkeiten möglich. Daher bestehe die Notwendigkeit, das am Markt erzielte Einkommen aus Erwerbstätigkeit durch einen ergänzenden staatlichen Transfer zu einem Kombilohn aufzustocken. Erklärte Ziele eines Kombilohns sind aus Sicht der Koalition: 1. Die Aufnahme einfacher Arbeit soll lohnend gemacht werden. 2. Zusätzliche Arbeitsplätze für einfache Tätigkeiten sollen geschaffen werden. 3. Die bestehenden Programme und Maßnahmen zur Lohnergänzung sollen gebündelt und in einem Förderansatz zusammengefasst werden. Analyse und Ziele zutreffend Sowohl der Analyse in Bezug auf die Arbeitsmarktchancen der gering Qualifizierten als auch den angestrebten Zielen ist zuzustimmen. Mit einem Kombilohn soll dem Arbeitsmarkt ein Stück weit wieder der Charakter eines Marktes zurückgegeben werden, indem Preisbildung nach Marktgesetzen zugelassen wird, bevor der Staat das aus sozialpolitischen Gründen möglicherweise nicht zufriedenstellende Marktergebnis im Nachhinein durch die Aufstockung des Markteinkommens ändert. Die Öffnung der Lohnstruktur nach unten verbessert die Erwerbschancen der gering Qualifizierten ohne deren Armutsrisiko zu vergrößern und eröffnet zugleich den Unternehmen die Möglichkeit, ihre Arbeitsnachfrage im Niedriglohnsegment auszuweiten. Effizienterer Instrumenteneinsatz nötig Darüber hinaus ist das Vorhaben einer Bündelung und Effizienzsteigerung bestehender Programme zur Lohnergänzung zu begrüßen, denn durch den arbeitsmarktpolitischen Aktivismus der vergangenen Jahrzehnte ist „ein übervoller Instrumentenkasten entstanden, dessen Existenz und Kostspieligkeit allein scheinbare Handlungsfähig1 keit demonstrierte.“ Umso wichtiger ist es anzuerkennen, dass „die nun durchgeführten wissenschaftlichen Evaluationen die Arbeits2 marktpolitik weitgehend demaskieren“. Deshalb braucht es auch keine neuen Instrumente, sondern die Konzentration auf diejenigen Konzepte, die sich als wirksam erwiesen haben oder die durch leichte Modifikationen zu arbeitsmarktpolitischen Erfolgen beitragen können. Die Bundesregierung wird sich daran messen lassen müssen, welche konkrete Therapie sie anwenden will, um die mit einem Kombilohn verfolgten richtigen Ziele zu erreichen. 1 2 26. September 2006 Schneider, H., W. Eichhorst und K. F. Zimmermann (2006), Konzentration statt Verzettelung: Die deutsche Arbeitsmarktpolitik am Scheideweg. In Perspektiven der Wirtschaftspolitik. 7. Jg., Heft 3, S. 379-397. Ebd. S. 379. Zu den Zwischenergebnissen der Evaluationen von Hartz I bis III vgl. Bundesregierung (2006). Die Wirksamkeit moderner Dienstleistungen am Arbeitsmarkt. Bericht 2005 der Bundesregierung zur Wirkung der Umsetzung der Vorschläge der Kommission Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (ohne Grundsicherung für Arbeitsuchende). Berlin. 3 Aktuelle Themen 366 II. Schlechte Chancen für gering Qualifizierte Kombilohn und Mindestlohn: Analyse des derzeitigen Arbeitsmarktregimes % 25 20 15 10 5 0 NL SE GB DK IT US ES FR DE Arbeitslosenquote aller Erwerbspersonen im Alter von 25 bis 64 Jahren ohne Abitur und ohne abgeschlossene Berufsausbildung 1 Quelle: OECD Employment Outlook 2006 Gegen den Trend Veränderung der ALQ gering Qualifizierter 1994-2004 in % -30 0 Mögliche Zielgruppen für einen Kombilohn sind Personen, deren Qualifizierungsniveau derart gering ist, dass der durch Erwerbstätigkeit zu erzielende Lohn häufig nicht ausreicht, um den eigenen Lebensunterhalt zu decken. Dazu zählen vorrangig diejenigen, die rein formal über keine abgeschlossene Berufsausbildung verfügen und die sich auch durch entsprechende Berufserfahrungen nicht richtig haben qualifizieren können. Neben den bereits erwerbstätigen gering Qualifizierten mit sehr niedrigen Löhnen fallen unter diese Gruppe die Arbeitslosen mit geringer Qualifikation. Diese stellen mit rd. 40% einen beträchtlichen Anteil an allen Arbeitslosen in Deutschland – im internationalen Vergleich ein Spitzenwert. Die qualifikationsspezifische Arbeitslosenquote der gering Qualifizierten liegt nach OECD-Angaben mit 20,5% mehr als dreimal so hoch wie in Schwe3 den und Großbritannien und um 70% über der in Frankreich. Allein in den vergangenen zehn Jahren ist diese Quote – gegen den internationalen Trend – um nahezu 50% angestiegen. Dabei weist Deutschland im internationalen Vergleich einen nur unterdurchschnittlichen Anteil der gering Qualifizierten an der Bevölkerung zwischen 25 und 64 Jahren auf. Aber gerade dies trägt dazu bei, dass gering Qualifizierte besonders schlechte Chancen am Arbeitsmarkt haben. Denn sie konkurrieren mit Arbeitslosen mit bes4 serer Qualifikation und entsprechend höherer Produktivität, mit der sog. Stillen Reserve, die unter bestimmten Arbeitsmarktbedingungen ebenfalls bereit ist, Arbeit anzubieten, und schließlich auch zunehmend mit Migranten, v.a. aus Osteuropa, die teilweise besser qualifiziert und zudem bereit sind, für niedrige Löhne zu arbeiten. DE IT US FR ES NL ES GB DK -60 1. Potentielle Zielgruppen für einen Kombilohn 30 60 2 Quelle: OECD Employment Outlook 1997, 2006 Solides Bildungsniveau in Deutschland Anteil gering Qualifizierter an der Bevölkerung zwischen 25 und 64 Jahren in % 60 50 40 30 20 Neben diese Zielgruppe treten auch diejenigen, die zwar formal über eine abgeschlossene Berufsausbildung verfügen, aber aufgrund von Langzeitarbeitslosigkeit eine beträchtliche Entwertung von Wissen und Qualifikation aufweisen. Auch für diese Gruppe ist der Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt beschwerlich (HysteresisPhänomen); er führt meist nur über entsprechend gering entlohnte Tätigkeiten. Auch wenn es unbestritten notwendig ist, durch entsprechende Bildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen den Anteil der gering Qualifizierten langfristig zu senken, ist kurz- und mittelfristig darauf hinzuwirken, dass die Beschäftigungschancen dieser Personengruppe verbessert werden. Das ifo Institut hat zu Beginn 5 des Jahres bei der Vorstellung seines Kombilohn-Modells das ungenutzte Arbeitskräftepotential im Niedriglohnsektor auf rd. 3,2 Mio. Personen beziffert. 10 0 US GB DE SE DK NL FR IT ES Quelle: OECD (2005): Education at a glance 3 3 4 5 4 Stützt man sich auf die Statistik der Bundesagentur für Arbeit, beträgt die Quote sogar fast 25%. Vgl. Reinberg, A. und M. Hummel (2005), Vertrauter Befund: Höhere Bildung schützt auch in der Krise vor Arbeitslosigkeit. IAB-Kurzbericht Nr. 9. Einen Beleg für die Verdrängung von gering Qualifizierten durch höher Qualifizierte auch bei Einfacharbeitsplätzen liefern Kalina, T. und C. Weinkopf (2005), Beschäftigungsperspektiven von gering Qualifizierten. Gewinne in einigen Dienstleistungsbereichen bei negativem Gesamttrend, IAT-Report 2005-10. Demnach sind die Anforderungsprofile der Unternehmen auch für die meisten der untersuchten einfachen Tätigkeiten breiter und differenzierter als oftmals angenommen. Vgl. Sinn, H.-W., C. Holzner, W. Meister, W. Ochel und M. Werding (2006). Aktivierende Sozialhilfe 2006: Das Kombilohn-Modell des ifo Instituts. Sonderdruck aus ifo Schnelldienst Nr. 2. 26. September 2006 Kombilohn - Was es für den Erfolg braucht 2. Beschäftigung im Niedriglohnsegment Haupterwerbstätige nach Beschäftigungsart Ungeachtet der Zielsetzung, dieses Arbeitskräftepotential zu heben, darf nicht übersehen werden, dass Deutschland bereits über einen Niedriglohnsektor von nennenswertem Ausmaß verfügt. Bei der Abschätzung der Größe dieses Arbeitsmarktsegments kommt es natürlich darauf an, wann ein Lohn als Niedriglohn anzusehen ist. Während das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der Hans-Böckler-Stiftung die Niedriglohngrenze bei 75% des Durch6 schnittslohns sehr hoch anlegt , verwenden andere Studien in Anlehnung an international vergleichende Untersuchungen der OECD und der EU-Kommission eine Niedriglohnschwelle, die bei zwei Drittel des Medianlohns liegt. Minijobber 6,3% Teilzeitbeschäftigte 21,6% Vollzeitbeschäftigte 72,1% Quelle: Kalina, T. und C. Weinkopf (2006) 4 Niedriglohnbereich - Minijobber überproportional vertreten 8 Kalina und Weinkopf haben jüngst auf der Basis von Daten aus dem Sozio-ökonomischen Panel (SOEP) 2004 die Verbreitung von Niedriglöhnen bei allen abhängig Beschäftigten untersucht und damit auch die Gruppen der sozialversicherungspflichtig Teilzeit- und 9 geringfügig Beschäftigten. Für Westdeutschland ergibt sich eine Niedriglohnschwelle von EUR 9,83 Bruttostundenlohn, für Ostdeutschland von EUR 7,15. Nach dieser Abgrenzung beträgt der Niedriglohnanteil 20,8%. Gut sechs Millionen abhängig Beschäftigte beziehen Stundenlöhne unterhalb dieser Niedriglohnschwelle. Minijobber 26,3% Teilzeitbeschäftigte 22,2% Engt man dagegen den Kreis der Niedriglohnbezieher auf diejenigen ein, die weniger als 50% des Medianlohns verdienen, arbeiten 9% der abhängig Beschäftigten oder gut 2,6 Millionen für Stundenlöhne unter EUR 7,38 in West- und EUR 5,37 in Ostdeutschland. Vollzeitbeschäftigte 51,5% Quelle: Kalina, T. und C. Weinkopf (2006) 5 Minijobs sind meist Niedriglohnbeschäftigung % 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 Vollzeit Teilzeit Eine Differenzierung nach der Arbeitszeit zeigt, dass die Minijobber im Verhältnis zu ihrem Anteil an allen Beschäftigten weit überproportional im Niedriglohnbereich vertreten sind. Während sie nur gut 6% aller abhängig Beschäftigten stellen, beträgt ihr Anteil an den Niedriglohnbeziehern 26,3%. Innerhalb der Gruppe der Minijobber fallen sogar fast 86% unter die Niedriglohnschwelle. Unter den Vollzeitbeschäftigten arbeiten hingegen deutlich weniger zu Niedriglöhnen als unter den Teilzeitbeschäftigten und den Minijobbern. Auch bei der Auswertung des Niedriglohnsektors nach der Qualifikation der Beschäftigten zeigt sich ein vertrauter Befund. Zwar ist der Anteil derjenigen mit Berufsausbildung an den Niedriglohnbeziehern mit 67,2% am höchsten. Er entspricht aber in etwa deren Anteil an allen Beschäftigten. Dagegen ist der Anteil der gering Qualifizierten 6 7 Minijobber 8 Anteil der Niedriglohnbeschäftigten innerhalb der Beschäftigungskategorie Quelle: Kalina, T. und C. Weinkopf (2006) 26. September 2006 Stützt man sich ausschließlich auf sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigte (ohne Auszubildende) und zieht die effektiv gezahlten Bruttolöhne inklusive anteiliger Sonderzahlungen heran, lag diese Niedriglohnschwelle im Jahr 2001 bei einem Bruttomonatsge7 halt von EUR 1.630 (Westdeutschland: EUR 1.700). Dies entspricht Bruttostundenlöhnen unter EUR 9,80 (Westdeutschland: EUR 10,25). 3,63 Mio. oder 17,4% aller Vollzeitbeschäftigten fielen in diese Gruppe. 6 9 Vgl. Schäfer, C. (2003), Effektiv gezahlte Niedriglöhne in Deutschland. In WSIMitteilungen 56, S. 420-428. Das WSI kommt mit dieser Abgrenzung zu einem Niedriglohnanteil von fast 36% unter allen ganzjährig sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten. Vgl. Rhein, T., H. Gartner und G. Krug (2005). Niedriglohnsektor: Aufstiegschancen für Geringverdiener verschlechtert. IAB-Kurzbericht Nr. 2. Die Auswertung stützt sich auf Daten der IAB-Beschäftigtenstichprobe aus dem Jahr 2001. Kalina, T. und C. Weinkopf (2006). Mindestens sechs Millionen Niedriglohnbeschäftigte in Deutschland: Welche Rolle spielen Teilzeitbeschäftigung und Minijobs? IAT-Report 2006-03. Berücksichtigt werden ausschließlich Haupterwerbstätigkeiten. Nebenbeschäftigungen, die v.a. bei Minijobs sehr häufig auftreten, sind nicht einbezogen. 5 Aktuelle Themen 366 an den Niedriglohnbeziehern mit 42% doppelt so hoch wie an allen Beschäftigten. Geringe Qualifikation - geringe Entlohnung % 50 40 30 20 10 0 3. Grundsicherung und Lohnabstandsgebot FH/ Mit Ohne Universität BerufsBerufsausbildung ausbildung Anteil der Niedriglohnbeschäftigten innerhalb des Qualifikationsniveaus Quelle: Kalina, T. und C. Weinkopf (2006) Ungeachtet des beschriebenen Ausmaßes an Niedriglohnbeschäftigung verbietet sich eine Gleichsetzung von Niedriglohn und Armut. Neben Zusatzeinkünften sind es meist besser verdienende Partner, die mit ihrem Gehalt dafür sorgen, dass der Haushalt nicht als arm gilt. Dazu zählt fast die Hälfte der Arbeitnehmer mit Niedriglohn. Rd. 17% der Arbeitnehmer mit einem Niedriglohn leben hingegen in 10 einem Haushalt, der als arm zu bezeichnen ist. Diese Zahlen verdeutlichen, dass – jenseits der diskussionswürdigen Frage, wie Armut zu definieren ist – das Phänomen der ’working poor’ in Deutschland nur sehr gering ausgeprägt ist. 7 Leistungshöhe Arbeitslosengeld II — Monatliche Regelleistung (RL) · Alleinstehende, Alleinerziehende und Arbeitsuchende mit Partner unter 18 Jahre: EUR 345 EUR · Volljährige (Ehe-)Partner: jeweils 90% der RL (EUR 311) · Jugendliche zwischen 15 und 25 Jahre (ohne eigene Wohnung): 80% der RL (EUR 276) · Kinder bis zum vollendeten 14. Lebensjahr: 60% der RL (EUR 207) — Kosten für Unterkunft und Heizung in angemessener Höhe — Einbeziehung in die Kranken-, Pflegeund Rentenversicherung — Zuschüsse für einmalige Leistungen, Mehrbedarfe — Auf zwei Jahre befristeter Zuschlag beim Übergang vom ALG I zum ALG II · im 1. Jahr: Zwei Drittel des Unterschiedsbetrags zwischen zuletzt bezogenem ALG I (zzgl. Wohngeld) und Anspruch auf ALG II (oder Sozialgeld), max. EUR 160 bei erwerbsfähigen Hilfebedürftigen bzw. EUR 320 bei Partnern; für minderjährige Kinder im Haushalt max. EUR 60 pro Kind · im 2. Jahr: Halbierung des Zuschlags — Kinderzuschlag bei Erwerbstätigkeit der Eltern zur Vermeidung des ALG II-Bezugs, wenn der Bedarf der Eltern gedeckt ist: bis zu EUR 140 pro Kind, max. 3 Jahre Die Auflistung der Leistungshöhe bei Hilfebezug zeigt, dass die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zur Grundsicherung für Arbeitsuchende auf einem Niveau erfolgt ist, das die alte Sozialhilfe übersteigt. Der Regelsatz wurde für alle Hilfebezieher um rd. EUR 50 auf EUR 345 erhöht, um damit die zuvor nur nach Bedarf gezahlten einmaligen Leistungen pauschal abzugelten. Die vormaligen Sozialhilfebezieher sind nunmehr in die Versicherungspflicht, v.a. auch in die Rentenversicherung, einbezogen. Für das Schonvermögen gelten weitgehend die Regelungen der alten Arbeitslosenhilfe mit der Nichtanrechnung erheblicher Vermögenswerte auf die Grundsicherung. Schließlich wird der Übergang von der Versicherungsleistung ALG I auf die Fürsorgeleistung ALG II durch Übergangszuschläge, die über zwei Jahre degressiv ausgestaltet sind, aus sozialpolitischen Gründen abgefedert. Während diese Regelung, die rd. EUR 750 Mio. p.a. kostet, die Anspruchslöhne hoch hält und die Suchintensität negativ beeinträchtigen dürfte, sorgt die großzügige Vermögensfreistellung dafür, dass der Kreis der Anspruchsberechtigten erheblich höher ist als bei Anwendung der Regeln der alten Sozialhilfe. Mit welcher Begründung geschieht dies eigentlich? Die dauerhafte Verschonung von Vermögen vor der Verwertung atmet den Geist eines Gesetzgebers, der die Betroffenen für einen Wiedereinstieg in den ersten Arbeitsmarkt weitgehend aufgegeben hat und ihnen die Einrichtung im Hilfebezug noch einigermaßen erträglich gestalten will. Dem Subsidiaritätsprinzip, demgemäß erst diejenigen staatliche Hilfe in Anspruch nehmen sollen, die sich weder durch eigene Arbeitsleistung noch durch an11 dere Mittel materiell selbst zu helfen wissen , läuft die Schonvermögensregelung elementar zuwider. Sie ist darauf ausgerichtet, einen einmal erreichten Besitzstand zu wahren, statt anzuerkennen, dass die Unwägbarkeiten eines Berufslebens auch den Verzehr angesparter Reserven notwendig machen können. Zudem geht die Regelung mit einer eklatanten Ungleichbehandlung gegenüber Menschen einher, die nicht hilfebedürftig, sondern zu Löhnen erwerbstätig sind, die ihnen keine Vermögensbildung erlauben. Die Höhe des Grundsicherungsniveaus, also die Leistung, auf die erwerbsfähige Hilfebedürftige bei Nichterwerbstätigkeit Anspruch haben, steht in beträchtlichem Missverhältnis zum Einkommen aus Erwerbstätigkeit, das durch Niedriglohnbeschäftigung erzielt werden kann. Berechnungen der Lohnabstände zwischen potentiellem Er10 11 6 Institut der deutschen Wirtschaft (2006), Niedriglohn und Armut: Zwei Paar Schuh´, in: iwd, Nr. 24, S. 4f. Hierzu gehört auch die wechselseitige Einstandspflicht Verwandter ersten Grades, wie sie derzeit im politischen Raum kontrovers diskutiert wird. 26. September 2006 Kombilohn - Was es für den Erfolg braucht Schonvermögen (bleibt von der Anrechnung auf das ALG II verschont) — Grundfreibetrag · EUR 150 pro Lebensjahr für jeden volljährigen Hilfebedürftigen; mindestens EUR 3.100, max. EUR 9.750. · EUR 520 pro Lebensjahr für bis zum 1.1.1948 Geborene, max. EUR 33.800 · EUR 3.100 für Minderjährige; darüber hinausgehendes Vermögen nur zur Sicherung des Lebensunterhalts der Kinder — EUR 750 Freibetrag für notwendige Anschaffungen für jeden in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Hilfebedürftigen — Staatliche Rente, Betriebsrenten, staatlich geförderte Altersvorsorge und die Erträge daraus — Weiteres Vermögen, das der Altersvorsorge dient und vor Eintritt in den Ruhestand aufgrund vertraglicher Vereinbarung nicht verwertbar ist, bis zu einer Höhe von EUR 250 pro Lebensjahr für jeden erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, max. EUR 16.250 — Angemessenes Kfz für jeden in der Bedarfsgemeinschaft lebenden erwerbsfähigen Hilfebedürftigen (Richtwert: EUR 5.000) — Wertgegenstände, wenn deren Verkauf einen Verlust von mehr als 10% des Substanzwertes bedeuten würde — Selbst genutztes Hausgrundstück von angemessener Größe oder eine entsprechende Eigentumswohnung (Richtwert: bis ca. 130 qm Wohnfläche; Grundstücksgröße: bis ca. 500 qm in der Stadt, ca. 800 qm auf dem Land) werbseinkommen und dem Grundsicherungsniveau unterstreichen für zahlreiche Gruppen von ALG II-Beziehern die eklatante Verlet12 zung des Lohnabstandsgebots – wie bereits zu Zeiten der alten Sozialhilfe. Auch hier waren die Anreize für das Verharren im Leistungsbezug groß. Kritische Lohnabstände, die eine Vollzeitbeschäftigung – und erst recht Beschäftigungsverhältnisse mit kürzeren Arbeitszeiten – auf dem ersten Arbeitsmarkt unattraktiv erscheinen lassen, bestehen insbesondere bei Leistungsbeziehern mit geringer Qualifikation, mit Kindern sowie mit nicht erwerbstätigen Partnern. Die Problematik verschärft sich für Tätigkeiten im Dienstleistungssektor und in Ostdeutschland, weil dort die Stundenlöhne tendenziell niedriger sind als in anderen Sektoren bzw. in Westdeutschland. Je mehr dieser Merkmale zusammenkommen, desto gravierender wird das Problem. Um mindestens genau so gut dazustehen wie im Leistungsbezug ohne Arbeit, müssen die Hilfebedürftigen durch Erwerbstätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt äquivalente Marktlöhne erzielen, die aufgrund ihres Erwerbsprofils in vielen Fällen unrealistisch hoch erscheinen. Während die äquivalenten Marktlöhne bei größeren Bedarfsgemeinschaften bereits ohne Berücksichtigung von befristet gewährten Zuschlägen kritische Größenordnungen im Vergleich zu Einstiegspositionen mit geringer Qualifikation erreichen, übersteigen sie unter Einrechnung der Zuschläge, bei Ausübung einer Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung (sog. Ein-Euro-Jobs) sowie erst recht bei Teilzeitbeschäftigung die Niedriglohnschwelle erheblich. Insbesondere für Mehrpersonenhaushalte zeigt sich, dass sich die äquivalenten Marktlöhne von Leistungsbeziehern bei Aus- — Weitere Vermögensgegenstände gem. § 12 Abs. 3 Nr. 1, 3, 5 und 6, SGB II. Grundsicherung und äquivalente Marktlöhne in EUR Alleinerziehend Alleinstehend 1 Kind unter 7 J. (Ehe-)Paar Alleinverdiener 2 Kinder unter 15 J. (Ehe-)Paar Alleinverdiener Regelleistungen 345 552 622 1.036 + Kosten der Unterkunft 317 414 412 538 - 124 - - 662 1.090 1.034 1.574 + Mehrbedarf = Haushaltseinkommen (ohne Kindergeld) + max. Übergangszuschlag + Mehraufwandsentschädigung** Äquivalenter Bruttostundenlohn* Äquivalenter Bruttostundenlohn* mit max. Übergangszuschlag Äquivalenter Bruttostundenlohn* mit max. Übergangszuschlag und Ein-Euro-Job 822 1.310 1.354 2.014 1.017 1.505 1.549 2.209 5,10 7,55 8,00 9,75 6,40 9,90 10,45 13,70 8,50 12,40 12,10 15,75 * Zugrunde gelegt wird eine Vollzeittätigkeit mit 165 Std. pro Monat. Kindergeld ist als zu berücksichtigendes Einkommen abgesetzt. Die erforderlichen Bruttostundenlöhne reduzieren sich, wenn und insoweit Wohngeldanspruch besteht. ** Gem. BA- Empfehlung soll die Wochenarbeitszeit in einem Ein-Euro-Job nicht mehr als 30 Stunden betragen. Die Mehraufwandsentschädigung betrage EUR 1,50/Std. 12 26. September 2006 8 Vgl. Boss, A., B. Christensen und K. Schrader (2005), Anreizprobleme bei Hartz IV: Lieber ALG II statt Arbeit? Kieler Diskussionsbeiträge 421. Institut für Weltwirtschaft, Kiel. 7 Aktuelle Themen 366 13 übung eines Ein-Euro-Jobs als eine nur schwer zu überwindende Hürde auf dem Weg zurück in den Arbeitsmarkt erweisen und das 14 Verharren im Leistungsbezug („Lock-in-Effekt“) befördern können. 4. Mindestlöhne: Ein untaugliches Mittel Gefahr für Millionen von Arbeitsplätzen Mit der Darstellung der Größe des Niedriglohnsektors und der äquivalenten Bruttostundenlöhne der Grundsicherung ist einerseits der Umfang bestehender Beschäftigungsverhältnisse benannt, der von der Einführung eines Mindestlohns betroffen wäre. Andererseits wird deutlich, dass auch mit einem solch gravierenden Markteingriff wie einem Mindestlohn die Beseitigung von Hilfebezug nicht durchgehend erreichbar wäre. Die Größenordnung von mindestens 2,6 Mio. 15 Arbeitsplätzen, die bei einem Mindestlohn von EUR 7,50 gefährdet 16 sind, bestätigt auch der Wissenschaftliche Beirat beim BMWiT. Steigende Arbeitskosten können die Unternehmen entweder zur direkten Substitution von Arbeit durch Kapital veranlassen, oder aber zu Verlagerungen ins Ausland. Verhindert Einstiegschancen für Arbeitslose Mindestlöhne sind der vermeintlich leichteste, aber zugleich auch der ökonomisch fatalste Weg, um die Diskrepanz zwischen allgemein üblichen Niedriglöhnen bei Erwerbstätigkeit und Anspruchslöhnen von Leistungsbeziehern zumindest teilweise aufzulösen. Sie würden nicht nur bei denjenigen, die zu niedrigen Tariflöhnen arbeiten, nicht vertretbare Lohnsteigerungen von bis zu 100% erforder17 lich machen . Vielmehr würde gerade den gering Qualifizierten und den Langzeitarbeitslosen, die auf niedrige Einstiegslöhne angewiesen sind, der Weg in den Arbeitsmarkt endgültig versperrt. Das Ziel einer Mindestsicherung wird durch die bestehende Grundsicherung hinreichend erfüllt. Ein einziger Mindestlohn, der aus Sicht des Bundesarbeitsministers 18 „das Optimale“ wäre , annähernd bei der Niedriglohnschwelle liegen würde und damit dem Petitum der Gewerkschaften nahe käme, den Niedriglohnsektor abzuschaffen, hätte erhebliche Auswirkungen auf das gesamte Lohngefüge des deutschen Arbeitsmarktes und 19 wäre ein „Feldexperiment mit nicht voraussehbaren Folgen“ . 13 14 15 16 17 18 19 8 Mit den sog. Ein-Euro-Jobs sollen v.a. schwer vermittelbare Langzeitarbeitslose wieder an den Arbeitsmarkt herangeführt werden und sich zugleich einem Test auf Verfügbarkeit und Arbeitswilligkeit unterziehen. Für diese Tätigkeiten, die gemeinnützig, zusätzlich und wettbewerbsneutral sein sollen, erhalten die Ein-EuroJobber zusätzlich zu ihrem ALG II eine Mehraufwandsentschädigung in Höhe von rd. EUR 1,50, die nicht auf das ALG II angerechnet wird. Vgl. Bundesrechnungshof (2006), Bericht an den Haushaltsausschuss und an den Ausschuss für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages nach § 88 Abs. 2 BHO. Wesentliche Ergebnisse der Prüfungen im Rechtskreis des SGB II, Bonn. Vgl. auch Cichorek, A., S. Koch und U. Walwei (2005), Arbeitslosengeld II: Erschweren „Zusatzjobs“ die Aufnahme einer regulären Beschäftigung? IABKurzbericht Nr. 8. Zur Ermittlung der äquivalenten Marktlöhne wird hier auch der Kinderzuschlag sowie das Wohngeld in Abzug gebracht, so dass die ermittelten äquivalenten Marktlöhne um einiges niedriger liegen als in der Tabelle S.7. Dies entspräche fast 50% des Durchschnittsverdienstes. Eine neuere Studie aus dem Institut Arbeit und Technik (IAT), Gelsenkirchen, kommt sogar auf eine Zahl von 4,6 Mio. oder 14,6% aller Beschäftigten, deren Löhne bei einem Mindestlohn von EUR 7,50 angehoben werden müssten. Dies zeigt nicht zuletzt die 35-seitige Auflistung der alten Bundesregierung mit einer Auswertung sämtlicher Verbands-Entgelttarifverträge aus allen Wirtschaftszweigen und Bundesländern mit Stundenentgelten bis zu EUR 6. Vgl. BundestagsDrucksache 15/ 2932. In der Antwort auf die Kleine Anfrage lehnt die Bundesregierung einen Mindestlohn ab und konstatiert, dass „sich das Tarifverhandlungssystem seit mehr als 50 Jahren bewährt hat.“ Müntefering dringt auf Mindestlohn für alle, http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,433077,00.html. Brenke, K. (2006). Wachsender Niedriglohnsektor in Deutschland: Sind Mindestlöhne sinnvoll? In DIW-Wochenbericht Nr. 15/16, S. 197-206. 26. September 2006 Kombilohn - Was es für den Erfolg braucht Obwohl Deutschland als eines der wenigen europäischen Länder 20 nicht über einen gesetzlichen Mindestlohn verfügt , prägen Flächen- und Firmentarifverträge sowie Einzelarbeitsverträge, die sich an Tarifverträgen orientieren, nach wie vor weite Bereiche des Arbeitsmarktes. Branchen- und Haustarifverträge bestimmten im Jahr 2003 zu 86% im Westen und zu 78% im Osten die Arbeitsbedingun21 gen der Beschäftigten. Schon deshalb steht die Kritik an sittenwidrigen Löhnen zumeist auf tönernen Füßen, denn der Verstoß gegen die guten Sitten – also ein Stundenlohn, der mehr als ein Drittel unter dem ortsüblichen Vergleichslohn liegt – kann rechtlich belangt werden (§ 138 BGB). Auch ein branchenspezifischer Mindestlohn würde erhebliche Probleme mit sich bringen, nicht zuletzt die Gefahr der Verdrängung unliebsamer Wettbewerber. Insbesondere marktführenden Unternehmen würde sich die Möglichkeit eröffnen, kleinere Unternehmen als Wettbewerber aus dem Markt zu verdrängen. Insoweit wird zu Recht vor den Folgen von Mindestlöhnen gerade 22 für kleinere Betriebe gewarnt. Zudem: „Beschäftigungsverluste, Verdrängung von Wettbewerbern und – wie in der Bauindustrie – schierer Protektionismus als im öffentlichen Interesse liegend einzuordnen, dürfte selbst überzeugten Befürwortern eines branchenspe23 zifischen Mindestlohns nicht leicht fallen.“ Unterste Tariflöhne im Überblick in Euro pro Stunde Floristik, Landwirtschaft 4,36 (Sachsen-Anhalt) Floristik 5,94 (West ohne SchleswigHolstein, Bremen, Berlin Landwirtschaft (Arbeiter) Industrie 4,52 (Thüringen) 6,35 (Bayern) Bekleidungsindustrie (Arbeiter) 4,59 (Ost) 8,98 (West) Chemische Industrie (Arbeiter) Metall- und Elektroindustrie (Arbeiter) 9,89 (Ost) 11,40 (Niedersachsen) 9,58 (BerlinBrandenburg) 10,39 (BadenWürttemberg) Schließlich belegen neuere Untersuchungen, dass auch gering Qualifizierte vom Trend zur Tertiarisierung profitiert und sich für sie im Dienstleistungsbereich neue Beschäftigungsperspektiven erge24 ben haben. Allein im Bereich sekundärer Dienstleistungen stieg die Beschäftigtenzahl der gering Qualifizierten zwischen 1999 und 2002 um 16,2%. Dieser positive Wachstumstrend, der sich fortgesetzt haben dürfte, würde schlagartig durch die Einführung eines Mindestlohns gefährdet. Dienstleistungen Arbeitnehmer7,02 überlassung Arzthelferinnen 6,86 7,86 6,49 8,14 (Ost) (West) (Niedersachsen) (Sachsen) 5,18 6,20 4,32 6,61 (NRW) (Sachsen) (Sachsen) (Rheinland-Pfalz) Elektrohandwerk Fleischerhandwerk (Arbeiter) 5,88 8,47 4,50 6,31 (Thüringen) (NRW) (Sachsen) (Niedersachsen/ Bremen Friseurhandwerk 3,06 (Sachsen) 4,93 (NRW) Einzelhandel (Angestellte) Gastronomie Privates Transport- und Verkehrsgewerbe (Angestellte) Handwerk Stand: März 2006 Quelle: iwd Nr. 21/2006 9 Ein kurzer Blick auf die Erfahrungen anderer Länder mit Mindestlöhnen führt ebenfalls dazu, vor deren Einführung in Deutschland zu warnen. Der im Jahr 1999 in Großbritannien eingeführte Mindestlohn bewegte sich mit rd. einem Drittel des Durchschnittslohns zunächst auf sehr moderatem Niveau, bevor er in mehreren Schritten auf einen immer noch vergleichsweise moderaten Satz von rd. 40% des Durchschnittslohns angehoben wurde. Nur rd. 5% der Beschäftigten sind zum Mindestlohn tätig, der zudem nur für Erwachsene über 21 Jahre Geltung besitzt und nicht für die ersten sechs Monate bei Neueinstellungen. „Mögliche negative Wirkungen der starken Erhöhung [des Mindestlohns] auf die Beschäftigung wurden von der dynamischen Wirtschaftsentwicklung und den damit verbundenen 25 Lohnsteigerungen überlagert.“ Zudem bietet der britische Arbeitsmarkt vor allem wegen des bescheidenen Niveaus der Grundsicherung den gering Qualifizierten einen hohen Anreiz zu arbeiten. 20 21 22 23 24 25 26. September 2006 Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz gilt bislang nur für das Bauhauptgewerbe, das Abbruch- und Abwrackgewerbe, das Maler- und Lackierer- und das Dachdeckerhandwerk sowie neuerdings für die Gebäudereiniger mit Stundenlöhnen zwischen EUR 6,36 im Osten und EUR 12,30 im Westen. Vgl. Schnabel, C. (2005), Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände: Organisationsgrade, Tarifbindung und Einflüsse auf Löhne und Beschäftigung. In Zeitschrift für Arbeitsmarktforschung, Bd. 38, S. 181-196. Vgl. Brenke, K. (2006); a.a.O.; vgl. auch Scherl, H. (2006); Mehr Mindestlöhne durch Ausdehnung des Entsendegesetzes? – ein Irrweg! Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2004). Erfolge im Ausland – Herausforderungen im Inland. Jahresgutachten 2004/ 2005. Wiesbaden, Ziff. 712. Vgl. Kalina, T. und C. Weinkopf (2005); a.a.O., S. 4f. Eichhorst, W. (2006). Kombilöhne und Mindestlöhne als Instrumente der Beschäftigungspolitik – Erfahrungen und Handlungsoptionen. IZA Discussion Paper No. 2120, S. 9. 9 Aktuelle Themen 366 Frankreich: Teure Interventionsspirale Dagegen haben die in Frankreich geltenden gesetzlichen Mindestlöhne in Höhe von etwa 50% des Durchschnittslohns in Kombination mit einer großzügig ausgestalteten Grundsicherung sowie einer hohen Steuer- und Abgabenbelastung des Faktors Arbeit weitere kostspielige Eingriffe in den Arbeitsmarkt erforderlich gemacht. Die mehrfach ausgeweitete Senkung der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung für Geringverdiener mit der Folge einer Senkung der Bruttoarbeitskosten um bis zu 26% sollte zur Ausweitung der Nachfrage nach gering Qualifizierten beitragen, ohne das Mindestlohnniveau in Frage zu stellen. Ob die empirisch eindeutig belegten negativen Effekte der Anhebung des Mindestlohns durch diese Gegenmaßnahmen ausgeglichen werden konnten, wird mehrheitlich in Frage gestellt – zumindest gingen sie auf Kosten des Staatshaus26 halts. Der internationale Vergleich von Arbeitsmarktarrangements legt insgesamt den Schluss nahe, dass relativ hohe Mindestlöhne in Systemen mit hoher Grundsicherung negativ auf die Beschäftigungsmöglichkeiten von gering Qualifizierten und Langzeitarbeitslosen wirken. „ … [T]he argument that minimum wages have had no adverse employment effects may well not be as valid as is some27 times claimed.” 5. Bestehende Kombilöhne in Deutschland 5.1 Hinzuverdienstfreistellung von Hartz IV als Kombilohn 5.1.1 Auf halbem Weg stehen geblieben: Von der Sozialhilfe zu Hartz IV Kombilohn: Nichts Neues… Wie gezeigt, ist insbesondere bei größeren Bedarfsgemeinschaften aufgrund der äquivalenten Bruttostundenlöhne der Grundsicherung die Wahrscheinlichkeit hoch, dass das durch Erwerbstätigkeit erzielte Einkommen nicht ausreicht, um den Bedarf zu decken. In diesen Fällen war schon zu Zeiten der alten Sozialhilfe (und auch der Arbeitslosenhilfe) ebenso wie jetzt unter dem Hartz IV-Regime vorgesehen und vorgeschrieben, das selbst verdiente Einkommen durch 28 ergänzenden Transferbezug aufzustocken. Insoweit ist die Debatte um Kombilöhne nicht neu, sie existieren in Deutschland seit Jahrzehnten. Tatsache ist aber auch, dass von ihnen nur in sehr beschränktem Maße Gebrauch gemacht worden ist. … aber weitgehend wirkungslos Ganz offensichtlich hat weder das Kombilohn-Modell zu SozialhilfeZeiten funktioniert, noch scheint dies im Falle des modifizierten Hartz IV-Kombilohns so zu sein. Dies dürfte nicht zuletzt an der konkreten Ausgestaltung der sog. Hinzuverdienstregelung liegen, die die Höhe der Beträge bestimmt, die vom Erwerbseinkommen auf die staatliche Fürsorgeleistung anzurechnen sind (Transferentzugsrate). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Absicht, mit finanziellen Anreizen den Ausstieg aus dem Hilfebezug durch Erwerbstätigkeit zu erleichtern, sehr rasch an fiskalische Grenzen stößt. Denn der grundlegende Zusammenhang zwischen der Höhe des garantierten Mindesteinkommens bei Hilfebedürftigkeit (Grundsicherungsniveau) 26 27 28 10 Vgl. ebd., S. 10f. und die dort aufgeführte Literatur, sowie Brücker, H. und R. Konle-Seidl (2006). Kombilöhne im internationalen Vergleich: Nicht jede Therapie schlägt überall an. IAB-Kurzbericht Nr. 10. EIRO (2005). Minimum wages in Europe. http://www.eiro.eurofound.eu.int/ 2005/07/study/tn0507101s.html. In der Studie European Industrial Relations Observatory werden die Mindestlohn- und Tariflohnarrangements in Europa umfassend analysiert. Beim ALG I eine werden die ersten EUR 165 von der Anrechnung gänzlich verschont. Darüber hinausgehende Einkommen aus Erwerbstätigkeit werden in voller Höhe auf das ALG I angerechnet. 26. September 2006 Kombilohn - Was es für den Erfolg braucht Kombilohn-Modelle bei alter Sozialhilfe und bei Hartz IV Freistellung von Einkommen aus Erwerbstätigkeit bei 1. Sozialhilfe bis 31.12.2004 — Grundfreibetrag in Höhe von 25% des Regelsatzes (EUR 74) — 15% vom darüber hinausgehenden Nettoeinkommen, gedeckelt bei 50% des Regelsatzes 2. ALG II vom 1.1.2005 – 30.9.2005 — kein Grundfreibetrag, aber individuell geltend zu machende Absetzbeträge für private Versicherungsbeiträge, Werbungskosten u.a. — 15% des bereinigten Nettoeinkommens bis EUR 400 Bruttolohn — 30% des bereinigten Nettoeinkommens oberhalb EUR 400 bis EUR 900 — 15% des bereinigten Nettoeinkommens oberhalb EUR 900 bis EUR 1.500 3. ALG II seit 1.10.2005 — Grundfreibetrag in Höhe von EUR 100 — 20% des Bruttoeinkommens oberhalb EUR 100 bis EUR 800 — 10% des Bruttoeinkommens oberhalb EUR 800 bis EUR 1.200 (EUR 1.500 für Familien) und dem Ausmaß der finanziellen Anreize bei Aufnahme einer Beschäftigung mündet zwingend in einen Zielkonflikt, wenn die staatlichen Transferausgaben nicht ins Unermessliche steigen sollen. Eine hohe Grundsicherung bei Nichterwerbstätigkeit verträgt sich eben nicht mit einer die Leistungsbereitschaft erhöhenden, niedrigen Grenzbelastung des Einkommens bei Arbeitsaufnahme. Während in der alten Sozialhilfe zusätzliches Erwerbseinkommen sehr rasch zu 100% auf den Transferbezug angerechnet wurde und 29 damit die sog. Sozialhilfefalle („Eiger-Nordwand-Effekt“ ) griff, wurde der Grundfreibetrag mit Einführung des SGB II abgeschafft. Insbesondere oberhalb von EUR 400 Bruttoverdienst wurde dagegen die Transferentzugsrate gesenkt und damit der Arbeitsanreiz erhöht. Grundsätzlich gingen diese Änderungen in die richtige Richtung, denn mit dem Wegfall des Grundfreibetrags und der geringeren Transferentzugsrate erst jenseits der Schwelle von EUR 400 wurde die Förderung stärker auf den Ausstieg aus Arbeitslosigkeit in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ausgerichtet, auch wenn die Grenzbelastung eigenen Einkommens wegen der fiskalischen Re30 striktionen hoch blieb. Die Hinzuverdienstregelung bei Sozialhilfe – und noch stärker bei Arbeitslosenhilfe – setzte dagegen den Fehlanreiz, im Hilfebezug zu verharren und nur in dem Ausmaß Erwerbseinkommen zu erzielen, in dem die Transferentzugsrate einigermaßen niedrig war. Wenn es aber mühsam wurde, sich aus dem Hilfebezug zu befreien, weil ein immer größerer Prozentsatz von bis zu 100% des selbst verdienten Einkommens auf die Sozial- bzw. Arbeitslosenhilfe angerechnet wurde, erlahmten die Arbeitsanreize. Faktisch waren die Anreize auf den reinen Hinzuverdienst im Ausmaß einer geringfügigen Beschäftigung ausgerichtet. 5.1.2 Einmal retour: Das Freibetragsneuregelungsgesetz Das falsche Signal Der politische Widerstand gegen die in der Tendenz richtige Neuregelung der Hinzuverdienste bei Hartz IV ließ nicht lange auf sich warten. Kein Wunder, denn bis zu einem Bruttoverdienst von etwa EUR 650 stellten sich Hinzuverdiener unter Hartz IV schlechter als unter dem Sozialhilferegime. Hinzu kam, dass man mit den sog. Ein-Euro-Jobs eine Konkurrenz zum ersten Arbeitsmarkt im gemeinnützigen Bereich geschaffen hatte, die unter materiellen Gesichtspunkten für einen Langzeitarbeitslosen erheblich attraktiver war. Keine drei Monate nach Inkrafttreten von Hartz IV wurden deshalb die Weichen für eine Änderung gestellt. Die Interventionsspirale kam in Gang. Statt nämlich die kontraproduktiven Konkurrenzinstrumente zu beschneiden und zu akzeptieren, dass jede Reform kurzfristig auch Verlierer mit sich bringt, wurde mit dem sog. 29 30 26. September 2006 Vgl. Sinn, H.-W. (2002), Die Höhle in der Eiger-Nordwand – Eine Anmerkung zum Mainzer Modell und zum Wohlfahrtsstaat an sich. In ifo-Schnelldienst, Bd. 55, Heft 3, S. 20-25. Unter der Eiger-Nordwand sind bildlich Transferentzugsraten von 100% über weite Einkommensbereiche (wie in der alten Sozialhilfe) zu verstehen, die wegen der vollständigen Anrechnung selbst verdienten Einkommens auf den Transferbezug den Ausstieg in Beschäftigung und die Befreiung aus dem Hilfebezug erheblich erschweren. Die „Höhle“ in der Eiger-Nordwand bezieht sich auf eine Fehlkonstruktion des Kombilohns „Mainzer Modell“. Hier kam es in bestimmten Einkommensbereichen zu Transferentzugsraten von weit über 100%, so dass Mehrarbeit durch sinkenden Nettolohn sogar bestraft wurde. Zudem wirkten die individuell geltend zu machenden Absetzbeträge kontraproduktiv. 11 Aktuelle Themen 366 31 Clement-Laumann-Modell ein noch höherer Grundfreibetrag (EUR 100) als bei der alten Sozialhilfe wieder eingeführt und die 32 Grenzbelastung in allen Einkommensbereichen gesenkt. Der Schwerpunkt der Förderung liegt seitdem wieder – wie bei der Sozialhilfe – bei den unteren Einkommensbereichen. Hier beträgt die Differenz zwischen ursprünglicher und jetzt geltender Regelung rd. EUR 70. Höhere Zuschüsse, mehr Leistungsbezieher EUR 1.050 Ehemalige Sozialhilfebezieher erhalten im Ausmaß der Differenz zwischen blauer und grauer Kurve mehr staatliche Zuschüsse 950 900 850 800 Neue Leistungsberechtigte durch Ausweitung der Hinzuverdienste 750 700 650 Verfügbares HH-Einkommen p.M. 1.000 1400 1300 1200 1100 1000 900 800 700 600 500 400 300 200 100 0 600 Bruttoeinkommen. p.M. Tarifverläufe für einen Alleinstehenden: Hartz IV (ab 1.10.2005) Sozialhilfe (alt) Quelle: DB Research 10 Die Folgen dieser, ökonomischen Grundprinzipien zuwiderlaufenden Regelung liegen auf der Hand: — Die Anreize, eine sozialversicherungspflichtige (Vollzeit-)Beschäftigung aufzunehmen, werden systematisch gehemmt. Stattdessen werden nur wenige Stunden Erwerbstätigkeit im ersten Arbeitsmarkt – bis hin zur Geringfügigkeitsgrenze – honoriert. Die Hilfebezieher erhalten weiterhin ergänzend ALG II („Lock-inEffekt“); der Bezug weiterer Nicht-Markteinkommen bleibt eine einträgliche Alternative. — Durch die derzeitigen Hinzuverdienstregeln werden zusätzlich Anreize zur Einstiegsförderung in den Hilfebezug gesetzt; d.h. die Reduzierung der Arbeitszeit und die ergänzende Aufstockung durch ALG II (und andere Nicht-Markteinkommen) erscheinen attraktiv, weil niedriges Einkommen und nicht niedrige Löhne 33 zum Anspruch auf Fürsorgeleistung berechtigt. Wer bisherige Vollzeitarbeit reduziert, gewinnt neben Freizeit ergänzende Leistungsansprüche und gleicht den Verlust des Erwerbseinkom31 32 33 12 Das vom ehemaligen Bundesminister Clement und dem jetzigen NRW-Arbeitsminister Laumann ausgehandelte Freibetragsneuregelungsgesetz (BT-Drs. 15/5446 (neu)) beruhte auf den Absprachen des „Job-Gipfels“ vom März 2005. Erklärtes Ziel war es, dass sich die Hilfebezieher etwas hinzuverdienen können sollten. Vorteilhaft an der neuen Regelung ist lediglich, dass sie erheblich transparenter ist, weil sich der Nichtanrechnungssatz auf den Bruttolohn bezieht. Vgl. etwa Bonin, H., W. Kempe und H. Schneider (2003). Kombilohn oder Workfare? Zur Wirksamkeit zweier arbeitsmarktpolitischer Strategien. In Quarterly Journal of Economic Research, Vol. 72, S. 51-67. 26. September 2006 Kombilohn - Was es für den Erfolg braucht mens zum guten Teil schon dadurch aus. „Die Höhle in der EigerNordwand“, also die Bestrafung von Mehrarbeit, kommt jetzt in der Variante des Kinderzuschlags daher, der den Ausstieg aus dem Hilfebezug erleichtern sollte, aber genau das Gegenteil bewirkt. Dies zeigt sich in der grafischen Darstellung des Tarifverlaufs für eine Alleinverdiener-Familie mit zwei Kindern. Einem beträchtlichen Einkommenszuwachs bei einsetzendem Kinderzuschlag bei rd. EUR 1.700 Bruttolohn steht eine massive Nettoeinkommensverschlechterung bei Mehrarbeit bei EUR 2.000 Bruttolohn gegenüber. Fehlanreiz des Kinderzuschlags bestraft Mehrarbeit 2.100 1.800 1.500 900 1.200 600 300 0 2.300 2.200 2.100 2.000 1.900 1.800 1.700 1.600 1.500 1.400 Verfügbares HH-Einkommen p.M. EUR Bruttoeinkommen p.M. Hartz IV 5.1.3 Inanspruchnahme der Hinzuverdienstregelung folgt Fehlanreizen Sozialhilfe (alt) Familie mit 2 Kindern - Alleinverdiener Quelle: DB Research 11 Attraktive Minijobs % 30 25 20 15 10 5 1.500 und mehr 1.200 bis unter 1.500 800 bis unter 1.200 400 bis unter 800 200 bis unter 400 0 Anteil an allen Leistungsbeziehern mit Erwerbseinkommen in % 35 unter 200 — Durch die Wiedereinführung des Grundfreibetrages und die Senkung der Transferentzugsrate in allen Einkommensbereichen wird die Zahl der Leistungsbezieher immer größer, weil ergänzendes ALG II für immer mehr Erwerbstätige gezahlt wird. Die groteske Kombination von Steuerpflicht und simultanem Transferbezug wurde sogar noch ausgeweitet. Zu berücksichtigendes Bruttoeinkommen von Erwerbstätigen in EUR Quelle: Statistik der BA, Daten aus Sep. 2005 12 Erste differenzierte Auswertungen zur Erwerbstätigkeit von ALG IIBeziehern, die einem Sonderbericht der Bundesagentur für Arbeit zu entnehmen sind, bestätigen die theoretischen Überlegungen in be34 eindruckender Weise. Im September 2005 kam es bei rd. 844.000 oder 22% der Bedarfsgemeinschaften zur Anrechnung von Einkommen aus Erwerbstätigkeit. Der durchschnittlich berücksichtigte Betrag belief sich auf EUR 351. Von den erwerbsfähigen Hilfebedürftigen bezogen 906.000 oder rd. 18% anrechenbares Einkommen aus Erwerbstätigkeit in Höhe von durchschnittlich EUR 327. Nur 45.000 Personen oder 5% bezogen ihr Einkommen aus einer selbständigen Tätigkeit. Die anderen waren abhängig beschäftigt, zu mehr als 80% im Dienstleistungsgewerbe. Von den Personen mit Einkommen aus Erwerbstätigkeit waren 51% in Minijobs beschäftigt, 19% in Midijobs; 30% erzielten ein Bruttoeinkommen von mehr als EUR 800. Damit belief sich der Anteil der Minijobber mit ergänzenden Leistungen aus der Grundsicherung an allen Minijobbern auf 35 beachtliche 8,3%. Von den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mit Leistungsbezug arbeiteten 27% in Teilzeit. Obwohl die Single-Bedarfsgemeinschaften mit deutlich mehr als 50% unter allen Bedarfsgemeinschaften am weitaus häufigsten vorkommen, bilden sie mit Abstand das Schlusslicht bei den Bedarfsgemeinschaften, die über anrechenbares Einkommen aus Erwerbstätigkeit verfügen. Nur 12% der Single-Bedarfsgemeinschaften gehen einer Erwerbstätigkeit im ersten Arbeitsmarkt nach. Bei den Alleinerziehenden sind es fast 70% mehr; bei den Paaren sind es sogar fast 50%, die ergänzend zum Leistungsbezug eine Erwerbstätigkeit ausüben. Auch bei der Höhe des anrechenbaren Einkommens bestätigt sich, dass die alleinstehenden Hilfebezieher in nur sehr geringem Ausmaß erwerbstätig sind. Das durchschnittlich angerechnete Einkommen betrug lediglich EUR 186 und lag damit deutlich unter den rd. EUR 500 bei Paaren mit zwei Kindern. Rund 80% der Single-Bedarfsgemeinschaften, die über anrechenbares Einkommen aus Erwerbstätigkeit verfügten, arbeiteten lediglich in Minijobs. 34 35 26. September 2006 Vgl. Statistik der Bundesagentur für Arbeit, a.a.O. Die Daten stammen aus dem September 2005. Neuere Daten liegen noch nicht vor. Einschließlich der Arbeitslosengeldempfänger aus dem SGB III waren es sogar 12% aller ausschließlich geringfügig entlohnten Beschäftigten. 13 Aktuelle Themen 366 Die geringe Erwerbstätigkeit hilfebedürftiger Singles überrascht. Gerade im Vergleich zu Mehrpersonenhaushalten ist deren Grundsicherungsniveau – und damit der äquivalente Marktlohn – noch relativ niedrig. Deshalb sollte es eigentlich dieser Personengruppe verhältnismäßig leicht fallen, durch Erwerbstätigkeit die Abhängigkeit vom Leistungsbezug deutlich zu reduzieren oder sich sogar 36 gänzlich von ihm zu befreien. Single-Bedarfsgemeinschaften in der Mehrheit Bedarfsgemeinschaften, % mit 4 Personen 7% mit 5 und mehr Personen 4% mit 3 Personen 12% mit 2 Personen 21% mit 1 Person 56% Quelle: BA, Juli 2006, vorläufige Daten 13 Hilfebedürftige Singles kaum erwerbstätig 600 500 400 300 200 100 0 Paar mit 2 Kindern Paar mit 1 Kind Paar ohne Kinder Alleinerziehende mit 1 Kind Single-BGn 50 40 30 20 10 0 Durchschnittliches anrechenbares Einkommen aus Erwerbstätigkeit in EUR (links) Anteil von BGn mit anrechenbarem Einkommen aus Erwerbstätigkeit an allen BGn des jeweiligen Typs in % (rechts) Quelle: Statistik der BA, Daten aus Sept. 2005 14 Fehlkonstruktion beseitigen Sicherlich spielen zur Erklärung dieses Phänomens auch regionenspezifische Arbeitsmarktcharakteristika eine Rolle. Die Lage auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt führt häufig dazu, dass den Hilfeempfängern nur ein Minijob als Einkommensquelle aus Erwerbstätigkeit zur Verfügung steht. Fast 20% aller Minijobber in den neuen Ländern erhalten gleichzeitig SGB II-Leistungen – im Gegensatz zu knapp 7% in den alten Ländern. Allerdings ist auch der Anteil der in Ostdeutschland sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die ergänzend ALG II beziehen, mit 3,3% dreimal so hoch wie im Westen. Diese Zahlen sind insoweit eher Ausweis eines in Ostdeutschland deutlich niedrigeren Lohnniveaus, das häufiger den ergänzenden Leistungsbezug nach sich zieht, als der Notwendigkeit, eine Beschäftigung im Minijob-Bereich aufnehmen zu müssen. Die Zahlen unterstreichen vielmehr, dass die materiellen Anreize für die möglichst rasche und dauerhafte Überwindung der Hilfebedürftigkeit grundlegend falsch konzipiert sind. Der Kombilohn des SGB II läuft dieser eigentlichen Intention zuwider. Gefördert wird ausschließlich der Hinzuverdienst. „Anstatt Anreize zur Aufnahme einer Arbeit zu schaffen, mit der die ALG II-Bezieher substantielle Teile ihres Lebensunterhaltes selbst verdienen können, führt der jetzt 37 praktizierte Weg geradewegs in die [Minijob- oder] Teilzeitfalle.“ Der klassische Lock-in-Effekt ist die Folge. Die Konzentration der materiellen Anreize auf die niedrigen Einkommensbereiche führt zum Verharren im Leistungsbezug; nur der lohnende Teil der Hinzuverdienstmöglichkeiten wird ausgenutzt. Insoweit ist die Annahme nicht unschlüssig, dass Minijobs und Teilzeitbeschäftigung auch ein willkommenes Instrument sind, Sanktionsmaßnahmen zu umgehen, denn das Job-Center überprüft bei dieser Konstellation nicht die Bereitschaft zur Aufnahme einer Vollzeittätigkeit durch einen ergänzenden Ein-Euro-Job oder eine sonstige Maßnahme. Für diejenigen, die ergänzend (und lukrativ) schwarzarbeiten, dient die geringe 38 Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt „als perfekte Tarnung“ . Die auffallende Ballung von Erwerbstätigkeit im Bereich geringfügiger Beschäftigung (bis EUR 400) dürfte seit dem Erhebungszeitraum sogar noch zugenommen haben, denn seitdem wurden die Anreize für eine Minijob-Beschäftigung noch erhöht. Die von der BA zu veröffentlichenden Daten zur Erwerbstätigkeit bei Leistungsbezug sollten Aufschluss über die Anreizwirkungen der geänderten Hinzuverdienstfreistellung bringen. Zusammenfassend zeigen die Ergebnisse, dass die Hinzuverdienstregelung des SGB II in durchaus beträchtlichem Ausmaß in Anspruch genommen wird. Dies ist grundsätzlich zu begrüßen. Dem 36 37 38 14 Der BA-Sonderbericht zeigt auch, dass nur 1,3% der Vollzeitbeschäftigten ergänzendes ALG II erhalten, davon überproportional viele ohne Berufsausbildung. Der ganz überwiegende Teil dieser Personen dürfte in einer größeren Bedarfsgemeinschaft leben, so dass das erzielte Einkommen aus Erwerbstätigkeit nicht gänzlich ausreicht, um den Bedarf zu decken. Dagegen würde eine Vollzeittätigkeit bei Alleinstehenden i.d.R. den ergänzenden Leistungsbezug obsolet werden lassen. Knabe, A., R. Schöb und J. Weimann (2006). Die Reform der Reform: Ist Hartz IV ein Kombilohnmodell?In Wirtschaftsdienst, 86. Jg. Heft 7, S.439. Ebd., S. 439. 26. September 2006 Kombilohn - Was es für den Erfolg braucht steht allerdings der gravierende Nachteil gegenüber, dass die Inanspruchnahme aufgrund falsch konzipierter Anreizwirkungen überwiegend nicht auf eine deutliche Reduzierung oder gar Beseitigung des Hilfebezugs ausgerichtet ist. Diese Fehlkonstruktion muss dringend beseitigt werden. 5.2 Andere Formen von Kombilöhnen im geltenden Recht Viele Instrumente… … unbefristet und … befristet Entgeltsicherung für Ältere ab 50 Jahre — Pflichtleistung der BA — Neubewilligungen laufen zum 31.12.2007 aus — umfasst einen Zuschuss zum Arbeitsentgelt der Geförderten sowie einen zusätzlichen, von der BA getragenen Beitrag zur GRV — Anspruchsvoraussetzung: ältere Arbeitnehmer, die durch Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung ihre Arbeitslosigkeit beenden oder vermeiden, eine (Rest-)Anspruchsdauer auf Arbeitslosengeld von mindestens 180 Kalendertagen haben und ein Arbeitsentgelt erhalten, das den tariflichen bzw. ortsüblichen Bedingungen entspricht — Zuschuss zum Arbeitsentgelt für die Dauer des (Rest-)Anspruchs auf Arbeitslosengeld Neben der Hinzuverdienstregelung als umfassende, in die SGB IILeistungsgewährung integrierte unbefristete Kombilohn-Regelung gibt es zahlreiche weitere Kombilohn-Elemente im Rahmen des 39 arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums. Diese erreichen jedoch 40 – außer den Mini- und Midijobs – quantitativ nicht die Bedeutung wie die Hinzuverdienstregelung. Eine sinnvolle Kategorisierung vorhandener Kombilohn-Modelle kann danach erfolgen, ob sie unbefristet oder befristet und ob sie zielgruppenbezogen oder allgemein ausgestaltet sind. Zu den unbefristeten, in Abhängigkeit vom Lohn gewährten zählen Mini- und Midijobs. Beide, aber insbesondere die Minijobs, werden v.a. als Zuverdienst in Anspruch genommen – von Schülern, Studenten, Hausfrauen, Rentnern und Arbeitslosen. Die ihnen von der Hartz-Kommission zugedachte Brückenfunktion für eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt vermögen 41 sie nicht auszufüllen. Unter die zeitlich befristeten, meist zielgruppenbezogenen Kombilöhne fallen insbesondere Ein-Euro-Jobs, das Einstiegsgeld sowie die Entgeltsicherung für Ältere und der Eingliederungszuschuss. Aufgrund der Vorschläge aus dem politischen Raum werden die beiden letztgenannten Instrumente näher betrachtet. Entgeltsicherung für Ältere Die Entgeltsicherung hat in den Agenturen für Arbeit keinen strategi42 schen Stellenwert . Insoweit ist die geringe Inanspruchnahme von 6.400 Förderzugängen im Jahr 2004 wenig überraschend. Fast zwei Drittel erhielten einen Unterschiedsbetrag von unter EUR 285 monatlich – das Nettoentgelt in der neuen Beschäftigung lag in diesen Fällen also bis zu EUR 570 niedriger als zuvor. Der Evaluationsbericht der Bundesregierung belegt, dass es beträchtliche Mitnahmeeffekte bei der Entgeltsicherung gibt. 92% der Befragten gaben an, dass sie die Beschäftigung auch ohne den Zuschuss angenommen hätten bzw. die Beschäftigungsaufnahme nicht durch den Zuschuss ausgelöst wurde. Auf die Beschäftigungschancen der Anspruchsberechtigten hatte das Instrument keinen Einfluss. Bei fast 80% der noch Beschäftigten hatte sich die Einkommenssituation nach Auslauf der Förderung nicht verbessert. — Zuschusshöhe: 50% der Differenz zwischen dem letzten Nettogehalt und dem Nettoentgelt der neu aufgenommenen Beschäftigung 39 40 41 42 26. September 2006 Für einen umfassenden Überblick vgl. Boss, A. (2006). Brauchen wir einen Kombilohn? Kieler Arbeitspapier Nr. 1279. Institut für Weltwirtschaft, Kiel. Vgl. auch Dietz, M., S. Koch und U. Walwei (2006). Kombilohn: Ein Ansatz mit Haken und Ösen. IAB-Kurzbericht Nr. 3; Kaltenborn, B. und N. Wielage (2005). Kombilöhne: Erfahrungen und Ausblick. In Blickpunkt Arbeit und Wirtschaft Nr. 4, Berlin. Streng genommen sind Minijobs keine Kombilöhne. Dem arbeitnehmerseitigen Entfall der Sozialversicherungsbeiträge steht kein Leistungsanspruch gegenüber. Vgl. Fertig, M., J. Kluve und M. Scheuer (2004). Aspekte der Entwicklung der Minijobs. Abschlussbericht. Gutachten im Auftrag der Minijob-Zentrale, Essen. Bundesregierung (2006), a.a.O., S. 183. 15 Aktuelle Themen 366 Eingliederungszuschüsse — Zeitlich befristete Lohnkostenzuschüsse an Arbeitgeber, die förderungsbedürftige Arbeitnehmer einstellen — Neufassung mit Beginn des Jahres 2004 mit dem Ziel einer stärkeren Orientierung am Einzelfall — Zuschuss für Berufsrückkehrer von einer Pflicht- auf eine Ermessensleistung bei Vermittlungshemmnissen umgestellt — Maximale Förderdauer für nicht behinderte Menschen: von 24 auf zwölf Monate bzw. für Ältere von 60 auf 36 Monate reduziert — Höchstförderung: von 70% auf 50% des Bruttolohns reduziert — Ältere: Förderhöchstgrenze sinkt ab dem 13. Fördermonat um zehn Prozentpunkte — Anteilige Rückforderung des gezahlten Eingliederungszuschusses für Personen unter 50 Jahre möglich, wenn während des Förderzeitraums oder der Nachbeschäftigungszeit (max. 12 Monate) das Beschäftigungsverhältnis durch den Arbeitgeber ohne wichtigen Grund gekündigt wird (in der Praxis kaum angewendet) Eingliederungszuschuss Der Eingliederungszuschuss zählt mit Blick auf die Förderfälle trotz beträchtlicher Schwankungen im Zeitverlauf zu den bedeutendsten arbeitsmarktpolitischen Instrumenten. Im Jahr 2002 – dem Jahr mit 43 den meisten Fällen – betrug die Zahl der Förderzugänge 190.000. Den markantesten Anstieg bei den Förderzugängen zwischen 2000 und 2004 verzeichneten Jugendliche unter 25 Jahre sowie Langzeitarbeitslose. Die durchschnittlichen Kosten pro geförderte Person lagen für Ältere im Jahr 2003 bei EUR 15.560. Insoweit weist der Zwischenbericht zur Evaluation von Hartz I bis III zu Recht darauf hin, dass zur Erzielung eines gesamtfiskalischen Vorteils mit dem Eingliederungszuschuss eine erhebliche Verkürzung der Arbeitslosigkeit erreicht werden müsste – was als unwahrscheinlich eingeschätzt wird. Immer häufigere, routinemäßige Nachfragen der Betriebe nach einer Förderung mit Eingliederungszuschüssen sowie überzogene Erwartungen bzgl. der Förderhöhe haben Zweifel an der Steuerungswirkung der Förderung aufkommen lassen. Hinweise auf Mitnahmeeffekte ergaben sich durch Betriebsbefragungen. Demnach erfolgte die Personalauswahl zunächst unabhängig von der Förderfähigkeit der Bewerber, um sich erst danach um eine Förderung zu bemühen. Zusätzliche oder vorgezogene Neueinstellungen gab es durch die Förderung nicht. Ein weiterer Hinweis auf Mitnahmeeffekte ergibt sich aus dem Evaluationsbereicht der Bundesregierung. Demnach waren nach Ablauf der Förderdauer bzw. der Nachbeschäftigungszeit 20%-50% mehr der Geförderten in einer ungeförderten sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung tätig als in der Vergleichsgruppe von nicht geförderten Arbeitslosen. Allerdings sind mit zunehmendem zeitlichen Abstand von der Förderung häufig deutliche Rückgänge der För44 derwirkung festzustellen. Nachhaltige Integration fraglich Erhebliche Mitnahmeeffekte Die Befristung von Zuschüssen folgt der Überlegung, dass die Zielgruppe zum Zeitpunkt der Einstellung nicht über die marktlohnäquivalente Produktivität verfügt, grundsätzlich aber in der Lage ist, während der Zuschussdauer durch Einarbeitung und Qualifizierung eine höhere Produktivität zu erreichen. Der befristete Zuschuss dient dann als vorübergehender Ausgleich der Lohn-ProduktivitätsLücke. Bei einem nicht unerheblichen Teil der Langzeitarbeitslosen besteht jedoch Unsicherheit, ob während der Förderdauer diese Produktivitätssteigerung erreicht werden kann. Damit steigt das Risiko von Drehtüreffekten als Folge der Zuschüsse. Denn bei einer nicht nachhaltigen Integrationswirkung laufen die Geförderten Gefahr, mehr oder weniger frühzeitig nach Beendigung der Förderdauer wieder in den Transferbezug zurückzufallen. Die Antizipierung des Auslaufens der Förderung lässt wenig Spielraum für dauerhafte Verhaltensänderungen auf Angebots- und Nachfrageseite. Zudem zeigen nicht zuletzt die Zwischenergebnisse der Hartz I-IIIEvaluation, dass bei arbeitgeberseitigen, befristeten Zuschüssen mit erheblichen Mitnahmeeffekten zu rechnen ist. Vor diesem Hintergrund scheint es ratsam, befristete Zuschüsse ausschließlich als Ermessensleistung des Maßnahmenträgers auszugestalten. 43 44 16 Vgl. dazu und im Folgenden: Ebd., S. 168 ff. Eine größere Eindeutigkeit der Ergebnisse erhofft sich die Bundesregierung von dem Bericht 2006. 26. September 2006 Kombilohn - Was es für den Erfolg braucht III. Kombilöhne: Vorschläge aus Wissenschaft und Politik 1. Vorschläge aus der Wissenschaft Schon vor der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe hat es aus der Wissenschaft zahlreiche Vorschläge für die Ausgestaltung der neuen Grundsicherung und damit auch für ein Kombilohn-Modell gegeben. Zu den besonders prägnanten zählen die im Folgenden kurz dargestellten: 1.1 Das Kombilohn-Modell des ifo Instituts „Aktivierende Sozialhilfe“ Im Mai 2002 hat das ifo Institut mit der „Aktivierenden Sozialhilfe“ ein umfassendes Konzept zur Erhöhung der Beschäftigung im Niedriglohnbereich und zur Senkung der Arbeitslosigkeit unter gering 45 Qualifizierten vorgelegt. Ziel ist es, durch eine deutliche Senkung der Arbeitskosten im Niedriglohnbereich die Arbeitsnachfrage um langfristig rd. ein Drittel in diesem Segment zu erhöhen und damit die bislang arbeitslosen, meist gering qualifizierten Menschen in Beschäftigung zu bringen. Dafür wird vorgeschlagen: — Deutliche Stärkung der finanziellen Anreize für die Aufnahme einer Beschäftigung. Ähnlich dem US-amerikanischen Earned Income Tax Credit (EITC) kommt es im Eingangsbereich selbst verdienten Einkommens zu einem Lohnzuschuss in Höhe von 20% (phase-in). Daran schließt sich ein Einkommensbereich an, in dem der Lohnzuschuss bei einsetzender Sozialversicherungspflicht des Arbeitnehmers konstant gehalten wird (Flat Rate), bevor dann bei steigendem Einkommen zunächst der Lohnzuschuss, dann die Transferleistung mit einer linearen Entzugsrate abgeschmolzen wird (phase-out). Die Grenzbelastung des 46 Bruttolohns liegt in diesem Bereich bei rd. 70%. Die dauerhaften Lohnzuschüsse sollen nicht nur den Bedürftigen, sondern auch bereits Beschäftigten im Niedriglohnsegment gewährt werden, deren Löhne wegen der Lohnspreizung unter Druck gera47 ten. 48 — Deutliche Absenkung des Grundsicherungsniveaus für Personen, die kein Einkommen aus regulärer Beschäftigung erzielen. Diese Absenkung folgt zwingend aus der Erhöhung der finanziellen Anreize, weil diese ansonsten nicht finanzierbar wären. — Beschäftigungsangebot/-pflicht in kommunaler Regie mit einem Einkommen in Höhe der heutigen Grundsicherung für diejenigen, die keine Stellen im Privatsektor finden. Dieses Element setzt einerseits konsequent das Prinzip „staatliche Leistung nur bei Gegenleistung“ um, andererseits sichert es das Existenzminimum. Um Ineffizienzen und Konkurrenz zum Privatsektor zu vermeiden, ist ein Weiterverleih der kommunal Beschäftigten unter Einschaltung privater Zeitarbeitsfirmen vorgesehen. Alle drei Elemente essentiell Die Stärkung der finanziellen Anreize und die gleichzeitige Absenkung der Grundsicherung für nicht arbeitende Erwerbsfähige wird nur dann die Bereitschaft, eine Beschäftigung auch zu niedrigen 45 46 47 48 26. September 2006 Vgl. Sinn, H.-W. et al. (2002), Aktivierende Sozialhilfe: Ein Weg zu mehr Beschäftigung und Wachstum, ifo Schnelldienst 55 (9), Sonderausgabe, S. 3-52. Zum aktualisierten Modell vgl. Sinn, H.-W. et al. (2006), a.a.O. Die bestehenden Regelungen für Mini- und Midijobs können insoweit entfallen. Dabei sind jedoch die persönlichen Einkommens- und Familienverhältnisse zu berücksichtigen. Die Kürzung entspricht in etwa dem Ausmaß des Regelsatzes, so dass bei Ablehnung eines Arbeitsangebots nur Unterkunftskosten gezahlt werden. 17 Aktuelle Themen 366 Löhnen anzunehmen, erhöhen, wenn der angedrohten Leistungskürzung bei Nichtarbeit ein glaubwürdiges Sanktionsinstrument gegenübersteht. Deshalb ist das (vorübergehende) Beschäftigungsangebot in kommunaler Regie ein zwingender Baustein des Modells – zumindest, wenn die avisierten Ziele in einem überschaubaren Zeitraum erreicht werden sollen. Insgesamt handelt es sich bei diesem Modell um einen überzeugenden Ansatz, der im Detail kritische Fra49 gen aufwirft (allokative Wirkung des Lohnzuschusses ; hoher Einkommensbereich, bis die Förderung ausläuft; Probleme eines massiven Ausbaus kommunaler Beschäftigung; Höhe der Lohnsenkung), aber den richtigen Weg weist. 1.2 Die Magdeburger Alternative Gegenentwurf 50 Schöb und Weimann haben ein Kombilohn-Modell entwickelt, das laut eigener Aussage ein konsensorientierter Gegenentwurf zu anderen Reformvorschlägen ist – gemeint sind das ifo-Modell und der Vorschlag des Sachverständigenrats. Auch ohne soziale Einschnitte lasse sich mehr Beschäftigung im Niedriglohnsektor schaffen. Die einzelnen Maßnahmen umfassen: — Dauerhafter Lohnzuschuss an den Arbeitgeber in Höhe der gesamten Sozialversicherungsbeiträge bei Neueinstellung von ALG II-Beziehern zur jeweils untersten tariflichen Lohngruppe. Als Folge fallen zwar die Arbeitskosten um rd. 35%, der Nettolohn bleibt aber konstant. — Zur Vermeidung von Mitnahme- und Drehtüreffekten wird der Lohnzuschuss nur gewährt, wenn zusätzliche Arbeitsplätze im Niedriglohnsegment geschaffen und auf dem erhöhten Niveau gehalten werden (Stichtagsregelung). — Zur Vermeidung von Auslagerungen bestehender Arbeitsplätze erhalten Unternehmen bei Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze auch für jeden bereits zum Stichtag in der entsprechenden Lohngruppe Beschäftigten die Sozialversicherungsbeiträge erstattet. — Erwerbsfähigen, die ein Arbeitsangebot ablehnen, wird der Transferbezug gestrichen. Zielgruppe zu unspezifisch Anreiz zu moral hazard 51 Der Vorschlag vermag wenig zu überzeugen. Trotz der Absicht, durch konstant bleibende Nettolöhne den sozialen Frieden nicht aufzukündigen, ist offensichtlich, dass Beschäftigungseffekte nur durch die Senkung der vom Arbeitgeber effektiv zu zahlenden Niedriglöhne erzielt werden. Das Förderkriterium ist nicht die Bedürftigkeit der Betroffenen, sondern die Eingruppierung in der untersten Lohngruppe, so dass es an der sozialpolitischen Zielgenauigkeit fehlt. Der Aufstieg in höhere Lohngruppen ist kaum möglich, weil die Förderung ohne degressive Ausgestaltung des Zuschusses schlagartig endet. Zudem ist die Stichtagsregelung wenig kompatibel mit der Dynamik sich wandelnder Branchen und wäre mit erheblichen Kontrollkosten verbunden. „Schließlich wäre zudem bei Lohnverhandlungen kollektiver moral hazard bei der [Lohnfestlegung] … zu erwarten, würden doch die Kosten überhöhter Abschlüsse teils vom 52 Staat getragen.“ 49 50 51 52 18 Vgl. dazu Breyer, F. (2002). Lohnsubventionen für Niedrigverdiener? In Wirtschaftsdienst, Heft 4, S. 208-211. Vgl. Schöb, R. und J. Weimann (2006). Arbeit ist machbar. Die Magdeburger Alternative: Eine sanfte Therapie für Deutschland, 5. Auflage, Dößel. Zur ausführlicheren Kritik vgl. Sinn, H.-W. et al. (2006), a.a.O., S. 15f.; Sachverständigenrat (2005), a.a.O., Ziff. 301. Boss, A. (2006), a.a.O., S. 35. 26. September 2006 Kombilohn - Was es für den Erfolg braucht Das Kombilohn-Modell des Sachverständigenrats (SVR) Der SVR hat jüngst seine im Auftrag des BMWiT erstellte Expertise für ein zielgerichtetes Kombilohn-Modell vorgestellt.* Er modifiziert damit seinen im Jahresgutachten 2002 gemachten Vorschlag, der in ein umfangreiches Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung eingebettet war. Der Kombilohn-Vorschlag setzt sich aus einem modularen Maßnahmenpaket zusammen, das systematisch am ALG II ansetzt und damit die relevante Zielgruppe auf die Bedürftigen beschränkt: 1. Einführung einer Geringfügigkeitsschwelle beim ALG II. Mit der vollen Anrechnung von Bruttoerwerbseinkommen bis EUR 200 auf das ALG II wird die Förderung implizit auf Arbeitsplätze mit einer gewissen Mindestarbeitszeit konzentriert, um die Minijobfalle zu vermeiden und Verhaltensänderungen bei der Arbeitsangebotsentscheidung von Hilfebedürftigen zu bewirken, die auf die Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung ausgerichtet sind. Die Geringfügigkeitsschwelle schafft fiskalisch Spielraum für eine Absenkung der Transferentzugsrate bei höheren Erwerbseinkommen. Zugleich ist jenseits der EUR 200 eine Pauschale in Höhe von EUR 40 zur Abdeckung etwaiger Werbungskosten vorgesehen. 2. Absenkung des Regelsatzes und gleichzeitige Stärkung der Arbeitsanreize. Zur deutlichen Erhöhung der Arbeitsanreize schlägt der SVR eine Regelsatzabsenkung für erwerbsfähige Hilfebedürftige um 30% in Kombination mit einer Senkung der Transferentzugsrate zwischen EUR 200 und EUR 800 auf 50% vor. Zugleich soll auch der auf zwei Jahre befristete Übergangszuschlag abgeschafft werden. Durch diese Regelungen wird erst bei einem Bruttomonatseinkommen von EUR 330 das bisherige ALG II-Niveau erreicht; ab EUR 800 brutto wird dasselbe verfügbare Einkommen wie bei der bisherigen ALG II-Regelung mit Hinzuverdienst erzielt. Die Kürzung des Regelsatzes für Erwerbsfähige erfolgt – ähnlich wie beim ifo-Modell – jedoch nur, wenn die Betroffenen ein Arbeitsangebot ablehnen. Um die von der Regelsatzsenkung ausgehenden Anreize wirksam werden zu lassen, wird deshalb zwingend die Einrichtung von Beschäftigungsmöglichkeiten auf dem zweiten Arbeitsmarkt vorgeschlagen, um vorübergehend oder längerfristig nicht auf den ersten Arbeitsmarkt vermittelbaren Personen ein Angebot unterbreiten zu können. Diese sog. „neuen“ Arbeitsgelegenheiten im Umfang von 30 Wochenstunden werden mit dem Niveau des bisherigen ALG II zzgl. einer Pauschale in Höhe von EUR 40 entgolten, um so das bisher gewährte Mindesteinkommen sicherzustellen. 3. Reform von Mini- und Midijobs. Zur Senkung des Abgabenkeils plädiert der SVR schließlich für eine gezielte Entlastung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse im Niedriglohnbereich – also aller in diesem Arbeitsmarktsegment tätigen Personen – durch eine Reform der Mini- und Midijobs. Die Verdienstobergrenze Minijobs wird auf EUR 200 abgesenkt, die Gleitzone der Midijobs korrespondierend auf den Einkommensbereich zwischen EUR 200 und EUR 800 ausgedehnt. Die Abgabenbelastung der Minijobs beim Arbeitgeber soll wieder auf 25% zurückgeführt werden, die bei EUR 200 beginnende Gleitzone startet beim Arbeitgeber mit einer Abgabenbelastung von 15%, beim Arbeitnehmer mit 0%. Für beide steigen die effektiven Beitragssätze bis EUR 800 linear an. Die Steuerbefreiung von Minijobs im Nebenerwerb soll abgeschafft werden, um die Konkurrenz durch besser qualifizierte, subventionierte Nebenerwerbstätige zu beseitigen. Der SVR rechnet langfristig mit etwa 350.000 neuen Beschäftigungsverhältnissen durch sein Modell. Die fiskalischen Auswirkungen auf die öffentlichen Haushalte werden kurzfristig als aufkommensneutral angesehen. Mittel- und langfristig ließen sich Kosten in Höhe von bis zu rd. EUR 13 Mrd. einsparen. Mit seinem Kombilohn-Modell schlägt der SVR ein in sich schlüssiges Konzept vor, das geeignet ist, durch die Fokussierung auf die ALG II-Bezieher (Module 1 und 2) und die im Niedriglohnsektor Beschäftigten (Modul 3) ursachenadäquat den Ausbau des Niedriglohnsegments voranzutreiben. Mit der Einführung einer Geringfügigkeitsschwelle greift der SVR ansatzweise den Vorschlag der Unionsparteien aus dem Jahr 2003 auf. In ihrem Existenzgrundlagengesetz, das der SVR in seinem Jahresgutachten 2003 insbesondere wegen der Anreizaspekte und der konsequenten Ausrichtung auf eine Mobilisierung der Leistungsbezieher positiv bewertet hatte, hatten sich CDU und CSU für eine Vollanrechnung der ersten EUR 400 ausgesprochen, um die ALG II-Bezieher zu veranlassen, eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aufzunehmen. Die mit der Einführung der Geringfügigkeitsschwelle korrespondierende Reform der Mini- und Midijobs ist in dem vorgeschlagenen Kontext durchaus konsequent. So richtig die Feststellung des Rates ist, dass Minijobs keine Brückenfunktion für den ersten Arbeitsmarkt besitzen, so fraglich ist es andererseits, deren Begünstigung gegenüber sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung durch die Halbierung der Verdienstobergrenze entgegenwirken zu wollen und damit nur noch Kleinstbeschäftigungsverhältnisse zu fördern. Mit dieser weitgehenden Aufgabe der Flexibilität von Minijobs wird eher das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Es ist richtig, für die Gruppe der ALG II-Bezieher, nicht Existenz sichernde Minijobs unattraktiv zu machen. Zugleich ist das Plädoyer für die Abschaffung der Steuerbefreiung von Minijobs im Nebenerwerb zu begrüßen. Aber eine deutliche Beschneidung der Minijobs für andere Zielgruppen ist zumindest diskussionswürdig. Schließlich ist zu bedenken, dass die größten erwarteten Arbeitsmarktwirkungen von der Regelsatzabsenkung ausgehen. Dies wird aber nur dann der Fall sein, wenn tatsächlich in beträchtlichem Ausmaß kommunale Beschäftigungsangebote zur Verfügung gestellt werden – allein schon deshalb, um die bei Ablehnung eines Arbeitsangebots eintretende Regelsatzabsenkung glaubwürdig „androhen“ zu können. Das dafür kurzfristig benötigte zusätzliche Volumen an Arbeitsgelegenheiten beläuft sich auf mindestens 400.000 – ein ambitiöses Ziel. ----------------------- * Vgl. SVR (2006). Arbeitslosengeld II reformieren: Ein zielgerichtetes Kombilohnmodell. Expertise im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie, Wiesbaden. 26. September 2006 19 Aktuelle Themen 366 Der „Job-Bonus“ von CDU und CSU — Zielgruppe: langzeitarbeitslose Jugendliche unter 25 und Ältere über 50 Jahre — Lohnkostenzuschuss von 40% der Bruttolöhne, zwei Drittel an den Arbeitgeber, ein Drittel an den Arbeitnehmer — monatliche Einkommensgrenzen: · Jugendliche: EUR 1.300 Bruttolohn · Ältere: EUR 1.600 Bruttolohn — als Ermessensleistung für Vollzeitstellen ausgestaltet — Förderdauer: 3 Jahre — ergänzend: Qualifizierungsgutschein zur individuellen Weiterbildung — Sonderregelung für Beschäftigung in Privathaushalten (Haushaltshilfen, Kinderbetreuung, Pflege von Angehörigen): Gewährung des „Job-Bonus“ auch bei Teilzeitstellen — Länderöffnungsklausel zur Einführung eigener, länderspezifischer Kombilöhne — Flankierende Flexibilisierung des Arbeitsrechts. U.a.: · Schaffung der rechtlichen Grundlage für betriebliche Bündnisse für Arbeit · Möglichkeit der untertariflichen Bezahlung bei der Beschäftigung Langzeitarbeitsloser Drehtür- und… … Mitnahmeeffekte Qualifizierungsscheine kaum genutzt 2. Die Vorschläge der Regierungsparteien Der Vorschlag der Unionsparteien wurde gegenüber dem ursprüng53 lichen Entwurf Anfang Mai leicht verändert. Statt die Förderung in voller Höhe als Lohnkostenzuschuss an den Arbeitgeber auszugestalten, wird jetzt für ein Mischmodell aus arbeitgeber- und arbeitnehmerseitigen Zuschüssen plädiert. Damit ähnelt der Vorschlag 54 dem seit vier Jahren in Hamburg erprobten Kombilohn-Modell. Positiv ist die Ausgestaltung des Kombilohns als Ermessensleistung, um die o.g. Probleme befristeter Zuschüsse bei der Entscheidung über eine Förderung berücksichtigen zu können. Dies würde jedoch auch eine – nicht vorgesehene – Anpassung des Fördersatzes an den Einzelfall implizieren. Wenig überzeugend ist der Zielgruppenbezug (siehe Textbox). Er ist ganz offensichtlich der Sorge vor ausufernden Kosten geschuldet. Der Lohnzuschuss an den Arbeitgeber als Variante des bestehenden Eingliederungszuschusses wird auf spezielle Altersgruppen fokussiert. Die Ausweitung der Förderdauer für Jugendliche um zwei Jahre ist in Anbetracht der erst 2004 erfolgten Neufassung des Instruments mit einer Reduzierung der Förderhöchstdauer um 12 Monate bemerkenswert – erst recht, weil eine längere Förderdauer keine besseren Ergebnisse mit sich brachte. Weil der Zuschuss weder im Zeitverlauf noch in Abhängigkeit von der Einkommenshöhe degressiv ausgestaltet ist, bleibt der Ausstiegsanreiz zu schwach, dauerhaft in nicht geförderte Beschäftigung zu wechseln. Die definierte Einkommensgrenze (EUR 1.300/1.600), ab der die Förderung entfällt, stellt für die Arbeitnehmer eine kaum überwindbare Hürde dar, weil hier die Grenzbelastung für den Arbeitgeber sprunghaft steigt. Die Förderung bis EUR 1.600 Bruttolohn führt zudem zur Bezuschussung von Löhnen, die bereits jenseits der Niedriglohnschwelle liegen. Vorteilhaft ist in diesem Zusammenhang zumindest die Begrenzung auf Vollzeitstellen, weil ansonsten die entsprechenden Stundenlöhne noch höher wären. Drehtüreffekte mit erheblichen fiskalischen Konsequenzen sind nicht auszuschließen, wenn Beschäftigte mit vergleichbaren Löhnen zugunsten der Arbeitslosen entlassen werden. Die Erfahrungen mit dem Eingliederungszuschuss zeigen, dass zusätzliche Beschäftigung durch die Förderung nicht erfolgt. Zudem stellt sich die Frage nach der Nachhaltigkeit der Integrationsbemühungen. Schließlich zeigt der Zwischenbericht der Bundesregierung zur Hartz I-III-Evaluation, dass beim Eingliederungszuschuss von erheblichen Mitnahmeeffekten auszugehen ist. Die ergänzenden Qualifizierungsgutscheine sind zu begrüßen, um die Produktivität und das potentielle Lohnäquivalent zu steigern. Auch beim Hamburger Modell sind diese Gutscheine ein Baustein – sie werden aber kaum genutzt. Die Sonderregelung für Privathaushalte, die auch die Förderung von Teilzeitstellen vorsieht, wirkt v.a. bei Bekämpfung von Schwarzarbeit positiv. Allerdings fehlt eine entsprechende Anpassung der förderungswürdigen Bruttolohngrenzen nach unten, weil sonst auch hohe Stundenlöhne bezuschusst werden. Die flankierenden Maßnahmen (betriebliche Bündnisse, untertarifliche Entlohnung) sind sehr zu begrüßen. In der derzeitigen politi53 54 20 Zur Bewertung dieses Vorschlags vgl. Mauer, U. (2006). Die Probleme des Kombilohn-Modells der Union. http://dbresearch.db.com/servlet/reweb2.ReWEB?rwkey=u701442. Vgl. Gerhardt, M. und I. Meyer Larsen (2005). Das „Hamburger Modell“ zur Beschäftigungsförderung – Auswertungsbericht, Hamburg. 26. September 2006 Kombilohn - Was es für den Erfolg braucht schen Konstellation besteht aber wenig Hoffnung, dass sie umgesetzt werden. Ohne deren Einbeziehung ist der Vorschlag der Union noch weniger überzeugend. Der Kombilohn der SPD — Zielgruppe: ältere ALG I-Bezieher über 50 Jahre mit einer (Rest-)Anspruchsdauer von mindestens 120 Tagen — Zweijährige Entgeltsicherung für die Zielgruppe als Pflichtleistung: · im 1. Jahr: 50% der Differenz zwischen altem und neuem Nettolohn · im 2. Jahr: 30% der Differenz zwischen altem und neuem Nettolohn · Weiterzahlung der GRV-Beitrage in Höhe von 90% · wiederholte Inanspruchnahme möglich — Lohnkostenzuschuss an Arbeitgeber als Ermessensleistung für max. 24 Monate · 20% - 40% des Bruttolohns · Arbeitsverhältnis muss mindestens 1 Jahr bestehen Für den von der SPD vorgeschlagenen Zuschuss an Arbeitgeber gilt bezüglich des Eingliederungszuschusses dasselbe wie beim Unionsvorschlag – allerdings ist er weniger detailliert. Kern des SPD-Vorschlags ist der Versuch, die Ende 2007 auslaufende Entgeltsicherung für Ältere modifiziert fortzusetzen. Weshalb sich die Sozialdemokraten ausgerechnet für dieses Instrument aussprechen, bleibt rätselhaft, denn die Inanspruchnahme war in der Vergangenheit gering, es hatte keinen Einfluss auf die Beschäftigungschancen und es zeitigte fast ausschließlich Mitnahmeeffekte. Insoweit wäre die geplante Einstellung der Entgeltsicherung das Beste, zumal der harte Kern älterer Langzeitarbeitsloser wegen der Beschränkung auf ALG I-Bezieher nicht erreicht wird. Stattdessen soll die Förderdauer bis zum Vierfachen der bisherigen Regelung ausgedehnt werden. Auch die beabsichtigte Möglichkeit einer wiederholten Inanspruchnahme ist konzeptionell misslungen. Die im teilweisen Ausgleich der Nettoentgeltdifferenz zum Ausdruck kommende Mentalität der Besitzstandswahrung entspringt in Zeiten sich rasch wandelnder Arbeitsmärkte zudem einer merkwürdigen Vorliebe für Strukturkonservierung. IV. Zehn Punkte für einen Erfolg versprechenden Kombilohn Bestehende Kombilöhne nicht erfolgreich Die Analyse der im geltenden Recht bestehenden KombilohnModelle hat gezeigt, dass diese nur in sehr begrenztem Ausmaß geeignet sind, die Langzeitarbeitslosigkeit in Deutschland wirkungsvoll zu bekämpfen. Insbesondere die in Relation zur Grundsicherung für Arbeitsuchende teilweise sehr hohen äquivalenten Marktlöhne verdeutlichen, dass ein Ansatz, der in der Stärkung der finanziellen Anreize zur Arbeitsaufnahme das Allheilmittel sieht, zur Lösung des Problems ungeeignet ist. Die über alle Maßen angestiegenen Kosten von Hartz IV sollten nicht auch noch durch ein weiteres Draufsatteln bei den finanziellen Anreizen erhöht werden. Solidar- und Äquivalenzprinzip In diesem Zusammenhang ist es durchaus hilfreich an die unterschiedlichen Prinzipien zu erinnern, die dem Sozialsystem und dem 55 Arbeitsmarkt zugrunde liegen. Staatliche Transferzahlungen werden nach dem Solidarprinzip gewährt und nach der Bedürftigkeit der Empfänger bemessen. Lohnzahlungen erfolgen dagegen nach dem Äquivalenzprinzip für geleistete Arbeit und sind danach bemessen, welchen Wert die Arbeit für den Arbeitgeber besitzt. Wenn das Existenzminimum durch eigene Einkommen (aus Erwerbstätigkeit) nicht erreicht werden kann, wird das marktwirtschaftliche Äquivalenzprinzip bewusst durchbrochen und durch das Solidarprinzip ersetzt bzw. ergänzt. Zugleich ist aber jeder Bürger zum vollen Einsatz seiner Arbeitskraft verpflichtet. Dies ist der Grundgedanke von Subsidiarität. Ergänzende Hilfe (Leistung) wird in dem Ausmaß gewährt, in dem die eigenen Möglichkeiten, den Lebensunterhalt zu sichern (Gegenleistung), ausgeschöpft sind. Insoweit ist die weit verbreitete Einstellung, der Staat garantiere nicht nur jedem das Existenzminimum, sondern die Bereitschaft Arbeit anzubieten müsse zusätzlich Subsidiarität befolgen 55 26. September 2006 Vgl. dazu Eekhoff, J. und S. J. Roth (2002), Brachliegende Fähigkeiten nutzen, Chancen für Arbeitslose verbessern, Berlin, S. 27ff. 21 Aktuelle Themen 366 zum Sozialtransfer noch vergütet werden, mit den Grundprinzipien der Sozialen Marktwirtschaft nicht vereinbar. Größere Lohnflexibilität nötig Keine Mindestlöhne Notwendig ist deshalb zunächst eine Verhaltensänderung auf der Angebotsseite, die nicht einfach auf Hinzuverdienst ausgerichtet ist, sondern auf Unabhängigkeit vom Leistungsbezug durch sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Diese kann gerade wegen des relativ hohen Grundsicherungsniveaus durch eine konsequente Politik des „Forderns“ erreicht werden, nicht durch falsch gesetzte finanzielle Anreize bei Arbeitsaufnahme. Hinzutreten muss auf Unternehmensseite eine Ausweitung der Arbeitsnachfrage. Ohne eine größere Lohnflexibilität, die mit einer stärkeren Besetzung vorhandener Leichtlohngruppen innerhalb des bestehenden Tarifsystems oder der Schaffung neuer einhergehen sollte, wird das Ziel einer höheren Beschäftigung der derzeit Langzeitarbeitslosen kaum er56 reichbar sein. Eine weitere Stauchung der Lohnstruktur in Form branchenspezifischer oder gesetzlicher Mindestlöhne wäre insoweit höchst kontraproduktiv. Ein Erfolg versprechendes Kombilohn-Modell umfasst daher folgende zehn Punkte: 1. Der Kombilohn wird begrenzt auf die erwerbsfähigen Bedürftigen, d.h. diejenigen, die Anspruch auf ALG II haben. Zugleich werden die Anspruchsvoraussetzungen verschärft. Dies betrifft insbesondere die Regelungen zum Schonvermögen. Dem Subsidiaritätsprinzip läuft die Nichtanrechnung von Vermögen in dem Ausmaß, über das ALG II-Bezieher heute verfügen können, zuwider. Dabei ist v.a. an die Kumulation zugestandener Kraftfahrzeuge, von Altersvorsorgevermögen sowie an die Eigentumswohnung oder das selbst genutzte Haus zu denken. Die Vermögensverwertung muss nicht unmittelbar mit Eintritt in das ALG II erfolgen, denkbar sind Übergangszeiten von bis zu zwei Jahren. Noch besser wäre ein jährlich anzurechnender Betrag beim Schonvermögen. 2. Der befristete Übergangszuschlag beim Wechsel vom ALG I ins ALG II wird abgeschafft. Er verringert während der Zeit seiner Zahlung die Suchintensität. 3. Für die so definierten Bedürftigen wird die Regelleistung nicht abgesenkt, weil das jetzige Niveau zu Recht als Untergrenze für eine menschenwürdige Lebensführung anzusehen ist. Als Ausnahme wird jedoch der Regelsatz für Kinder auf das Niveau des Kindergeldes, das ergänzend gezahlt und angerechnet wird, abgesenkt. Diese Maßnahme führt zur Gleichbehandlung zwischen Bedürftigen und nicht Bedürftigen, die zu niedrigen Löhnen arbeiten. 4. Gefördert werden i.d.R. niedrige (Stunden-)Löhne, nicht niedrige Einkommen, die z.B. bei geringer Stundenzahl und relativ hohen Löhnen erzielt werden. Der freiwillige Verzicht auf Mehrarbeit im regulären Arbeitsmarkt bei ergänzendem ALG II-Bezug sollte nicht noch durch staatliche Förderung belohnt werden. Ausnahmen von dem Erfordernis einer Vollzeitstelle bei niedrigen, förderungswürdigen Löhnen sind bei familienbedingten Gründen denkbar. 5. Die finanziellen Anreize sind dort zu verstärken, wo sie echte Ausstiegshilfe sind und dort zu reduzieren, wo sie derzeit reine 57 Mitnahmeeffekte auslösen. Das Motto heißt: Ausstiegs- statt 56 57 22 Hierfür plädiert u.a. auch das IAB. Vgl. Dietz, M. et al. (2006), a.a.O., S. 4. Vgl. Kapitel 5.1.3. 26. September 2006 Kombilohn - Was es für den Erfolg braucht Neuer Kombilohn für einen Single 1100 1000 900 800 700 0 300 600 600 900 1200 1500 Verfügbares HH-Einkommen p.M. EUR 6. Der völlig falsch konzipierte Kinderzuschlag wird abgeschafft. Durch die neuen Anrechnungsregeln ist die Kinderkomponente bereits berücksichtigt. Bruttoeinkommen p.M. Hartz IV Sozialhilfe (alt) Neuer Kombilohn Quelle: Eigene Darstellung Lock-in-Förderung. Deshalb wird der Grundfreibetrag abgeschafft; Absetzbeträge sind nicht vorgesehen. Weil das Beschäftigungsziel von Langzeitarbeitslosen nicht auf einen nicht existenzsichernden Minijob ausgerichtet sein sollte, sondern auf reguläre Beschäftigung, werden die ersten EUR 400 Erwerbseinkommen in voller Höhe auf das ALG II angerechnet. Dies ist auch der Preis für die Gewährung des Grundsicherungsniveaus. Zugleich eröffnet sich damit ein finanzieller Spielraum für die Konzentration der Förderung auf höhere Einkommensbereiche, also dort, wo die Hilfeabhängigkeit nicht mehr so hoch ist. Im Bereich EUR 400 bis 1.200 werden 20% des zusätzlichen Bruttolohns freigestellt, zwischen EUR 1.200 und EUR 2.000 10%. Dadurch wird die Simultanität von Steuerpflicht und Transferbezug beseitigt. 15 7. Für ALG II-Bezieher sollte weitgehend das Workfare-Prinzip gelten. Die Job-Center sollten jedoch verstärkt von der Möglichkeit des Verleihs Hilfebedürftiger an Private Gebrauch machen, statt kommunale Beschäftigung forciert einzusetzen. Um die Ein-Euro-Jobs weniger attraktiv zu machen, wird die Mehraufwandsentschädigung gestrichen und die Aufwandsentschädigung für die Maßnahmeträger reduziert. 8. Die jüngst beschlossene Sanktionierung von abgelehnten Arbeitsangeboten muss vor Ort konsequent umgesetzt werden. 9. Die übrigen Arbeitsmarktinstrumente mit Kombilohn-Charakter sollten zurückgefahren werden. Denkbar ist der selektive Einsatz des Einstiegsgelds. 10. Die gleichzeitige Einführung eines Mindestlohns verbietet sich, weil damit der Arbeitsmarkt im Niedriglohnsegment weiter verriegelt würde. Mit einem solchen Kombilohn würde das Sozialstaatsprinzip endlich wieder vom Kopf auf die Füße gestellt. Er schränkt den Kreis der Anspruchsberechtigten deutlich ein, beseitigt ursachenadäquat die Fehlanreize bestehender Regelungen und bringt das „Fordern und Fördern“ in eine ausgewogene Balance. Er verbindet erhebliche fiskalische Einsparungen bei Hartz IV mit überschaubaren Kosten für Anreize, eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aufzunehmen. Er vermeidet, dem ohnehin schon überbordenden, teuren und weitgehend wirkungslosen Instrumentenkasten der aktiven Arbeitsmarktpolitik ein weiteres Instrument hinzuzufügen. Aber auch dieser Vorschlag für ein Kombilohn-Modell sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich nur um einen kleinen Baustein für einen besser funktionierenden Arbeitsmarkt handelt. Beschäftigungswunder sind von diesem Kombilohn nicht zu erwarten. Dazu bedarf es mehr, nämlich einer grundlegenden Flexibilisierung des Arbeitsmarktes – angefangen beim Arbeitsrecht bis hin zur zumindest teilweisen Abkopplung der Sozialversicherungsbeiträge vom Lohn, um den Abgabenkeil zwischen brutto und netto deutlich zu senken. Urban Mauer (+49 69 910-31886, [email protected]) 26. September 2006 23 Aktuelle Themen Mehr Wachstum für Deutschland Zwei Köche verderben den Brei Für eine Neuorganisation von Hartz IV Nr. 362 .............................................................................................................................................9. August 2006 Gesundheitspolitik Ohne Marktorientierung kein nachhaltiger Reformerfolg Nr. 348 ............................................................................................................................................... 18. April 2006 Inshoring-Ziel Deutschland Globale Vernetzung ist keine Einbahnstraße Nr. 346 ......................................................................................................................................... 28. Februar 2006 Höhere Tariflöhne: Kein Instrument zur Belebung der Binnennachfrage Nr. 329 ...........................................................................................................................................16. August 2005 Perspektiven Ostdeutschlands – 15 Jahre danach Nr. 306 ..................................................................................................................................... 10. November 2004 Bildungsreform in Deutschland: Geld für Schulen, nicht für Bürokratie! Nr. 303 ......................................................................................................................................... 12. Oktober 2004 Zur Reform des Föderalismus Nr. 300 .................................................................................................................................... 13. September 2004 Deutschland auf dem Weg zu längeren Arbeitszeiten Nr. 298 ...........................................................................................................................................10. August 2004 Unsere Publikationen finden Sie kostenfrei auf unserer Internetseite www.dbresearch.de Dort können Sie sich auch als regelmäßiger Empfänger unserer Publikationen per E-Mail eintragen. Für die Print-Version wenden Sie sich bitte an: Deutsche Bank Research Marketing 60262 Frankfurt am Main Fax: +49 69 910-31877 E-Mail: [email protected] © Copyright 2006. Deutsche Bank AG, DB Research, D-60262 Frankfurt am Main, Deutschland. Alle Rechte vorbehalten. Bei Zitaten wird um Quellenangabe „Deutsche Bank Research“ gebeten. Die vorstehenden Angaben stellen keine Anlageberatung dar. 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In Australien sollten Privatkunden eine Kopie der betreffenden Produktinformation (Product Disclosure Statement oder PDS) zu jeglichem in diesem Bericht erwähnten Finanzinstrument beziehen und dieses PDS berücksichtigen, bevor sie eine Anlageentscheidung treffen. Druck: HST Offsetdruck Schadt & Tetzlaff GbR, Dieburg Print: ISSN 1430-7421 / Internet: ISSN 1435-0734 / E-Mail: ISSN 1616-5640
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