Was ist Seelsorge? - Evangelisch-Theologische Fakultät

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Wes ist Seelsorge?
Isolde Kerle .
IsoIde Karle
Was ist Seelsorge?
Eine professionstheoretische Betrachtung
Die Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesse der letzten
Jahrzehnte haben zu tiefgre·ifenden Wandlungen in der modernen
Gesellschaft gefuhrt . Mehr als jemals vorher ist der oder die einzelne dazu herausgefordert, sich im Kontext pluralistischer We ltund Lebensdeutungen eine Identität selbst zuzuschreiben . Nicht
mehr die Herkunft oder stabile äußere gesellschaftliche Rahmenbedingungen geben verbindlich vor, w ie das eigene Leben zu gestalten ist und an welchen Normen man sich zu orientieren hat. Jeder
und jede muß grundsätzlich selbst entscheiden, welchen Beruf er
oder sie ergreifen möchte, welche Lebensform zu wählen ist und
wie man sich selbst und seine eigene Identität, als Mann oder als
Frau, im Kontext der pluralistischen Gesellschaft verstehen will.
Diese Gestaltungsfreiheit im Hinblick auf die Definition eigener
Identität geht zugleich mit erhöhten persönlichen Risiken und sozialen Belastungen einher. So wird erst im Nachhinein deutlich, ob
es klug war, diesen oder jenen Ausbildungs- oder Studiengang zu
wählen. Gesellschaftlich bedingte Probleme und Widersprüche
müssen individuell verkraftet und gelöst werden. Die Komplexität
biographischer Selbststeuerung stellt damit hohe Ansprüche an die
Individuen der pluralistischen Gesellschaft. Individuen müssen mit
einer höheren Kontingenz zurechtkommen, das heißt, sie müssen
damit leben lernen, daß alles auch anders sein könnte, daß letztlich
nichts in ihrem Leben völlig unverrückbar stab il ist und letzte
Tragfähigkeit und Orientierung garantieren kann. Für viele Men-
schen ist es belastend, ganz auf sich selbst zurückgeworfen zu sein
und die Ängste und Risiken ungewisser Zukunfts erwartungen individuell tragen und verantworten zu müssen.
Auf dem Hintergrund dieser Entwicklung ist die außergewöhnliche
Konjunktur zu verstehen, die die Seelsorge in der kirchlichen Praxis und in der theologischen Diskussion in den letzten Jahrzehnten
erfahren hat. Mit dem Zwang zur Entscheidung und zur Dauerreflexion hat der Bedarf an individueller Lebensbegleitung stark zu-
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genommen . Die Seelsorgebewegung der sechziger und siebziger
Jahre hat sich in ihrer Theorie und Praxis dabei vor allem am therapeutischen Modeli der Psychoanalyse orientiert. Paradoxerweise
hat die psychoanalytische Orientierung der Seelsorge an der individuellen Vergangenheit und der Thematisierung und Rekonstruktion
von Lebensgeschichte das moderne Problem der Selbstzentrierung,
der Zerrüttung stabiler Sozialformen u·nd der Vereinsamung jedoch
vielfach eher verschärft als behoben. Das liegt vor allem daran, daß
die psychoanalytisch orientierte Seelsorge die soziale Bedingtheit
moderner Identitätsprobleme verkannte und sich ganz auf das Individuum und sein Seelenleben konzentrierte. Denn: "Eine psychoanalytische Orientierung faßt die Lebensftihrung als Variation
eines Grundthemas auf, das in der Kindheit komponiert worden
ist. "I Das psychoanalytische Paradigma hat mit dieser Fixierung
auf das Individuum und sein psychisches Innenleben die moderne
Fixierung·auf die eigene Person verstärkt, ohne die sozialen Bedingungen individuellen Lebens realistisch ' in den Blick zu bekommen.
Gleichzeitig hat das psychoanalytische Paradigma die Suggestion
genährt, die Identität eines Menschen könnte durch den Blick in die
eigene Psyche wie ein verborgener Schatz ' gefunden ' werden .
Menschliche Identität wächst aber nicht gleichsam naturwüchsig
von innen nach außen, sondern von außen nach innen.' Denn keine
Selbsterfahrung ist unmittelbar. So wie wir unser Gesicht immer
nur im Spiegel betrachten können, können wir auch unser Selbst
nur im Umgang mit anderen Menschen wahrnehmen - anhand der
sozialen Resonanz, die wir, erfahren, der Erwartungen, die andere
an uns richten, und der Verpflichtungen, die sich daraus ergeben.
Jede Persönlichkeitsentwicklung ist deshalb auf differenzierte Deutungsmuster und Formgebungen, auf eine fördernde Gemeinschaft
und die lebendige Pflege gemeinsamer Erinnerungen und Traditionen angewiesen. Durch ihre Individuumzentrierung konnte die
psychoanalytisch orientierte Seelsorge diese anspruchsvollen Bedingungen menschlicher Identitätsentwicklung nicht angemessen
I
W. Fuchs, Biographische Forschung. Eine E in ftihrung in Pra.'Xi s und Me-
thoden, Opladen 1984, 198 .
Z
Vgl. , auch zum fo lgenden: J. Assmann, Das kulturelle Gedächtni s. Schrift.
Erinnerung und
politi s c~e
Identität in frühen Hochku lturen. München 1999. 130ff.
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Isolde Karle
Was ist Seelsorge?
reflektieren. Gleichzeitig hat sie damit die eigenen, spezifisch religiösen Ressourcen und Sprachformen christlicher Seelsorge fur den
Aufbau und d ie Strukturänderung von Identität radikal unterschätzt.
determinierenden Ursachen individuellen Verhaltens zugleich ihren
Sinn. System ische Therapieformen konzentrieren sich deshalb
nicht auf die Vergangenheit und auch nicht auf Einzelpersonen und
ihre innerpsychische Eiltwicklung, sondern auf die sozialen Bezie hungen und ihre Regeln und Verhaltensmuster und zwar so, wie sie
in de r Gegenwart funktionieren. Systemische Therapieformen versuchen dabei, durch gezielte Interventionen und Störungen Veränderungen im sozialen System zu provozieren und es den beteiligten ' Spielern ' dadurch zu ermöglichen, sich anders als bislang zu
verhalten und zu verstehen 4 Es ze igt sich, daß system ische Therapieformen erkenntnistheoretisch anspruchsvoller und damit zu gleich zutreffender die Realität von psychischen und sozialen Prozessen zu beschreiben vermögen als die psychoanalytische Denktradition.
Die psychoanalytische Denktradition setzt voraus, daß die Vergangenhe it eines Menschen rekonstruiert und authentisch erinnert werden kann, daß direkte Verbindungen von der individuellen Vergangenheit zu gegenwärtigen Problemen herzustellen sind und daß es
Menschen entscheidend weiterhilft, sich mit sich selbst und ihrer
Vergangenheit zu beschäftigen, die Gründe ihres Verhaltens zu
verstehen und damit zu einer Änderung ihres Verhaltens zu kommen. Diese Grundannahmen werden von systemtheoretischer und
systemischer Seite grundlegend in Frage gestellt. Kybernetische
Denkmodelle machen deutl ich, daß die monokausale und ichzen trierte Vorstellung von den klar zu rekonstruierenden Folgewirkungen eines bestimmten Ereignisses in 'der Vergangenheit der
Komplexität psychischer und sozialer Prozesse nicht gerecht wird.
Es können von einem bestimmten Ereignis in der Vergangenheit
ganz verschiedene, sogar gegensätzl iche Wirkungen ausgehen.
Darüber hinaus gleicht die Erinnerung von Lebensgeschichte nicht
etwa einer Fotographie gelebten Lebens. Erinnerung ist ein sehr
komplexer und selektiver Vorgang. Was wir erinnern , hängt wesentlich von den jeweiligen Mustern und Regeln ab, mit denen wir
dem eigenen Leben Sinn und Ordnung zu verleihen suchen. Jede
Ordnung aber basiert auf Auswahl und Vereinfachung. Jede erzählte Lebensgeschichte ist mithin eine mögliche Lesart von, Lebensgeschichte, niemals aber die Lebensgeschichte selbst. Erinnerung bildet demnach biographische Realität nicht einfach ab,
sondern entwirft das gelebte Leben in jeder Gegenwart und in jedem sozialen Kontext neu 3
.
Erweist sich die psychoa~alytische Vorgehensweise, zwischen einem gegenwärtigen Problem und einem frühen Konflikt lineare
Kausalbeziehungen herzustellen, als' zu naiv und zu sehr an mechanistischen Vorstellungen orientiert, verliert die Frage nach den
3 Vgl. zu dieser Kritik ausfuhrlieh: 1. Karle, Seelsorge in der Moderne. Eine
Kritik der psychoanalytisch orientierten Seelsorgelehre. Mit einem Geleitwort von
1. Scharfenberg, Neukirchcn-Vluyn, 1996, 129- 156. Vgl. a.a.O., 156ff. auch zum
folgenden.
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Doch stellt sich spätestens hier die grundsätzliche Frage, ob es
überhaupt sinnvoll ist, Seelsorge am Leitmodell der Therapie zu
orientieren. Ist Seelsorge tatsächlich dasselbe wie Therapie? Die
folgenden Überlegungen gehen dieser Fragestellung nach und versuchen zu zeigen, daß sich die kirchliche Seelsorge durch Überlegungen und Erfahrungen systemischer Therapieformen anregen
lassen kann, daß sie dabei aber niemals ihre eigene religiöse Leit.orientierung und ihren eigenen sozialen Kontext aus dem Blick
verlieren darf. Nur, wenn sich Seelsorge reflektiert als Teil des
Religionssystems versteht, kann sie ihre spezifische Funktion in der
funktional differenzierten Gesellschaft erftillen. Christliche Seelsorge ist grundlegend durch den Erwartungszusammenhang kirchlicher Praxis geprägt. Nur im Kontext dieses spezifischen Erwartungszusammenhangs kann die Seelsorge ihre Stärke und ihre
spezifische Funktion für die Menschen in der modernen Gesellschaft entfalten.
.; Beispielhaft fUr die Theorie und Praxis systemischer Therapie sei verwiesen
auf: H. StierIin, Ich und die anderen. Psychotherapie in einer sich wandelnden
Gesellschaft, Stuttgart 1994; F. 8. Simon, Unterschiede, die Unterschiede machen.
Klinische Epistemologie: Grundlagen einer system ischen Psychiatrie und Psychosomatik, Berlin/Heidelberg 1988 ; P. Watzlawick. Münchhausens Zopf oder Psychotherapie und 'Wirklichkeit', München 1988.
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Isolde Korle
Abschied vom therapeutischen Leitmodell der Seelsorge
Mit dem Umbau von einer nach Ständen zu einer nach Funktionen
differenzierten Gesellschaft wird in jedem Teilsystem der Gesellschaft eine Funkiion fur das Gesamtsystem ausdifferenziert. So
orientiert sich beispielsweise das Medizinsystem an der Funktion
'Gesundheit' und versucht, soweit möglich, Menschen von einem
kranken in einen gesunden Zustand zu überfuhren. Auch das Rel igionssystem ist i; dieser Weise an se iner religiösen Funktion ori:
entiert und versucht, das Leben des Menschen in seinem Bezug zu
Gott zu deuten.' Würde der Arzt versuchen, seine Patientin über den
christlichen Glauben zu unterrichten oder sie von e iner bestimmten
politischen Partei zu überzeugen, empfande diese das zu Recht als
Anmaßung und taktlose Grenzüberschreitung. Ebenso problematisch ist es, wenn sich die Seelsorge als Teil des Religionssystems
nicht an ihrer religiösen Aufgabe orientiert, sondern sich als Therapie dem Gesundheits- oder Hilfesystem zuordnet .
Seelsorge kann therapeutische Wirkungen haben, sie ist ihrem
Selb.stverständnis nach aber nicht Therapie, sondern christliche
Lebensbegleitung. Sie ist Teil des Religions- und nicht des Gesundheitssystems. Ihr primäres Ziel ist es nicht, die Gesundheit
eines Menschen zu erreichen,' sondern Menschen im Horizont
christlicher Welt- und Lebensdeutung und damit im Vertrauen auf
eine letzte Geborgenheit in Gott sensitiv und kompetent zu begleiten. Seelsorge hat es deshalb auch nicht mit 'Klienten' oder 'Kranken' zu tun, sondern mit 'Brüdern' und 'Schwestern', mit Menschen, die. sich der Kirche mehr oder weniger eng verbunden füh len. Seelsorge ist deshalb auch nicht wie die The rapie nur defizitund krisenorientiert, sondern ' hält religiöse Sprachformen bereit,
die auch dem Dank und der Freude und nicht nur dem Leid und
dem Konflikt Ausdruck geben können .
Das Gespräch mit dem Pfarrer oder der Pfarrerin kann in der Seelsorge gezielt gewünscht werden und existentielle Dimensionen
gewinnen. Dies ist vielfach in der Kasualienseelsorge an den biographisch wichtigen Knotenpunkten des Lebens der Fall. Das see 1sorgerliche Gespräch kann sich aber auch zwischen Tür und Angel
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und damit rein zufallig ergeben. Gerade diese Alftagsseelsorge S
wurde durch die Orientierung der beratenden Seelsorge an therapeutischen Denk- und Praxisformen stark vernachlässigt. Als
'echte' Seelsorge galt ihr nur die Ich-Du-Kommunikation unter
vier Augen in einem therapieartigen Setting. Der ganz normale,
meist kasuell veranlaßte Hausbesuch , bei dem oft mehrere Personen anwesend sind und nicht nur existentielle Lebenskrisen, sondern auch der Dank über das gelebte Leben oder einfach nur das
Gespräch über Gott und die Welt im Vordergrund stehen können,
wurde damit nicht erfaßt und imp lizit abgewertet.
Die Orientierung der beratenden Seelsorge am therapeutischen
Setting hat zu einer erheblichen Vernachlässigung der spezifischen
Ressourcen und Möglichkeiten geme indlicher Seelsorgepraxis,
insbesondere in der Kasualien- und Jubilarseelsorge geführt. Besonders prekär ist dabei , daß die pastoral psychologische Seelsorgebewegung eine professionelle Orientierung an den therapeutischen Berufen auslöste und damit die eigene, pastorale Professionalität weitgehend aus den Augen verlor. Professionssoziologisch
betrachtet gehört der Pfarrberuf zusammen mit den Medizinern,
Juristen und Lehrern zur Berufsgruppe der Professionen.' Alle Professionen beziehen sich auf elementare, menschliche Fragen und
Probleme wie Krankheit, Schuld, Erziehung und Seelenheil. Der
Hauptgrund für die besondere Hervorh ebung der Professionsberufe
liegt in der besonderen gesellschaftlichen Relevanz der Sachthematiken, die sie repräsentieren. Damit ist ihre spezifische Funktion
schon angedeutet: Die zentrale Funktion der Professionen in der
modernen Gesellschaft ist es, in der persönlichen Begegnung mit
anderen Menschen kulturelf relevante Sachthematiken zu vermitteln. Den Professionen geht es demzufolge nicht nur um das Gelingen von Beziehungen in existentiellen Situationen, sondern immer
auch darum, eine Distanzüberbriickung im Verhältnis zur repräsentierten Sachthematik zu erreichen. 7
S Vgl. dazu die umfangreiche Studie von: E. Hauschildt, Alltagsscclsorge. Eine
sozio-linguistische Analyse des pastoralen Geburtstagsbesuches. Göttingen 1996.
6 Vgl. , auch zum folgenden, ausführlich: R. Stichweh, Wissenschaft Universität
Professionen. Soziologische Analysen, Frankfurt a. M. 1994, 362ff und: I. Karlc,
Was heißt Profess ion.alität im Pfarrberuf?, DtPfB'l 99 (1999), 5-9.
7 Vgl. Stichweh. Wissenschaft Universität Professionen, 372ff. U.Ö.
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Isolde Karle
In der Konzentration auf pastoralpsychologische Zusatzqualifikationen und einer Professionalisierung, die sich als Ausdifferenzierung eigener, gemeindeferner seelsorgerlieher Praxisformen begriff, hat die beratende Seelsorge ihre spezifisch eigene, pastorale
Professionalität, die sich auf die"Vermittlung einer kulturell tragfähigen Sachthematik bezieht, marginalisiert und damit ihre spezifisch religiöse, inhalliiche Bestimmtheit verloren. Der Professionssoziologe Rudolf Stichweh bemerkt treffend: " Wenn die Vermittlung des Kontakts zu kulturellen Thematiken zentral fur die Professionen ist, kann es gerade auch zum Problem für professionelle
Gruppen werden, daß ihre eigene Stellung zu den jeweils relevanten Thematiken zu marginal ist.'" Nicht wenige Pfarrerinnen
und Pfarrer, deren eigene Stellung zu den relevanten religiösen
Themen und Fragen nicht zuletzt durch die Fremdorientierung an
der Therapie zu marginal geworden ist, fuhlen sich deshalb in bezug auf ihre eigene Seelsorgepraxis 'inkompetent' und verunsichert, solange sie nicht eine pastoralpsychologische Zusatzausbil dung absolviert haben. Pfarrerinnen und Pfarrer sind aber keine
Therapeutinnen und Therapeuten, sondern Seelsorgerinnen und
Seelsorger. Ihre Kompetenzen sind pastoraler, nicht therapeutischer Natur. Sie haben es primär mit Fragen des Glaubens, Fragen
über Gott, Tod und ewiges Leben angesichts von Leid und Sterben,
Fragen der ethischen Orientierung beim Erwachsenwerden, Fragen
christlicher Verantwortung angesichts von neuem Leben oder dem
Wechsel einer Lebensform zu tun . Sie begleiten andere Menschen
im Horizont christlicher Lebens- und Weltdeutung von der Geburt
bis zum Tod. Sie können für andere Menschen beten, sie segnen
oder ihnen ein Wort zum Nachdenken geben. Nur auf dem Hintergrund ihres kulturell -semantischen Schwerpunkts' gewinnt die
christliche Seelsorge kulturelle und persönliche Relevanz.
s A.a.O ., 373.
9 VgL R. Stichweh, Professionen in einer funktional differenzierten GeseI!schaft, in: A. Combe/W. Helsper (Hg.), Pädagogische Professionalität, Frankfurt a.
M. 1997,49-69,66"
Wos ist Seelsorge?
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Seelsorge als prod uktiv störende und stärkende
Lebensbegleitung
Indem Pfarrerinnen und Pfarrer die fundierenden Geschichten des
christlichen Glaubens, die christlichen Glaubenssymbole, Deutungsmuster und Rituale zu vermitteln und verständlich zu machen
suchen, leisten sie einen unverzichtbaren Beitrag zur Kultur unserer Gesellschaft. Als religiöse Kommunikation dient die Seelsorge
der Überlieferung und Vergegenwärtigung von kulturellem Sinn.
Sowohl Individuen als auch ganze Gesellschaften sind auf kulturellen Sinn angewiesen . Erst die Auseinandersetzung mit überindividuellen Deutungs- und Verhaltensmustern ermöglicht es Indivi duen, psychische Komplexität aufzubauen . Alle Menschen leben in
diesem Sinn aus fundierenden Geschichten, "aus denen sie die
Ordnung und Richtung ihres Handeins beziehen"", aus Geschichten , die Erwartungen strukturieren und ein neues Licht auf ihre
Gegenwart und Zukunft werfen. Kultureller Sinn aber "zirkuliert
und reproduziert sich nicht von selbst. Er muß zirkuliert und inszeniert ".werden."\\ Dazu leistet die Seelsorge als christliche Lebensbe.gleitung einen spezifischen Beitrag.
Seelsorge ist eine spezifische Kommunikationsform der christlichen · Kirche. Seelsorge deutet das Leben dabe i nicht nur mit Hilfe
"des Gesprächs, sondern mit den vielfältigen und komplexitätsreichen Medien- religiöser Kommunikation: mit Gebeten und Liedern,
mit der Poesie der Psalmen und den fundierenden Geschichten des
christlichen Glaubens, mit religiösen Gesten und Symbolhandlungen. Christliche Sinnformen wie Gebete, Psalmen, Lieder stellen
eine poet·ische, anschauliche und erfahrungsgesättigte Sprache zur
Verfugung, die individuelle Erfahrung interpretiert und zugleich
über sie hinausgeht: Individuelle Erfahrungen werden mit überindividuellen Sinnzusammenhängen verknüpft. Der eigene Lebenshorizont wird erweitert durch die Erinnerung an die Erfahrungen
von Menschen zu anderen Zeiten, aus anderen Kulturen und in anderen Weltgegenden. Viele der überlieferten Gebete, Psalmen und
Lieder haben sich über Jahrhunderte bewährt. Durch ihre Gediegenheit und Geformtheit wirken sie als Sprachformen des Glaubens
10
1I
Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 296.
Aa.O ., 143.
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Isolde Korle
Was ist Seelsorge?
verläßlich und glaubwürdig. Sie vermitteln eine Atmosphäre des ,
Vertrauens und der Geborgenheit, sie geben der Klage und selbst
dem Zorn und der Bitterkeit Raum. Sie stellen das Individuum hin-
nikationsschleifen und festgefahrene Teufelskreise in einem sozialen System durch Einfuhrung neuer 'Spie lregeln ' zu unterbrechen
und ' zu 'stören ', um dadurch neue Verhaltensweisen oder Einsichten zu p·rovozieren . Die Seelsorge kann von der system ischen Therapie lernen, sich in ihrer Praxis nicht auf das empathische und
verständnisvolle Zuhören zu beschränken, sondern gegebenenfalls
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ein in eine gemeinsam bewohnte Vergangenheit, die Kraft und
Hoffnung, Orientierung und Sinn vermittelt. Sie leihen Trauernden
oder Kranken eine Sprache in Lebenssituationen, in denen die eigenen Worte kraftlos sind oder gänzlich versagen."
,
Das Evangelium wirkt als umfassender Verständnishorizont, der
das seelsorgerliche Gespräch und die Zuwendung zu den Menschen
mit ihren konkreten Erfahrungen, Ängsten und Envartungen prägt.
Dabei stellen vor allem religiös-poetische Texte durch ihre Fremdheit und ihre Distanz zur Alltagssprache ein "semant isches Störungspotential,,13 dar. Die christliche Symbolsprache verfremdet
und 'stört' die eigene Welt, sie erschließt neue Formen der Selbstund Fremdwahrnehmung. Sie erhellt den im Alltag ausgeblendeten
Hinterg,und des Daseins und relativi ert den gegenwärtigen Lebensort durch die Vergegenwärtigung eines anderen Ortes. Fulbert Steffensky formuliert: Ich lerne sehen, indem "m ir etwas Neues und
Fremdes gegenübertritt, in ungewohnter Sprache und in noch nicht
gelernten Bildern. [ ... ] Die fremde Sprache verhält sich störend zu
mir selbst. Sie stört meine geläufigen Selbstwiederholungen in der
eigenen Sprache. [ ... ] Die fremde Sprache ist eirte Unterbrechung
meiner selbst, und sie ist ein Heilmittel gegen die Selbstprovinzialisierung. Sie enthält störende Geschichten gegen' das, was ich
immer schon von der Welt und mir selbst gewußt habe."I'
Systemische Therapeutinnen und Therapeuten bedienen sich einer
solch störenden Intervention vor allem dann , wenn das Zusammenleben mit anderen, z. B. in einer Familie, schwierig oder unerträglich geworden ist. Sie versuchen, destruktive Kommu12 Vgl. dazu ausflihrlieh: P. Bukowski , Die Bibel in s Gespräch bringen. Erwägungen zu eine r Grundfrage der Seelsorge, Neuki rchcn-Vluyn 31996. 70ff. und: 1.
Karlc, Seelsorge in der modemen Gesellschaft . Spezifische Chancen, Ressourcen
und Sinnformen der seelsorgerlichen Kommunikation, erscheint in EvTh 59 (1999),
Heft 3.
\J Vgl. zu diesem Begriff: Gerd Theißen . Zeichensprache des Glaubens. Chancen der Predigt heute, Gütersloh 1994, 20.
I~ F. Steffensky, Wo der Glaube wohnen kann, Stuttgart 1989,. 13 0.
gez!elt :zu intervenieren und religiöse Deutungsangebote zu ma-
chen, .d ie das Selbstverständliche in Frage stellen, neue Wahrnehmungsformen . und Sinnhorizonte eröffnen und ungewohnte Perspektiven der 'eigenen Welt und des eigenen Lebens vermitteln.
Bib lische Metaphern, christliche Symbole und Geschichten stören
in diesem- Sinn die alltäglichen Wahrnehmungsmuster, Zuordnungen und "Sp iele ohne Ende" (Watzlawick). Sie lassen das
eigene Leben'in einem neuen Licht sehen . In dieser Differenz der
Perspektiven liegt ihre kreative Kraft. Damit erweist sich nun gerade das Fremdartige und Anachrone der christlich-biblischen
Sprachformen als eine spezifische Chance fur die Seelsorge. Durch
die Religion gewinnt das menschliche Leben eine Zweidimensionalität oder Zweizeitigkeit. 15 Die anachrone Struktur der Religion ermöglicht es Menschen mithin, in zwei Zeiten zu leben und
sich dadurch kritisch vom Absolutismus der Gegenwart zu distan zieren .
Doch liegt die Funktion der Seelsorge nicht nur in ihrem Störungspotential. Seelsorge versteht sich als christliche Begleitung des
ganzen Lebens_ Sie ist damit nicht nur auf Krisen, Brüche und Probleme fixiert - dies unterscheidet sie ganz prinzipiell von der Therapie . In der Seelsorge geht es nicht nur um Infragestellung und
Kritik, sondern auch darum, Menschen zu stärken und zu stabilisieren, sie zu ermutigen und zu stützen. Dies geschieht beim Jubilarbesuch schon allein durch die Zeit, die sich die Pfarrerin für den
Hausbesuch, für das aufmerksame Zuhören, für die Würdigung und
das sensible Deuten der erzählten Lebensgeschichte nimmt. Der
Jubliar fühlt sich dadurch nicht vergessen. Er wird besucht in sei15 Vgl. Assmann , Das kulturelle Gedächtnis, 57, 84, 227 und zum folgenden:
86. Jan Assmann resüm iert: '·Nach wie vor abcr scheint die Herstellung und Vermittlung von Ungleichzeitigkeit das Wesen der Religion auszumachen, mit deren
Verblassen in .der westlichen Welt ja auch ein unverkennbarer Trend zur 'Eindimensionalität' verbunden ist." A.a.O., 84.
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ner Einsamkeit ' und taucht wenigstens einmal im Jahr aus der Anonymität der Kirchengemeinde auf. Seine nicht selten reduzierte
soziale Identität wird bewußt gewürdigt, gestärkt und erweitert.
Ihm wird Achtung und Zuwendung vermittelt und damit zugleich
Kraft gegeben, das Alter mit seinen vieWiltigen Einschränkungen .
zu akzeptieren.
Auch die Kasualienseelsorge ist nicht einseitig aus .der Perspektive
der Krise zu interpretieren. Bei Tauf- und Traubesuchen steht zumeist 'die Freude und Dankbarkeit im Vordergrund. Darin gilt es,
nicht nur mit den Weinenden zu weinen, sondern sich auch mit den
Fröhlichen zu freuen und nicht zwanghaft eine existentielle Gesprächssituatiön - sei es über das Seelenleben oder über den Glauben - herbeizufuhren. 'Am Kranken- und Sterbebett ist die tröstende und stärkende Dimension der Seelsorge völlig ohne funktio nales Äquivalent. Hier wird besonders offensichtlich, was fur die
Seelsorge generell gilt: Sie ist primär christliche Lebensbegleitung,
nicht Lebensveränderung. Sie wendet sich den Verängstigten und
Mutlosen , aber auch den Starken zu und begleitet sie umsichtig und
taktvoll im Zeichen der Liebe Gottes . Sie läßt sie auch in der Stunde des Sterbens nicht allein.
selbst. " Menschliche Kontakte brauchen, wenn sie sich befriedigerio abwickeln sollen', eine Fülle von sozialen Mechanismen der
wechsel seitigen Verständigung, um die beiderseitige Erwartungsbildung zu lenken ." '· Manche dieser Mechanismen sind
rollengebunden, andere wiederum beziehen sich auf ganz elementare Verhaltenserwartungen, die nicht nur für die seelsorgerliche
Kommul)ikation gelten. Da sie im allgemeinen wenig reflektiert
und in aller Regel unterschätzt werden , gilt ihnen abschließend die
Aufmerksamkeit.
.
Seelsorge hat als christliche Lebensbegleitung eine störende und
stärkende Dimension. Indem sie die spezifischen Sinnformen und
Ressourcen religiöser Kommunikation sensibel 'und differenziert
nutzt, vermittelt sie kulturellen Sinn. Sie belebt den christlichen
Glauben und trägt damit zugleich zum Aufbau psychischer Komplexität bei. In all dem verm ittelt Seelsorge die evangelische
Sachthematik. Gerade dadurch ist sie professionell.
Seelsorge als Kommunikation unter Anwesenden
Ein wichtiges Verdienst der beratenden Seelsorge war es, auf die
Unwahrscheinlichkeit des Gelingens von Kommunikation hinzuweisen und fur die vielfaltigen Gefahren und Mißverständnisse der
Kommunikation zu sensibilisieren. Es ist deshalb elementarer Bestandteil professioneller Seelsorge zu reflektieren, welche Gefahren
und Chancen die Kommunikation unter Anwesenden mit sich
bringt und welche Konsequenzen daraus für das eigene Verhalten
zu ziehen sind. Denn Kommunikation versteht sich nicht von
Grundlegend ist bei der Kommunikation unter Anwesenden der
Tatsache Rechnung zu tragen, daß es bei der persönlichen Kommunikation anders : als beim Briefeschreiben oder beim Telefonieren möglich ist, sich wechselseitig zu beobachten. Durch Wahrnehmung herrschen be i persönlichen Kontakten einzigartige Informationsbedingungen. Dadurch ist die Kommunikation unter Anwesenden mit besonderen Sensibilitäten ausgestattet und zugleich
besonders störanfallig. Bei einem Hausbesuch zum Beispiel gewinnt die Pfarrerin innerhalb we niger Sekunden Einblick in die
Lebenswelt eines Gemeindeglieds . Eine Fülle von Informationen
strömt auf sie ein, die durch die explizite Kommunikation in einem
therapeutischen Kontext niemals eingeholt werden könnte. In kürzester Zeit gewinnt die aufmerksame Pfarrerin einen verhältnismäßig präzisen Eindruck vom Leben eines Gemeindeglieds, von seinen Le.bensgewohnheiten, dem familiären Setting und Kommunikationsstil, von den Hobbys, die sich aus den wahrnehmbaren Gegenständen ableiten lassen . Die Pfarrerin hat auf diese Weise eine
Fülle von Anknüpfungsmöglichkeiten, die den Beginn des Gesprächs erleichtern können und zugleich für Vertrautheit in der
Kommunikation sorgen und damit Unsicherheit absorbieren. Diese
Fülle an Informationen durch Wahrnehmung erklärt zugleich, warum manche G~!l1eindeglieder den Pfarrer nicht gern ins Haus lassen bzw. welch großes Vertrauen sie der Pfarrerin entgegenbringen , wenn sie dies tun.
\6
N. Luhmann. Funktionen und Folgen fo rmaler Organi sation. Berlin 1972,
333f. Au ch die folgenden Au sftihrun gen zu den Wahrnehmungsprozessen der Inter-
aktion nehmen kommunikati onstheorct is chc Überlegungen Niklas Luhmann s auf.
Vgl. exemplarisch: N . Luhmann, Die Gesell schaft de r Gesellschaft. 2 Bände, Frank- ,
furt a. M. 1997, 812ff.
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Isolde Korle
Was ist Seelsorge?
Auch parallel zum Seelsorgegespräch laufen ständig Wahrnehmungsprozesse ab. So bemerkt die· Jubilarin, wenn die Pfarrerin ihr
gar nicht recht zuhört, während sie von ihren Kindern erzählt, sondern hektisch auf die Uhr schaut, aus dem Fenster blickt oder sich
nervös die Hände reibt. Nicht nur jedes Wort des Pfarrers, auch
seine Gesten, seine Kleidung, seine ungeputzten Schuhe, sein Auftreten, sein Körpergeruch - all dies hat oft entscheidenden Informationswert und wirkt sich er- oder entmutigend fur den Fortgang des
Gespräches aus. Bei der Kommunikation unter Anwesenden sind
das äußere Erscheinungsbild, Gestik und Mimik mithin von nicht
zu unterschätzender Bedeutung.
Aus der system ischen Therapie ist schließlich zu lernen, daß jede
. Beobachtung das Gesehene miterzeugt, daß deshalb jede Aussage
über das Gesehene immer auch eine Aussage über die eigene PersOfl, ihre Begrenzungen, Strukturen und Verhaltensweisen ist. Die
Seelsorgerin ist deshalb genötigt, äußerst vorsichtig bei der Unterstellung von Motivlagen zu sein . Keine und keiner kann in das
Herz eines anderen Menschen sehen . Das bedeutet zugleich, daß
der Gesprächspartner letztlich intransparent bleibt und die Seelsorgerin sich immer nur an die Kommunikation selbst halten kann.
Das Unbewußte bzw. Intransparente ist und bleibt nicht beobachtbar, auch nicht durch gezie ltes Danebenverstehen. Es gibt keine
direkte Einsichtnahme in das Seelenleben eines anderen Menschen .
Dabei s ind nicht nur im Hinblick auf die Fremderkenntnis Grenzen
gesetzt, auch von uns selbst haben wir nur ein sehr unscharfes Bild,
selbst wenn wir davon überzeugt sind, uns gut zu kennen. Denn
Individuen sind als komplexe Systeme oftmals " alles· andere denn
hellsichtig im Umgang mit sich selbst"l'. Sie können sich selbst
nicht durchschauen , sie sind sich selbst in entscheidender Hinsicht
intransparent. Diese systemtheoretische Skepsis im Hinb lick auf
die Möglichkeiten der Selbsterkenntnis nötigt zu Vorsicht und Bescheidenheit, auch und vor allem in der seelsorgerlichen Kommunikation .
Die Kommunikation unter Anwesenden basiert auf gegenseitiger
Anerkennung und Wertschätzung. Jeder und jede ist darauf angewiesen, daß der oder die andere s ich so verhält, daß das eigene
Image und Selbstbild gewahrt oder gefördert wird." Viele elementare Verhaltensweisen , Achtungserweise und Höfl ichkeiten wie
Begrüßungs- und Verabschiedungsformen dienen dazu, das Selbstbild des oder der anderen zu unterstützen. Erst auf dieser Grundlage ist es möglich, mit Gefuhlen des Vertrauens und der Sicherheit
zu reagieren und sich auf ein Gespräch ohne Angst einzulassen.
Takt, Güte und soziale Geschicklichkeit sind deshalb grundlegend
für die seelsorgerliehe Kommunikation. Taktvoll ist, wer aufmerksam und interessiert an der Selbstdarstellung anderer Menschen
mitwirkt, wer Ausdrucksfehler übersieht und Störungen zu vermei den oder zu ignorieren sucht. Taktvolles Verhalten hilft über spannungsvolle Momente ·in der Kommunikation hinweg und versucht,
dem anderen Ver legenheit und Verwirrung zu ersparen. Formen der
Ehrerbietung und des Taktes stellen mithin eine wichtige Erleichterung interaktiver und riskanter Kommunikation dar. Sie erweitern
den Kommunikationsspielraum beträchtlich. Sie signalisieren dem
Gegenüber, daß man bereit ist, an seinem Selbstbild konstruktiv
mitzuarbeiten, und sind insofern keineswegs so inhaltsleer, wie sie
oberflächlich betrachtet ersche inen mögen .
Seelsorge ist keine Therapie. Das gilt auch für die Gesprächsführungsregeln. Es ist für eine kompetente seelsorgerliehe Gesprächsführung nicht erforderlich, eine pastoralpsychologische Zusatzausbildung zu absolvieren. Es genügt und ist anspruchsvoll genug, die
grundlegenden Mechanismen der Kommunikation unter Anwesenden, der Höflichkeit und des Taktes zu kennen und zu beherrschen,
die eigene Wahrnehmung zu schulen und zu differenzieren und
sich sensibel und mit sozial er Geschicklichkeit auf dem riskanten
Terrain der Kommunikation zu bewegen.
Professionelle Seelsorge
Die beiden wesentlichen Bezugsgrößen einer Profession, die Kommunikation unter Anwesenden mit ihren besonderen Anforderungen
17 Vgl. dazu und zum folgenden ausfUhrlieh: E. Gaffmann, Interaktionsrituale.
Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt a. M. J996, 1Off.. 54ff.
u.106ff.
IS P. Fuchs, Blindheit und Sicht. Vo rüberlegungen zu einer Schemarevision, in :
P. FuchsIN. Luhmann, Reden und Schweigen, Frankfurt a. M. 1992, 178-208, 206.
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Isolde Karle
an die kommunikative Kompetenz des Seelsorgers und die Vermilliung der Sachthemaiik mit -ihre·n besonderen Anforderungen an
die pastorale und theologische· Kompetenz der Seelsorgerin sind für
die professionelle Seels.orgepraxis bestimmend. An Seelsorgerinnen und Seelsorger werden andere Erwartungen gerichtet als an
Therapeutinnen und Therapeuten. Seelsorgerinnen und Seelsorger
sollten deshalb prinzipiell als geistliche Personen ansprechbar und
erkennbar sein - ebenso wie die Ärztin auf Fragen der Krankheit
ansprechbarist. Gemeindeglieder sollten sicher erwarten können,
daß sie mit ihrem Seelsorger oder ihrer Seelsorgerin über ihre Ängste und Identitätsprobleme, über das Altwerden und Sterben, über
die Frage nach Gott und der ethischen Orientierung im Leben reden
und sich dabei auf ihre Verschwiegenheit verlassen können .
Eine interaktiv sensible Seelsorge wird sich als taktvolle Kommunikation niemals aufdrängen und weiß das vertrauenstabilisierende
Gespräch zwischen Tür und Angel zu würdigen . Sie zeigt sich kooperativ in bezug auf das Selbstbild anderer Menschen und schützt
das ihr entgegengebrachte Vertrauen. Nur wenn Seelsorge im Kontext eines religiös geprägten Erwartungszusammenhangs ihre spezifischen Ressourcen und Sinnformen sensibel und taktvoll, umsichtig und differenziert zu nutzen weiß, wird sie den individualisierten
Menschen in der modernen Gesellschaft Trost und Orientierung
vermitteln und stärkende und produktiv störende Lebensbegleitung
sein können. In dieser Konzentration und Selbstbegrenzung liegt
ihre kreative Kraft.