H.-L. SCHREIBER H.-L. SCHREIBER WAS SIND BEGRÜNDETE TATSÄCHLICHE ANHALTSPUNKTE FÜR FEHLENDE FREIWILLIGKEIT ODER VERBOTENEN HANDEL BEI DER LEBENDTRANSPLANTATION? I. 170 J nephrol Team 4-2003 Die Voraussetzungen der Lebendspende sind kompliziert, wohl nicht nur durch die gesetzliche Regelung, obwohl diese nicht durch besondere Klarheit und Einfachheit überzeugt. Hier soll es um den Umfang der Ermittlungspflicht der Kommissionen nach § 8 Abs. 3 des Transplantationsgesetzes (TPG) gehen. Abs. 3 dieses Gesetzes schreibt vor, dass eine weitere Voraussetzung der Entnahme von Organen bei einem Lebenden darstellt, dass die nach Landesrecht zuständige Kommission gutachterlich dazu Stellung genommen hat, ob begründete tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Einwilligung in die Organspende nicht freiwillig erfolgt oder das Organ Gegenstand verbotenen Handeltreibens nach § 17 Transplantationsgesetz ist. Die nach den verschiedenen Landesgesetzen gebildete Kommission ist nur für diese beiden Fragen zuständig, nämlich für die Frage der Freiwilligkeit und die Frage, ob etwa verbotenes Handeltreiben vorliegt. Nicht zuständig ist die Kommission dagegen etwa für die Frage nach dem voraussichtlichen Erfolg und die möglichen Auswirkungen der Spende bei Spender und Empfänger. Nach der Konstruktion des Gesetzes hat sie keine Entscheidungsfunktion, sie hat nur die Aufgabe, gutachterlich Stellung zu nehmen. Der transplantierende Arzt ist an dieses Statement nicht gebunden, er kann sowohl trotz positiven Votums eine Transplantation ablehnen, als auch trotz negativen Votums sie vornehmen (vgl. Nickel/Schmidt-Preisigke/Sengler, Transplantationsgesetz, 2001, § 8 Rn. 37). Der verantwortliche Arzt hat sich unabhängig von der Stellungnahme der Kommission auch selbst zu vergewissern, ob die erteilte Einwilligung des potentiellen Spenders rechtswirksam ist (Nickel u.a., a.a.O.). Ob es richtig ist, wie Nickel u.a. meinen, dass im Hinblick auf diesen bloß gutachterlichen Charakter die Stellungnahme der Kommission rechtlich nicht angreifbar ist (a.a.O.), mag hier dahingestellt bleiben. Wir kommen darauf noch zurück, ich habe Zweifel, ob diese Unangreifbarkeit so richtig ist. II. Was "freiwillig" bzw. "nicht freiwillig" ist, wird vom Gesetz selbst nicht näher erläutert. Gemeint sein kann damit sicher nicht die Freiheit des Willens im Sinne des Streites von Determinismus und Indeterminismus (vgl. zur Freiwilligkeit Schreiber, in: Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 3. Aufl. 1999, S. 3 ff.). Mit verläßlichen wissenschaftlichen Mitteln kann man nicht entscheiden, ob und inwieweit jemand "frei" im absoluten Sinne in einem bestimmten Zeitpunkt ist bzw. gewesen ist. Es kann nur, wie es heute ganz überwiegend auch im Strafrecht geschieht, etwa bei der Bestimmung der Freiwilligkeit des Rücktritts vom Versuch und auch bei der Interpretation der Schuldfähigkeit um eine der Erfahrung zugängliche Feststellung von Freiwilligkeit im Sinne der Bestimmung durch innere Motive, frei von äußerem Zwang und von zwingenden, lähmenden inneren Gründen, etwa aus einer familiären Situation gehen. Familiärer und anderer Einfluss schließt grundsätzlich die Freiwilligkeit nicht aus. Unfreiwillig handelt, wer familiär oder in persönlichen Beziehungen unter so starkem Druck steht, dass er damit praktisch gezwungen erscheint, ein Organ etwa seine Niere zu spenden (zur WAS SIND BEGRÜNDETE TATSÄCHLICHE ANHALTSPUNKTE FÜR FEHLENDE FREIWILLIGKEIT ... Freiwilligkeit vgl. Troendle/Fischer, Strafgesetzbuch, 50. Aufl. 2001, § 24Rn.19ff.). Die Grenze der Unfreiwilligkeit ist jedenfalls dann erreicht, wenn der potentielle Spender unter so erheblichem Druck steht, dass man auch seine nach § 8 Abs. 1 Nr. 1b erforderliche Einwilligung nicht mehr als wirksam, da nicht frei ansehen würde. Gerade bei Spenden in familiären und anderen Beziehungen gibt es sicher Ursachen, innere Gründe. Diese schließen Freiwilligkeit nicht aus, können freilich häufiger einen so hohen Grad von innerem Zwang enthalten, dass die Spendebereitschaft nicht mehr als freiwillig angesehen werden kann. Der Grad des Einflusses des Dritten ist maßgeblich. Das Angebot einer Ehescheidung gegenüber dem Spender einer Niere ist sicher unmoralisch und dürfte auch ein verbotenes Handeltreiben im Sinne von §17 Transplantationsgesetz in bestimmten Fällen darstellen, aber die Grenze der Feiwilligkeit dürfte in der Regel mit solchem Verhalten nicht erreicht sein. III. Zweiter Gegenstand der Prüfung durch die Kommission ist das verbotene Handeltreiben. § 8 Transplantationsgesetz verweist hier ausdrücklich auf § 17 TPG, wenn es fragt, ob das Organ Gegenstand verbotenen Handeltreibens nach § 17 ist. Das Gesetz lehnt sich hier an das Betäubungsmittelrecht an, das diesen Begriff verwendet, der in der Rechtsprechung von Reichsgericht und Bundesgerichtshof entwickelt wurde (vgl. Nickel u.a., § 17 TPG, Rn. 4 ff.). Handeltreiben meint danach jede eigennützige, auf Güterumsatz gerichtete Tätigkeit zur Gewinnerzielung, auch wenn es um eine einmalige Handlung geht. Gewerbsmäßigkeit ist nicht erforderlich. Entgeltliche Verpflichtungsgeschäfte des Bürgerlichen Rechts gehören dazu. Das Handeltreiben ist als Unternehmensdelikt zu verstehen. Die Vollendung tritt schon mit der Beteiligung an einer Verkaufsverhandlung ein. Schon Angebote und Anzeigen reichen für ein Handeltreiben aus. Charakteristikum ist der Eigennutz, der gegeben ist, wenn jemand hier persönlichen Vorteil, insbesondere Gewinn, erzielt. Nicht nur materielles Gewinnstreben stellt "Handeltreiben" dar, sondern auch immaterielle Güter können Gegenstand des Handeltreibens sein, z.B. die Nennung potentieller Kunden und Verkäufer, die Zuführung von Interessenten für ein Organ. IV. Nun zur Frage: Was sind "begründete tatsächliche Anhaltspunkte" für fehlende Freiwilligkeit der Einwilligung oder für verbotenes Handeltreiben, das die Kommission nach § 8 Abs. 3 Transplantationsgesetz zu prüfen hat. "Begründete tatsächliche Anhaltspunkte" ist zunächst jedenfalls weniger als Gewißheit, als sogenannte Urteilsgewißheit für die im Recht die an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit oder anders formuliert, die einen vernünftigen Zweifel ausschließende Überzeugung stehen. Der Referentenkommentar von Nikkel/Schmitdt-Preisigke/Sengler sagt, es könnten insbesondere psychodiagnostische Mittel und medizinisch-psychologische Beratungsverfahren eine Beurteilung sowohl der Einschätzung der Freiwilligkeit als auch der Untersuchung und Bewertung der Beweggründe für die Organspende ermöglichen (vgl. Nickel u.a., § 8 TPG, Rn. 35 ff.). Eine ähnliche Formel findet sich im Strafprozessrecht. Hier spricht § 152 Abs. 2 StPO von der Pflicht der Staatsanwaltschaft, Ermittlungen aufzunehmen bzw. zu beginnen. Für einen solchen Anfangsverdacht setzt § 152 Abs. 2 StPO "zureichende tatsächliche Anhaltspunkte" voraus. Wohlgemerkt für den Anlass zum Beginn von Ermittlungen überhaupt. Dafür soll nach einer gängigen Formel die Möglichkeit genügen, dass nach kriminalistischer Erfahrung eine verfolgbare Straftat gegeben sein kann. Dieser Anfangsverdacht muss nicht dringend sein (so die Voraussetzungen für den Haftbefehl) und auch nicht "hinreichend", wie für Anklageerhebung und Eröffnung des Hauptverfahrens. Die "zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte" müssen nicht so weit gehen, dass sie schwerwiegende Strafverfolgungsmaßnahmen rechtfertigen. Man spricht im Strafprozess von einer verhältnismäßig geringen Intensität des Verdachtes. Zwar reichen bloße Vermutungen und Möglichkeiten 171 J nephrol Team 4-2003 H.-L. SCHREIBER noch nicht, es muss sich um durch tatsächliche Hinweise gestützte Möglichkeiten und darf sich nicht nur um "rein kriminalistische Hypothesen" handeln. Die Anhaltspunkte müssen so sein, dass es gerechtfertigt erscheint, die Mittel der Strafverfolgung einzusetzen und in die Rechte der Bürger einzugreifen. Eine gewisse, wenn auch geringe Wahrscheinlichkeit ist nötig, freilich muss sie über die allgemeine theoretische Möglichkeit hinausgehen. Auch vorläufige und noch ungeprüfte Angaben sollen ausreichen (vgl. Karlsruher Kommentar zur StPO, 3. Aufl. 1993, § 152, Rn. 28 ff.; Löwe/Rosenberg/Rieß, Strafprozessordnung, 24. Aufl. 1990, § 152, Rn. 21 ff.). Dann sind keine zureichenden Anhaltspunkte gegeben, wenn offensichtlich haltlose oder unrichtige Angaben vorliegen. Die Anhaltspunkte müssen darauf hindeuten, dass über die bloße allgemeine Möglichkeit gerade der zu untersuchende Lebenssachverhalt eine Straftat enthalten kann. V. 172 J nephrol Team 4-2003 Man kann § 8 Abs. 3 TPG wohl nicht dahin auslegen, dass die Kommission sich auf die begründeten tatsächlichen Anhaltspunkte für ihre Stellungnahme beschränken darf, der Arzt dann aber über die Anhaltspunkte hinaus zu prüfen und zu ermitteln hat, was nun wirklich vorliegt. Erfährt er mehr, als eine Kommission bei ihren Anhörungen erfahren hat, muss er das Wissen bei seiner Entscheidung über die Transplantation natürlich berücksichtigen. Aber nach dem Gesetz hat er keine weiteren Ermittlungspflichten über die Feststellungen der Kommission hinaus. Die Kommission sollte dem Arzt gerade die Ermittlungspflicht abnehmen. Die Kommission soll offenbar nicht weitere Prüfungspflichten des Arztes auslösen, sondern ihn prinzipiell entlasten. Prinzipiell wird die Kommission Zeugen oder Sachverständige hinzuziehen können, sie kann auch Unterlagen beiziehen, etwa Krankenunterlagen und das Protokoll eines Aufklärungsgespräches. Ein Aufklärungsgespräch sollte jedenfalls vor der Kommissionsprüfung geführt worden sein. Beim Verdacht des Organhandels sind die Möglichkeiten, etwas zu erfahren, freilich gering. Die Strafprozessordnung spricht von "zureichenden" Anhaltspunkten, das Transplantationsgesetz von "begründeten" Anhaltspunkten. Ein Unterschied hier ist schwer festzustellen. Die zureichenden Anhaltspunkte im Strafprozessrecht sind auf den Beginn von Ermittlungen ausgerichtet. Die Prüfungskommission nach § 8 Abs. 3 soll dagegen eine Feststellung treffen. "Begründete tatsächliche Anhaltspunkte" können eigentlich nicht anders verstanden werden im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit. Die Anhaltspunkte dürfen nicht haltlos sein, sie müssen begründet erscheinen. Sie sind offenbar nicht bloß als Start für Ermittlungen zu verstehen, sondern zielen auf ein Ergebnis hin. Es muss begründete Anhaltspunkte für Handel oder Unfreiwilligkeit geben. Nach den Gesetzesmaterialien muss die Sache nicht ausermittelt sein. Es bestehen keine Pflichten, für die Kommission wohl auch gar nicht die Möglichkeit, etwa die Durchsuchung einer Wohnung anzuordnen. Die Rechte der Staatsanwaltschaft bzw. des Gerichtes besitzt die Kommission nicht. Fraglich ist es, ob und in welchem Umfang Zeugen über bestimmte Vorgänge vernommen werden sollen. In der Regel wird man sich auf eine Anhörung der Betroffenen zu beschränken haben. Dabei müssen jedenfalls beide Seiten, Spender und Partner gehört werden. Offenbar soll eine nicht haltlose Vermutung, etwa begründete tatsächliche Anhaltspunkte dafür ausreichen, eine gutachterliche Stellungnahme abzugeben. Diese Stellungnahme soll dann nach dem Gesetz offenbar auch ausreichen, eine Transplantation durch den Arzt wegen des Verdachtes der Unfreiwilligkeit oder des Verdachtes des Organhandels abzulehnen. Es erscheint schon zweifelhaft, ob das ausreichen kann, um eine Behandlung abzulehnen und den Patienten wegzuschicken. Das Transplantationsgesetz hat die Sache aber offenbar so regeln wollen, dass schon bei begründetem Verdacht der Unfreiwilligkeit oder des Handeltreibens eine Lebendtransplantation verweigert werden kann. Eine sicher nicht unproblematische Regelung. Der Arzt darf der Kommission folgen, er darf aber auch anders entscheiden, wenn er nach seiner pflichtgemäßen Überzeugung zu anderen Ergebnissen kommt. WAS SIND BEGRÜNDETE TATSÄCHLICHE ANHALTSPUNKTE FÜR FEHLENDE FREIWILLIGKEIT ... PROF. DR. DR. HANS-LUDWIG SCHREIBER LITERATUR 1. 2. 3. 4. 5. Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung. 3. Aufl., München, 1993 Löwe, Rosenberg, Mieß (1990) Kommentar zur Strafprozessordung. 24. Aufl. Nickel, Schmidt-Preisigke, Sengler (2001) Transplantationsgesetz. Stuttgart Schreiber (1999) In: Venzlaff, Foerster: Psychiatrische Begutachtung. 3. Aufl. Tröndle, Fischer (2001) Strafgesetzbuch. 50. Aufl., Müchen Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht Universität Göttingen Platz der Göttinger Sieben 6 D-37073 Göttingen E-mail: [email protected] Y. Erim, K.-H. Schulz (Hrsg.) Beiträge der Psychosomatik zur Transplantationsmedizin K. Laederach-Hofmann: Integrationsprozesse und Organphantasien im Rahmen der Organtransplantation H. Kirsch, K. Kernhof, I. Otterbach: Psychodynamische Hypothesen zur Repräsentation der Transplantationserfahrung M. Langenbach, F. Kuhn-Régnier, H. J. Geißler, K. Köhle: „ Ich habe nur immer so ein bisschen Angst“ – Versuch einer heuristischen Typologie subjektiver Erfahrungen im ersten Jahr nach Herztransplantation – Eine idealtypenanalytische Studie K. E. Gerauer, S. Storkebaum: Lebertransplantation im Schatten schwerer familiärer Dependenz V. Köllner, F. Einsle, T. Maulhardt, I. Schade, A. Maercker, P. Joraschky, V. Gulielmos: Posttraumatische Belastungsstörungen nach thorakalen Organtransplantationen – Vergleich unterschiedlicher Erhebungsverfahren und Auswirkungen auf die Lebensqualität K.-H. Schulz, C. Wein, A. Boeck, X. Rogiers, M. Burdelski: Kognitiver Status lebertransplantierter Kinder H. Ewers, K.-H. Schulz: Rückkehr ins Arbeitsleben nach Lebertransplantation – eine empirische Studie A. Frilling, F. Weber, C. E. Broelsch: Zweittumoren bei Patienten unter Immunsuppression nach Organtransplantation A. Straube, P. Sostak, C. S. Padovan: Mögliche Ursachen neurologischer Komplikationen nach Organtransplantation E. Scheuer, L. Götzmann: Psychosoziale Evaluation und Betreuung von Patienten vor und nach Lungentransplantation M. Seidel-Wiesel, J. Schweitzer-Rothers: Das Heidelberger Beratungskonzept zur Nierentransplantation: Medizinpsychologische Evaluation vor Lebendnierenspende und psychologische Betreuung nach Transplantation K. Ningel, K. Leppert, U. Schotte, M. Hommann, J. Scheele, B. Strauß: Familiendynamik und Dynamik des Behandlerteams bei einer Leberlebendspende: Ein kasuistischer Fall M. Walter, C. Papachristo, A. Pascher, P. Neuhaus, B. F. Klapp, G. Danzer: Leberlebendspende: Entwicklung psychosozialer Parameter bei Spendern nach Resektion und Transplantation eines Leberlappens E. Bronner, M. Walter, T. Steinmüller, G. Danzer, B. F. Klapp: Motive vor potentieller Leber-Lebendspende Y. Erim, M. Heitfeld, R. Schäfers, M. Malago, S. Nadalin, W. Senf, T. Philipp, C. E. Broelsch: Entscheidungsprozesse, psychische Belastung und Lebensqualität der Leberlebendspender im Vergleich mit Nierenlebendspendern 184 Seiten, ISBN 3-89967-012-4, Preis: 15,- Euro PABST SCIENCE PUBLISHERS Eichengrund 28, D-49525 Lengerich, Tel. ++ 49 (0) 5484-308, Fax ++ 49 (0) 5484-550, E-mail: [email protected], Internet: http://www.pabst-publishers.com 173 J nephrol Team 4-2003
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