18 Zu den Fotos der Wanderausstellung, die die Fortschrittskonferenzen in sechs Städten begleitete, gehörte auch dieses Motiv aus dem Hochland von Bolivien. Das Goethe-Institut, aus dessen Begleitpublikation das Foto stammt, gab ihm die Unterzeile: „Wenn sich der Glockenturm des Jesuitenklosters in Potosí in den modernen Fenstern des Tourismusbüros spiegelt, versöhnen sich Vergangenheit und Gegenwart.“ Foto | Jorge Crispin Was ist Fortschritt? Franziska Donner | Text Sechs Konferenzen in sechs Ländern fanden durchaus unterschiedliche Antworten auf ein und dieselbe Frage. ukunft mit MehrWert – sozial und ökologisch wirtschaften“: Mit diesem Jahresthema beschreibt die GTZ das Gesellschaftsmodell, aus dem sie kommt. Die Partner wissen also, mit wem sie es zu tun haben. Eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche nachhaltige Entwicklungszusammenarbeit. Ebenso wichtig ist es, umgekehrt die Positionen, Werte und Erfahrungen der Partner zu kennen. Die GTZ hat dies mit einer Konferenzreihe in sechs Ländern versucht in Erfahrung zu bringen, zusammen mit dem Goethe-Institut und lokalen Institutionen. Die Fragen an die nationalen Vertreter auf dem Podium lauteten: Wie definiert Ihre Gesellschaft aktuell Fortschritt, was bedeutet Ihnen eine Zukunft mit MehrWert, und wie ist der Weg dorthin? Z Die Konferenzen thematisierten die ambivalente Rolle von Tradition und Religion, die Sehnsucht nach der Bewahrung einer eigenen gewachsenen Identität und die Rolle der Kultur. Die soziale und ökologische Dimension von Entwicklung war ebenfalls überall Gegenstand der Diskussion, wenn auch in unterschiedlicher Form und Gewichtung. Spürbar war auf allen Konferenzen auch die Angst, von einem westlich verstandenen Wirtschaftsmodell überwältigt zu werden, das angeblich keine Balance von sozialen und ökologischen Werten sucht. In der ägyptischen Stadt ALEXANDRIA fand die Konferenz vor dem Hintergrund einer intensiven Debatte über den „islamischen Weg“ statt. Die Debatte zeigte: Der Fortschrittsbegriff ist aus islamischer Sicht eine Z U KU N FT Herausforderung. Warum, so fragten sich die Teilnehmer, gelang es den Japanern, unter Wahrung eigener kultureller Vorstellungen sehr wohl an die westliche Ökonomie und Technologie Anschluss zu finden, während die Ägypter dabei scheiterten? Und warum bot in Europa der Protestantismus die angemessene Ethik für die industrielle Entwicklung, während der Islam dies für den arabischen Kulturkreis nicht tat? Der Erfolg der westlichen Technologie wurde anerkannt und die Bereitschaft signalisiert, Elemente des Westens zu akkulturieren, jedoch nicht um den Preis der Aufgabe der islamischen Identität. Eine Reduzierung auf ein rein technisches oder materielles Verständnis von Fortschritt wurde abgelehnt. Das Geschichts- und Modernitätsverständnis aller Referenten war geprägt von dem dringenden Wunsch nach eigener kultureller Identität. Indien befand sich zum Zeitpunkt der Konferenz in KALKUTTA mitten in Wahlen. „Shining India“ hieß der Wahlslogan der damaligen Noch-Regierungspartei. Ein Symbol für ein erstarktes Selbstbewusstsein mit neoliberalen Zügen. Die Konferenz beklagte jedoch, dass diese Art Fortschritt viele Menschen ausschließt und natürliche sowie kulturelle Ressourcen vernichtet. Alle Teilnehmer waren sich einig: Der Entwicklungsprozess in Indien braucht mehr Transparenz. Um voranschreiten zu können, müsse ein Bewusstsein für den Preis des Fortschritts entwickelt werden, sagte der Soziologe Ashish Nandy. In der bolivianischen Hauptstadt LA PAZ kamen Vertreter von 36 indigenen Völkern zusammen. Ihrem Verständnis nach macht der Fortschrittsbegriff des Westens keinen Sinn. Ihre Sprachen kennen nicht einmal das Wort „Fortschritt“, sondern nur Umschreibungen wie „das gute Leben“ oder – wie der Guaraní-Vertreter Enrique Camargo ausführte – das Streben nach Gleichgewicht zwischen persönlichem, kollektivem und materiellem Wohlergehen. Nach dem Empfinden vieler Teilnehmer war Fortschritt jahrhundertelang ein von Europa nach Bolivien importiertes Wertesystem, gleichgesetzt mit der Wirtschaftspolitik und dem Export von Technologien. Entsprechend scharf unterstellte Simón Yampara, Vertreter der Aymará, der sogenannten Ersten Welt „seelische Armut“. Die Konferenz in KALININGRAD drehte sich um das Verhältnis von Fortschritt zur religiös geprägten russischen Kultur. Die zentrale Frage im ehemaligen Königsberg in der russischen Enklave zwischen Polen und Litauen lautete: Wieweit lässt sich ein eigener kultureller Kern bewahren, damit die nationale Identität angesichts der Globalisierung keinen Schaden nimmt? In einem viel beachteten Vortrag stellte Alexander Songal, Abteilungsleiter für Internationale Beziehungen der Gebietsduma, fest: „Unter Fortschritt versteht man in Russland heute die Annäherung an europäische Normen und Lebensstandard. Das Hauptproblem liegt im Übergang von einem ideologischen Begriff des Fortschritts zu einem überwiegend materiell definierten Verständnis.“ Kaliningrad könne vielleicht als eine Art Pilotregion dazu beitragen, die verschiedenen Kulturen zu integrieren, hofften manche Teilneh- M IT M E H R W E RT akzente 2.08 19 mer. Ein neues Projekt einer russischen Entwicklung, das viele für notwendig hielten, sollte vor allem die Menschenrechte, die Wissenschaft und den technologischen Fortschritt betonen. In WINDHUK stellten sich Fragen nach dem Verhältnis von ethnischer und nationaler Identität. Viele Menschen seien zwischen dem neuen Konzept eines Nationalstaats und den alten Bindungen an den Clan hin- und hergerissen, hieß es. Die Mehrzahl der Namibier fühle sich von einer Minderheit unter Modernisierungsdruck gesetzt, sagte André Strauss aus dem namibischen Erziehungsministerium. Die Bevölkerung mehr an Entscheidungsprozessen teilhaben zu lassen, wurde in Windhuk als Kriterium für den Fortschritt definiert. Die Grundlage hierfür seien eine gute Regierungsführung und der Aufbau eines Rechtsstaats. In Gödelitz bei DRESDEN konzentrierte sich der Dialog auf vier zentrale Aspekte des Fortschrittsbegriffs: Geschichte, technische Entwicklung, die Zukunft der Arbeitsgesellschaft und den gesellschaftlichen Wandel nach der Wiedervereinigung. Viele ehemalige DDR-Bürger empfinden diesen Wandel als Rückschritt hinsichtlich Solidarität, sozialer Sicherheit und Chancengleichheit. Der Begriff „Innovation“ stand zur Debatte. Vor dem Hintergrund der deutschen „Agenda 2010“ und drohender Entlassungen bei großen Unternehmen kreiste die Diskussion um die Frage, ob es in Zeiten der Globalisierung überhaupt noch etwas bedeuten könne, über gesellschaftlich wünschbaren Fortschritt zu diskutieren. Eine „brauchbare Vision“ für die Zukunft fehle. Die Antwort auf die an sechs verschiedenen Plätzen der Welt gestellte Fortschrittsfrage konnte natürlich nicht lauten: „Fortschritt ist …“ Die Antwort war vielmehr: „Es ist gut, diese Frage zu stellen und darüber ins Gespräch zu kommen.“ t Franziska Donner leitet das GTZ-Büro in Berlin. Sie war Initiatorin der Konferenzserie und leitete mit Ulrike HofmannSteinmetz vom Goethe-Institut das gemeinsame Projekt. Das Foto CocaChe, entstand im Hof der staatlichen Universidad Mayor de San Andrés in Bolivien. Früher war Che Guevara das Idol aller Studenten. Nun ist der Fortschritt mit Coca-Cola und „wahren Freunden” eingezogen und fällt mindestens so stark ins Auge wie der Revolutionär. Foto | Silvia Cuellar Weitere Informationen zu den sechs regionalen Konferenzen und der internationalen Konferenz in Berlin stehen im Internet unter: www.goethe.de/fortschritt
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