Sendesperrfrist: Freitag, 26. August 2005, 09:30 MEZ Prof. Dr. Franz-Christoph Zeitler Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank Was bleibt vom Stabilitätspakt und Wachstumspakt? Salzburg-Seminar am 26. August 2005 – Es gilt das gesprochene Wort – Deutsche Bundesbank • Zentrale • Presse und Information • Wilhelm-Epstein-Straße 14 • 60431 Frankfurt am Main www.bundesbank.de • E-Mail: [email protected] • Tel.: 069 9566-3511 • Fax: 069 9566-3077 Bei publizistischer Verwertung wird um die Angabe der Quelle gebeten. Sendesperrfrist: 26. August 2005, 09:30 Uhr MEZ 1. Blick auf die finanzpolitische Realität im Euroraum Nahezu die Hälfte der Länder des Euro-Raums hat im vergangenen Jahr die 3%-Grenze des EG-Vertrages und des Stabilitäts- und Wachstumspakts überschritten oder droht sie in diesem Jahr zu überschreiten. Sechs der im vergangenen Jahr der Union beigetretenen zehn Volkswirtschaften weisen Defizite von 3% oder mehr auf.1 In einer Reihe von Ländern verschleiern zudem fiskalische Einmalmaßnahmen das wahre Ausmaß der strukturellen Haushaltsprobleme. Gegen sechs der 12 Euro-Länder und sechs der zehn neuen EU-Mitglieder ist augenblicklich ein Verfahren nach Art. 104 EG-Vertrag anhängig. 1 Die Angaben zu den Haushaltszahlen (einschließlich der konjunkturbereinigten Größen) basieren auf den Zahlen der EU-Kommission vom Frühjahr 2005. Seite 2 von 32 Sendesperrfrist: 26. August 2005, 09:30 Uhr MEZ Ähnlich ist die Entwicklung der Schuldenstandsquoten: Im Jahr 2004 überstieg in sieben Euro-Ländern die Schuldenstandsquote den Referenzwert von 60 %. In drei Ländern, Deutschland, Portugal und Frankreich, kam es im Zeitraum seit dem Jahr 2000 sogar zu einem kräftigen Anstieg der Schulden-Relationen. In Deutschland durchbrach das öffentliche Defizit in jedem Jahr seit 2002 die 3%-Grenze und auch in diesem Jahr wird es über dieser Marke liegen. Die Schuldenstandsquote stieg in den vergangenen fünf Jahren um mehr als fünf Prozentpunkte. Mit rund 65% lag sie im vergangenen Jahr zudem deutlich über der 60%Grenze. Die hohen öffentlichen Defizite und Schuldenstände schränken zunehmend den finanzpolitischen Handlungsspielraum ein: Je Euro ausstehender Staatschuld waren im Jahr 2004 rund fünf Cent an Zinsen zu zahlen. Mit einer Verschuldung von Seite 3 von 32 Sendesperrfrist: 26. August 2005, 09:30 Uhr MEZ rund 1,4 Billionen Euro machten die Zinszahlungen allein im vergangenen Jahr über 66 Milliarden Euro aus. Diese Entwicklungen sind vor dem Hintergrund der Konsolidierungsfortschritte in der zweiten Hälfte der Neunziger Jahre ernüchternd. Sicherlich hat der ab 2000 einsetzende konjunkturelle Abschwung seine Spuren in den öffentlichen Defiziten hinterlassen. Ein Blick auf die konjukturbereinigten Zahlen zeigt aber (bei allen Unsicherheiten in der Berechnung dieser Größen): die ungünstigen realwirtschaftlichen Daten können die Verschlechterung der öffentlichen Finanzen nicht allein erklären, zumal die mit der Europäischen Währungsunion einsetzende Zinskonvergenz und die geldpolitische Niedrigzinsphase die Zinsbelastung der öffentlichen Haushalte deutlich gesenkt haben. Insgesamt stieg das konjunkturbereinigte Defizit im EuroRaum im Zeitraum von 1999 bis 2004 von 1,6 % auf 2,4 Seite 4 von 32 Sendesperrfrist: 26. August 2005, 09:30 Uhr MEZ %. Zugleich hat sich der nicht bereinigte Primärüberschuss von 2,9 % auf 0,6 % verringert.2 Auf der gesetzgeberischen Ebene korrespondiert diese „Konsolidierungsmüdigkeit“ mit einer einschneidenden Änderung des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Im Ausdruck „Pakt“ kommt hierbei der seiner Entstehung zugrunde liegende politische Konsens zum Ausdruck; rechtlich handelt es sich um keinen „Pakt“, keine völkerrechtliche Vereinbarung, sondern um zwei Ratsverordnungen3, also europäisches Sekundärrecht; hinzu kommt die Entschließung des Europäischen Rates vom 17.06.19974 Die „Mutter aller Regeln“ bleibt das Primärrecht nach Artikel 104 des EG-Vertrags und das Protokoll Nr. 11 über das Verfahren bei übermäßigen Defiziten. 2 Der Primärsaldo ist definiert als staatlicher Finanzierungssaldo ohne Zinsausgaben. Verordnung (EG) Nr. 1466/97 des Rates vom 7. Juli 1997 über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung der Koordinierung der Wirtschaftspolitiken und der Verordnung (EG) Nr. 1467/97 des Rates vom 7. Juli 1997 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit, A BC.L 209 v. 2.8.1997 S. 1, S. 6. 4 A BL.C 236 v. 02.08.1997, S. 1; im Urteil vom 13.07.2004 (Rs C-27/04) erwähnt auch der EuGH die Ratsentschließung im Rahmen der „Systematik des Difizitverfahrens“ (Tz 71f der Urteilsgründe) als „Präzisierung und Verstärkung des Stabilitätspakts“, ohne daraus allerdings im weiteren konkrete Rechtsfolgen abzuleiten. 3 Seite 5 von 32 Sendesperrfrist: 26. August 2005, 09:30 Uhr MEZ Die Änderungen am Stabilitäts- und Wachstumspakt wurden nach einer langwierigen Diskussion am 20. März 2005 vom ECOFIN-Rat und wenige Tage später auf ihrem Frühjahrstreffen von den Staats- und Regierungschefs beschlossen5. Die entsprechenden Änderungen der genannten Verordnungen 1466/97 und 1467/97 wurden am 27. Juni 2005 vom Rat beschlossen6. Was das Ergebnis angeht, teile ich die Bewertung der meisten neutralen Beobachter: insgesamt ist das fiskalische Regelwerk deutlich geschwächt. Die Herausforderung an Einsicht und Durchsetzungskraft einer stabilitätsorientierten Finanzpolitik ist dem gegenüber deutlich gewachsen: je schwächer die Stringenz der Regeln ist, um so stärker muss sich die Überzeugungskraft solider Finanzpolitik im Alltag bewähren. Denn die 5 Bericht über die „Verbesserung der Umsetzung des Stabilitäts- und Wachstumspakts“ Anlage II zu den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 22./23. März (7619/05) 6 Verordnung (EG) Nr. 1055/2005 des Rates vom 27. Juli 2005 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1466/97 über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken, ABI. L 174 vom 7.7.2005, S. 1; Verordnung (EG) Nr. 1056/2005 des Rates vom 27. Juni 2005 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1467/97 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit, ABI. L 174 vom 7.7.2005, S. 5. Seite 6 von 32 Sendesperrfrist: 26. August 2005, 09:30 Uhr MEZ Änderungen machen den Pakt weniger transparent. Sie stärken die diskretionären Spielräume der nationalen wie der Brüsseler Institutionen und sie führen auf die schiefe Ebene einer im Durchschnitt gelockerten Haushaltspolitik. Bereits der „alte“ Pakt litt unter der sich aus dem Primärrecht ergebenden Schwäche eines eingeschränkten Sanktionsmechanismus. Dies wird häufig unter dem Schlagwort „Sünder richten über Sünder“ porträtiert. Die einzelnen Verfahrensstufen werden zwar von der Kommission ausgelöst. Die Letztendscheidungskompetenz liegt aber beim ECOFIN-Rat7. Hieran hat sich durch die Reform nichts geändert. Besser wäre es gewesen, bei den Kriterien und Abläufen des alten Pakts zu bleiben, zugleich aber – wie dies bei den ersten Entwürfen des geplanten Verfassungsvertrages vorgesehen war – eine „Umkehr der Handlungslast“ vorzunehmen: Der ECOFIN-Rat hätte dann nicht 7 Dabei wird sogar die Stimme des betroffenen Mitgliedstaats in der Beschlussfassung des Rates über die Feststellung eines übermäßigen Defizits berücksichtigt. Erst in den weiteren Verfahrensstufen nach Art. 104 Absätze 7 bis 9 sowie 11 und 12 EGV ist der Vertreter des betroffenen Mitgliedstaats nicht stimmberechtigt. Nach Art. III-184 Abs. 6 S. 4 des Vertrags über eine Verfassung für Europa würde dagegen die Stimme des Vertreters des Mitgliedstaates beim Beschluss über die Feststellung eines übermäßigen Defizits nicht mehr berücksichtigt werden. Seite 7 von 32 Sendesperrfrist: 26. August 2005, 09:30 Uhr MEZ wie derzeit auf der Grundlage einer Kommissionsempfehlung“, sondern auf der Basis eines „Vorschlags“ der Kommission zu entscheiden. Diese – rein äußerlich nur bescheidene – Änderung hätte die wichtige materielle Folge, dass der Rat einstimmig beschließen müsste, wenn er vom Kommissionsvorschlag abweichen will.8 Hatte man mit Problemen bei der politischen Bewertung der Defizitdaten bis zu einem gewissen Grad von vorne herein gerechnet, so zeigte sich in der Praxis ein zusätzliches und unerwartetes Problem in der Verlässlichkeit der Daten selbst. Die Kommission verließ sich hier auf die Budget- und Verschuldungszahlen der nationalen Stellen. Große Wellen hat der Fall Griechenlands geschlagen, bei dem sogar die Voraussetzungen für den Beitritt zur Währungsunion (ab 2001) auf der Grundlage von Daten bestätigt wurden, die später, von einer anderen Regierung deut- 8 Art. 250 Abs. 1 EG-Vertrag. Art. III-184 Abs. 6 S. 1 des Vertrags über eine Verfassung für Europa sieht lediglich für den Verfahrensschritt der Festestellung eines übermäßigen Defizits ein Vorschlagsrecht der Kommission vor. Seite 8 von 32 Sendesperrfrist: 26. August 2005, 09:30 Uhr MEZ lich revidiert werden mussten.9 Ob Fälle wie dieser durch die geplante strengere Fassung der statistischen Berichtspflichten und die Möglichkeit von Prüfbesuchen von Kommissionsmitarbeitern bei den datenmeldenden Stellen der Länder10 verhindert werden können, bleibt abzuwarten. Der Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde hat den viel zitierten Satz geprägt, dass der moderne demokratische Freiheits- und Rechtsstaat von Voraussetzungen lebt, die er nicht selbst garantieren kann. Auch eine regelgebundene Finanzpolitik lebt von Voraussetzungen, die sich nicht selbst aus sich heraus hervorbringen und garantieren kann. Angesprochen ist hier zuallererst die Einsicht und Bereitschaft, die geltenden Regeln zu akzeptieren. Und dies nicht primär, weil „pacta sunt servanda“ gilt, son9 Nach dem Konvergenzbericht der EZB lag die Defizitgrenze Griechenlands im Referenzjahr 1999 bei 1,6 %. Die revidierten Zahlen aus dem März 2005 weisen demgegenüber ein Defizit von 3,4% für 1999 aus, also deutlich über der Maastricht-Grenze. Die Defizitzahlen für 2001 bis 2003 ; die von agen ursprünglich zwischen 1,4 % und 1,7 %. Diese Zahlen wurden ebenfalls revidiert und betragen gegenwärtig 3,6% (2001) und 5,2% (2003). Darüber hinaus wurden die Zahlen für 20012003 nicht von Eurostat validiert, so dass vermutet werden darf, dass die endgültigen Angaben noch schlechter ausfallen. Für mehr Informationen zur Revision der griechischen Defizit- und Schuldenstandsangaben für die Jahre 1997 bis 2003 siehe auch den bericht von Eurostat SEC(2004) 1539 vom 22. November 2004. 10 Es liegt ein Vorschlag der Kommission für eine Ratsverordnung zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 3605/93 hinsichtlich der Qualität der statistischen Daten im Rahmen des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit vor (KOM(2005) 71 endgültig). Die EZB hat in ihrer Stellungnahme vom 4. Mai Seite 9 von 32 Sendesperrfrist: 26. August 2005, 09:30 Uhr MEZ dern weil die unterliegende ökonomische Ratio als common sense einer wachstumsfördernden Finanzpolitik geteilt wird. Die ökonomische und rechtliche Seite des Paktes sind ja keine Gegensätze – wie oft behauptet wird11 -, sondern bedingen sich gegenseitig; dies klingt schon im Begriff „Ökonomie“ an: Oikonomia heißt wörtlich „Regeln für das Haus, die Wirtschaft“. Im folgenden sollen deshalb die wesentlichen Gründe, die vor Beginn der Europäischen Währungsunion zur Vereinbarung des Stabilitäts- und Wachstumspakts geführt haben und damit die wesentlichen Gründe und Zielsetzungen einer regelgebundenen Finanzpolitik für den europäischen Währungsraum kurz dargestellt werden. 2. Gründe und Ziele einer regelgebundenen Finanzpolitik 2005, ABI. C 116 vom 18.5.2005, S. 11, die Hauptzielsetzung des Verordnungsvorschlags, den rechtlichen Rahmen für die Erhebung der relevanten Haushaltsdaten zu stärken, begrüßt. 11 siehe etwa Hans Eichel:, „Der Pakt ist kein Strafgesetzbuch“; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. November 2003. Seite 10 von 32 Sendesperrfrist: 26. August 2005, 09:30 Uhr MEZ Seitdem im Vorfeld der Europäischen Währungsunion das ursprünglich geplante Junktim von politischer Union und Währungsunion aufgegeben war, war klar, dass die Europäische Währungsunion mit einer Asymmetrie in der Leitung der beiden wesentlichen makroökonomischen Politikbereiche, der Geld- und Finanzpolitik zu leben hat. Der supranationalen Geldpolitik steht weiterhin die im wesentlichen12 in nationaler Verantwortung verbleibende Finanzpolitik gegenüber. Dies schließt eine funktionierende Währungsunion sicherlich nicht aus, mag operativ sogar gewisse Vorteile haben – etwa was den Wettbewerb von Steuersystemen, sozialen Sicherungssystemen, Bildungssystemen u. ä. angeht, birgt jedoch auch ökonomische Risiken; schließlich hatten finanzhistorische Untersuchungen ergeben, dass die Währungsunionen des 19. Jahrhunderts zum großen Teil an den unterschiedlichen Entwicklungen der Finanzpolitik gescheitert waren13. 12 13 Die Bedeutung des EU-Budgets ist in diesem Zusammenhang von untergeordneter Bedeutung. Vgl. Th. Theurl, Erfolgs- und Misserfolgsfaktoren von Währungsunionen: Historische Erfahrungen, Zeitschrift für Bayerische Sparkassengeschichte, Bd 13, 1999, S. 129 ff (143). Seite 11 von 32 Sendesperrfrist: 26. August 2005, 09:30 Uhr MEZ Schon der Maastrichter Vertrag in Artikel 104 wie der beim ECOFIN-Rat von Dublin im Dezember 1996 maßgeblich vom deutschen Finanzminister Dr. Waigel herbeigeführte Stabilitätspakt versuchen deshalb die Vorteile einer operativ in nationaler Verantwortung verbleibenden Finanzpolitik mit der Notwendigkeit gemeinsamer Regeln zu verbinden. Im einzelnen stehen dahinter im wesentlichen vier Gründe: Erstens: Die Vermeidung von Konflikten zwischen Finanzpolitik und Geldpolitik. Bei hoher staatlicher Verschuldung und einem – gerade in der derzeitigen Situation historischer Niedrigzinsen nicht auszuschließenden – höheren Zinsniveau wächst die Gefahr, die nominale Schuldenlast durch Druck auf die Notenbank, eine lockerere Geldpolitik zu betreiben, zu akkommodieren, also stabilitätspolitisch notwendige Zinserhöhungen zu unterlassen oder hinauszuschieben. Sicherlich wirkt diesem Druck eine glaubwürdige Geldpolitik und die institutionelle Absicherung der Unabhängigkeit der EZB Seite 12 von 32 Sendesperrfrist: 26. August 2005, 09:30 Uhr MEZ und der nationalen Notenbanken in Artikel 108 des EGVertrags entgegen. Der Stabilitätspakt setzt aber nicht an einem bereits eingetretenen Konfliktfall an, sondern will aus weiser politischer Erfahrung heraus bereits das Entstehen eines Konflikts zwischen Finanz- und Geldpolitik vermeiden. Zweitens: Vermeidung von Konflikten innerhalb der Währungsunion. Vor Beginn der Währungsunion konnten die Marktkräfte eine als unsolide wahrgenommene Finanzpolitik durch Reaktionen bei Wechselkurs und Zinsniveau disziplinieren. Zwar kamen die Marktreaktionen oft relativ spät, dann aber im Übermaß („overshooting“), aber die Finanzpolitik musste immer mit derartigen Sanktionen des Marktes rechnen. In der Währungsunion ist es öffentlichen Schuldnern möglich, einen Teil der ökonomischen Nachteile einer unsoliden Finanzpolitik eine Zeit lang hinter dem Gesamteindruck der Währungsunion an den Märkten zu verstecken oder die Seite 13 von 32 Sendesperrfrist: 26. August 2005, 09:30 Uhr MEZ Marktreaktionen auf eine solche Politik durch Verteilung auf die gesamte Währungsunion zu mindern. Ökonomen nennen dies eine fiskalische Externalität, andere sprechen von Trittbrettfahrereffekten oder (un)moralischer Versuchung (moral hazard: Staaten mit solider Finanzpolitik, die ihren Bürgern schmerzhafte Einschränkungen zumuten mussten, sind gezwungen, auch für die weniger soliden Mitgliedstaaten einzustehen.) Mit anderen Worten: Es nimmt auf einem breiten und liquidem Finanzmarkt das Ausmaß höherer Zinsen als Folge der Defizitpolitik eines bestimmten Landes ab, so wie ein Stein in einen Gartenteich geworfen größere Wellen erzeugt als der gleiche Stein, den man in einen See wirft. Wem die langfristige innere Kohärenz in der Währungsunion und die Vermeidung zentrifugaler Kräfte ein Herzensanliegen ist, der muss deshalb vehement für die Beachtung finanzpolitischer Regeln durch die Mitgliedstaaten eintreten14 14 Für eine Diskussion entlang dieses Arguments vgl. Uhlig, Harald: „One money, but many fiscal policy in Europe: what are the consequences?“ Tilburg University. Center for Economic Research Discussion paper 2002-31. Seite 14 von 32 Sendesperrfrist: 26. August 2005, 09:30 Uhr MEZ Drittens: Zusammenhang zwischen solider Finanzpolitik und Wachstum. Entgegen einer oft verbreiteten Auffassung, wonach staatliche Defizite – unabhängig vom jeweiligen Ausgangsniveau der Verschuldung – in jedem Falle wachstumsfördernd seien, zeigt der Blick auf die Tatsachen, dass eine niedrige Staatsverschuldung wegen der dadurch ausgelösten positiven Vertrauenseffekte, einer niedrigeren Steuerlast, eines größeren Anteils und höherer Effizienz des privaten Sektors in einer positiven Korrelation zum Wachstum steht.15 Innerhalb der Europäischen Währungsunion zeigen dies in den vergangenen Jahren die Beispiele von Ländern wie Spanien, Finnland, Irland oder auch Belgien, das von hohen Schuldenständen (über 140 % vor Beginn der Währungsunion) auf ca. 96 % (2004) gekommen ist und in den letzten 15 Die Tatsache, dass solide öffentliche Finanzen das langfristige Wachstum einer Volkswirtschaft positiv beeinflussen, ist in der empirischen Wachstumsliteratur gut dokumentiert. Siehe zum Beispiel: Romero de Avila, D. und Strauch, R. (2003), Public Finances and Long-Term Growth in Europe – Evidence from a Panel Data Analysis, ECB Working Paper 246; Fölster, S. und Henrekson, M. (1999), Growth and the Public Sector: a Critique of the Critics, European Journal of Pocitical Economy, 15, 337-358; Fölster, S. und Henrekson, M. (2001), Growth Effects of Government Expenditure and Taxation in Rich Countries, European Economic Review, 45, 15011520. Seite 15 von 32 Sendesperrfrist: 26. August 2005, 09:30 Uhr MEZ Jahren höhere Wachstumsraten als etwa Deutschland hatte. Außerhalb des Euroraums ist das Beispiel Kanadas interessant, das seit sieben Jahren Haushaltsüberschüsse erzielt hat, den Schuldenstand von ca. 70 % in den neunziger Jahren auf 38 % (2004) verringert hat und dessen Wachstumsraten zwischen 2 % und 3,5 % lagen. Unabhängig von der Diskussion über so genannte „non keynesian effects“ einer auf Defizitabbau angelegten Finanzpolitik – die sich im übrigen auch in Deutschland in den Jahren nach 1982 gegenüber allen damaligen Warnungen vor einem so genannten „Totsparen“ bewährt hat – ist jedenfalls anerkannt, dass eine hohe Verschuldung die Stabilisierungsrolle der Finanzpolitik selbst für kurzfristige Wachstumsimpulse beeinträchtigt. Denn bei hohen Defiziten und Schuldenständen ist eine expansive Finanzpolitik weniger durchschlagskräftig als in einem Umfeld strukturell gesunder öffentlicher Finanzen. Der „Grenznutzen“ kurzfristiger finanzpolitischer Stimuli nimmt mit zunehmender Verschuldung ab, weil die Erwartung der Wirtschaftsteilnehmer Seite 16 von 32 Sendesperrfrist: 26. August 2005, 09:30 Uhr MEZ an eine spätere Korrektur der Verschuldung und damit der mit jeder Verschuldung verbundenen Zukunftsbelastungen zunimmt. Viertens: Vorsorge gegen wachsende implizite Staatsverschuldung, vulgo demographische Belastung durch die alternden Gesellschaften in Westeuropa. Neben dem im Vordergrund der öffentlichen Diskussion stehenden expliziten Staatsschulden – das haben Untersuchungen der Bundesbank und des Sachverständigenrats in aller Deutlichkeit gezeigt 16 – dürfen die impliziten Versprechungen auf künftige öffentliche Leistungen in den Systemen sozialer Sicherheit nicht übersehen werden, die für viele Staaten, insbesondere auch für Deutschland ein Problem der Tragfähigkeit der öffentlichen Verschuldung begründen.17 Die Bundesbank schätzt den aus dieser Sicht 16 vgl. Deutsche Bundesbank, Demographische Belastungen für Wachstum und Wohlstand, Monatsbericht 12/2004 17 Der Sachverständigenrat schätzt für das Basisjahr 2002 die impliziten Schulden als Barwert in einer Größenordnung von 270 % des Bruttoinlandsprodukts, verglichen mit rund 60 % explizit ausgewiesener Schuldenstände. Seite 17 von 32 Sendesperrfrist: 26. August 2005, 09:30 Uhr MEZ langfristig gewachsenen Konsolidierungsbedarf auf über 3 ½ % des BIP. Eine regelgebundene Finanzpolitik ist deshalb auch aus Gründen der Generationengerechtigkeit geboten. In der Sprache des public choice ist der Stabilitätspakt eine „Versicherung“ gegen die Versuchung der Politik, in der Gegenwart durch hohe Kreditaufnahme die Zustimmung der Wähler zu kaufen und die Rechnung dafür an die kommenden Generationen zu schicken. 3. Kriterien für ein operables finanzpolitisches Regelwerk am Beispiel des bisherigen Stabilitätspaktes 1997 Will man die genannten finanzpolitischen und ökonomischen Ziele des Stabilitätspakts operabel gestalten, sollte ein Regelwerk folgenden Kriterien18 genügen: - Einfachheit, Transparenz und Konsistenz des Regel werks - dies vor allem im Hinblick auf die Überzeu- Seite 18 von 32 Sendesperrfrist: 26. August 2005, 09:30 Uhr MEZ gungskraft des Regelwerks in der Öffentlichkeit und seine Effizienz bei der Anwendung durch die Mitgliedstaaten. - Festes Anreiz- und Sanktionssystem bei Regelverstößen: ein Regelwerk ohne feste Anreiz- und Sanktionsmechanismen wird nicht ernst genommen. Dies gilt im privaten Leben genauso wie im Verhalten der Regierungen und Staaten. - Gewährleistung des mittel- und langfristigen Zieles eines ausgeglichenen Haushalts bei kurzfristigem Spielraum für automatische Stabilisatoren (Flexibilitätskriterium). Letzteres sind bekanntlich ein modernes Wort für Defizite und zwar für solche, die auf konjunkturell begründeten Steuermindereinnahmen und Mehrausgaben für den Arbeitsmarkt beruhen. 18 Vgl. auch Kopits u. Symanski (1998) Fiscal Policy Rules, IMF occasional paper 162 Seite 19 von 32 Sendesperrfrist: 26. August 2005, 09:30 Uhr MEZ Trotz des auch beim bisherigen Pakt unübersehbaren politischen Kompromisscharakters – insbesondere bei der fehlenden rechtlichen oder faktischen Automatik für den Ablauf des Sanktionsmechanismus – genügte das bisherige Regelwerk zu einem großen Teil diesen Anforderungen. Der mittelfristige Leitgedanke ist klar: ein ausgeglichener Haushalt oder Haushaltsüberschüsse. Dies erlaubt kurzfristige Defizitspielräume zur Bewältigung konjunktureller Schocks. Ein klarer rechtlicher und optischer „Anker“ in der Defizitgrenze von 3 % mit relativ präzise umschriebenen Ausnahmen für Naturkatastrophen und schwere wirtschaftliche Einbrüche (BIP-Rückgang von 2 % auf Jahresbasis bzw. ab 0,75 % BIP Rückgang Ermessen des Rates nach der Ratsentschließung vom 17.06.1997). Insbesondere die 3 % Grenze wurde oftmals „willkürlich“ oder sogar „stupid“ (Prodi) bezeichnet. Nun ist es das „Wesen einer Regel“, dass sie schon aus Gründen des Seite 20 von 32 Sendesperrfrist: 26. August 2005, 09:30 Uhr MEZ Bestimmtheitsgrundsatzes definitorisch klar gefasst sein muss und damit auch Ergebnis einer politischen Willensbildung sein muss. Dies gilt für die Pflichten des Bürgers – etwa bei der Promillegrenze im Straßenverkehr oder den Fristen zur Abgabe der Steuererklärung oder den gesetzlichen Höchstgrenzen für Werbungskosten und Abschreibungen – genauso wie für das Verhalten der öffentlichen Hand. Gleichwohl war die 3 % Grenze nie „willkürlich“: wegen der Schwierigkeiten, dass eigentliche Ziel eines konjunkturbereinigt ausgeglichenen Haushaltes operabel zu fassen, wurde bewusst der nominelle Saldo gewählt, dafür aber mit einem – bei den Paktverhandlungen im Jahre 96 – als durchaus großzügig empfundenen Defizit von 3 % angesetzt. Das 3 %-Limit steht überdies im inneren Zusammenhang mit der 60 %-Grenze für den öffentlichen Schuldenstand, da ein dreiprozentiges Defizit bei Annahme eines fünfprozentigen Nominalwachs- Seite 21 von 32 Sendesperrfrist: 26. August 2005, 09:30 Uhr MEZ tums19 über die Zeitachse hinweg zu einem Schuldenstand von 60 % tendiert. Bei den bescheideneren Wachstumsraten, an die wir uns ins den letzten Jahren gewöhnen mussten, wäre die Defizitgrenze sogar deutlich niedriger anzusetzen. Die Probleme und „offenen Flanken“ des alten Paktes lagen weniger in einer zu starken „Rigidität“, sondern im Gegenteil in der Schwäche des politischen Entscheidungsablaufs über den Anreiz- und Sanktionsmechanismus und in der zu geringen präventiven Wirksamkeit. So wurde – auch nach den Feststellungen der Europäischen Kommission20 – bei den mittelfristigen Stabilitätsprogrammen der Regierungen das Wachstum und damit auch die Haushaltsentwicklung systematisch zu positiv eingeschätzt, also Chancen überzeichnet, Risiken unterzeichnet. 19 Bei Preissteigerungen bis zu 2 % entsprechend dem Stabilitätsziel der EZB ist insgesamt ein dreiprozentiges Realwachstum unterstellt Seite 22 von 32 Sendesperrfrist: 26. August 2005, 09:30 Uhr MEZ 4. Änderungen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes 2005 Die nach langer politischer Diskussion, nach Abstimmung zwischen der deutschen und französischen Regierung und aktiver Mitgestaltung durch den luxemburgischen Ratsvorsitzenden Juncker am 23. März 2005 beschlossenen Änderungen betreffen sowohl den eher grundsätzlichen und „präventiven“ Teil des Stabilitätspakts, wie er in der Ratsverordnung Nr. 1466/97 zur haushaltspolitischen Überwachung niedergelegt ist, wie den „korrektiven“ Teil, der in der Ratsverordnung Nr. 1467/97 zur Beschleunigung und Klarstellung des Verfahrens geregelt ist. (1.) Im „präventiven Arm“ wird die bisherige einheitliche Vorgabe eines mittelfristigen Haushaltsziels („balanced budget or surplus“) länderspezifisch modifiziert. Nach Artikel 2a der neuen Verordnung sind die mittelfristigen Haushaltsziele in Abhängigkeit von Schuldenstand und 20 European Commission (2005), Public Finances in EMU Seite 23 von 32 Sendesperrfrist: 26. August 2005, 09:30 Uhr MEZ Potentialwachstumsraten der jeweiligen Mitgliedstaaten in einer Spannbreite bis zu – 1 % des BIP festzulegen.21 Darüber hinaus wird beim „Anpassungspfad“ (Artikel 5 Abs. 1 neu), also beim Erreichen dieses länderspezifisch festgelegten Ziels ein Abweichungsspielraum eröffnet, wenn Strukturreformen durchgeführt werden, insbesondere der Übergang zu einem teilweise auf Kapitaldeckung beruhenden Rentensystem. • In der Verordnung selbst22 wird der Übergang zu länderspezifischen Haushaltszielen mit der „wirtschaftlichen und haushaltspolitischen Heterogenität“ der Mitgliedstaaten begründet. Dies steht in einem bemerkenswerten Spannungsverhältnis zur Grundkonzeption der Europäischen Währungsunion, die bekanntlich mit ihrem Wesenselement 21 22 Ziele werden nur für die EWU-Mitglieder und die Teilnehmer am WKM II-Mechanismus gesetzt. Absatz 5 der Erwägungsgründe Seite 24 von 32 Sendesperrfrist: 26. August 2005, 09:30 Uhr MEZ einer einheitlichen Geldpolitik auf der Konzeption „one size fits all“23 beruht. • Dass Strukturreformen die Haushaltspositionen kurzfristig belasten müssen, erscheint empirisch nicht hinreichend begründet; manche notwenigen Reformen, gerade im Rentensystem, aber auch am Arbeitsmarkt und auf den Gütermärkten oder (aufkommensneutrale) Steuerreformen entfalten sogar einen positiven Haushaltsimpuls. (2.) Noch weitgehender sind die Änderungen beim „korrektiven Arm“, also der Ratsverordnung 1467/97: nach Artikel 2 Abs. 2 ff ist ein Überschreiten der 3 %-Grenze, die im Protokoll Nr. 11 zum EG-Vertrag und damit im europäischen Primärrecht verankert ist – nicht nur bei einer schweren Rezession oder Naturkatastrophen möglich, sondern auch bei jeglichen (also ggf. nur geringen) negativen jährlichen Wachstumsraten 23 vgl. Issing, Speech at the International Research Forum on monetary policy, 20.05.2005 Seite 25 von 32 Sendesperrfrist: 26. August 2005, 09:30 Uhr MEZ oder einem – am Potential gemessen – „äußerst geringen Wachstum“ möglich. Bei der Feststellung eines übermäßigen Defizits nach Art. 104 (3) EG-Vertrag wurden überdies „alle einschlägigen Faktoren“ spezifiziert. Es handelt sich um eine lange Liste von potentiellen Ausnahmetatbeständen und Entschuldigungsgründen, die der Feststellung eines übermäßigen Defizits entgegenstehen: „herrschende Konjunkturbedingungen“, „Maßnahmen im Rahmen der Lissabonner Agenda“, „Förderung von Forschung und Entwicklung sowie (!) Innovation“, die „Finanzierbarkeit der Schuldenlast“, „Finanzierungsbeiträge zur Stärkung der internationalen Solidarität“, Maßnahmen zur „Verwirklichung von Zielen der europäischen Politik, insbesondere der Einigung Europas“ und vieles andere mehr. Angesichts dieser Liste fällt es schwer, noch von einem konsistenten, widerspruchsfreien Regelwerk zu sprechen. Seite 26 von 32 Sendesperrfrist: 26. August 2005, 09:30 Uhr MEZ (3.) Die Fristen für den Anreiz- und Sanktionsmechanismus, etwa für die Ratsempfehlungen nach Artikel 104 Abs. 7, das Inverzugsetzen, also die qualifizierte Mahnung nach Artikel 104 Abs. 9, für die unverzinsliche Einlagen und schließlich Geldbußen (Art. 104 Abs. 11) werden verlängert. (4.) Darüber hinaus wurde die mögliche Frist zur Korrektur eines übermäßigen Defizits auf zwei Jahre verlängert im Falle „besonderer Umstände“. Letztere sind identisch definiert wie die bereits erwähnten „einschlägigen Faktoren“. (5.) Wichtiger als die Fristverlängerungen, aber in der Öffentlichkeit weniger beachtet ist die nunmehr vorgesehene Möglichkeit von „Verfahrensschleifen“: bei „unerwarteten wirtschaftlichen Ereignissen“ können die Ratsempfehlungen oder das Inverzugsetzen wiederholt Seite 27 von 32 Sendesperrfrist: 26. August 2005, 09:30 Uhr MEZ werden, ohne dass die Zahl möglicher Wiederholungen begrenzt wäre24. • Der Anreiz- und Sanktionsmechanismus verliert dadurch seinen Stufencharakter, bei dem auf jede Maßnahme eine andere, etwas schwerwiegendere Maßnahme folgen soll. Allerdings war dieser Stufencharakter schon nach dem alten Pakt durch die auch vom Europäischen Gerichtshof25 akzeptierte Möglichkeit einer weitgehenden Untätigkeit des ECOFIN-Rats – etwa durch Ablehnung von Vorlagen der Kommission für Ratsempfehlungen (wenn auch innerhalb der Grenzen einer Untätigkeitsklage gegen den Rat) nur eingeschränkt wirksam. Bei einer Gesamtbewertung der Änderungen in beiden Paktverordnungen fällt auf, dass die zunächst in der Öffentlichkeit genannte Begründung für eine „Reform“ des Paktes, eine Verstärkung des präventiven Arms nicht oder jedenfalls nicht in operabler Form festzustellen ist. Die Einführung eines „Richtwertes“ von jährlich 0,5 % BIP konjunkturbereinigter Haushaltskonsolidierung26 ent- 24 vgl. Art. 3 Abs. 5 neu, Art. 5 Abs. 2 neu vgl. EuGH Rs C-20/04 (FN4) 26 Art. 5 Abs. 1 neu, Art. 3 Abs. 4 neu 25 Seite 28 von 32 Sendesperrfrist: 26. August 2005, 09:30 Uhr MEZ spricht der bisherigen Praxis der Kommission zum „alten“ Pakt, dürfte aber dadurch an Wirkung einbüßen, dass das Ziel der Haushaltsdisziplin selbst einen „movable target“ gewichen ist und kaum mehr ein Politikbereich übrig bleibt, der sich nicht unter eine der bei Feststellung des übermäßigen Defizits zu berücksichtigenden „einschlägigen Faktoren“ oder Ausnahmetatbeständen subsumieren lässt. Die ökonomische Rationalität der Neufassung, die ja in der politischen Diskussion vielfach gegen eine „juristische Auslegung“ ins Spiel gebracht worden ist, hält in vielen Punkten einer näheren Prüfung nicht stand. So verringert die flexible Festlegung der mittelfristigen Haushaltsziele den Abstand zur 3 %-Grenze und damit die Gefahr eines Überschreitens dieser Grenze in konjunkturellen Abschwungphasen. Für eine stärkere Korrektur in Aufschwungphasen fehlen rechtlich bindende und operable Regeln. Es ist auch kaum einzusehen, Seite 29 von 32 Sendesperrfrist: 26. August 2005, 09:30 Uhr MEZ warum Ausgaben im Rahmen der Lissabon Agenda – die immerhin 8 Schlüsselinitiativen, mehr als 20 integrierte Leitlinien und mehr als 100 Einzelmaßnahmen umfasst27– bei der Beurteilung eines Defizits eine andere Qualität haben sollen als die wenigen dort nicht aufzufindenden Politikbereiche (z. B. innere Sicherheit gegenüber terroristischen Angriffen). Insgesamt ist für die Anwendung der 3 % Grenze die Frage zu stellen, wie es um die Überzeugungskraft und Anwendbarkeit in der Regel bestellt ist, wenn die Anwendungsfälle für die Ausnahmen zahlreicher sind als die denkbaren Anwendungsfälle für die Regel selbst. Bei einer institutionellen Bewertung des geänderten Paktes fällt auf, dass die Kommission gegenüber dem ursprünglichen Pakt erhebliche zusätzliche Ermessensund Auslegungsspielräume gewinnt. Ob die Kommission hierbei der Versuchung widerstehen wird, sich ein Entgegenkommen bei der Auslegung der „einschlägigen 27 vgl. Sinn, CES ifo Forum, Vol. 6, Nr. 2 „Europe and the Lisboan Goals”, S 6.f (7) Seite 30 von 32 Sendesperrfrist: 26. August 2005, 09:30 Uhr MEZ Faktoren“ und Ausnahmeklauseln von den Mitgliedstaaten in anderen Bereichen honorieren zu lassen (z. B. in Fragen des Subsidiaritätsprinzips oder bei haushaltswirksamen Projekten) bleibt der politischen Erfahrung überlassen. Fazit: Schon lange vor Beginn der Währungsunion, etwa bei den Beratungen der so genannten DelorsGruppe im Jahre 1989 bestand Einigkeit darüber, dass die Existenz von Regeln und Sanktionen für die Finanzpolitik eine Voraussetzung für das langfristige Funktionieren einer einheitlichen Geldpolitik ist28. Der eigentliche „Zielwert“ hinter der Haushaltsdisziplin, hinter den Zielen einer regelgebundenen Finanzpolitik ist die Erhaltung und Stärkung des Vertrauens. Feste Regeln haben hierfür – das ist ja der sozioökonomische Sinn von Institutionen – eine Entlastungsfunktion. Je schwächer diese Entlastungsfunktion durch Auflockerung der 28 Tietmeyer, Herausforderung Euro 2004, Seite 124 f. Seite 31 von 32 Sendesperrfrist: 26. August 2005, 09:30 Uhr MEZ Regeln wird, um so größer werden Anforderungen und Herausforderung an die handelnden Akteure und auch an die Notenbanken des Eurosystems. Seite 32 von 32
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