Was bleibt vom Stabilitätspakt und Wachstumspakt? - Deutsche

Sendesperrfrist: Freitag, 26. August 2005, 09:30 MEZ
Prof. Dr. Franz-Christoph Zeitler
Vorstandsmitglied
der Deutschen Bundesbank
Was bleibt vom Stabilitätspakt und Wachstumspakt?
Salzburg-Seminar
am 26. August 2005
– Es gilt das gesprochene Wort –
Deutsche Bundesbank • Zentrale • Presse und Information • Wilhelm-Epstein-Straße 14 • 60431 Frankfurt am Main
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Bei publizistischer Verwertung wird um die Angabe der Quelle gebeten.
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1.
Blick auf die finanzpolitische Realität im Euroraum
Nahezu die Hälfte der Länder des Euro-Raums hat im
vergangenen Jahr die 3%-Grenze des EG-Vertrages
und des Stabilitäts- und Wachstumspakts überschritten
oder droht sie in diesem Jahr zu überschreiten. Sechs
der im vergangenen Jahr der Union beigetretenen zehn
Volkswirtschaften weisen Defizite von 3% oder mehr
auf.1
In einer Reihe von Ländern verschleiern zudem fiskalische Einmalmaßnahmen das wahre Ausmaß der strukturellen Haushaltsprobleme.
Gegen sechs der 12 Euro-Länder und sechs der zehn
neuen EU-Mitglieder ist augenblicklich ein Verfahren
nach Art. 104 EG-Vertrag anhängig.
1
Die Angaben zu den Haushaltszahlen (einschließlich der konjunkturbereinigten Größen) basieren
auf den Zahlen der EU-Kommission vom Frühjahr 2005.
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Ähnlich ist die Entwicklung der Schuldenstandsquoten:
Im Jahr 2004 überstieg in sieben Euro-Ländern die Schuldenstandsquote den Referenzwert von 60 %. In drei
Ländern, Deutschland, Portugal und Frankreich, kam es im
Zeitraum seit dem Jahr 2000 sogar zu einem kräftigen Anstieg der Schulden-Relationen.
In Deutschland durchbrach das öffentliche Defizit in jedem
Jahr seit 2002 die 3%-Grenze und auch in diesem Jahr
wird es über dieser Marke liegen. Die
Schuldenstandsquote stieg in den vergangenen fünf
Jahren um mehr als fünf Prozentpunkte. Mit rund 65% lag
sie im vergangenen Jahr zudem deutlich über der 60%Grenze. Die hohen öffentlichen Defizite und
Schuldenstände schränken zunehmend den
finanzpolitischen Handlungsspielraum ein: Je Euro
ausstehender Staatschuld waren im Jahr 2004 rund fünf
Cent an Zinsen zu zahlen. Mit einer Verschuldung von
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rund 1,4 Billionen Euro machten die Zinszahlungen allein
im vergangenen Jahr über 66 Milliarden Euro aus.
Diese Entwicklungen sind vor dem Hintergrund der Konsolidierungsfortschritte in der zweiten Hälfte der Neunziger
Jahre ernüchternd. Sicherlich hat der ab 2000 einsetzende
konjunkturelle Abschwung seine Spuren in den öffentlichen Defiziten hinterlassen. Ein Blick auf die
konjukturbereinigten Zahlen zeigt aber (bei allen Unsicherheiten in der Berechnung dieser Größen): die ungünstigen
realwirtschaftlichen Daten können die Verschlechterung
der öffentlichen Finanzen nicht allein erklären, zumal die
mit der Europäischen Währungsunion einsetzende
Zinskonvergenz und die geldpolitische Niedrigzinsphase
die Zinsbelastung der öffentlichen Haushalte deutlich
gesenkt haben.
Insgesamt stieg das konjunkturbereinigte Defizit im EuroRaum im Zeitraum von 1999 bis 2004 von 1,6 % auf 2,4
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%. Zugleich hat sich der nicht bereinigte Primärüberschuss
von 2,9 % auf 0,6 % verringert.2
Auf der gesetzgeberischen Ebene korrespondiert diese
„Konsolidierungsmüdigkeit“ mit einer einschneidenden Änderung des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Im Ausdruck
„Pakt“ kommt hierbei der seiner Entstehung zugrunde liegende politische Konsens zum Ausdruck; rechtlich handelt
es sich um keinen „Pakt“, keine völkerrechtliche Vereinbarung, sondern um zwei Ratsverordnungen3, also europäisches Sekundärrecht; hinzu kommt die Entschließung des
Europäischen Rates vom 17.06.19974 Die „Mutter aller Regeln“ bleibt das Primärrecht nach Artikel 104 des EG-Vertrags und das Protokoll Nr. 11 über das Verfahren bei
übermäßigen Defiziten.
2
Der Primärsaldo ist definiert als staatlicher Finanzierungssaldo ohne Zinsausgaben.
Verordnung (EG) Nr. 1466/97 des Rates vom 7. Juli 1997 über den Ausbau der haushaltspolitischen
Überwachung und der Überwachung der Koordinierung der Wirtschaftspolitiken und der
Verordnung (EG) Nr. 1467/97 des Rates vom 7. Juli 1997 über die Beschleunigung und Klärung
des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit, A BC.L 209 v. 2.8.1997 S. 1, S. 6.
4 A BL.C 236 v. 02.08.1997, S. 1; im Urteil vom 13.07.2004 (Rs C-27/04) erwähnt auch der EuGH die
Ratsentschließung im Rahmen der „Systematik des Difizitverfahrens“ (Tz 71f der Urteilsgründe) als
„Präzisierung und Verstärkung des Stabilitätspakts“, ohne daraus allerdings im weiteren konkrete
Rechtsfolgen abzuleiten.
3
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Die Änderungen am Stabilitäts- und Wachstumspakt wurden nach einer langwierigen Diskussion am 20. März 2005
vom ECOFIN-Rat und wenige Tage später auf ihrem
Frühjahrstreffen von den Staats- und Regierungschefs
beschlossen5. Die entsprechenden Änderungen der
genannten Verordnungen 1466/97 und 1467/97 wurden
am 27. Juni 2005 vom Rat beschlossen6.
Was das Ergebnis angeht, teile ich die Bewertung der
meisten neutralen Beobachter: insgesamt ist das fiskalische Regelwerk deutlich geschwächt. Die Herausforderung an Einsicht und Durchsetzungskraft einer
stabilitätsorientierten Finanzpolitik ist dem gegenüber
deutlich gewachsen: je schwächer die Stringenz der
Regeln ist, um so stärker muss sich die Überzeugungskraft
solider Finanzpolitik im Alltag bewähren. Denn die
5
Bericht über die „Verbesserung der Umsetzung des Stabilitäts- und Wachstumspakts“ Anlage II zu
den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 22./23. März (7619/05)
6 Verordnung (EG) Nr. 1055/2005 des Rates vom 27. Juli 2005 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr.
1466/97 über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung und
Koordinierung der Wirtschaftspolitiken, ABI. L 174 vom 7.7.2005, S. 1; Verordnung (EG) Nr.
1056/2005 des Rates vom 27. Juni 2005 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1467/97 über die
Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit, ABI. L 174 vom
7.7.2005, S. 5.
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Änderungen machen den Pakt weniger transparent. Sie
stärken die diskretionären Spielräume der nationalen wie
der Brüsseler Institutionen und sie führen auf die schiefe
Ebene einer im Durchschnitt gelockerten Haushaltspolitik.
Bereits der „alte“ Pakt litt unter der sich aus dem Primärrecht ergebenden Schwäche eines eingeschränkten Sanktionsmechanismus. Dies wird häufig unter dem Schlagwort
„Sünder richten über Sünder“ porträtiert. Die einzelnen
Verfahrensstufen werden zwar von der Kommission ausgelöst. Die Letztendscheidungskompetenz liegt aber beim
ECOFIN-Rat7. Hieran hat sich durch die Reform nichts geändert. Besser wäre es gewesen, bei den Kriterien und
Abläufen des alten Pakts zu bleiben, zugleich aber – wie
dies bei den ersten Entwürfen des geplanten Verfassungsvertrages vorgesehen war – eine „Umkehr der Handlungslast“ vorzunehmen: Der ECOFIN-Rat hätte dann nicht
7
Dabei wird sogar die Stimme des betroffenen Mitgliedstaats in der Beschlussfassung des Rates über
die Feststellung eines übermäßigen Defizits berücksichtigt. Erst in den weiteren Verfahrensstufen
nach Art. 104 Absätze 7 bis 9 sowie 11 und 12 EGV ist der Vertreter des betroffenen Mitgliedstaats
nicht stimmberechtigt. Nach Art. III-184 Abs. 6 S. 4 des Vertrags über eine Verfassung für Europa
würde dagegen die Stimme des Vertreters des Mitgliedstaates beim Beschluss über die
Feststellung eines übermäßigen Defizits nicht mehr berücksichtigt werden.
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wie derzeit auf der Grundlage einer Kommissionsempfehlung“, sondern auf der Basis eines „Vorschlags“ der Kommission zu entscheiden. Diese – rein äußerlich nur bescheidene – Änderung hätte die wichtige materielle Folge,
dass der Rat einstimmig beschließen müsste, wenn er
vom Kommissionsvorschlag abweichen will.8
Hatte man mit Problemen bei der politischen Bewertung
der Defizitdaten bis zu einem gewissen Grad von vorne
herein gerechnet, so zeigte sich in der Praxis ein zusätzliches und unerwartetes Problem in der Verlässlichkeit der
Daten selbst. Die Kommission verließ sich hier auf die
Budget- und Verschuldungszahlen der nationalen Stellen.
Große Wellen hat der Fall Griechenlands geschlagen, bei
dem sogar die Voraussetzungen für den Beitritt zur Währungsunion (ab 2001) auf der Grundlage von Daten bestätigt wurden, die später, von einer anderen Regierung deut-
8
Art. 250 Abs. 1 EG-Vertrag. Art. III-184 Abs. 6 S. 1 des Vertrags über eine Verfassung für Europa
sieht lediglich für den Verfahrensschritt der Festestellung eines übermäßigen Defizits ein
Vorschlagsrecht der Kommission vor.
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lich revidiert werden mussten.9 Ob Fälle wie dieser durch
die geplante strengere Fassung der statistischen Berichtspflichten und die Möglichkeit von Prüfbesuchen von Kommissionsmitarbeitern bei den datenmeldenden Stellen der
Länder10 verhindert werden können, bleibt abzuwarten.
Der Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde hat
den viel zitierten Satz geprägt, dass der moderne demokratische Freiheits- und Rechtsstaat von Voraussetzungen
lebt, die er nicht selbst garantieren kann. Auch eine regelgebundene Finanzpolitik lebt von Voraussetzungen, die
sich nicht selbst aus sich heraus hervorbringen und garantieren kann. Angesprochen ist hier zuallererst die Einsicht
und Bereitschaft, die geltenden Regeln zu akzeptieren.
Und dies nicht primär, weil „pacta sunt servanda“ gilt, son9
Nach dem Konvergenzbericht der EZB lag die Defizitgrenze Griechenlands im Referenzjahr 1999 bei
1,6 %. Die revidierten Zahlen aus dem März 2005 weisen demgegenüber ein Defizit von 3,4% für
1999 aus, also deutlich über der Maastricht-Grenze. Die Defizitzahlen für 2001 bis 2003 ; die von
agen ursprünglich zwischen 1,4 % und 1,7 %. Diese Zahlen wurden ebenfalls revidiert und
betragen gegenwärtig 3,6% (2001) und 5,2% (2003). Darüber hinaus wurden die Zahlen für 20012003 nicht von Eurostat validiert, so dass vermutet werden darf, dass die endgültigen Angaben
noch schlechter ausfallen. Für mehr Informationen zur Revision der griechischen Defizit- und
Schuldenstandsangaben für die Jahre 1997 bis 2003 siehe auch den bericht von Eurostat
SEC(2004) 1539 vom 22. November 2004.
10 Es liegt ein Vorschlag der Kommission für eine Ratsverordnung zur Änderung der Verordnung (EG)
Nr. 3605/93 hinsichtlich der Qualität der statistischen Daten im Rahmen des Verfahrens bei einem
übermäßigen Defizit vor (KOM(2005) 71 endgültig). Die EZB hat in ihrer Stellungnahme vom 4. Mai
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dern weil die unterliegende ökonomische Ratio als common sense einer wachstumsfördernden Finanzpolitik geteilt wird. Die ökonomische und rechtliche Seite des Paktes sind ja keine Gegensätze – wie oft behauptet wird11 -,
sondern bedingen sich gegenseitig; dies klingt schon im
Begriff „Ökonomie“ an:
Oikonomia
heißt wörtlich
„Regeln für das Haus, die Wirtschaft“. Im folgenden sollen
deshalb die wesentlichen Gründe, die vor Beginn der
Europäischen Währungsunion zur Vereinbarung des
Stabilitäts- und Wachstumspakts geführt haben und damit
die wesentlichen Gründe und Zielsetzungen einer
regelgebundenen Finanzpolitik für den europäischen
Währungsraum kurz dargestellt werden.
2.
Gründe und Ziele einer regelgebundenen Finanzpolitik
2005, ABI. C 116 vom 18.5.2005, S. 11, die Hauptzielsetzung des Verordnungsvorschlags, den
rechtlichen Rahmen für die Erhebung der relevanten Haushaltsdaten zu stärken, begrüßt.
11 siehe etwa Hans Eichel:, „Der Pakt ist kein Strafgesetzbuch“; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom
15. November 2003.
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Seitdem im Vorfeld der Europäischen Währungsunion das
ursprünglich geplante Junktim von politischer Union und
Währungsunion aufgegeben war, war klar, dass die Europäische Währungsunion mit einer Asymmetrie in der Leitung der beiden wesentlichen makroökonomischen Politikbereiche, der Geld- und Finanzpolitik zu leben hat. Der
supranationalen Geldpolitik steht weiterhin die im wesentlichen12 in nationaler Verantwortung verbleibende
Finanzpolitik gegenüber. Dies schließt eine funktionierende Währungsunion sicherlich nicht aus, mag operativ
sogar gewisse Vorteile haben – etwa was den Wettbewerb
von Steuersystemen, sozialen Sicherungssystemen, Bildungssystemen u. ä. angeht, birgt jedoch auch ökonomische Risiken; schließlich hatten finanzhistorische Untersuchungen ergeben, dass die Währungsunionen des
19. Jahrhunderts zum großen Teil an den unterschiedlichen Entwicklungen der Finanzpolitik gescheitert waren13.
12
13
Die Bedeutung des EU-Budgets ist in diesem Zusammenhang von untergeordneter Bedeutung.
Vgl. Th. Theurl, Erfolgs- und Misserfolgsfaktoren von Währungsunionen: Historische Erfahrungen,
Zeitschrift für Bayerische Sparkassengeschichte, Bd 13, 1999, S. 129 ff (143).
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Schon der Maastrichter Vertrag in Artikel 104 wie der beim
ECOFIN-Rat von Dublin im Dezember 1996 maßgeblich
vom deutschen Finanzminister Dr. Waigel herbeigeführte
Stabilitätspakt versuchen deshalb die Vorteile einer operativ in nationaler Verantwortung verbleibenden Finanzpolitik
mit der Notwendigkeit gemeinsamer Regeln zu verbinden.
Im einzelnen stehen dahinter im wesentlichen vier Gründe:
Erstens: Die Vermeidung von Konflikten zwischen Finanzpolitik und Geldpolitik.
Bei hoher staatlicher Verschuldung und einem – gerade in
der derzeitigen Situation historischer Niedrigzinsen nicht
auszuschließenden – höheren Zinsniveau wächst die Gefahr, die nominale Schuldenlast durch Druck auf die Notenbank, eine lockerere Geldpolitik zu betreiben, zu akkommodieren, also stabilitätspolitisch notwendige Zinserhöhungen zu unterlassen oder hinauszuschieben. Sicherlich wirkt diesem Druck eine glaubwürdige Geldpolitik und
die institutionelle Absicherung der Unabhängigkeit der EZB
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und der nationalen Notenbanken in Artikel 108 des EGVertrags entgegen. Der Stabilitätspakt setzt aber nicht an
einem bereits eingetretenen Konfliktfall an, sondern will
aus weiser politischer Erfahrung heraus bereits das Entstehen eines Konflikts zwischen Finanz- und Geldpolitik
vermeiden.
Zweitens: Vermeidung von Konflikten innerhalb der Währungsunion.
Vor Beginn der Währungsunion konnten die Marktkräfte
eine als unsolide wahrgenommene Finanzpolitik durch Reaktionen bei Wechselkurs und Zinsniveau disziplinieren.
Zwar kamen die Marktreaktionen oft relativ spät, dann aber
im Übermaß („overshooting“), aber die Finanzpolitik musste
immer mit derartigen Sanktionen des Marktes rechnen.
In der Währungsunion ist es öffentlichen Schuldnern möglich, einen Teil der ökonomischen Nachteile einer unsoliden
Finanzpolitik eine Zeit lang hinter dem Gesamteindruck der
Währungsunion an den Märkten zu verstecken oder die
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Marktreaktionen auf eine solche Politik durch Verteilung auf
die gesamte Währungsunion zu mindern. Ökonomen nennen dies eine fiskalische Externalität, andere sprechen von
Trittbrettfahrereffekten oder (un)moralischer Versuchung
(moral hazard: Staaten mit solider Finanzpolitik, die ihren
Bürgern schmerzhafte Einschränkungen zumuten mussten,
sind gezwungen, auch für die weniger soliden Mitgliedstaaten einzustehen.)
Mit anderen Worten: Es nimmt auf einem breiten und
liquidem Finanzmarkt das Ausmaß höherer Zinsen als
Folge der Defizitpolitik eines bestimmten Landes ab, so wie
ein Stein in einen Gartenteich geworfen größere Wellen erzeugt als der gleiche Stein, den man in einen See wirft.
Wem die langfristige innere Kohärenz in der Währungsunion und die Vermeidung zentrifugaler Kräfte ein Herzensanliegen ist, der muss deshalb vehement für die Beachtung
finanzpolitischer Regeln durch die Mitgliedstaaten eintreten14
14
Für eine Diskussion entlang dieses Arguments vgl. Uhlig, Harald: „One money, but many fiscal
policy in Europe: what are the consequences?“ Tilburg University. Center for Economic Research
Discussion paper 2002-31.
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Drittens: Zusammenhang zwischen solider Finanzpolitik
und Wachstum.
Entgegen einer oft verbreiteten Auffassung, wonach staatliche Defizite – unabhängig vom jeweiligen Ausgangsniveau
der Verschuldung – in jedem Falle wachstumsfördernd
seien, zeigt der Blick auf die Tatsachen, dass eine niedrige
Staatsverschuldung wegen der dadurch ausgelösten positiven Vertrauenseffekte, einer niedrigeren Steuerlast, eines
größeren Anteils und höherer Effizienz des privaten Sektors
in einer positiven Korrelation zum Wachstum steht.15
Innerhalb der Europäischen Währungsunion zeigen dies in
den vergangenen Jahren die Beispiele von Ländern wie
Spanien, Finnland, Irland oder auch Belgien, das von hohen
Schuldenständen (über 140 % vor Beginn der Währungsunion) auf ca. 96 % (2004) gekommen ist und in den letzten
15
Die Tatsache, dass solide öffentliche Finanzen das langfristige Wachstum einer Volkswirtschaft
positiv beeinflussen, ist in der empirischen Wachstumsliteratur gut dokumentiert. Siehe zum
Beispiel: Romero de Avila, D. und Strauch, R. (2003), Public Finances and Long-Term Growth in
Europe – Evidence from a Panel Data Analysis, ECB Working Paper 246; Fölster, S. und
Henrekson, M. (1999), Growth and the Public Sector: a Critique of the Critics, European Journal of
Pocitical Economy, 15, 337-358; Fölster, S. und Henrekson, M. (2001), Growth Effects of
Government Expenditure and Taxation in Rich Countries, European Economic Review, 45, 15011520.
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Jahren höhere Wachstumsraten als etwa Deutschland
hatte. Außerhalb des Euroraums ist das Beispiel Kanadas
interessant, das seit sieben Jahren Haushaltsüberschüsse
erzielt hat, den Schuldenstand von ca. 70 % in den
neunziger Jahren auf 38 % (2004) verringert hat und
dessen Wachstumsraten zwischen 2 % und 3,5 % lagen.
Unabhängig von der Diskussion über so genannte „non
keynesian effects“ einer auf Defizitabbau angelegten Finanzpolitik – die sich im übrigen auch in Deutschland in den
Jahren nach 1982 gegenüber allen damaligen Warnungen
vor einem so genannten „Totsparen“ bewährt hat – ist jedenfalls anerkannt, dass eine hohe Verschuldung die Stabilisierungsrolle der Finanzpolitik selbst für kurzfristige
Wachstumsimpulse beeinträchtigt. Denn bei hohen Defiziten und Schuldenständen ist eine expansive Finanzpolitik
weniger durchschlagskräftig als in einem Umfeld strukturell
gesunder öffentlicher Finanzen. Der „Grenznutzen“ kurzfristiger finanzpolitischer Stimuli nimmt mit zunehmender Verschuldung ab, weil die Erwartung der Wirtschaftsteilnehmer
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an eine spätere Korrektur der Verschuldung und damit der
mit jeder Verschuldung verbundenen Zukunftsbelastungen
zunimmt.
Viertens: Vorsorge gegen wachsende implizite Staatsverschuldung, vulgo demographische Belastung durch die alternden Gesellschaften in Westeuropa.
Neben dem im Vordergrund der öffentlichen Diskussion stehenden expliziten Staatsschulden – das haben Untersuchungen der Bundesbank und des Sachverständigenrats in
aller Deutlichkeit gezeigt 16 – dürfen die impliziten Versprechungen auf künftige öffentliche Leistungen in den Systemen sozialer Sicherheit nicht übersehen werden, die für
viele Staaten, insbesondere auch für Deutschland ein
Problem der Tragfähigkeit der öffentlichen Verschuldung
begründen.17 Die Bundesbank schätzt den aus dieser Sicht
16
vgl. Deutsche Bundesbank, Demographische Belastungen für Wachstum und Wohlstand,
Monatsbericht 12/2004
17 Der Sachverständigenrat schätzt für das Basisjahr 2002 die impliziten Schulden als Barwert in einer
Größenordnung von 270 % des Bruttoinlandsprodukts, verglichen mit rund 60 % explizit
ausgewiesener Schuldenstände.
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langfristig gewachsenen Konsolidierungsbedarf auf über
3 ½ % des BIP.
Eine regelgebundene Finanzpolitik ist deshalb auch aus
Gründen der Generationengerechtigkeit geboten. In der
Sprache des public choice ist der Stabilitätspakt eine „Versicherung“ gegen die Versuchung der Politik, in der Gegenwart durch hohe Kreditaufnahme die Zustimmung der
Wähler zu kaufen und die Rechnung dafür an die kommenden Generationen zu schicken.
3.
Kriterien für ein operables finanzpolitisches Regelwerk
am Beispiel des bisherigen Stabilitätspaktes 1997
Will man die genannten finanzpolitischen und ökonomischen Ziele des Stabilitätspakts operabel gestalten, sollte
ein Regelwerk folgenden Kriterien18 genügen:
-
Einfachheit, Transparenz und Konsistenz des Regel
werks - dies vor allem im Hinblick auf die Überzeu-
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gungskraft des Regelwerks in der Öffentlichkeit und
seine Effizienz bei der Anwendung durch die Mitgliedstaaten.
- Festes Anreiz- und Sanktionssystem bei Regelverstößen: ein Regelwerk ohne feste Anreiz- und Sanktionsmechanismen wird nicht ernst genommen. Dies
gilt im privaten Leben genauso wie im Verhalten der
Regierungen und Staaten.
- Gewährleistung des mittel- und langfristigen Zieles eines ausgeglichenen Haushalts bei kurzfristigem
Spielraum für automatische Stabilisatoren
(Flexibilitätskriterium). Letzteres sind bekanntlich ein
modernes Wort für Defizite und zwar für solche, die
auf konjunkturell begründeten Steuermindereinnahmen und Mehrausgaben für den Arbeitsmarkt
beruhen.
18
Vgl. auch Kopits u. Symanski (1998) Fiscal Policy Rules, IMF occasional paper 162
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Trotz des auch beim bisherigen Pakt unübersehbaren
politischen Kompromisscharakters – insbesondere bei
der fehlenden rechtlichen oder faktischen Automatik für
den Ablauf des Sanktionsmechanismus – genügte das
bisherige Regelwerk zu einem großen Teil diesen Anforderungen. Der mittelfristige Leitgedanke ist klar: ein
ausgeglichener Haushalt oder Haushaltsüberschüsse.
Dies erlaubt kurzfristige Defizitspielräume zur
Bewältigung konjunktureller Schocks. Ein klarer
rechtlicher und optischer „Anker“ in der Defizitgrenze
von 3 % mit relativ präzise umschriebenen Ausnahmen
für Naturkatastrophen und schwere wirtschaftliche
Einbrüche (BIP-Rückgang von 2 % auf Jahresbasis
bzw. ab 0,75 % BIP Rückgang Ermessen des Rates
nach der Ratsentschließung vom 17.06.1997).
Insbesondere die 3 % Grenze wurde oftmals „willkürlich“
oder sogar „stupid“ (Prodi) bezeichnet. Nun ist es das
„Wesen einer Regel“, dass sie schon aus Gründen des
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Bestimmtheitsgrundsatzes definitorisch klar gefasst sein
muss und damit auch Ergebnis einer politischen Willensbildung sein muss. Dies gilt für die Pflichten des
Bürgers – etwa bei der Promillegrenze im Straßenverkehr oder den Fristen zur Abgabe der Steuererklärung
oder den gesetzlichen Höchstgrenzen für Werbungskosten und Abschreibungen – genauso wie für das Verhalten der öffentlichen Hand.
Gleichwohl war die 3 % Grenze nie „willkürlich“: wegen
der Schwierigkeiten, dass eigentliche Ziel eines konjunkturbereinigt ausgeglichenen Haushaltes operabel zu
fassen, wurde bewusst der nominelle Saldo gewählt,
dafür aber mit einem – bei den Paktverhandlungen im
Jahre 96 – als durchaus großzügig empfundenen Defizit
von 3 % angesetzt. Das 3 %-Limit steht überdies im inneren Zusammenhang mit der 60 %-Grenze für den öffentlichen Schuldenstand, da ein dreiprozentiges Defizit
bei Annahme eines fünfprozentigen Nominalwachs-
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tums19 über die Zeitachse hinweg zu einem Schuldenstand von 60 % tendiert. Bei den bescheideneren
Wachstumsraten, an die wir uns ins den letzten Jahren
gewöhnen mussten, wäre die Defizitgrenze sogar deutlich niedriger anzusetzen.
Die Probleme und „offenen Flanken“ des alten Paktes
lagen weniger in einer zu starken „Rigidität“, sondern im
Gegenteil in der Schwäche des politischen Entscheidungsablaufs über den Anreiz- und Sanktionsmechanismus und in der zu geringen präventiven Wirksamkeit.
So wurde – auch nach den Feststellungen der Europäischen Kommission20 – bei den mittelfristigen Stabilitätsprogrammen der Regierungen das Wachstum und damit
auch die Haushaltsentwicklung systematisch zu positiv
eingeschätzt, also Chancen überzeichnet, Risiken unterzeichnet.
19
Bei Preissteigerungen bis zu 2 % entsprechend dem Stabilitätsziel der EZB ist insgesamt ein
dreiprozentiges Realwachstum unterstellt
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4.
Änderungen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes
2005
Die nach langer politischer Diskussion, nach Abstimmung zwischen der deutschen und französischen Regierung und aktiver Mitgestaltung durch den luxemburgischen Ratsvorsitzenden Juncker am 23. März 2005
beschlossenen Änderungen betreffen sowohl den eher
grundsätzlichen und „präventiven“ Teil des Stabilitätspakts, wie er in der Ratsverordnung Nr. 1466/97 zur
haushaltspolitischen Überwachung niedergelegt ist, wie
den „korrektiven“ Teil, der in der Ratsverordnung Nr.
1467/97 zur Beschleunigung und Klarstellung des Verfahrens geregelt ist.
(1.) Im „präventiven Arm“ wird die bisherige einheitliche
Vorgabe eines mittelfristigen Haushaltsziels („balanced
budget or surplus“) länderspezifisch modifiziert. Nach
Artikel 2a der neuen Verordnung sind die mittelfristigen
Haushaltsziele in Abhängigkeit von Schuldenstand und
20
European Commission (2005), Public Finances in EMU
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Potentialwachstumsraten der jeweiligen Mitgliedstaaten
in einer Spannbreite bis zu – 1 % des BIP festzulegen.21
Darüber hinaus wird beim „Anpassungspfad“ (Artikel 5
Abs. 1 neu), also beim Erreichen dieses länderspezifisch festgelegten Ziels ein Abweichungsspielraum eröffnet, wenn Strukturreformen durchgeführt werden,
insbesondere der Übergang zu einem teilweise auf Kapitaldeckung beruhenden Rentensystem.
• In der Verordnung selbst22 wird der Übergang zu
länderspezifischen Haushaltszielen mit der „wirtschaftlichen und haushaltspolitischen Heterogenität“ der Mitgliedstaaten begründet. Dies steht in einem bemerkenswerten Spannungsverhältnis zur
Grundkonzeption der Europäischen Währungsunion, die bekanntlich mit ihrem Wesenselement
21
22
Ziele werden nur für die EWU-Mitglieder und die Teilnehmer am WKM II-Mechanismus gesetzt.
Absatz 5 der Erwägungsgründe
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einer einheitlichen Geldpolitik auf der Konzeption
„one size fits all“23 beruht.
• Dass Strukturreformen die Haushaltspositionen
kurzfristig belasten müssen, erscheint empirisch
nicht hinreichend begründet; manche notwenigen
Reformen, gerade im Rentensystem, aber auch am
Arbeitsmarkt und auf den Gütermärkten oder (aufkommensneutrale) Steuerreformen entfalten sogar
einen positiven Haushaltsimpuls.
(2.) Noch weitgehender sind die Änderungen beim „korrektiven Arm“, also der Ratsverordnung 1467/97:
nach Artikel 2 Abs. 2 ff ist ein Überschreiten der
3 %-Grenze, die im Protokoll Nr. 11 zum EG-Vertrag
und damit im europäischen Primärrecht verankert ist –
nicht nur bei einer schweren Rezession oder Naturkatastrophen möglich, sondern auch bei jeglichen (also
ggf. nur geringen) negativen jährlichen Wachstumsraten
23
vgl. Issing, Speech at the International Research Forum on monetary policy, 20.05.2005
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oder einem – am Potential gemessen – „äußerst geringen Wachstum“ möglich.
Bei der Feststellung eines übermäßigen Defizits nach
Art. 104 (3) EG-Vertrag wurden überdies „alle
einschlägigen Faktoren“ spezifiziert. Es handelt sich um
eine lange Liste von potentiellen
Ausnahmetatbeständen und Entschuldigungsgründen,
die der Feststellung eines übermäßigen Defizits entgegenstehen: „herrschende Konjunkturbedingungen“,
„Maßnahmen im Rahmen der Lissabonner Agenda“,
„Förderung von Forschung und Entwicklung sowie (!)
Innovation“, die „Finanzierbarkeit der Schuldenlast“, „Finanzierungsbeiträge zur Stärkung der internationalen
Solidarität“, Maßnahmen zur „Verwirklichung von Zielen
der europäischen Politik, insbesondere der Einigung
Europas“ und vieles andere mehr. Angesichts dieser
Liste fällt es schwer, noch von einem konsistenten,
widerspruchsfreien Regelwerk zu sprechen.
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(3.) Die Fristen für den Anreiz- und Sanktionsmechanismus, etwa für die Ratsempfehlungen nach Artikel 104
Abs. 7, das Inverzugsetzen, also die qualifizierte Mahnung nach Artikel 104 Abs. 9, für die unverzinsliche
Einlagen und schließlich Geldbußen (Art. 104 Abs. 11)
werden verlängert.
(4.) Darüber hinaus wurde die mögliche Frist zur
Korrektur eines übermäßigen Defizits auf zwei Jahre
verlängert im Falle „besonderer Umstände“. Letztere
sind identisch definiert wie die bereits erwähnten
„einschlägigen Faktoren“.
(5.) Wichtiger als die Fristverlängerungen, aber in der
Öffentlichkeit weniger beachtet ist die nunmehr vorgesehene Möglichkeit von „Verfahrensschleifen“: bei
„unerwarteten wirtschaftlichen Ereignissen“ können die
Ratsempfehlungen oder das Inverzugsetzen wiederholt
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werden, ohne dass die Zahl möglicher Wiederholungen
begrenzt wäre24.
• Der Anreiz- und Sanktionsmechanismus verliert
dadurch seinen Stufencharakter, bei dem auf jede
Maßnahme eine andere, etwas schwerwiegendere
Maßnahme folgen soll. Allerdings war dieser Stufencharakter schon nach dem alten Pakt durch die
auch vom Europäischen Gerichtshof25 akzeptierte
Möglichkeit einer weitgehenden Untätigkeit des
ECOFIN-Rats – etwa durch Ablehnung von Vorlagen der Kommission für Ratsempfehlungen (wenn
auch innerhalb der Grenzen einer Untätigkeitsklage gegen den Rat) nur eingeschränkt wirksam.
Bei einer Gesamtbewertung der Änderungen in beiden
Paktverordnungen fällt auf, dass die zunächst in der
Öffentlichkeit genannte Begründung für eine „Reform“
des Paktes, eine Verstärkung des präventiven Arms
nicht oder jedenfalls nicht in operabler Form festzustellen ist.
Die Einführung eines „Richtwertes“ von jährlich 0,5 %
BIP konjunkturbereinigter Haushaltskonsolidierung26 ent-
24
vgl. Art. 3 Abs. 5 neu, Art. 5 Abs. 2 neu
vgl. EuGH Rs C-20/04 (FN4)
26 Art. 5 Abs. 1 neu, Art. 3 Abs. 4 neu
25
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spricht der bisherigen Praxis der Kommission zum „alten“ Pakt, dürfte aber dadurch an Wirkung einbüßen,
dass das Ziel der Haushaltsdisziplin selbst einen „movable target“ gewichen ist und kaum mehr ein Politikbereich übrig bleibt, der sich nicht unter eine der bei Feststellung des übermäßigen Defizits zu berücksichtigenden „einschlägigen Faktoren“ oder Ausnahmetatbeständen subsumieren lässt.
Die ökonomische Rationalität der Neufassung, die ja in
der politischen Diskussion vielfach gegen eine „juristische Auslegung“ ins Spiel gebracht worden ist, hält in
vielen Punkten einer näheren Prüfung nicht stand. So
verringert die flexible Festlegung der mittelfristigen
Haushaltsziele den Abstand zur 3 %-Grenze und damit
die Gefahr eines Überschreitens dieser Grenze in konjunkturellen Abschwungphasen. Für eine stärkere Korrektur in Aufschwungphasen fehlen rechtlich bindende
und operable Regeln. Es ist auch kaum einzusehen,
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warum Ausgaben im Rahmen der Lissabon Agenda –
die immerhin 8 Schlüsselinitiativen, mehr als 20
integrierte Leitlinien und mehr als 100
Einzelmaßnahmen umfasst27– bei der Beurteilung eines
Defizits eine andere Qualität haben sollen als die wenigen dort nicht aufzufindenden Politikbereiche (z. B. innere Sicherheit gegenüber terroristischen Angriffen).
Insgesamt ist für die Anwendung der 3 % Grenze die
Frage zu stellen, wie es um die Überzeugungskraft und
Anwendbarkeit in der Regel bestellt ist, wenn die Anwendungsfälle für die Ausnahmen zahlreicher sind als
die denkbaren Anwendungsfälle für die Regel selbst.
Bei einer institutionellen Bewertung des geänderten
Paktes fällt auf, dass die Kommission gegenüber dem
ursprünglichen Pakt erhebliche zusätzliche Ermessensund Auslegungsspielräume gewinnt. Ob die Kommission
hierbei der Versuchung widerstehen wird, sich ein Entgegenkommen bei der Auslegung der „einschlägigen
27
vgl. Sinn, CES ifo Forum, Vol. 6, Nr. 2 „Europe and the Lisboan Goals”, S 6.f (7)
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Faktoren“ und Ausnahmeklauseln von den Mitgliedstaaten in anderen Bereichen honorieren zu lassen
(z. B. in Fragen des Subsidiaritätsprinzips oder bei
haushaltswirksamen Projekten) bleibt der politischen
Erfahrung überlassen.
Fazit: Schon lange vor Beginn der Währungsunion,
etwa bei den Beratungen der so genannten DelorsGruppe im Jahre 1989 bestand Einigkeit darüber, dass
die Existenz von Regeln und Sanktionen für die Finanzpolitik eine Voraussetzung für das langfristige Funktionieren einer einheitlichen Geldpolitik ist28. Der eigentliche „Zielwert“ hinter der Haushaltsdisziplin, hinter den
Zielen einer regelgebundenen Finanzpolitik ist die Erhaltung und Stärkung des Vertrauens. Feste Regeln
haben hierfür – das ist ja der sozioökonomische Sinn
von Institutionen – eine Entlastungsfunktion. Je schwächer diese Entlastungsfunktion durch Auflockerung der
28
Tietmeyer, Herausforderung Euro 2004, Seite 124 f.
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Regeln wird, um so größer werden Anforderungen und
Herausforderung an die handelnden Akteure und auch
an die Notenbanken des Eurosystems.
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