SCHULE SCHULUNTERRICHT Was noch mal ist eine App? Jetzt können Schüler endlich den Umgang mit modernen Medien lernen: Aber nur in Solothurn. VON Dominic Wirth | 04. Oktober 2012 - 08:00 Uhr © Fabian Biasio für DIE ZEIT Eine Schülerin der Solothurner myPad-Klasse Im Versuchslabor, Allmendstraße 63, Solothurn, stehen kleine Pulte aus Holz auf grauem Novilonboden, hängen schwarze Schiefertafeln an den Wänden und ein Beamer von der Decke. Vorn, auf dem großen Pult, ein Globus. Hinten, an einer Wand, das Alphabet. Es ist kurz nach halb elf, Montagmorgen. Eben sind die Viertklässler in das Schulzimmer zurückgekehrt. Jetzt sitzen sie an ihren Pulten, fahren mit den Fingern über farbige Displays, tippen Wörter in Suchmasken, lassen Präsentationen über den Bildschirm sausen. Sachkunde steht auf dem Stundenplan. Die vierte Klasse von Frau Deppe behandelt das Thema Fliegen. Die Kinder, zehnjährig die meisten, sollen auf ihrem iPad eine PowerPointPräsentation zusammenstellen. Vor ein paar Wochen, als die Sommerferien zu Ende gingen und das Leben ins Schulhaus Wildbach zurückkehrte, verwandelte sich das Klassenzimmer der Viertklässler in ein Labor. Auf den kleinen Holzpulten liegen seither iPads neben Heft und Bleistift. Ein Jahr testet die Lehrerin Verena Deppe mit ihrer Klasse, wie sich die Geräte in den Unterricht einbauen lassen. An diesem Morgen stöbern die Kinder im Internet nach geeigneten Bildern für ihre Präsentationen, lesen Wikipedia-Artikel zur Geschichte des Fliegens. Später, im RechenUnterricht, üben sie mit einer App das Addieren. »Ich versuche, die iPads so oft wie möglich einzubauen, achte aber auf eine vernünftige Dosierung«, sagt Deppe. Insgesamt sind im Kanton Solothurn zwölf Klassen am myPad-Projekt beteiligt; ihr Urteil im kommenden Sommer wird nicht nur im Kanton Solothurn, sondern im ganzen Land auf 1 SCHULE Interesse stoßen. Denn für den Umgang mit Internet und digitalen Medien fehlt in vielen Schweizer Schulhäusern ein Rezept. Gerade einmal 15 Jahre ist es her, da spielte das Internet noch kaum eine Rolle in der Schweiz. Nur sieben Prozent der Bevölkerung gaben damals in einer Umfrage des Bundesamts für Statistik an, mehrmals pro Woche zu surfen. Seither hat das Netz die Welt revolutioniert. Es ist heute unsere erste Informationsquelle; es hilft uns, neue Freundschaften zu schließen und alte zu bewahren; es bietet uns eine Plattform, auf der wir uns präsentieren und austauschen. Das Netz organisiert unser Leben zunehmend – und ein Ende dieser Revolution ist nicht absehbar. Immer neue Trends und Entwicklungen spuckt die Innovationsmaschinerie Internet aus. Und fordert damit seine Nutzer. Denn das Netz bietet uns viel, aber es verlangt auch viel. Weil es ablenkt und verlockt. Weil seine Mechanismen schwer durchschaubar sind. Weil es nie vergisst. Weil es ein verzerrtes Bild von der Welt zeigt. Wenn wir uns im Netz bewegen, müssen wir uns dieser Dinge bewusst sein. Längst ist der Umgang mit ihm, mit seinen Ressourcen und Gefahren, zur Kulturtechnik geworden. Wie das Lesen, wie das Schreiben, wie das Rechnen. Für Daniel Süss , Professor für Medienpsychologie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, ist die Vermittlung der Kulturtechnik Medienkompetenz »eine moderne Form der Alphabetisierung, ohne die man nicht am Leben in der mediatisierten Gesellschaft teilhaben kann«. Wer medienkompetent ist, kann das Netz für seine beruflichen und privaten Zwecke nutzen. Er kann beurteilen, welche Folgen sein Verhalten im Internet hat oder haben kann. Und er ist in der Lage, die Flut von Inhalten im Netz zu beurteilen und kritisch zu hinterfragen. In den Schulen, wo Kulturtechniken traditionell vermittelt werden, tut man sich schwer mit dem Wandel und den Aufgaben, die daraus entstanden sind. Laut der JAMES-Studie , mit der das Medienverhalten von Schweizer Jugendlichen erforscht wird, nutzen diese in ihrer Freizeit öfter ihr Handy und das Internet, als dass sie ihre Freunde treffen. Über 90 Prozent surfen täglich im Internet. Und im Alter von 80 Jahren werden die Jugendlichen von heute 20 Jahre mit Medienkonsum verbracht haben, aber nur neun Jahre bei der Arbeit. Trotzdem gibt es in der Deutschschweiz nur einen Kanton, in dem Medienbildung ein eigenes Fach ist: den Kanton Solothurn. »Für das Schulwesen sind die Kantone zuständig«, so steht es in der Bundesverfassung, Artikel 62, Absatz 1. Das Ergebnis: In den Schweizer Kantonen wuchern die Konzepte und Ansätze; jeder Kanton geht in der Medienbildung eigene Wege. In den kantonalen Lehrplänen heißen die entsprechenden Bereiche »Informatik«, »Medienerziehung« oder »ICT«; die Schüler sollen »Ziele« und »Treffpunkte« erreichen oder »Kompetenzbereiche« kennenlernen. Gemeinsam ist den Deutschschweizer Kantonen nur eines: Sie setzen auf den integrativen, »fächerübergreifenden« Ansatz. Die Medienbildung erhält dabei keine eigenen Lektionen, sondern soll in alle Fächer einfließen. Die Idee dahinter: Medienbildung 2 SCHULE erfolgt so nicht im luftleeren Raum, sondern wird in die einzelnen Fächer integriert, immer dort, wo es gerade Sinn macht und Nutzen bringt. Das klingt gut. Aber funktioniert dieses integrative Konzept auch? Bauen die Lehrer Medienbildung in ihren Unterricht ein, wenn sie dazu kein eigenes Gefäß zur Verfügung haben? Für Thomas Merz , Fachverantwortlicher für Medienbildung an der Pädagogischen Hochschule (PH) Thurgau, ist die Antwort klar: »Nein. Das integrative Konzept macht zwar theoretisch Sinn. Aber in der Umsetzung funktioniert es offensichtlich nicht.« Eine 2012 veröffentlichte Studie aus dem Kanton Zürich bestätigt diese Diagnose: Von 1.068 befragten Schülern im Alter von 12 bis 20 Jahren gaben über 70 Prozent an, in der Schule noch nie oder nur am Rande über das Internet gesprochen zu haben. Merz sieht vor allem zwei Ursachen für die Versäumnisse an den Schulen: Die Lehrer stünden heute unter einem enormen Arbeits- und Zeitdruck, immer mehr Themen müssten sie behandeln. »Wenn dann etwas dazukommt, das nicht zum eigentlichen Pflichtstoff gehört, für das keine Note vergeben werden muss, dann fällt das als Erstes weg.« Zudem fühlten sich viele Lehrer selbst nicht kompetent genug, ihren Schülern etwas über Neue Medien zu vermitteln. So ist es für Schweizer Kinder heute vor allem Glückssache, ob und in welchem Ausmaß sie Medienbildung erhalten. »Die Unterschiede sind sehr groß«, sagt Thomas Merz. »Von Kanton zu Kanton, von Schulhaus zu Schulhaus, von Klasse zu Klasse sogar.« Für ihn ist dieser Zustand »auf Dauer nicht tragbar«, letztlich erfülle die Volksschule so ihren Grundauftrag nicht mehr: »Sie erhält vom Staat die Mittel, um wesentliche Inhalte zu vermitteln. Wenn sie dies nicht mehr tut, verliert sie ihre Legitimation.« Seit Jahren befasst sich Merz intensiv mit dem Thema Medien und Schule, schreibt Beiträge in Fachjournalen, bildet Lehrer weiter, hält Referate. 2004 dissertierte er zum Thema »Medienbildung in der Volksschule«. Seit August arbeitet Merz an der PH Thurgau, zuvor war an der PH Zürich Professor für Medienpädagogik und Leiter des Fachbereichs Medienbildung. Bei seiner Antrittsvorlesung in Kreuzlingen im September forderte Merz die künftigen Lehrer auf, »nicht mit Sorge auf die neuen Medien zu blicken, sondern ihre Möglichkeiten zu nutzen«. Die Vorlesung fand zu Beginn der Einführungswoche der Erstsemesterstudenten statt; für viele war es die erste Vorlesung ihres Lebens überhaupt. »Diese Platzierung war kein Zufall, sondern eine klare Message«, sagt Merz. Medienbildung wird künftig wichtiger an der PH Thurgau, mit mehr Unterrichtslektionen in der Ausbildung und mehr Verbindlichkeit im Stundenplan. Es ist diese Verbindlichkeit, die Merz für die Medienbildung an allen Schulen in der Schweiz fordert, am liebsten schon im Kindergarten. Mit einem eigenen Fach, im Lehrplan fest verankert, »denn der Lehrplan steuert alles, auch wenn die Lehrer nicht jeden Morgen darin blättern. Er bestimmt, welche Lehrmittel produziert und wie die Lehrer ausgebildet werden.« 3 SCHULE Was Merz sich für die ganze Schweiz wünscht, ist in Solothurn seit 2008 zumindest teilweise Realität. Der Kanton schrieb damals eine Lektion Medienbildung in den Stundenplan, wöchentlich, von der dritten bis zur neunten Klasse. Jetzt, nach vier Jahren, ist es Zeit für eine erste Bilanz. Andy Schär leitet die Beratungsstelle imedias der Pädagogischen Hochschule FHNW. Imedias beriet den Kanton Solothurn bei der Einführung des Fachs Medienbildung. Schär spricht von einem »Innovationsschub«, den die Verbindlichkeit bewirkt habe – bezüglich der Infrastruktur, aber auch bezüglich der Nutzung im Unterricht. »Die Verbindlichkeit erhöhte die Verpflichtung für die Lehrer, die Geräte zu nutzen.« Schär sagt, er sei eigentlich gegen zu viele Vorschriften, aber jetzt habe er erkannt, »dass erst durch die Verankerung in der Stundentafel im Unterricht etwas passiert«. Aufgrund der Erfahrungen in Solothurn verlangt Andy Schär auch für den Lehrplan 21 ein eigenes Fach Medienbildung, um mit den Medien etwas über Medien zu lernen: »Was im Leben der Jugendlichen einen so hohen Stellenwert hat, gehört in den Unterricht. Das wirkliche Leben darf in der Schule doch nicht in der Garderobe bleiben.« Derzeit sieht es indes so aus, als ob gerade dies passiert. In der Grobstruktur des Lehrplans 21 ist vom Bereich ICT und Medien lediglich als »überfachlicher Themenlehrplan« die Rede. Verbindlichkeit fehlt also auch im Projekt, dass die Schweizer Schulen für die Zukunft rüsten soll. In Verena Deppes Alltag im Versuchslabor im Schulhaus Wildbach sind die digitalen Medien bereits angekommen. Ihr Zwischenfazit ist positiv: »Ich habe selbst Freude bekommen, es tut gut, neue Methoden auszuprobieren, denn alte Rhythmen nutzen sich ab.« Sie hält aber gleichzeitig fest, dass vieles noch besser werden müsse, vor allem bei den Apps. Diese müssten stärker auf die verschiedenen Altersstufen ausgerichtet werden, um wirklich hilfreich zu sein. »Und es braucht eine gute, funktionierende Klasse, gerade am Anfang.« So ganz will Deppe die alte Welt aber sowieso nicht aus ihrem Klassenzimmer in Solothurn verbannen. Als Ergänzung zur PowerPoint-Präsentation müssen die Schüler ein handgeschriebenes Blatt mit ihren Recherchen zum Thema Fliegen abgeben; in einer Ecke liegt ein Stapel mit Ausgaben der Flug-Revue, welche die Kinder als Ergänzung zu den Google-Ergebnissen eifrig durchblättern. »Es ist wie mit dem Flugsimulator: Alles kann der Pilot dort nicht lernen«, sagt Deppe. Und sie betont, dass die Kinder ganz von sich aus auch am Analogen noch interessiert seien. Dass das stimmt, zeigt eine kleine Umfrage am Schluss vor dem Mittagessen. Ob sie lieber mit dem iPad oder den Büchern arbeiten, werden die Schüler gefragt. Fast alle haben zweimal die Hand. 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