Was ist sexueller Missbrauch? - Tal.de

Phaidon: Was ist sexueller Missbrauch? (Fassung vom 04.10.2004)
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Was ist sexueller Missbrauch?
Eine Antwort jenseits der üblichen Klischees
»Was ist sexueller Missbrauch?« – Für viele Betroffene ist diese Frage äußerst wichtig. Mir
ging das anfangs auch so: Ich hatte zu den Erinnerungen, die schon immer da waren, plötzlich auch Gefühle, die fast zwanzig Jahre verschüttet waren. Ich sah die Vorgänge vor meinem inneren Auge nicht mehr wie ein emotionsloser Beobachter von außen, sondern war
wieder ganz in den damaligen Situationen drin – mit Haut und Haaren und Herz.
Und plötzlich war es wichtig zu wissen, ob all diese Gefühle von Ohnmacht, Schmerz,
Scham, Verzweiflung, Vertrauensbruch und Angst angebracht waren oder nicht. Wurde mir
damals wirklich etwas Ungeheures angetan oder war ich einfach nur überempfindlich? – Ich
suchte nach einer Definition, was sexueller Missbrauch denn nun eigentlich ist. Leider fand
ich zunächst nur Antworten, die mir nichts halfen – ich passte nicht so ohne weiteres in das
übliche Klischee.
Warum eine Antwort so wichtig sein kann
Viele von uns haben nicht gelernt, ihren subjektiven Empfindungen zu trauen. Sie suchen
immer eine möglichst objektive Bestätigung für ihre Gefühle. Es reicht nicht aus, sich missbraucht zu fühlen – nein, ich brauche es auch schwarz auf weiß, dass Fachleute diese Tat als
Missbrauch bezeichnen.
Aber die Frage nach einer Definition von sexuellem Missbrauch wird immer mehr auch von
anderen Menschen gestellt: von Partnerinnen und Partnern, von Menschen, die das Gefühl
haben, mit einem Kind in ihrer Umgebung geschieht etwas, wo sie eingreifen sollten, und
nicht zuletzt von verunsicherten Eltern (besonders Vätern), die nicht mehr sicher sind, welche körperlichen Kontakte zu ihrem Kind in Ordnung sind und welche nicht.
Eine kurze Definition
Sexueller Missbrauch eines Kindes bedeutet, dass eine Person die natürlichen Schamgrenzen
des Kindes verletzt und eine Machtposition oder Überlegenheit missbraucht, um das Kind
zum Objekt seiner Bedürfnisse zu machen.
Dazu zählen unter anderem:
C lüsterne Blicke und Redensarten
C Zungenküsse
C Kindern pornografische Bilder oder Filme zeigen oder pornografisches Material mit Kin-
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C Bestrafungen durch körperliche Gewalt an Geschlechtsteilen
C wenn Erwachsene sich gezielt vor Kindern nackt präsentieren oder nackte Kinder beobachC
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häufige oder sehr grobe »medizinische« Untersuchungen an Geschlechtsteilen
Vergewaltigung – auch mit Hilfe von Gegenständen
sexuelle Handlungen jeder Art – auch die Aufforderung zu sexuellen Handlungen
im weiteren Sinne auch Zärtlichkeiten, die das Kind nicht möchte – auch die Aufforderung
zu solchen Zärtlichkeiten (wobei das in der Regel nicht unbedingt als »sexueller« Missbrauch bezeichnet werden kann)
Grundsätzlich spielt bei der Frage des sexuellen Missbrauchs weder das Geschlecht des Opfers noch das Geschlecht des Täters oder der Täter eine Rolle. Meistens ist sexualisierte
Gewalt nur die extreme Spitze eines Eisbergs aus körperlicher und psychischer Gewalt, aus
Vernachlässigung, Demütigung und/oder Ausbeutung.
Oft kann aber auch so eine Aufzählung nicht weiter helfen, um im Einzelfall Klarheit zu
schaffen.
»Und was heißt das genau?«
Auf die Frage »Was ist sexueller Missbrauch?« gibt es leider keine einfache Antwort, ohne
dass dabei viele Menschen und ihre Schicksale unter den Tisch fallen. Also versuche ich es
mal mit der schweren Antwort:
Zunächst einmal müssen wir uns klar werden, ob wir von sexuellem Missbrauch im strafrechtlichen oder im psychologisch-therapeutischen Sinn sprechen. Im deutschen Strafrecht
ersetzte in der 1970er Jahren »sexueller Missbrauch« den alten Begriff »Unzucht mit Minderjährigen« (im österreichischen und schweizerischen Strafrecht gab es diesen Begriffswechsel
ebenfalls, bzw. er findet gerade statt). Für das Strafrecht aber ist eines entscheidend: Es geht
immer von einer fest definierten Tat aus und muss möglichst eindeutig festlegen, welche Tat
strafbar ist und welche nicht. Dieser Zwang zur generellen Eindeutigkeit führt dazu, dass
manches, was wir im Einzelfall als Missbrauch ansehen, nicht strafbar ist. Außerdem ist das
Strafrecht nicht opferorientiert, sondern zwangsläufig täterorientiert. Es ist ja auch der Täter,
der im Mittelpunkt des Prozesses steht – hier wird über sein Schicksal entschieden und nicht
über das Schicksal des Opfers.
Wenn wir uns bei der Frage, was sexueller Missbrauch ist, dagegen dem Opfer zuwenden,
kommen wir in den Bereich der Psychologie. Leider sind die meisten Erklärungen zu sexuellem Missbrauch immer noch sehr beschränkt: Sie konzentrieren sich ausschließlich auf bestimmte Täter- oder bestimmte Opfergruppen, sie betrachten nur ganz bestimmte sehr eindeutige Handlungen – und sie verschweigen mehr oder minder bewusst alles, was nicht in
das allgemeine Klischee von sexueller Gewalt gegen Kinder passt.
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Selten beantwortete Fragen
Für mich ist sexueller Missbrauch im weitesten Sinne eine Schamverletzung und im engeren
Sinne eine sexuelle Handlung. In Fachkreisen wird inzwischen immer häufiger auf den
Aspekt der Macht hingewiesen. »Sexualität ist dabei das Mittel des Täters, um ein Kind oder
einen Schwächeren zu unterwerfen und zum Objekt seiner Bedürfnisse zu machen. Es geht
nicht um aggressive Sexualität, sondern um sexualisierte Gewalt.« (Aus einem Text der Universität Rostock. – http://www.phf.uni-rostock.de/fes/isoheilp/GBMissbrauch.htm)
Soweit scheint das alles klar zu sein, aber immer wieder stellen Betroffene Fragen, die in der
Regel eher selten beantwortet werden und bei denen viele selbst ernannte »Experten« ausweichend oder kaltschnäuzig oberflächlich antworten:
C Spielt der Altersunterschied zwischen Täter und Opfer eine Rolle, um von Missbrauch
sprechen zu können?
C Muss Gewalt oder müssen wenigstens Drohungen im Spiel gewesen sein?
C Ist es nur dann Missbrauch, wenn ein Täter eindeutig sexuell erregt wird?
C Dürfen wir nur dann von Missbrauch sprechen, wenn das Opfer keine sexuellen körperlichen Reaktionen hat?
Für mich gibt es auf alle diese Fragen nur eine Antwort: Nein.
– Ich kann nicht begreifen, wieso hierzulande viele Fachleute einen willkürlichen Altersunterschied von fünf Jahren zwischen Täter und Opfer festlegen. So etwas könnte strafrechtlich sinnvoll sein, aber keinesfalls therapeutisch. Für das Opfer macht es doch keinen grundsätzlichen Unterschied, ob ein Täter 40 Jahre älter, 4 Jahre älter oder im Extremfall 2 Jahre
jünger ist. Ein schmächtiger 13-jähriger wird durch Übergriffe einer Gruppe von 11-jährigen
auch traumatisiert. Und seine Gefühle hängen nicht davon ab, ob seine Täter juristisch
schuldfähig sind. Das ist zweierlei.
– Gewalt und Drohungen müssen oft gar nicht benutzt werden, weil viele Opfer ohnehin von
ihren Tätern massiv abhängig sind. Gerade diese Abhängigkeit wird von vielen Tätern gefördert und ausgenutzt.
– Und bei einer massiven Grenzverletzung spielt die Erregung des Täters oder seine Motive
nun wirklich keine Rolle. Ich empfinde es als anmaßend, die Gefühle eines Opfers an den
Empfindungen des Täters zu messen. Deshalb ist es für mich vollkommen unerheblich, was
ein Täter bei seiner Tat spürt oder nicht.
– Der vierte Punkt ist womöglich der am meisten tabuisierte. Bevor ich das erste Mal einer
Frau begegnete, die mir davon erzählte, war mir das selber unvorstellbar. Heute jedoch
leuchtet es mir ein, dass einige Täterinnen und Täter auch ein Interesse daran haben, ihre
Opfer zu stimulieren: Sie können damit ihr eigenes Schuldgefühl verringern, denn so hat das
Kind doch angeblich auch etwas davon gehabt. Und manch andere Motive, die ich hier nicht
nennen will, mögen da auch noch eine Rolle spielen. – Wie auch immer: eine körperliche
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Reaktion ist kein Zeichen des Einverständnisses. Gerade bei Jungen lassen sich einige Reaktionen überhaupt nicht bewusst kontrollieren und haben oft auch gar nichts mit Erregung
zu tun. Und selbst wenn es einem Täter gelingt, ein Opfer zum Orgasmus zu bringen: Wo ist
da die Selbstbestimmung? Wo war die freie Entscheidung? – So oder so: Es bleibt sexualisierte Gewalt, und kein Mensch ohne Hintergedanken wird das bestreiten können.
Kinder als Täter unter Zwang
Wer als Kind gezwungen wurde, anderen Kindern sexuelle Gewalt anzutun, hat oft das zusätzliche Problem, sich dafür schuldig und als Täter zu fühlen. »Ich hätte mich doch weigern
können«, sagen manche. – Hättest du wirklich? Hattest du als Kind oder Jugendlicher die
faire Chance »Nein« zu sagen? – Für mich ist das eindeutig: Ein Kind, das zu Gewalthandlungen gegen andere gezwungen wurde, ist Opfer und nicht Täter.
»Sexueller Missbrauch«, »sexuelle Misshandlung« oder »sexualisierte
Gewalt«?
Der Begriff »sexualisierte Gewalt« ist meiner Meinung nach wesentlich genauer und treffender als »sexueller Missbrauch«, aber er ist eben weitgehend unbekannt und vor allem: etwas
kompliziert. Bei dem Wort »Missbrauch« stört viele Menschen, dass es angeblich einen »Gebrauch« voraussetzt – also müsste es auch einen »richtigen Gebrauch« von Kindern geben.
Missbrauch sei etwas, das eigentlich nur mit Gegenständen oder mit Ideen zu tun haben
sollte, aber nicht mit Menschen. Allerdings wird der Begriff »Missbrauch« auch in Bezug auf
Erwachsene in vielfältigen Zusammenhängen benutzt, ohne dass dabei an »Gebrauch« gedacht wird. Diese Kritik an dem Wort »Missbrauch« ist also nicht ganz konsequent. Besonders gelungen finde ich den Begriff jedoch auch nicht.
Trotzdem benutze ich den Begriff »sexueller Missbrauch«, ganz einfach weil ich feststellen
musste, dass ich sonst kaum verstanden werde. Ich habe mich für eine Zwischenlösung entschieden: Ich wechsle zwischen den Ausdrücken »sexueller Missbrauch«, »sexuelle Misshandlung« und »sexualisierte Gewalt« – vielleicht kann ich dadurch die weniger bekannten
Begriffe ein bisschen in das Bewusstsein anderer Menschen bringen.
Allerdings gibt es wohl auch mit dem Begriff »sexualisierte Gewalt« ein Problem: Viele
Menschen verstehen unter Gewalt ausschließlich äußerst brutale, überfallartige körperliche
Gewalt. Wahrscheinlich versagt unsere Sprache sowieso vor dem tabuisierten alltäglichen
Grauen. Ich glaube, letztlich wird es nie einen Begriff geben, der all das angemessen in ein
oder zwei Wörter packen kann.
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