Was kann eine Stadt für ihre Geschichte – tun? - Katrin Kunert

04.09.2008 Was kann eine Stadt für ihre Geschichte – tun? Gardelegen: Ein Sack Erde, die Warnung eines US­Generals und das allmähliche Vergessen Von René Heilig Gardelegen liegt an der Straße der Romanik. Gardelegen ist über 1000 Jahre alt. Gardelegen hat rund 12 900 Einwohner und ist dem Range und der Größe nach die drittgrößte Stadt in der Altmark. Gardelegen ist stolz auf seinen Sohn Otto Reutter, den Meister des Couplets. Im Wappen von Gardelegen finden sich drei Hopfenstangen – ein Hinweis darauf, dass hier im Mittelalter rund 260 Brauhäuser um das beste Bier stritten. Gardelegen war fast 300 Jahre Garnisonsstadt. Gardelegen war 1945 Schauplatz widerlichster Nazi­Verbrechen. Eine Abgeordnete und ein Sack voll Erde Katrin Kunert, Jahrgang 1964, ist Bundestagsabgeordnete der LINKEN. Ihr Wahlkreis 66 liegt in der Altmark, sie wird heute einen Jutesack mit Erde füllen. Der Inhalt ist bestimmt für den nördlichen Innenhof des Reichstagsgebäudes. Dort hat Hans Haacke DER BEVÖLKERUNG ein Projekt geschaffen. Jeder Bundestagsabgeordnete ist aufgerufen, Erde aus seinem Wahlkreis heran­ und auszubringen. In der aktuellen Wahlperiode haben bislang nur 26 dem Aufruf entsprochen. Frau Kunert habe nicht lange überlegen müssen, wo sie graben soll. Auf dem ehemaligen Gut Isenschnibbe. Zwischen Wiesen und Getreidefeldern ist eine Mahn­ und Gedenkstätte. Gerade dieser Tage zeigte sich die Bedeutung des Begriffpaares: mahnen und gedenken. 1945, April. Von Osten stürmten Divisionen der Roten und der Polnischen Armee auf Berlin, im Westen hatten US­Amerikaner und Briten den Rhein überwunden. Es waren nur noch wenige Tage und Kilometer bis zum Ende der Hitler­ Barbarei. Auf der Flucht vor den Alliierten trieben Wachmannschaften zehntausende entkräftete Arbeitssklaven vor sich her. Mehrere Kolonnen strömten auf Gardelegen zu. Wer zu schwach war, wer die Flucht versuchte, wer sich rohe Kartoffeln vom Feld holen wollte, wurde ermordet. Es war nicht nur, wie so oft behauptet, Himmlers »Elite«­Haufen, der Lebenauslöschte, das nicht mehr durch Arbeit vernichtet werden konnte. Neben der SS hetzten in der Altmark Wehrmachtsverbände Entflohe. Junge Kerle vom Reicharbeitsdienst wurden zu Bluthunden, fanatische Hitlerjungen »knallten« Menschen im Häftlingsdrillich »ab«, Großväter legten als Volkssturm­Männer Karabiner an. In der Gardelegener Kavalleriekaserne, der sogenannten Remonte­Schule, sammelte man die Häftlingstrecks, dann ging es erneut »auf Transport«. Der endete nach wenigen hundert Metern auf Gut Isenschnibbe. Was dort geschah, ist mit dem Wort Massaker ungenügend beschrieben. Man trieb die Häftlinge in eine Scheune, verbarrikadierte drei der vier Rolltore, Feuer wurde gelegt, Handgranaten flogen ins Innere. Man feuerte auf jeden, der dem Inferno entkommen wollte. Das war am 13. April, einem Freitag. US­Soldaten, die Gardelegen am 14. April besetzten, zählten 1016 Tote. Sie zwangen die Gardelegener, die Opfer in Würde zu bestatten. Und stellten ein Schild auf. Darauf steht: »Jegliche Schändung dieses Friedhofes wird gemäß den Verordnungen der Militär­Regierung mit den schwersten Strafen geahndet werden. Frank A. Keating, Major General U.S.A. Commanding.« Die von der DDR angelegte Mahn­ und Gedenkstätte, die damit zugleich einen Einblick vermittelt, wie klassenkämpferisch im Arbeiter­ und Bauernstaat mit der Geschichte
umgegangen wurde, ist gepflegt. Viele engagieren sich: Die Stadt, der Förderverein, auch der Volksbund deutsche Kriegsgräberfürsorge. Bis vor kurzem hieß deren Chef im Kreis noch Heinrich Schotte. Schotte kommt aus dem »richtigen« Deutschland, übernahm als Bundeswehroffizier – wie man berichtet – mit der Arroganz der Sieger den Übungsplatz Letzlinger Heide von der Sowjetarmee und befehligte das NATO­Trainingsareal bis zur Pensionierung. Ein Militär und die Wut auf die Volksfront Kreisvorsitzender Schotte führte im Sommer 34 Teilnehmer eines Jugendworkcamps an den Gräbern vorbei, die sie tags zuvor geharkt hatten. Er erklärte ihnen, wie es kam, dass es sie gibt. Er tat das auf seine Weise. Kurzfassung: Hätten die Amis ihren Krieg in der Altmark richtig geführt, hätte es das Massaker gar nicht geben können. Verübt wurde es, so schilderte er weiter, vor allem von Häftling­Kapos, die von der SS in Uniformen gesteckt und bewaffnet worden waren. Und nicht nur Kapos hätten mitgemacht, lässt Schotte durchblicken … auch andere. Gemeint sind KZ­Häftlinge, denen Schotte gleichfalls den Mörderstempel aufdrückt, wenngleich sie »dazu gepresst wurden«. Drittens sei die Scheune zuvor ein Betriebsstofflager gewesen. Ist ja klar, wo Benzin gelagert wurde, »musste man nur mal mit Leuchtspurmunition reinhalten, dann explodierte das ganze Ding«. Wehrmachtangehörige? Aber nein, die waren nicht beteiligt an den Verbrechen. Schon gar nicht deutsche Fallschirmjäger, die in Augenzeugenberichten genannt werden. Schotte hat »eigene Recherchen«, verdammt, »was aus der ehemaligen DDR stammt«. Rotzfrech ignoriert er Zeugenaussagen, die von den Amerikanern im April 1945 protokolliert worden sind. Es habe, sagt der selbsternannte Historiker, es habe eben schon »eine Weile gedauert, bis die Amis ihren Hass wech hatten«. Bei Schottes Führung dabei waren der Landeschef des Volksbundes, Dieter Steinecke, bekannt als Parlamentspräsident in Sachsen­Anhalt. Auch der Bürgermeister von Gardelegen und sein Stellvertreter wurden gesehen. Doch während der eine zu weit weg stand, um Schottes Ausfälle zu hören, wollte der zweite keinen Eklat riskieren. Ein Journalist der örtlichen »Volksstimme«­Redaktion hatte zugehört und aufgeschrieben. Vor Ort keimte Empörung, nicht nur der Förderverein verlangte Konsequenzen. Auch Steinecke und die Bundesführung des Volksbundes legten Schotte nach Wochen nahe, die Geschäfte ruhen zu lassen. Rückzug sei nicht seine Sache, obwohl er »äußerst stark verschimpfiert« worden, ohne dass er »irgend etwas dazu kann«. Zurückgetreten sei er nur, um den Volksbund aus der »Schusslinie zu bringen«, der »von einigen noch immer als revisionistischer Verband« bekämpft werde. Die Frage, wer denn diese »einigen« sind, beantwortet Oberstleutnant a. D. mit der ihm eigenen schnarrenden Geradlinigkeit: »Volksfront, alles Volksfront, Sie wissen schon, diese PDS und jetzt noch diese Leute von der WASG.« Er wisse Bescheid, sagt der Mann, der aus Recklinghausen stammt. »Unser Lehrer kam von drüben geflüchtet. Der hat uns Lenins ›Staat und Revolution‹ lesen lassen.« Zur Sicherheit empfiehlt er dem ND­Mann dann noch ein paar Bücher über die Wehrmacht, die im Grunde »sauber« war. Ein »Aber« schneidet er ab und leitet den Monolog über zu »diesem Stauffenberg«. Wenn der schon rebellierte, was Schotte Widerwillen in die Stimme treibt, »dann hätte der Kerl gefälligst neben seiner Bombe stehen bleiben sollen«. Schotte – ein seniler Militarist und Einzeltäter? Wer das glaubt, verkennt ihn und die Wirklichkeit. Ein Bürger meister und der Weggang von Wissen »Wegen Urlaub geschlossen«. Das Schild hängt zur Tourismus­Hochzeit im Gardelegener Stadtmuseum. Bürgermeister Konrad Fuchs bedauert. »Ja, früher hatten wir mal sieben Planstellen, heute noch eine halbe.« Ein Jammer. Wenn man mal davon absieht, dass erstens
unter Stadtgeschichte »Belegstücke zur mittelalterlichen Hansestadt« sowie Hinweise auf Bier­ und Knopfproduktionskunst ausgestellt werden. Das mit den fehlenden Planstellen mag aber auch andere als nur haushalterische Ursachen haben. Der letzte Herr Direktor wurde vor gut einem Jahr gegangen wurde. Auch er hatte »so seltsame Anwandlungen«, die ihm wohl nicht ganz zu Unrecht als Geschichtsrevisionismus ausgelegt wurden. Schottes Kommentar ist kurz: »Guter Mann!« Eigentlich ist Fuchs Schotte dankbar, denn schließlich hat er organisiert, dass die jungen Leute zwei Tage die Gedenkstätte pflegten. Dann aber bekommt Fuchs die historische Kurve, wirft sich nach vorne. Er sei in der DDR Lehrer für »… na nun raten Sie mal…?« gewesen. »Richtig: Geografie, Geschichte und Staatsbürgerkunde.« Und er freut sich, dass der Reporter sich darüber freut, dass so viel Geschichte in der Stadt ist. Nicht nur, dass historische und zumeist tipp­topp renovierte Gebäude per Tafel erläutert werden, nicht nur, dass es noch immer Straßennamen gibt, die an Thälmann, Breitscheid, Liebknecht, Luxemburg erinnern. Schon bei der selbst gestellten Frage »Ja warum hätten wir die denn ändern sollen?!« hat man das Gefühl, Fuchs, der SPDler, überholt gern links. Doch die Linken haben da schon ihre Erfahrungen und so meint der Landtagsabgeordnete Hans­Jörg Krause aus der Nachbarstadt Salzwedel grinsend: »Keine Angst, auf gleicher Höhe stoppt Konni dann zumeist ab.« Es gibt durchaus Wahrnehmungsunterschiede zwischen dem linken Fuchs und den Linken. Beispielsweise wenn es um den Einfluss von Rechtsextremen in der Region geht. Fuchs braucht nicht eine Hand, um »die Typen« aufzuzählen Die meisten Jugendlichen in der Stadt wissen schon, dass und warum man sich mit denen nicht gemein macht. Wissen? Welches Wissen? Die Stadt verliert Bürger. Über 2000 seit der Wende. Viele sind nur noch Schlafgäste, denn ihr Tagwerk absolvieren sie im nahen Wolfsburg oder in Braunschweig. Andere folgen der Arbeit auf Dauer. Sie nehmen mit ihrer Vergangenheit Stadt­ und Regionalgeschichte fort. Gardelegen ist ein Fall für die Volkssolidarität. Zwar erzählen die Alten umso mehr. Doch wer hört zu? Fuchs wundern Umfrageergebnisse zur jüngeren deutschen Geschichte, die anderenorts so viel Empörung auslösen, nicht. »Es gibt vieles, was man aufschreiben müsste!« Es sprudelt nur so aus dem ehemaligen Geschichtslehrers. Was ist mit der DDR­Landwirtschaft, die in der Altmark Supererträge einfuhr, was mit den Werken, die Landmaschinen bauten, das Asbest­Zementwerk, Veritas … Die Aufzählung all des Wichtigen dauert Minuten und Fuchs stimmt auch zu, dass man Nachgeborenen den Kalten Krieg erklären muss, der in und um Gardelegen durch die Anwesenheit von zigtausenden Sowjet­ und DDR­Soldaten zu spüren war. Man schleife derzeit draußen am Flugplatz noch ein Gebäude, »dann sind wir entmilitarisiert«, sagt Fuchs. Von der berüchtigten Remontekaserne, in der später Sowjets ihre Waffen bereit hielten, ist nur ein kleines Areal geblieben, das das Vermögensamt feil bietet. Darauf weidet – stilecht zur ehemaligen Kavallerie­Feste – ein einsames Pony. Die Mahn­ und Gedenkstätte Isenschnibbe möchte Bürgermeister Fuchs lieber heute als morgen in die Verantwortung des Landes übergeben. Warum, ist klar. Doch was ändert sich dann? Stadtgeschichte ist nun einmal nicht übertragbar.