Was Euch gegeben ist

Was Euch gegeben ist
Ihr nehmt eure Sachen und steht von der Wiese auf, wo
ihr seit der Dämmerung eure Spiele gespielt habt und dann
nackt beieinander liegend dem Mond gefolgt seid, wie er hinter
dem Bergkamm aufstieg, bis er voll und rund war und so metallisch und flüssig glänzte, dass ihr nicht mehr hinsehen konntet. Es ist Mittsommer. Ihr geht den Weg hinunter ins Tal.
Fern und tief, siehst du das Flimmern der Stadt, das der
schwarze Fluss in zwei Hälften teilt. Deine Hand schwingt in
seiner Hand, während ihr zu schnelle und zu lange Schritte
macht.
Vor euch schwebt plötzlich etwas Winziges. Es bewegt
sich unstet auf und nieder, ändert aber die Richtung und den
Abstand zu euch nicht. Erst denkst du, es ist eines von den
Stadtlichtern, aber dann löst es sich aus dem Lichterteppich,
und du erkennst, dass es nahe bei dir ist. Du weißt nicht, was
es ist, und du sagst nichts, behältst es bloß im Auge und
denkst, bleib bei uns, flieg nicht weg. Du bist sicher, deswegen,
nur deswegen fliegt es nicht zur Seite ins hohe Gras.
Das geht so für Sekunden, aber du achtest nicht auf die
Zeit, die jetzt verstreicht, sondern fühlst einen seidenen Faden,
der dich mit dem tändelnden Pünktchen verbindet, so wie du
alles fühlst, die Luft, die um deinen noch feuchten Nacken
streicht, deine Fersen und Knie, das wohlbekannte Ziehen im
Unterbauch, den Geruch der fetten Wiesen.
Jetzt hat er es auch entdeckt.
„Ein Glühwürmchen - siehst Du’s?“ Er flüstert, will es
nicht verscheuchen. Er drückt deine Hand.
„Ja, ich seh’s. Ist das nicht…“
Was Euch gegeben ist
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©Dierk Knechtel, D-33378 Rheda-Wiedenbrück. 5/2007
…unglaublich, wolltest du sagen, aber du lachst leise und
könntest ebenso weinen. Glück durchdringt dich wie ein magnetisches Feld. Du liebst dieses hüpfende Irrlicht wie die Kinder, die ihr haben werdet oder nie, du liebst es wie ihn, willst es
schützen und halten, behutsam in deinen Händen. Eigensinnige kleine Laterne - ausgerechnet heute blinkt sie euch.
„Bestimmt sucht es ein anderes Würmchen. Wahrscheinlich ist jetzt ihre Zeit. Ich hab so was nie erlebt“, flüstert er.
Viel zu schnell flieht ihr im Gleichschritt, Wolken verdunkeln den Weg, du kannst sein Gesicht nicht erkennen,
aber hörst das Lächeln in seiner Stimme.
„Wie es vor uns her fliegt. Es will nicht weg. Vielleicht
fühlt es sich von uns angezogen, was meinst Du?“
„Durch Duftstoffe?“
„Deine Duftstoffe.“
„Deine auch, die sind jetzt in mir. Unsere Duftstoffe.“
Der Leuchtkäfer schwenkt mit einem Mal weit nach
rechts, ihr bremst eure Schritte. Du denkst, jetzt kümmert er
sich um seine Angelegenheiten. Aber er besinnt sich und kehrt
torkelnd in die Spur zurück.
„Treues Glühwürmchen“, hörst du dich leise sagen.
Die Freude, wirst du dich später erinnern, ist jetzt so türkis und rein wie der Bach, zu dem ihr mittags abgestiegen seid,
und der jetzt tief unter euch fließt. Ihr trankt sein Wasser. Die
Sonne stand hoch und heiß über euren gebeugten Rücken. Das
Wasser kühlte deine Lippen, es schmeckte nach Stein.
Vor euch macht der Weg eine Biegung nach rechts. Danach kommt das letzte Steilstück, dann seid ihr beim Wagen.
Die Stadt liegt links, nicht mehr weit, nun viel breiter, eine riesige Fläche. Einzelne Lichter sind zu erkennen, aus Fenstern,
von Straßenlampen und Reklametafeln, in verschiedenen Farben. Das Flimmern hat aufgehört.
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©Dierk Knechtel, D-33378 Rheda-Wiedenbrück. 5/2007
Ihr tretet an ein Geländer. Es wurde gesetzt, weil der
Fels viele Meter senkrecht fällt. Eure Hände tasten über das
aufgesprungene Holz. Dein Blick umfasst all das nächtliche
Gepränge, und du spürst den milden Schmerz in den Waden
und die Blase an der Ferse. Du hast nur einen Gedanken: Ich
stehe hier und erlebe das.
„Unser Glühwürmchen…“, sagt er.
Einen Moment hast du es vergessen, aber er hat es nicht
aus den Augen gelassen. Es blieb stehen wie ihr, schunkelte
eine Weile auf der Stelle, doch jetzt bewegt es sich stetig, sein
Licht schwindet. Es nimmt Abschied. Nicht nach rechts ins
hohe Gras, sondern zur anderen Seite, vor euren Blicken hinein in das grandiose Lichtgemenge. Noch kannst du es von
anderen Lichtern unterscheiden, dann geht es darin auf und ist
nicht mehr zu sehen.
Du sagst: „Es geht seinen Geschäften nach“.
Du legst deine Arme um ihn.
„Ist es nicht toll, was wir erleben?“
„Das ist kein Ausdruck“, sagt er und küsst dich.
Es ist ein langer Kuss. Eure Zungen gleiten umeinander,
sie haben schon Muskelkater. Es ist ein besonderer Kuss, an
dieser steilen Stelle, in dieser kurzen Nacht. Er beschließt den
Tag, den du nie vergisst.
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