Christ_und_Welt_2015_02_13

«Ich wollte zu mir selber stehen»
KIRCHE Michael G. ist Seelsorger, er liebt seinen Beruf
von Herzen. Was in seinem
erzkatholischen Wirkungsgebiet allerdings keiner weiss:
Er führt ein Doppelleben.
ANDREAS FAESSLER
[email protected]
Alle paar Meter wird er freundlich
gegrüsst, wenn Michael G.* durch die
Strassen geht, man nickt, winkt ihm zu.
Der 39-jährige Diakon wird in der erzkatholisch geprägten Stadt als engagierter Seelsorger geschätzt, der sich aufopfernd um die Anliegen der Menschen
kümmert. Er ist ein sympathischer, weltoffener Mensch mit viel Humor und
einem einnehmenden Lächeln. Eines
aber weiss niemand über ihn: Der Geistliche ist homosexuell. Er hält dies geheim, erst recht, da sein Wirkungsgebiet
hauptsächlich in kleinen, besonders
konservativen katholischen Landgemeinden ausserhalb der Stadt liegt.
«Viele hätten ein Problem damit»
Seine Neigung hatte schon immer in
ihm geschlummert, aber so richtig wahrgenommen und sich auch eingestanden
hatte er es erst im vergangenen Jahr
nach einer besonderen Begegnung, über
die er sich zum Zeitpunkt lieber ausschweigt. «Ich wollte von da an zu mir
selber stehen», sagt G. «Denn für seine
gottgegebene Person kann niemand was.
Und dazu gehört auch die sexuelle
Orientierung», ist er überzeugt.
Der Diakon hat sich entschieden, seine Sexualität zu leben – mit der nötigen
Diskretion. Sich irgendwann zu outen,
zieht er nicht in Erwägung; weder bei der
Bevölkerung noch innerhalb der Kirche.
Warum? «In dieser erzkatholischen Region denken die Leute mehrheitlich sehr
konservativ. Für viele würde es ein Problem darstellen, wenn sie wüssten, dass
der für sie zuständige Seelsorger homosexuell ist. Sie sind da vorurteilsbehaftet»,
weiss Michael G. aus Erfahrung, die er
im Rahmen seiner Tätigkeit mit Menschen gemacht hat. Und diese Gesinnung
prangert er an: «Solche Vorurteile sind
wie ein Fingerzeig auf andere Menschen.
Und wer mit dem Finger auf andere zeigt,
handelt wie jene Pharisäer, welche die
Ehebrecherin steinigen wollten.» Michael
G. wünscht sich, dass die Steine niedergelegt und Brücken gebaut würden. Er
hält aber fest, dass sein «Versteckspiel»
für ihn bislang keine Belastung darstelle.
Wichtig sei ihm einzig, dass er mit sich
Diakon Michael G. sieht eine Veranlagung als gottgegeben.
Symbolbild Stefan Kaiser
Vorbehalte, ohne Vorurteile und mit
unendlicher Wertschätzung. Nur so
könnten dereinst auch die vielen homosexuellen Kleriker zu ihrer Veranlagung
stehen, ohne ein angsterfülltes Verstecken spielen zu müssen.
Eine Distanzierung von der Kirche
kommt für Michael G. nicht in Frage.
«Ich liebe meinen Beruf», sagt er. «Mit
meiner Weihe zum Diakon ist in mir
etwas Grossartiges geschehen. Es war
eine ungeheure Stärkung, die bis heute
anhält.» Einem Diakon ist es freigestellt,
ob er zölibatär leben will oder nicht. Der
39-Jährige hat sich für das Zölibat entschieden – «im Sinne der Ehelosigkeit»,
präzisiert er. Er schliesst aber nicht aus,
eines Tages seine grosse Liebe zu treffen.
«Dann würde ich einen Weg suchen, es
mit meinem Beruf zu vereinbaren.»
Seine Aufgabe erfüllt Michael G. mit
grösster Freude. Als Seelsorger könne
er vor allem junge Menschen, die sein
«Los» teilen, tatkräftig unterstützen, wie
er sagt. Vor seinem Amt als Diakon war
Michael G. mehrere Jahre als pädagogischer Mitarbeiter in einem Jugendheim tätig. Mehrere Jugendliche haben
sich ihm anvertraut und über ihre
Homosexualität gesprochen, auch über
die Probleme, die ihre gläubigen Eltern
damit hätten. «Ich mache diesen Jugendlichen Mut, zu sich und zu ihrer
Sexualität zu stehen. Sie sollen wissen,
dass mit ihnen alles in Ordnung ist.»
Franziskus als Hoffnungsträger
selbst im Reinen ist. «Denn wie sagt
Jesus? Liebe deinen Nächsten wie dich
selbst. Und das geht nur, wenn man sich
so akzeptiert, wie man ist.»
Die Regeln der «Firmenleitung»
Für Michael G. ist klar: Die Homosexualität ist genauso wie die Heterosexualität Teil der Schöpfung. Das ändern für
ihn auch die wenigen Bibelstellen nicht,
die sie zur Sünde machen wollen. «Als
aufgeschlossener und vernünftig denkender Mensch sollte man begreifen, dass
die Sexualität etwas Natürliches ist, ob
hetero oder homo», sagt Michael G. mit
Nachdruck. «Und alles Natürliche ist vom
Herrgott gewollt.» Also versündigt sich
der Geistliche nicht, wenn er seine
Homosexualität lebt? «Nein», antwortet
er bestimmt. «Sünde besteht einzig in
der bewussten Abwendung von Gott.»
Dass die römisch-katholische Kirche
sich mit Sexualität – vor allem unter ihren
Würdenträgern – allgemein sehr schwertut, ist wohl bekannt. Und wenn es um
gleichgeschlechtliche Liebe geht, dann
bezieht die Kirche erst recht klar Stellung:
Homosexualität ist unmoralisch, schwer
sündhaft und ein «Verstoss gegen das
Gesetz Gottes», sagt sie. Erst vor wenigen
Tagen wurde uns diese Haltung wieder
deutlich vor Augen geführt: Der Pfarrer
von Bürglen UR soll seinen Posten räumen, weil er einem sich liebenden lesbischen Pärchen den Segen erteilt hat.
Das führt unweigerlich zur Gretchenfrage: Wie kann Michael G. seine sexuelle Orientierung mit den Regeln seiner
Arbeitgeberin, der Kirche, vereinbaren?
Er sagt, dass seine Neigung und sein
Amt aus seiner Sicht in keinerlei Widerspruch stünden. «Ja, als Institution ist
meine Arbeitgeberin im Grunde gegen
mich. Aber sie selbst ist es, die diese
Regeln gemacht hat. Und mit denen ist
meine Veranlagung tatsächlich nicht
konform», führt der 39-Jährige aus. «Die
Philosophie des ‹Ideenstifters› der Kirche
hingegen, unseres Herrn Jesus Christus,
kennt weder Vorurteile noch Unterdrückung! Somit kann ich meine Veranlagung mit dem eigentlichen, wahren
Credo der Kirche absolut vereinbaren.»
Michael G. veranschaulicht es mit einer
Firma, deren Geschäftsleitung Vorschriften erlässt, die nicht im Sinne des Firmengründers sind. Deshalb wünscht er
sich von der Kirche, dass sie sich auf
ihre eigentliche Aufgabe zurückbesinnt:
für den Menschen da zu sein, ohne
Grosse Hoffnung steckt Michael G. in
Papst Franziskus. Obschon der Heilige
Vater neuerlich wieder konservativere
Töne als zuvor angeschlagen hat bezüglich Familie, Ehe und Sexualität, erkennt
Michael G. dennoch einen deutlichen
Impuls aus Rom. Allem voran in Franziskus’ verheissungsvoller Aussage:
«Wenn eine Person homosexuell ist und
Gott sucht – wer bin ich, um über sie
zu richten?» Diese Botschaft sei ein sehr
wichtiger Schritt in die richtige Richtung.
«Die Geistlichen dieser Welt müssen das
auffassen», findet der Diakon. «Unser
Papst könnte eine Änderung einläuten
– wenn die Menschen bereit sind, auf
ihn zu hören. Mit seiner Aussage spricht
er mir als Diakon aus dem Herzen. Ich
will dazu beitragen, seine Impulse umzusetzen», sagt Michael G. und sieht
sich in seiner Mission gestärkt, weil
unter anderen auch der einflussreiche
Kirchenfürst Kardinal Reinhard Marx
erst vor kurzem die Stossrichtung des
Papstes übernommen hat.
Trotz dieser Zeichen aber ist sich der
Diakon sicher: «Es liegt noch ein langer
Weg vor uns, bis die Kirche so weit ist.»
Welt auf dem
Kopf
Andreas
Baumann
J
esus war ein Fasnächtler! Warum
denn nicht? Schliesslich richtet
sich ja der Termin der Fasnacht
nach seinem Leiden und seiner
Auferstehung, der Fastenzeit und
dem Osterfest. Natürlich sind die
meisten Bräuche, auch christliche,
sogenannt heidnischen Ursprungs.
Sucht man nach den Wurzeln der
Fasnacht, so stösst man unter an-
MEIN THEMA
derem auf das römische Saturnalienfest, an dem für einen Tag lang
die Rollen getauscht wurden und
die Herren die Sklaven bedienten.
Welt auf dem Kopf also.
Auch Jesus stellte die Welt auf
den Kopf. Das begann schon mit
seiner Geburt, als der mächtige
Gott als ohnmächtiges Bébé zur
Welt kam, nicht in einem Palast,
sondern einem Stall. Er pries die
Armen selig, die Reichen standen
vor dem Himmel wie das Kamel
vor dem Nadelöhr. Von ihm stammt
das heute geflügelte Wort: Die Ersten werden die Letzten sein. Er
rügte seine Jünger, sich nicht zu
einem Machtkampf hinreissen zu
lassen: «Wer unter euch der Erste
sein will, sei der Knecht aller»
(Markus 10, 44). Schliesslich wusch
er seinen Jüngern die Füsse (Johannes 13). Paulus deutete später
sein Kreuz als der «Welt Ärgernis
und Torheit, für die Berufenen aber
Gottes Kraft und Weisheit» (1. Korinther 1, 24).
Ist doch auch ein bisschen «Fasnacht», verkehrte Welt, oder? Ob
Fasnacht oder Evangelium, dahinter verbergen sich wohl – wenn
auch in unterschiedlicher Weise –
die Sehnsucht nach Lebendigkeit
sowie die Hoffnung auf eine andere, gerechtere Welt. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine schöne
Fasnacht.
Andreas Baumann, reformierter
Pfarrer Emmen-Rothenburg
* Name von der Redaktion geändert
Die Kirche mit eigenwilligem Turm verbindet Alt und Neu
WILLISAU Die Willisauer sind
stolz auf ihre Kirche mit dem
besterhaltenen romanischen
Kirchturm im Kanton Luzern.
Lange umstritten war aber der
zweite, neue Turm.
Sie gilt in ihren Ausmassen als grösste Kirche auf der Luzerner Landschaft.
Die Pfarrkirche St. Peter und Paul in
Willisau – 56 Meter lang und 25,5 Meter
breit – ist ein äusserst bemerkenswertes
kirchliches Bauwerk. Sie steht auf einer
kleinen Anhöhe vor dem Schlossrain.
Besonders augenfällig sind die beiden
Kirchtürme, die beide ganz unterschiedliche Episoden in der Geschichte der
Kirche erzählen.
Die Willisauerin Evelyne Huber kennt
die Vergangenheit der Kirche genau. Die
55-Jährige ist Kirchenratspräsidentin der
katholischen Kirche Willisau und bietet
seit vielen Jahren Führungen durch die
Kirche an. Dementsprechend gross ist
auch ihr Wissen über die Kirche, die 1804
bis 1810 gebaut wurde. Einer der beiden
Kirchtürme ist allerdings viel älter als das
restliche Gebäude, er stammt aus dem
13. Jahrhundert. «Er ist der am besten
erhaltene romanische Kirchturm des
Kantons Luzern», sagt Evelyne Huber.
Anstelle der heutigen Pfarrkirche gab es
mehrere kleinere Vorgängerkirchen. Die
ältesten bei Grabungen freigelegten Fundamente gehören zu einer geräumigen
Saalkirche, die zur Zeit um die Willisauer Stadtgründung von 1302/03 gebaut
wurde. Während der folgenden Jahrhunderte erlebte diese Kirche mehrere Ausund Umbauten. Ein Drama ereignete sich
1647, als ein Blitzschlag die Frau und
den Sohn des Sigristen beim Läuten der
Wetterglocke erschlug. Durch den Blitzschlag brannte die obere Partie des romanischen Kirchturmes aus. Der damalige Glockenturm wurde erhöht und
erhielt anstelle des bisherigen Spitzhelms
eine sogenannte Welsche Haube. Wegen
dieser wurde der Turm im Volksmund
lange Zeit auch Heidenturm genannt.
Die pauschale Bezeichnung «Heiden»
galt allen Nichtchristen, Andersfarbigen
und allen Fremdartigen.
Bald schon bot die Kirche für die
Willisauer nicht mehr genügend Platz.
Die Kirchgenossen von Willisau beschlossen 1803, eine neue, geräumigere Kirche
anstelle der alten zu bauen. Der Bau der
heutigen Kirche wurde möglich durch
viele Gönner und Spenden.
Pfarrer wollte neuen Turm abreissen
Von der Vorgängerkirche blieb der an
der Westseite vorgelagerte romanische
Kirchturm. Bis 1928 wies die Kirche zudem am östlichen Ende des Dachfirstes
einen kleinen und schmalen, zweigeschossigen Dachreiter auf. «Heute steht
Kanton stellte den Glockenturm unter
Heimatschutz. Aber wie kam Willisau
überhaupt zu einem solchen Turm?
Architektonische Pionierleistung
Die Pfarrkirche St. Peter und Paul in Willisau.
Bild Philipp Schmidli
an dessen Stelle unser Elefant, auch
unsere Kupferwarze genannt», sagt Evelyne Huber. Gemeint ist der eigenwillige monumentale Glockenturm des
Architekten Adolf Gaudi aus Rorschach.
«Der Turm war zu Beginn für viele
Willisauer ein regelrechter Schock», er-
zählt Evelyne Huber. «Der damalige
Pfarrer Eisele war ein hefiger Gegner
des neuen Turms, den er als Kupferwarze bezeichnete. Er sammelte sogar
Geld, um ihn wieder abreissen zu lassen», schmunzelt Huber. Doch damit
kam der Pfarrer nicht durch, denn der
Die Willisauer wollten ein stärkeres
Geläut, denn der Glockenklang strahlte
nur beschränkt in die Landschaft hinaus.
Weil der romanische Kirchturm zu zierlich und zu schwach für ein grösseres
Geläut war, musste ein neuer Turm her.
Die Kirchgemeindeversammlung beschloss, die Turmfrage den Fachleuten
zu überlassen. Mit dem Resultat waren
dann aber zahlreiche Willisauer unglücklich. Nichtsdestotrotz: «Heute ist
er ein Unikat und gilt als architektonische Pionierleistung im Eisenbetonbereich», sagt Evelyne Huber.
Das Geläut besteht aus sechs Glocken.
Einzelne Glocken erklingen in Willisau
noch traditionell zum Betläuten um 6, 12
und 19 Uhr. «Die Wetterglocke läutet,
wenn es vom Napf her schwarz und gelb
kommt. Die Glocke soll den Hagel zerreissen können», sagt Huber. Neben dem
sechsteiligen Geläut hängt auch noch die
Taufglocke im Turm. «Sie geht auf das
Jahr 1400 zurück und wird noch heute
regelmässig bei Taufen geläutet.»
SUSANNE BALLI
Hinweis
Quelle: Alois Häfliger: Pfarrkirche St. Peter und
Paul, Willisau, Separatdruck aus «Heimatkunde
des Wiggertals», 1997.