SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Forum Buch Vom 26.02.2017 (17:05 – 18:00 Uhr) Redaktion und Moderation: Carsten Otte Neue deutsche Prosa von: Natascha Wodin, Zsuzsa Bánk, Fatma Aydemir, Stephan Lohse, Daniel Zahno Natascha Wodin: Sie kam aus Mariupol Rowohlt Verlag 368 Seiten 19,95 Euro Rezension von Stefan Berkholz Zsuzsa Bánk: Schlafen werden wir später Roman S. Fischer Verlag 688 Seiten 24 Euro Gespräch mit Maike Albath Fatma Aydemir: Ellbogen Roman Hanser Verlag 272 Seiten 20 Euro Rezension von Sigrid Löffler Stephan Lohse: Ein fauler Gott Roman Suhrkamp Verlag 336 Seiten 22 Euro Rezension von Marcela Drumm Daniel Zahno: Mama Mafia Roman Schöffling Verlag 248 Seiten 20 Euro Rezension von Theresa Hübner Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Forum Buch können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/literatur.xml Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de Natascha Wodin: Sie kam aus Mariupol Von Stefan Berkholz Autor: Wie ausgeliefert Menschen der Geschichte ihrer Zeit sind, wie hilflos den politischen Kräften ausgesetzt, das veranschaulicht Natascha Wodin in ihrem großartigen Buch: „Sie kam aus Mariupol“. Es ist so etwas wie eine Geschichte von unten, die Spurensuche nach ihrer zwischen den Ideologien zerriebenen Familie, ihr Lebensbuch, wie die 71jährige Schriftstellerin sagt. Schon vor über dreißig Jahren hatte Natascha Wodin „Die gläserne Stadt“ verfasst, den „Versuch einer Autobiographie“, wie sie den Text heute bezeichnet. Es war ihr Debüt, damals hoch gelobt. Heute sei das Buch eigentlich überholt, sagt die Schriftstellerin. Denn sie war damals naiv, habe nichts von den politischen Hintergründen ihrer Familie geahnt. „Die längste Zeit meines Lebens“, schreibt sie heute, „hatte ich gar nicht gewusst, dass ich ein Kind von Zwangsarbeitern bin“. Sie wusste nicht, dass ihre ukrainischen Eltern zur Zwangsarbeit in NaziDeutschland verurteilt worden waren. Sie habe nur gemerkt, dass sie – Zitat - „zu einer Art Menschenunrat gehörte, zu irgendeinem Kehricht, der vom Krieg übriggeblieben war“. Vor vier Jahren begann sie, auf gut Glück im russischen Internet zu stöbern, denn sie hatte vor, ein Buch über ihre Mutter zu schreiben, eine kleine Erzählung nur. Durch ihre Recherchen erfährt Natascha Wodin, dass ihre Mutter in ein adliges Elternhaus in Mariupol geboren wurde, ein sonniges, friedliches Städtchen in der Ukraine, eine Hafenstadt am Meer, am Strand gelegen, damals Sowjetunion. Die Mutter kam jedoch drei Jahre nach der Oktoberrevolution von 1917 zur Welt, da war das adlige Leben zum Untergang verurteilt, die Verfolgung hatte eingesetzt, die Angst. Die Mutter „war mitten hineingeboren in den Bürgerkrieg, den Terror, den Hunger, die Verfolgung“, erkennt Wodin, sie kam in jenen apokalyptischen Zeiten mit „einer angeborenen Schuld“ auf die Welt, „eine Wurzellose von Anfang an“, schreibt die Schriftstellerin in ihrem neuen Buch „Sie kam aus Mariupol“. Nach 1917 wurden Adlige drangsaliert, verfolgt, deportiert, getötet. Die Angst war allgegenwärtig, die Angst begleitete die Mutter ein Leben lang. Zuerst der Terror Stalins, dann der Zweite Weltkrieg, die Flucht, Zwangsarbeit unter Hitler, und dann auch noch der Vorwurf, mit dem Feind kollaboriert zu haben. Ja, so verrückt, so verdreht und kriegerisch war die Zeit: Wer von den Nazis nach Deutschland verschleppt worden war, um als Zwangsarbeiter in der Kriegsindustrie Hitlers verwertet zu werden, galt nach Kriegsende in der Heimat auf einmal als Verräter. Wer zurückkehren musste in die Sowjetunion, war erneut vom Tod bedroht. Mit sechsunddreißig Jahren hielt Natascha Wodins Mutter ihr wurzelloses Dasein nicht mehr aus, sie gab sich endgültig auf und nahm sich das Leben. Wir erfahren in dieser Spurensuche eine Ungeheuerlichkeit nach der anderen: wie in der Sowjetunion nach der Revolution aller Besitz der Vermögenden geplündert, zerstört, vernichtet wurde. Wie auf deutschem Reichsgebiet mehr als vierzigtausend Nazi-Lager entstanden, wovon dreißigtausend Zwangsarbeitslager waren. Natascha Wodin erkennt nach und nach den Riss, nein: den Abgrund, der sich in ihrer Familie auftat und der die einen zu Verfolgten und andere zu Opportunisten und Parteimitgliedern machte. Denn auch diese gab es in ihrer Familie. Sie erzählt anhand von Aufzeichnungen ihrer Tante die Gräuel nach 1917, veranschaulicht „Stalins großes Kollektivierungsexperiment“ Anfang der 1930er Jahre, „das später auch als Genozid am ukrainischen Volk in die Geschichte eingehen wird“. Sie skizziert schließlich das Sterben und das Überleben im Gulag, in dem einige Familienmitglieder landeten. Das ist lebendige, anschauliche, fragende, verzweifelte, rührende Geschichtsschreibung, Doku-Fiction, wie die Autorin es bezeichnet. Ein ergreifendes Buch, das persönlich gehaltene Dokument einer Spurensuche. Fatma Aydemir: Ellbogen Von Sigrid Löffler Wenn eine türkisch-stämmige Journalistin wie die «taz»-Redakteurin Fatma Aydemir die Tochter türkischer Gastarbeiter aus dem Berliner ZuwandererBezirk Wedding zur Heldin ihres Debütromans macht, dann stellt sich sofort die interessante Frage: Was für eine Sprache wird sie ihrer Ich-Erzählerin Hazal in den Mund legen? Hazal ist achtzehn und wütend, Tochter eines Taxifahrers, der sie schlägt, und einer geduckten, depressiven Mutter, die türkische Fernseh-Serien schaut und dem Mädchen das Ausgehen und auch sonst das Meiste verbietet. Wütend absolviert Hazal eine BVB, eine berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme. Wütend jobbt sie in der Bäckerei eines Onkels. Sie weiß zwar nicht, was sie will, aber sie weiß, was sie nicht will: «Das brave türkische Mädchen spielen und irgendwann den Sohn irgendeines beschissenen Nachbarn heiraten und mich mit Goldschmuck behängen lassen.» Während Hazals Mutter ständig fürchtet, dass die Tochter ihr Leben verpfuscht, sind sich Hazal und ihre Freundinnen Elma, Gül und Ebru einig: «Wir haben keinen Bock darauf, nach außen immer voll brav zu tun und alles, was Spaß macht, immer nur heimlich zu machen.» Beispielsweise: Gras rauchen, Wodka trinken, auf Facebook mit jungen Männern anbandeln, sich nuttig schminken, einen Techno-Club besuchen. Fatma Aydemir, die selbst keineswegs im Problemviertel Wedding, sondern in Karlsruhe geboren wurde und in Frankfurt Germanistik und Amerikanistik studierte, hat sich für ihre Heldin eine Fake-Sprache zurechtgelegt – den aus den Medien geläufigen, großmäuligen Macho-Jargon türkischer Jungs: «Laut, unverschämt und grundlos aggressiv». In der Rede der Mädchen wimmelt es von Schimpfwörtern wie «Spasti» und «Opfer». Deutsche heißen bei ihnen «Kartoffeln», und über Frauen reden sie so verächtlich wie der mieseste Gangsta-Rapper: «Nutte», «Schlampe», «Bitch». Die Frage ist nur: Borgt sich Hazal hier mangels eigener Stimme die aggressive Stummelsprache abgehängter Jugendlicher oder ist es die Akademikerin Aydemir, die hier alle angesagten Proll-Klischees imitiert, die sie bei der türkisch-stämmigen Unterschicht-Jugend vermutet? Zu fürchten ist: Vermutlich doch eher Letzteres. Dass «Ellbogen» der Roman einer Journalistin ist, erkennt man schon an den meinungsstarken Erwähnungen aller einschlägigen und aus den Medien bekannten aktuellen Vorfälle: von der Silvesternacht in Köln bis zum Putschversuch gegen Erdoğan, vom IS-Terror bis zum Kurden-Problem und von «Charlie Hebdo» bis zur Flüchtlingskrise. Hier ist es wohl weniger die dumpf brodelnde Heldin als eher Fatma Aydemir selbst, die da ihre wache politische Kompetenz paradiert. Hinzu kommt das bemühte Einsprenkeln aller themenrelevanten Stichworte, die sich mit einer wütenden und auf Krawall gebürsteten jungen DeutschTürkin aktuell verbinden lassen: Ladendiebstahl, provokantes Gehabe, Anstänkern blonder Bürgertöchter auf der Straße, Attackieren eines Zufallspassanten auf einem nächtlichen U-Bahnsteig – leider mit Todesfolge. Hazals Freundinnen kommen in U- Haft, dank Überwachungskamera und Handy-Video; Hazal flüchtet nach Istanbul und versteckt sich bei einem aus Deutschland abgeschobenen Türken, den sie auf Facebook kennengelernt hat. Sie ist jetzt eine gesuchte Mörderin, doch sie will sich nicht stellen, denn sie fühlt keine Reue. Offen bleibt, was aus Hazal nun werden könnte. Der Roman hat zwei Teile und zwei Schauplätze, Berlin und Istanbul. In Berlin fühlt sich Hazal fremd, unfrei, benachteiligt und von allen ungerecht behandelt: vom Gehorsamsregime ihrer traditionsverhafteten Eltern ebenso wie von den «Kartoffeln», bei denen sie ständig unterschwellige Vorurteile wittert, manchmal sogar zu Recht. Doch auf andere Weise fremdelt Hazal auch in Istanbul. Zugehörig kann sie sich auch hier nicht fühlen, dafür hat ihr mangelhaftes Türkisch einen zu starken deutschen Akzent. Zudem stolpert sie ahnungslos sofort in einen Kreis revolutionär aufgewühlter Studenten, deren Anliegen sie nichts angehen. Etwas ratlos lässt die Autorin ihre Heldin am Ende ganz allein, aber lächelnd in der Istanbuler Putsch-Nacht auf der Straße stehen. Wie es aussieht, leidet der Roman unter einer Unwucht: Fatma Aydemirs erzählerischer Mut und ihr literarisches Können scheinen nicht ganz auf der Höhe ihrer zeitgeistigen Provokationslust. Stephan Lohse: Ein fauler Gott Von Marcela Drumm Autorin: Das Buch beginnt wie ein Schlag in die Magengrube. Mit der schlimmsten Tragödie, die sich ein Mensch vorstellen kann, aber nicht vorstellen will: Mit dem Tod eines Kindes. Das Geschwisterkind:Ben, 11 Jahre alt und seine Mutter müssen sehen, wie sie jetzt klarkommen. Ben ohne seinen kleinen 8jährigen Bruder, und Ruth, die alleinerziehende Mutter, ohne ihren jüngsten Sohn. An diesem Tag im Sommer 1971, und an allen folgenden Tagen. Buchausschnit 'Ein fauler Gott, S. 7 Ab heute ist Ben ein Einzelkind und mit Mami allein. Sein Bruder hieß Jonas. Er war acht und in der Dritten, und Ben hat ihn Piepmanscher genannt. Wie sein Bruder jetzt heißt, weiß Ben nicht, die Seelen haben lateinische Namen.Irgendwo im Haus geht eine Tür. Dann noch eine. Mami lebt. Sie war zu gleichen Teilen seine und Jonas’ Mutter. Was mit Jonas’ Teil geschieht, ist unklar. Vielleicht bekommt Ben ihn. Vielleicht nicht. Autorin: Denn nichts ist mehr wie es war, in diesem 70iger Jahre -Sommer und wird auch nie wieder so sein. Das wird dem 11-Jährigen schnell klar. Sein Bruder Jonas hatte im Schwimmbad einen Krampfanfall ist wenig später im Krankenhaus an einem Infekt verstorben. Trost gibt es dafür nicht. Auch wenn seine selbst tottraurige Mutter es mit hilflosen Worten versucht. Sprecher, S. 9 „Dass es offenbar schnell gegangen sei und bestimmt nicht wehgetan habe. Dass sie glaube, dass Gott nach Hilfe gesucht und sich für Jonas entschieden habe. Dass sie aber trotzdem traurig sein dürften und dass Jonas jetzt eine Seele sei.“ Autorin: 'Ein fauler Gott, muss dieser Gott sein', schlussfolgert Ben in seiner kindlichen Logik nach dieser hilflosen Erklärung. Einer, der andere für sich springen lässt, ein Sadist. Wie sein Sportlehrer, der im Unterricht schon mal handgreiflich wird. In den 70igern, nur zur Erinnerung,- ist die Prügelstrafe offiziell noch nicht abgeschafft. 'Ein fauler Gott' so heißt auch der Titel von Stephan Lohes Debutroman, der den Leser mitnimmt in eine ansonsten ziemlich typische 70iger Jahre Reihenhaussiedlungs- Kindheit. Er führt ihn zu den verschiedenen Stationen der Trauer. Der erste Schock, die banalen Dinge die trotzdem geregelt werden müssen: S. 9 Sprecher Wie von einem plötzlichen Wind gekrümmt, stand Mami auf und nahm Jonas’ Stundenplan von der Küchentür. Sie fuhr mit den Fingern über die Stunden und sagte, sie müsse in der Schule anrufen.Zum Essen gab es Nudelauflauf. Mami aß nichts und Ben die Nudeln mit viel Rotze. Den Pudding durfte er auf Mamis Schoß essen. Er weinte noch immer und machte Mamis Blusenkragen nass mit Tränen und Nachtisch. Es störte Mami nicht. Ben schloss die Augen und machte sich schwer, um für Jonas mitzuwiegen. Dann schlief er an Mamis Schulter ein. Autorin Die Trauer wird nicht abnehmen. Im gesamten Buch nicht. Vor allem bei der Mutter wird sie eher noch zunehmen. Und dabei ist man als Leser doch schon nach den ersten Seiten bedient. Man spürt: das ist keine Fiktion. Hier schreibt jemand, der weiß wovon der spricht. Aber wenn man es emotional geschafft hat weiter zu lesen, bekommt man als Leser etwas, was nur Literatur (vielleicht noch Film) vermag. Man taucht tief ein, in eine sonst verschlossenen Welt, die so voller Tabus ist, dass man sie nicht mal gedanklich betreten möchte. Und bekommt am Ende ein tiefes Verständnis für die Dinge. Dafür, dass Trauer viele Gesichter hat zum Beispiel. Und Weinen noch die erträglichste Form ist, sie auszudrücken. Merkt der 11-Jährige Ben: Sprecher S. 9 Heute Morgen schämt er sich. Er findet sich nicht traurig genug. Die Zeit, die Jonas im Krankenhaus war, hatte ihm gefallen. Er hatte sich vorgestellt, Mamis Ehemann zu sein, ein Ehemann, der die elektrischen Kontakte im Toaster putzt und die Serviettenringe geradebiegt. Der die Nägel, die in alten Babybrei-Gläsern im Heizungskeller aufbewahrt werden, ihrer Größe nach ins Regal sortiert, der für seine Frau ein schönes Muster ins Kaleidoskop schüttelt und kenntnisreich am Cognac nippt. Der sich, wenn sich Mami nach dem Krankenhaus erschöpft aufs Sofa legt, in den Sessel gegenübersetzt und mit ihr klönt. Spätestens am Dienstag hätte Jonas nach Hause kommen sollen. Autorin: Der Leser erlebt in gefühlter Echtzeit von einem Jahr mit, was einem kein einzelner Betroffener in einem Gespräch, kein Therapeut der Welt so anschaulich vermitteln könnte: egal wie die Trauer sich tarnt und verändert,- es geht trotzdem weiter. Wenn auch oft eher schlecht als recht. Im Buch hat jeder hat sein Päckchen zu tragen: die Mutter, die ja in ihrem Schmerz gezwungen ist, das andere Kind nicht zu vergessen und weiterhin zu kochen, Pausenbrote zu schmieren, und Weihnachten zu feiern. Weihnachten in der Sparversion, denn: S. 129 Sprecher: Man kann die Geburt eines Kindes nicht feiern, wenn ein Kind gestorben ist. Autorin: Stellt Ben mit 11 Jahren fest. Das noch lebende Kind. Er, das Geschwisterkind, hat nach der Scheidung der Eltern sowieso schon das Gefühl ganz viel kompensieren zu müssen und ist oft unsicher ist, wie er sich der trauernden Mutter gegenüber verhalten soll. Einer Mutter, die wild entschlossen ist das 2,20 Meter mal 90 Zentimeter Grab ihres verstorbenen Sohnes mit allem was ihr zur Verfügung steht vor Unkraut zu schützen, die aber für den Rest der Zeit apathisch und wie ferngesteuert durch das Leben geht. Einer Mutter, die zum Weinen heimlich in ihr Zimmer geht, dabei innerlich erkaltet auf der Heizdecke sitzt. S. 41: Sprecher: Während Ruth die gebratenen Fischstäbchen auf Bens Teller schiebt, scheinen die weißen Einschlüsse im schwarzen Linoleum des Küchenbodens zu wuchern. Ruth steigt über sie hinweg wie über Gestrüpp. Sie setzt sich und stellt ihre Füße auf. Tote Ranken winden sich um ihre Knöchel und zerren an ihnen. Sie tritt nach dem Kraut. Dabei starrt sie auf die Tischplatte und sucht das Resopal nach Wiederholungen seines Musters ab. Sprecherin »Ist dir aufgefallen, dass sich die Dinge seit Jonas’ Tod nicht verändert haben?« Sprecher (eventuell Kindersprecher: »Nein« Sprecherin »Das haben sie nicht. Sie haben sich nicht verändert. Und sie werden es auch künftig nicht tun.« Sprecher: (Erzähler) Ben hebt die Panade von einem Fischstäbchen und stochert mit der Gabel im Filet. Ruth fragt ihn, was er nun machen werde. Ben erschrickt. Sprecherin: »Ich meine heute, nach dem Essen.« Ben »Soll ich denn was machen?« // Sprecherin »Nein. Aber irgendwas wirst du doch machen. Irgendwas muss man ja machen.« Sprecher (Kindersprecher) »Hausaufgaben, vielleicht.« Sprecherin »Hast du denn welche auf?« Sprecher »Nein.« Sprecherin »Wieso solltest du dann Hausaufgaben machen?« Sprecher »Ich kann auch aufräumen.« Sprecherin »Ich will nur wissen, ob du im Haus bleibst.« Sprecher (Kindersprecher) »Soll ich nicht?« Sprecherin »Benjamin, du kannst machen, was du willst.« Autorin: Solche Dialoge gibt es mehrere in dem Buch. Und sie drücken oft mehr aus, als jede epische Gefühlsbeschreibung. An kleinen Alltagsminiaturen beschreibt der Autor, wie der Tod des jüngsten Familienmitglieds die Beziehung zwischen Mutter und dem älterem Sohn auf den Kopf stellt. Er schildert rührende Phasen der Innigkeit, vor allem kurz nach Jonas Tod, in der beide sich Halt geben und Ruth von ihrem Ältesten Dinge über den verstorbenen Jüngsten erfährt, die sie zuvor nicht gewusst hat. Und es gibt Phasen, in der Ruth, die Mutter, fast neidisch feststellt, dass das Leben ihres Sohnes im Gegensatz zu ihrem eigenen Leben erfüllt weitergeht. Seine Rettungsanker : die Freundschaft zu Chrisse, einem neuen Jungen in der Klasse, Fußball und Karl May Bücher, in denen er etwas über die ewigen Jagdgründe erfährt. Diese Rettungsanker detailreich zu beschreiben, das auch der Leser zwischendurch beim Lesen wieder Lebensmut schöpfen kann, versteht der Autor meisterhaft. Sie motivieren trotz der Schwere der inhaltlichen Kost weiterzulesen. Der Leser über 40 und dass ist ein weiter großartiger Aspekt dieses Buches erfährt rückblickend, was die 70iger-Mittelschichts-Jahre ausmachten. Diese farblich in senfgelb und kackbraun getauchte Trostlosigkeit der Reihenhaussiedlung, mit Ravioli aus der Dose und in der Glotze lief 'Flipper' und 'Bonanza' und die 'Waltons' in Dauerschleife: Sprecher: Chrisse sagt, dass er die Reihenfolge wisse, in der bei den Waltons das Licht ausgehe, er könne auch die Farben vom Testbild aufzählen. „Gute Nacht, John-Boy. / Die meisten finden, dass Ilja Richter ein Spiddel ist. Die Schlagersendung in seiner Sendung kämen aus Dörfern mit krummen Postleitzahlen, seien im Haupberuf Schaufensterdekorateure und bewegten im Fernseheh nur ihre Münder. Olli Erdmannsdorf findet, dass die Dörfer aus denen sie kommen, schweinischen Namen haben. Autorin: Schweinfurt, Darmstatt oder Rüsselheim. Es ist auch die Zeit in der man noch 'Negerküsse' sagte, als Kind mehrere Wochen alleine in Kur geschickt wurde, weil man nicht genug Butter aß, man den Vater nur am Wochenende zu Gesicht bekam, und dann verlegte er Wegeplatten im Garten. Es war die Zeit in der man aus geringsten Anlass eine gescheuert bekam, wenn man die Zeit vertrödelte. Weil man überhaupt immer, immer draußen war. Und keiner fragte genau nach wo. Es ist dieser heute kaum mehr nachzuvollziehbare Optimismus der 70iger, der die Traurigkeit im Roman stellenweise überdeckt. Nie wieder hatten Kinder so viel Freiheit, konnten unbeobachtet von den elterlichen Blicken eigene Erfahrungen machen. Das Buch rüttelt einen durch und hinterlässt einen nachdenklich, zutiefst bewegt aber auch mit dem Gefühl ein richtig gutes Buch gelesen zu haben. Daniel Zahno: Mama Mafia Von Theresa Hübner Autorin Harvey kann nicht widerstehen. Nicht den schönen Frauen dieser Welt, nicht dem schnellen Ruhm – und erst recht nicht dem verschwörerisch-funkelnden I-Phone, das da so aufreizend vor ihm liegt im Apple-Store. S. 8 Es dort zu lassen, wäre feige. Die Vorstellung, das Unmögliche zu wagen und es einzustecken, war ungleich reizvoller. Er liebte dieses Herzklopfen und die Kitzel, die sich jedesmal einstellten, wenn er zugriff. Autorin Es ist nicht Harveys erster Diebstahl, wobei das Wort Diebstahl in Harveys Ohren sicher etwas hart klänge – er nennt seine kleinen kleptomanischen Eskapaden lieber „Umverteilung“. S. 8 Natürlich wusste er, dass das Ganze eigentlich nicht ganz richtig war – er stahl. Aber ließ die Firma Apple die Geräte nicht in China zu widerwärtigen Bedingungen herstellen? Mussten die chinesischen Arbeiter nicht unter menschenunwürdigen Umständen Handyteile zusammenbaue, ohne Pinkelund Kaffeepause, zwölf Stunden am Stück? Mit dem gesunden Menschenverstand war die klitzekleine Umverteilung durchaus nachvollziehbar. Autorin Also wird das teure Teil geklaut, bzw. „umverteilt“. Mit diesem kleinen Diebstahl beginnt Daniel Zahno seinen Roman Mama Mafia – und schreibt seinen Hauptdarsteller dann konsequent knapp 250 Seiten lang von einem Schlamassel ins nächste. Harveys I-Phone-Diebstahl wurde beobachtet und wenn die Sache nicht herauskommen soll, muss Harvey eine ordentliche Geldsumme zahlen. Erpressung – und der Erpresser steht schon in Harveys kleinem Single-Apartment. Leider gibt es einen kleinen Unfall, der Erpresser fällt unglücklich – und plötzlich hat Harvey eine Leiche im Wohnzimmer. Statt die Polizei zu rufen verpackt Harvey den Toten in einer Matratze -Wohin damit? - Sein bester Freund Jeff kommt helfen. S. 45 Jeff sah ihn fragend an: „Wie wär's mit einer Müllkippe?“ „Zu riskant. Da strolchen immer Obdachlose herum und suchen nach Brauchbarem. Irgendeiner von denen hat sicher ein Messer dabei und schlitzt das Ding auf.“ Schließlich hatte Jeff eine andere Idee. „Ich kenne einen Schrottplatz in New Jersey. Wir könnten die Matratze dorthin bringen und in einem ausgeweideten Lieferwagen verstecken, der bereit ist für die Schrottpresse. Dann wäre das Ding aus der Welt“ Autorin Leiche, Matratze, Schrottpresse – klingt nach Krimi oder Thriller. Und das ist Daniel Zahnos Roman auch, ein echter Mafia-Thriller – und noch viel mehr. Harvey taucht ein in die New Yorker Unterwelt, in Kreise, die für den kleinen Gelegenheitsdieb und Hobbymusiker eigentlich eine ganze Nummer zu groß sind. Er trifft einen der wichtigsten Mafia-Bosse der Stadt, einen skrupellosen, brutalen Schrank von einem Kerl- heißt „Tony Tangeroli“ heißt der - klar. Tony macht Harvey ein unwiderstehliches Angebot. Er verspricht, seine bisher eher mäßig-erfolgreiche Band die „Raccoons“ zu Musikstars zu machen. Ein lukrativer Plattenvertrag, die ganz große Bühne, kreischende Fans, Ruhm und Reichtum, alles kein Problem - MafiaEhrenwort. S. 89 „Hör zu, Harvey. Ich werde Euch groß herausbringen. Ich habe einen Freund bei Sony Music. Ich werde Sony ein Angebot machen, das sie nicht ablehnen können. Und dann wird für die Raccoons die Post abgehen“ Harvey schluckte. Bei Sony unterzukommen, war ein Traum. Oder der Beginn eines Alptraums? Autorin Bald steckt Harvey tief im New Yorker Mafia Sumpf. Und dieser Sumpf ist groß und blutig. Daniel Zahno führt den Leser quer durch ein New York, das die wenigsten von uns so je erlebt haben dürften. Es geht um die fiesen, dunklen Geschäfte, die die Clans hinter den Kulissen machen. Es geht um Mord und Sex und eine Welt in der die Figuren reden als würde „Der Pate“ persönlich ihnen soufflieren. S. 89 Er zündete sich eine Zigarette an und stieß den Rauch in eleganten Kringeln zum Himmel. „Freundchaft und Respekt sind mir heilig. Für einen Freund tue ich alles. Alles, verstehst du?“ Tony nahm die Sonnenbrille ab und sah ihn eindringlich an. „Bist du mein Nigger?“ Harvey atmete tief ein und aus.“Ich bin dein Nigger, Tony.“ Autorin Solche Dialoge gibt es viele in „Mama Mafia“. Nicht gerade subtil, diese Anlehnungen an Godfather und Co – aber plump sind Zahnos Mafia-Beschreibungen auch nicht. Einem schlechten Autoren würden ich an dieser Stelle Sätze wie S. 139 „Der Don starrte gedankenverloren in den Spiegel hinter den Spirituosen ud zur Loge mit dem Caravaggio, die er für zehntausend Dollar den Abend vermietet – ohne Getränke, versteht sich.“ um die Ohren hauen. Zu pathetisch, zu abgedroschen – aber in Mama Mafia macht diese etwas künstliche Sprache Sinn – und Spaß! Das liegt aber nicht nur an den so schön überzeichneten Mafia-Figuren, mit denen Zahno aufwartet, sondern auch am Hauptdarsteller. Harvey ist nicht das hellste Licht im Leuchter, ein bisschen trottelig könnte man sogar sagen. Er ist kein Draufgänger, kein Kämpfer für das Gute und definitiv kein Held. Aber er ist sympathisch und es macht Spaß ihm zuzugucken wie er wie ein Hundewelpe unter Bulldoggen durch die New Yorker Unterwelt stolpert. Das ist komisch und zu dieser Komik muss man Zahno schon mal gratulieren – oder aber fassungslos den Kopf schütteln – wenn Harvey es auch noch fertig bringt ausgerechnet mit der schönen Freundin des finsteren Mafia Bosses ein Verhältnis anzufangen. S. 161 Tony sah düster in die Ferne. „Ich hatte viel Zeit, um nachzudenken, Harvey. Ich habe mit meinen Leuten gesprochen. Dabei sind mir Dinge zu Ohren gekommen, die mir gar nicht gefallen.“ Harvey zuckte zusammen. „Jennifer hat ein Verhältnis“ Harvey wurde schlecht. Autorin Mama Mafia ist nicht nur ein guter Thriller, sondern auch eine ungewöhnliche Hommage an New York. Gut, vielleicht nicht gerade an das New York, das man als Tourist jemals sehen wird. Selbst als „normaler New Yorker“ wird man wohl kaum wirklich die Strukturen organisierter Kriminalität, die sich, vielleicht so ähnlich wie Zahno es beschreibt, hinter der Oberfläche abspielen. Aber als Leser von Zahnos Roman kommt man definitiv an Schauplätze, die in keinem Reiseführer stehen. Die Gand Central Station ist so einer, dieMüllverbrennungsanlage – oder auch: der New Yorker Schlachthof. Die Szene dort erinnert an Upton Sinclairs sozialkritischen Roman „der Dschungel“ in dem es um die Ausbeutung der Schlachthausarbeiter Anfang des 20. Jahrhunderts geht. Daniel Zahno hat die SchlachthausBeschreibungen, mit denen Sinclair damals einen Skandal auslöste, in Mama Mafia etwas adaptiert: S. 71 Harvey blutete und atmete schwer. Er versteckte sich hinter einer Säule und starrte hinunter in die Halle. Schwein um Schwein kam, mit Gas betäubt, am Hinterbein an der Schlachtbahn aufgehängt, wieder zum Vorschein. Zwischen zwei baumelnden Schweinen hing der Hüne mit einem Fuß an einem Haken und wurde in die Halle transportiert. Er gab röchelnde, qualvolle Laute von sich... Autorin „Mama Mafia“ ist nie langweilig. Genau wie ein guter Blockbuster erzählt Zahno seine Geschichte, nimmt Tempo raus, wo er muss, prescht nach vorne, wo er soll. Er verzichtet auf jedes überflüssige Wort, oder hatte ein Lektorat, was ihm diese bravorös herausredigiert hat. Das Buch versucht nie mehr zu sein als es ist, weshalb Freunde der gepflegten Metaebene hier leider draußen bleiben müssen. Alle anderen werden mit Zahnos Roman viel Freunde haben.
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