SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Wissen
Deutschland und der Völkermord
an den Armeniern
Von Daniel Guthmann
Sendung: Dienstag, 21. Februar 2017, 8.30 Uhr
(Erstsendung, Dienstag, 21. April 2015, 8.30 Uhr)
Redaktion: Udo Zindel
Regie: Maria Ohmer
Produktion: SWR 2015
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MANUSKRIPT
Musik
O-Ton (Hosfeld):
Am 7. Juli 1915 telegrafiert der deutsche Botschafter, Hans von Wangenheim in
Konstantinopel, dem heutigen Istanbul an Reichskanzler Bethmann Hollweg, seiner
Ansicht nach ist es die eindeutige Absicht der osmanischen Regierung, jetzt zitiere
ich wörtlich „die armenische Rasse im türkischen Reiche zu vernichten“. Das ist ein
sehr, sehr eindeutiges und klares Urteil. (…) Das heißt: das Deutsche Reich war
bestens informiert über alle wesentlichen Details dessen, was sich dort abgespielt
hat. Und zwar in der Konsequenz spätestens seit Ende Juni, Anfang Juli 1915.
Die Frage, ob ein Völkermord tatsächlich stattgefunden hat oder nicht, hat sich, nach
meiner Kenntnis der Akten, für die deutsche Reichsregierung spätestens mit dem 7.
Juli 1915 überhaupt nicht mehr gestellt.
Musik
Ansage:
Deutschland und der Völkermord an den Armeniern.
Ein Feature von Daniel Guthmann.
Musik 2 Komitas
Zitator 1:
(Balakian) In der Nacht des 24. April 1915 lagen die armenischen Bewohner
Konstantinopels in friedlichem Schlaf. Sie waren immer noch erschöpft von den
Osterfeierlichkeiten, die einige Tage zuvor zu Ende gegangen waren. In der
Polizeizentrale von Konstantinopel, nicht weit von der Hagia Sophia, herrschte indes
Hochbetrieb. Von hier aus wurde eine von langer Hand geplante, streng geheime
polizeiliche Aktion durchgeführt. Der Befehl der Regierung lautete, alle Armenier zu
verhaften, deren Namen sich auf einer schwarzen Liste befanden.
Erzähler:
Der Priester Krikor Balakian gehörte zu den rund 220 prominenten armenischen
Persönlichkeiten, die in dieser Nacht in der Hauptstadt des Osmanischen Reichs
festgenommen wurden.
Zitator 1:
(Balakian) Sie brachten uns ins zentrale Gefängnis, mit seinen hohen Mauern und
sperrten uns in eine große Holzbaracke im Innenhof. Dort saßen wir auf dem nackten
Fußboden, im fahlen Licht flackernden Öllampen. Wir waren zu fassungslos und
verwirrt, um zu begreifen, was mit uns geschah.
Erzähler:
Balakians autobiografisches Buch „Armenisches Golgatha“ gehört zu den wichtigsten
Augenzeugenberichten über den Völkermord an den Armeniern. Bedauerlicherweise
wurde es bis heute nicht ins Deutsche übersetzt.
2
Zitator 1:
(Balakian) Es war, als hätten sich alle prominenten Armenier der Hauptstadt hier im
Gefängnis zu einer großen Versammlung verabredet. Abgeordnete, Funktionäre,
Schriftsteller, Verleger, Lehrer, Doktoren, Zahnärzte, Bankiers und andere. Manche
erschienen sogar in ihren Nachtkleidern und mit Sandalen.
Erzähler:
Die Verhaftungen in der Nacht des 24. April kamen für die Armenier in
Konstantinopel völlig überraschend. Sie waren jedoch Teil eines geheimen Plans,
der vom innersten Kreis der regierenden Jungtürken beschlossen worden war.
O-Ton (Tessa Hofmann):
Seit Sommer 1914, also noch bevor in Europa der Erste Weltkrieg beginnt, gibt es
die vermutlich entscheidenden Gespräche im Kriegsministerium über die
Vernichtung, über die Ausrottung der Griechen und Armenier.
Erzähler:
Tessa Hofmann hat mehrere Werke zum Völkermord an den Armeniern veröffentlicht
und ist Vorsitzende der „Arbeitsgruppe Anerkennung“ in Berlin.
O-Ton (Tessa Hofmann):
Ab Spätsommer finden dann großmaßstäbig im armenischen Siedlungsraum
Waffenbeschlagnahmungen statt, Hausrazzien. Es kommt da in diesem
Zusammenhang zu zahlreichen Übergriffen und so weiter. Das alles hat sich dem
Kollektivgedächtnis nicht als so gravierend eingeprägt, obwohl es das vermutlich war,
wie die Massenfestnahmen ab dem 24. April 1915 in Konstantinopel. Weil dies ein
regelrechter Elitozid war, also die Vernichtung, die gezielte Vernichtung der geistigen
wie auch der geistlichen Elite des armenischen Volks.
Musik 2
Zitator 1:
(Balakian) Am nächsten Abend, nach Einbruch der Dämmerung, holten uns die
Wärter aus den Baracken. Alle Gefangenen mussten sich auf dem Innenhof
versammeln. Anschließend wurden wir in Gruppen aufgeteilt und zu roten
Militärbussen geführt, die vor dem Gefängnis auf uns warteten.
Mit hoher Geschwindigkeit fuhren die Busse durch die Stadt Richtung Hafen. Als wir
dort ankamen und das Fährschiff sahen, das auf uns wartete, kam Todesangst unter
uns auf.
Erzähler:
Bereits 20 Jahre vor dem Völkermord hatte es im Osmanischen Reich Massaker an
Armeniern gegeben. Bis zu 200.000 Menschen waren damals ermordet worden.
O-Ton (Tessa Hofmann):
Das ganze fällt in eine Herrschaftszeit eines Sultans, Abdülhamid der Zweite, der
etwa 30 Jahre lang sehr reaktionär und autoritär regiert, auch die politische
3
Opposition des Landes unterdrückt, also jetzt nicht nur anti-christlich agiert. Aber da
es zu seinen Grundsätzen gehört, eine panislamische Politik zu führen, sind natürlich
Nicht-Muslime und vor allem Christen ganz besonders betroffen.
Musik 3
Erzähler:
Die Herrschaft der Türken über die Armenier hatte im 14. Jahrhundert begonnen.
Während Turkvölker Kleinasien eroberten, endete das letzte armenische Königreich
Kilikien. Von da an lebten die Armenier, die schon zwei Jahrtausende in dieser
Region gesiedelt hatten, dauerhaft unter Fremdherrschaft. Während die in
Transkaukasien ansässigen Ostarmenier erst unter persischer, dann unter russischer
Herrschaft standen, lebten die Westarmenier unter dem Joch der Osmanen.
O-Ton (Tessa Hofmann):
Das ist eine Politik die sehr bedrückt und insofern wundert es uns dann auch nicht,
dass wir die Armenier oder einen großen Teil von ihnen, in Begeisterung finden, als
die Jungtürken 1908 die Macht ergreifen und 1909 selbigen Sultan absetzen. Sie
führen die osmanische Verfassung von 1876 wieder ein und diese Verfassung
garantiert, zumindest auf dem Papier, eine fast Gleichstellung der Muslime und der
Nicht-Muslime. Es kommt zu begeisterten Aufmärschen in Konstantinopel, wo man
Armenier Seite an Seite mit Jungtürken sieht und es ist eine heftige Illusion, die sich
da verbreitet.
Erzähler:
Im Geheimen verfolgten die neuen jungtürkischen Machthaber einen ganz anderen
Plan. Sie träumten von einem „reinrassigen“ türkischen Staat und hatten es auch auf
die bedeutenden Besitztümer der Armenier und Griechen abgesehen. Der
armenische Historiker Ashot Melkonyan erzählt:
O-Ton (Ashot Melkonyan):
Amborj harze ajn e, vor mez zeraspanezin panturqakan garaparneri irkanazman
npatakov ew ajd chanaparhin xndir drvez arhasarak haj jorovrdin hajrenazrkelu.
Ajsinqn zrkelov hajreniqiz turqere luzum ein panturqakan garaparneri kjanqi
kochume, ajsinqn durs ein galis depi Adrbejan, mijin Asia ev hjusisajin Kovkas. Ew
menq hajtnvezinq djbaxtabar ajd chanaparhin ew mez terutjuneri laraz takardi mej
tujvez haj jorovurde ew zrkvez hajreniqiz
Übersetzer:
Die Jungtürken hatten beschlossen, das armenische Volk aus ihrer Heimat zu
vertreiben. Auf diese Weise wollten sie ihren Traum eines pantürkischen Reichs
verwirklichen, das sich über Kleinasien nach Aserbaidschan und bis hin nach
Zentralasien und den nördlichen Kaukasus ausdehnen sollte. Wir Armenier standen
diesem Traum leider im Wege.
Erzähler:
Der Eintritt in den Ersten Weltkrieg an der Seite des deutschen Kaiserreichs bot den
„Jungtürken“ die einmalige Gelegenheit, ihre Vernichtungspläne gegen die Armenier
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umzusetzen. Dass Ostarmenier für den Kriegsgegner Russland kämpften, nutzte die
türkische Regierung, um die Westarmenier unter den Generalverdacht zu stellen, mit
den Feinden zu kooperieren – auch wenn es dafür keine Indizien oder gar Beweise
gab. In der türkischen Geschichtsschreibung, die den Völkermord bis heute leugnet,
hält sich hartnäckig die Legende, die Armenier hätten eine allgemeine Verschwörung
geplant. Tatsächlich gab es einzelne Aufstände von Armeniern, wie etwa im März
1915 in der Region des Wan-Sees. Diese lokalen Revolten waren jedoch bereits
Reaktionen auf die den Völkermord vorbereitenden Maßnahmen.
O-Ton (Tessa Hofmann):
Die bis heute unterstelle Illoyalität – massenhafte Illoyalität der Armenier – das ist ein
Konstrukt, das davon ausgeht, dass ursprünglich unterworfene Völker, die ja nicht
freiwillig unter Osmanischer Herrschaft standen, unter allen Bedingungen diesem sie
unterdrückendem Regime hätten treu bleiben müssen. Also das ist schon einmal der
falsche Maßstab. In der gegenwärtigen Völkermordforschung setzt sich mehr und
mehr durch, den Betroffenen ein Notwehr-Recht zuzugestehen. Das heißt: Der
Aufstand der Juden im Warschauer Ghetto kann ja auch nicht angesehen werden als
ein Akt der Auflehnung oder der verweigerten Loyalität gegenüber Nazideutschland,
sondern ein berechtigter und begründeter Akt der Selbstverteidigung, ob nun
erfolgreich oder nicht. Ähnlich haben die Armenier das an verschiedenen Orten des
Osmanischen Reichs versucht. In aller Regel erfolglos.
Musik
Erzähler:
Auch die Massenverhaftungen des 24. April standen unter dem Vorwand des
Verdachts auf Hochverrat. Einen Tag später wurden die prominenten Gefangenen
ins Innere Anatoliens verschleppt.
Zitator 1:
(Balakian) Ibrahim, der gefürchtete Polizeichef, trat nach vorn. Er hatte eine Liste in
der Hand und begann, Namen zu verlesen. Diejenigen, die genannt wurden,
mussten aus dem Zug aussteigen und sich auf dem Gleis in eine Reihe stellen.
Insgesamt waren es ungefähr 75 Personen. Wir hielten den Atem an – auch wenn
wir nicht wussten, aus welchem Grund unsere Kameraden von uns getrennt wurden.
Wir umarmten diejenigen, die uns verlassen mussten. Einige weinten. Wir fühlten
instinktiv, dass wir uns nicht wiedersehen würden. Einige Monate später wurden sie
fast alle grausam massakriert.
Erzähler:
Im Mai 1915 begannen im ganzen Osmanischen Reich Deportationen von Armeniern
und anderen nicht-muslimischen Volksgruppen. Die angeblich kriegswichtigen
Deportationen waren in Wirklichkeit Todesmärsche in der sommerlichen Gluthitze.
Viele erlagen den Strapazen, verhungerten oder wurden von Mordkommandos
massakriert. Insgesamt kamen so bis 1917 mehr als eine Million Armenier ums
Leben.
5
Zitator 3:
(Wegner) Eben, da ich diese Zeilen schreibe, bin ich von einem Gang ins Lager
zurückgekehrt. Von allen Seiten schrien Hunger, Tod, Krankheit Verzweiflung auf
mich ein. Geruch von Kot und Verwesung stieg auf. Aus einem Zelte klang das
Wimmern einer sterbenden Frau.
Erzähler:
Als Bündnispartner der Osmanen mit hoher Präsenz vor Ort war das deutsche
Kaiserreich über sämtliche Vorgänge bestens informiert. Deutsche Soldaten wie
Armin T. Wegner wurden zu Augenzeugen des Leids der Flüchtlinge und der Spuren
der Massaker.
Zitator 3:
(Wegner) Ich gehe im Dunkel an den Fluss hinunter. In einer Schlucht finde ich einen
Haufen übereinander getürmter Menschengerippe. Weiße Schädel, die noch mit
Haaren bedeckt sind, ein Becken, die Brustrippe eines Kindes, zierlich gebogen wie
eine Spange. Einen Augenblick überkommt mich eine dumpfe Verzweiflung, die mir
die Tränen in die Augen treibt, als müsste ich alle Hoffnungen, alle Keime der Liebe
vernichten, die mich je an das Lebendige banden.
Erzähler:
Bereits am 17. Juni 1915 berichtete der deutsche Botschafter Hans Freiherr von
Wangenheim an Theobald von Bethmann Hollweg:
Zitator 2:
(Wangenheim) Die Austreibung der armenischen Bevölkerung aus ihren Wohnsitzen
in den ostanatolischen Provinzen wird schonungslos durchgeführt. An einzelnen
Stellen ist es schon während ihrer Überführung zu Ausschreitungen gekommen. Die
von Diarbakir nach Mossul abgeschobenen Armenier sollen unterwegs sämtlich
abgeschlachtet worden sein. Dass die Verbannung der Armenier nicht allein durch
militärische Rücksichten motiviert ist, liegt zutage.
Erzähler:
In seinem Buch „Beihilfe zum Völkermord“ erzählt der Journalist Jürgen Gottschlich
die Geschichte der deutschen Mitverantwortung.
O-Ton (Jürgen Gottschlich):
Weil die Armenier mit den Russen kollaborieren und deswegen die Türkei
schwächen und damit unseren Bündnispartner schwächen, und deshalb können wir
nicht zuschauen, sondern müssen die Ausschaltung der Armenier unterstützen. Das
macht sich fest bei Bronsart, der an der Ausarbeitung der Deportationspläne beteiligt
war und der auch in seiner Funktion als Generalsstabschef dann darauf geachtet hat,
dass diese Deportationen zügig durchgeführt werden.
Erzähler:
Einer der eifrigsten deutschen Befürworter des Völkermords war der Marineattaché
Hans Humann. Der Sohn von Carl Humann, dem Entdecker des Pergamon-Altars,
war bereits seit Jahren mit dem osmanischen Kriegsminister Enver Pascha eng
befreundet.
6
O-Ton (Jürgen Gottschlich):
Hans Humann war sozusagen ein deutsch-türkischer Einflussagent, der an den
entscheidenden Punkten saß und auch damals schon, vom damaligen USBotschafter Morgenthau (…) als der einflussreichste Deutsche in Konstantinopel
eingeschätzt worden war.
Erzähler:
Am 15. Juni notiert Hans Humann:
Zitator 2:
(Hans Humann) Die Armenier werden – aus Anlass ihrer Verschwörung mit den
Russen – jetzt mehr oder weniger ausgerottet. Das ist hart, aber nützlich. Der
Botschafter kann leider, sehr zum Nachteil unserer Politik, das Lamentieren darüber
nicht lassen. Innenminister Talaat Bey hat ihm neulich auf entsprechende
Vorhaltungen seelenruhig geantwortet: Wir entledigen uns der Armenier, um bessere
Bundesgenossen für euch zu werden.
Erzähler:
Doch manche Deutsche sahen das ganz anders: Der evangelische Pastor Johannes
Lepsius versuchte die Öffentlichkeit im Kaiserreich auf die Vernichtung der Armenier
aufmerksam zu machen. Lepsius hatte bereits 1897 – als Reaktion auf die Massaker
unter Sultan Abdülhamid – das „Armenische Hilfswerk“ gegründet.
O-Ton (Rolf Hosfeld):
Lepsius war im Sommer 1915 in Istanbul. Diese Reise ist beschrieben in dem Roman
von Franz Werfel, die 40 Tage des Musa Dagh, und ist auch eine authentische
Begebenheit.
Erzähler:
Der Schriftsteller und Kulturhistoriker Rolf Hosfeld leitet das Lepsius-Haus in
Potsdam.
O-Ton (Rolf Hosfeld):
Lepsius war insofern wichtig, weil er hat enormes Material gesammelt auf dieser
Reise, (…) durch Einsicht in Akten der deutschen Botschaft, die er allerdings nicht
abschreiben durfte, konnte er sich nur geheim Notizen machen und durch Einsicht
der Akten der amerikanischen Botschaft, wo ihm Henry Morgenthau auch erlaubt hat,
Dinge zu kopieren.
Zitator 3:
(Lepsius) Aufgrund von Quellen hatte ich im Jahre 1916 einen Bericht über die Lage
des armenischen Volkes in der Türkei herausgegeben. Eine Verbreitung durch den
Buchhandel oder auch nur eine Verwertung der Tatsachen, die er enthüllte, in der
Presse, war damals nicht möglich. Die Zensur hätte das Buch beschlagnahmt.
O-Ton 15 (Rolf Hosfeld):
Lepsius hat diesen Bericht (….) mit Hilfe von Freunden und seiner Familie über das
ganze Reich –in erster Linie in Kreisen der evangelischen Kirche und dann einige
7
Meinungsträger in Politik und Presse verteilen lassen. Das ist ein enormer Akt von
Zivilcourage (…), der sicher nicht mit den gleichen Gefahren verbunden gewesen ist
wie das im Dritten Reich der Fall gewesen wäre (…) aber es hatte zur Konsequenz,
dass man mit dem Gedanken spielte, ihm den Pass zu entziehen und er hat sich
dem selbst entzogen, indem er rechtzeitig ins Exil nach Holland ging, wo er den Rest
des Krieges gelebt hat.
Musik
Erzähler:
Nicht alle deutschen Entscheidungsträger in Konstantinopel befürworteten den
Völkermord allerdings, oder standen ihm gleichgültig gegenüber. Der
Oberbefehlshaber der deutschen Truppen, General Liman von Sanders, hielt in
Smyrna – dem heutigen Izmir – seine schützende Hand über die Armenier. Nach
dem Tod Hans von Wangenheims im Oktober 1915, versuchte sein Nachfolger Graf
Metternich zur Gracht, sich ernsthaft für die Armenier einzusetzen. Jedoch wurde er
von Reichskanzler Bethmann-Hollweg zurückgepfiffen. Harry Stürmer, zu dieser Zeit
Korrespondent der Kölnischen Zeitung in Konstantinopel, kam rückblickend zu der
Auffassung:
Zitator 3:
(Harry Stürmer) Die Haltung Deutschlands war eine grenzenlose Feigheit, denn wir
hatten die türkische Regierung fest genug in der Hand, sowohl vom militärischen als
auch finanziellen und politischen Standpunkt aus, um auf der Einhaltung der
einfachsten Grundsätze der Menschlichkeit bestehen zu können, falls wir es gewollt
hätten.
O-Ton (Rolf Hosfeld):
Wahrscheinlich hätte das Deutsche Reich eine ganze Menge mehr machen können.
Erschreckend ist die moralische Gleichgültigkeit, mit der die deutsche Politik die
Ereignisse im Osmanischen Reich beurteilt hat. Man hat das, wie alles im Krieg, im
Grunde den Kriegszielen untergeordnet.
O-Ton (Tessa Hofmann):
Deutsche Außenpolitik blieb – und ist bis heute – eine Realpolitik, mit allem, was
dazu gehört. Und das wurde damals sehr unverblümt ausgesprochen, ja und insofern
waren die Armenier sich selbst überlassen, im wörtlichen Sinne. Nach dem Ersten
Weltkrieg – und das ist vielleicht das zweite große Versagen Deutschlands in der
jungen Weimarer Republik – man hätte ja nun aufarbeiten können, man hätte sich
auseinandersetzen können mit dieser Art der Kriegsschuld und Kriegslast, aber das
tat man nicht.
Erzähler:
1919 fanden in Konstantinopel Prozesse gegen die Führer des jungtürkischen
Regimes statt. Die Hauptverantwortlichen für den Völkermord, Kriegsminister Enver
Pascha, Innenminister Talaat Pascha und Marineminister Djemal Pascha wurden in
Abwesenheit zum Tode verurteilt. Alle drei konnten rechtzeitig fliehen – nach
Deutschland. Ihre Auslieferung an die Türkei wurde verweigert.
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O-Ton (Jürgen Gottschlich):
Dahinter stand auch das Kalkül, dass man nicht wollte, dass die drei angeklagt
werden in Kriegsverbrecherprozessen, die ja dann in Istanbul 1919 stattgefunden
haben und womöglich dann Aussagen über die deutsche Position dazu, also dass
sie von den Deutschen nicht daran gehindert wurden, sondern mindestens von den
entscheidenden Militärs dabei unterstützt worden sind.
Erzähler:
Am 15. März 1921 wurde der ehemalige Innenminister des Osmanischen Reiches,
Talaat Pascha, auf der Berliner Hardenbergstraße erschossen. Der Attentäter war
ein junger Armenier, Soghomon Tehlirian. Er war Mitglied einer armenischen
Racheorganisation, der „Operation Nemesis“. Dieser Hintergrund war jedoch nicht
bekannt, als einige Monate später der Gerichtsprozess gegen Tehlirian stattfand.
Der Schriftsteller und Fotograf Armin T. Wegner, selbst ein wichtiger Augenzeuge
des Völkermords, beobachtete den Prozess.
Zitator 3:
(Armin T. Wegner) In einer merkwürdigen Umkehrung der Verhältnisse geschieht es,
dass der Angeklagte, ohne in diesem Sinn selbst ein Wort zu äußern, alleine durch
die Wucht der hinter ihm stehenden Tatsachen zum Ankläger wird, und dass nicht
mehr Soghomon Tehlirian auf der Anklagebank steht, sondern der blutbefleckte
Schatten eines Toten.
O-Ton (Tessa Hofmann):
Da im Hintergrund ist auch das Strippenziehen des Auswärtigen Amtes, des
preußischen Justizministeriums. Beiden ist nicht daran gelegen, dass dieser Prozess,
wie die Staatsanwaltschaft befürchtete, ein Monsterprozess wird. Es sollte möglichst
unauffällig von statten gehen und deshalb verlegte man sich prozessstrategisch
darauf, das Verfahren zu subjektivieren: ist der Angeklagte überhaupt schuldfähig
oder war er im Augenblick der Tat so psychisch gestört, dass er nicht
zurechnungsfähig gemacht werden kann. Und für letzteres entschied man sich, so
entschied auch die Jury.
Erzähler:
Das Gerichtsverfahren wurde in nur zwei Tagen abgewickelt und der freigesprochene
Attentäter sofort ins Ausland abgeschoben. Bevor sie richtig angefangen hatte,
endete in Deutschland damit die Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den
Armeniern. Und zwar für sehr lange Zeit.
O-Ton (Rolf Hosfeld):
Die Armenier sind tatsächlich, man kann sagen ungefähr ab 1923 von der
internationalen Öffentlichkeit vergessen worden. Nach dem Krieg wurde viel über das
armenische Schicksal geredet, ab 1923 / 24 erstaunlicherweise kaum noch. Und ich
glaube, das hat sehr viel mit dem ersten Kalten Krieg zu tun, es hat etwas damit zu
tun, dass Armenien plötzlich nur noch als Teil der Sowjetunion wahrgenommen
wurde und man deshalb in diesen Frontlinien gedacht hat. Dann kam die Nazizeit, es
kam der Zweite Weltkrieg und so weiter. Zum ersten Mal wurde das wieder ein
Thema 1965 mit dem 50. Jahrestag des Genozids.
9
Erzähler:
Seither haben die meisten zivilisierten Staaten den Völkermord an den Armeniern
anerkannt. Dennoch ist der lange Kampf der Armenier um Gerechtigkeit noch längst
nicht ausgefochten. Auch 100 Jahre nach den Geschehnissen ist der türkische Staat
nicht bereit, seine historische Schuld gegenüber den Armeniern einzugestehen. Die
Angst vor berechtigten Reparationsansprüchen könnte dabei eine Rolle spielen. Der
armenische Historiker Ashot Melkonyan sagt:
O-Ton (Ashot Melkonyan):
Menq exerni paragajum korzrezinq 66 qarax, 2.500 gjur,1350 ekerezi ew wanq.Ew
endvorum njutakan mschakujte ete kareli e inch vor zewow gnahatel hogevor ajn
korustnere, mer zeragrere, huscharzanere voronq hjurhawitjan koran, gnahatel
hnaravor che, arawel ews hajreniqe ches karox gnahatel.
Übersetzer:
Durch Völkermord und Vertreibung haben wir insgesamt 66 Städte, 2500 Dörfer,
1350 Kirchen und Klöster verloren. Darüber hinaus auch Kulturschätze wie
Manuskripte, Handschriften und Denkmäler, die unwiederbringlich verschwunden
sind. Der unschätzbarste Verlust ist natürlich der unserer Heimat.
Erzähler:
Trotz seiner historischen Mitverantwortung übte Deutschland lange Zeit keinen
ernsthaften Druck auf die Türkei aus, den Völkermord anzuerkennen. Damit setzte
die Bundesrepublik im Grunde die Politik des Kaiserreiches fort.
O-Ton (Rolf Hosfeld):
Man hat natürlich immer die Vorstellung gehabt, man braucht die Türkei. Die Türkei
war ein wichtiger Bündnispartner im Kalten Krieg, das spielte eine große Rolle und
erst mit dem Ende des Kalten Krieges und mit dem Beginn der Diskussion über die
Schritte zur Aufnahme der Türkei in die Europäische Union ist auch dieses Thema
schrittweise immer wieder in die Öffentlichkeit geraten, in Deutschland, aber auch im
Europäischen Parlament.
Musik
Erzähler:
Während das Europäische Parlament 1986 eine glasklare Resolution zum
Völkermord an den Armeniern verabschiedet, dauert es in Deutschland fast 20 Jahre
länger, bis überhaupt etwas geschieht. In seiner Resolution vom Juni 2005 vermeidet
der Bundestag, den Völkermord eindeutig als solchen einzuordnen. Ausweichend
heißt es in der Resolution:
Zitator 2:
(Resolution) Den Deportationen und Massenmorden fielen nach unabhängigen
Berechnungen über 1 Million Armenier zum Opfer. Zahlreiche unabhängige
Historiker, Parlamente und internationale Organisationen bezeichnen die Vertreibung
und Vernichtung der Armenier als Völkermord.
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O-Ton (Tessa Hofmann):
Es hätte zu einer juristisch qualifizierten Bewertung der Vorgänge kommen müssen
und zwar nicht nur als Zitat der Mehrheitsmeinung in der Wissenschaft, sondern als
Beurteilung des Bundestages. Also der Bundestag hätte schon sagen müssen, wie
er juristisch Vertreibung und Massaker unter diesen Umständen wertet. War das ein
Völkermord im Sinne der UN-Konvention oder nicht?
Erzähler:
Als Mitbegründerin der „Arbeitsgruppe Anerkennung“ hat sich Tessa Hofmann fast
zwei Jahrzehnte lang intensiv für einen klaren Beschluss des Bundestags eingesetzt.
Aber erst 2015, als der 100. Jahrestag des Völkermords an den Armeniern eine
umfassende gesellschaftliche Debatte anstößt, kommt wieder Bewegung in dieses
Thema. Am 2. Juni 2016 verabschiedet der Bundestag mit großer Mehrheit eine
neue Resolution, in der die Deportationen und Massenmorde, von nun an ohne
Wenn und Aber, als Völkermord bewertet werden.
O-Ton (Rolf Hosfeld):
Ich glaube, dass das Problembewusstsein über die Verbrechen im Osmanischen
Reich heute in den westlichen Staaten so groß ist wie es bisher noch nie gewesen ist
und ich glaube, dass sich das auch eher weiterentwickeln wird.
Erzähler:
Die Anerkennung des Völkermords durch ihren wichtigsten europäischen Partner ist
ein harter Schlag für die Regierung Erdogan. Die Allianz der Staaten, die von der
Türkei fordern, ihre grausame Vergangenheit aufzuarbeiten, ist nun noch größer.
Den in Deutschland lebenden Türken und den Deutschen türkischer Abstammung
könnte in der weiteren Diskussion eine wichtige Rolle zufallen.
O-Ton (Rolf Hosfeld):
Es gibt natürlich türkische Nationalisten in Deutschland, es gibt türkische Islamisten
in Deutschland, die zu dieser Frage eine klare negationistische Haltung beziehen, es
gibt aber auch eine Menge Leute, die eine klare Position beziehen und wissen, dass
dort ein Genozid begangen worden ist und sich auch offensiv dafür einsetzen, dass
man offen darüber redet.
Erzähler:
Solange die Türkei ihre historische Schuld nicht anerkennt, bleibt der armenische
Völkermord eine offene Wunde. Nicht nur für die Armenier, sondern für die gesamte
Menschheit.
*****
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