Fantasien - Goethes Faust

Daniel Seefeld
Fantasien
Euphorions Wandlung …………………1
Subversion im Himmel ………………. 15
Stoffwechsel ………………………….. 29
Euphorions Wandlung
Ich bin Arbeiter in den Fohrkoppssümpfen. Fohrkopps, (das "o" ist offen, wie in "Forke")
Fohrkopps, das ist unser Grundnahrungsmittel, eine nahrhafte aber recht fade schmeckende Wurzel,
die nur in sumpfiger Erde gedeiht.
Ursprünglich war unser Landstrich ein idyllisches sanftes Hügelland mit Seen in den
Niederungen. Die Hügel trugen Obstbäume, zwischen denen Rinder weideten. Doch nach und nach
hatten auf Geheiß der Händler Generationen von Bauern die Hügel abtragen und damit die Seen
auffüllen müssen, um weitere Anbauflächen für Fohrkopps zu schaffen. So entstand diese sumpfige
Ebene, die sich von Horizont zu Horizont hinzieht. Es gibt keine Hügel mehr, außer denen, auf
denen die Schlösser der Händler stehen, und keine Seen, außer in den ausgedehnten Schloßparks,
die aber für uns unzugänglich sind und durch hohe Mauern den Blicken entzogen. Im Süden der
Ebene ist der Horizont verstellt durch den Urwald. Kaum jemand wagt sich da hinein. Dort gibt es
Schwertechsen, flinke Reptilien, die an jeder Klaue eine schwertartige Kralle besitzen. Oder
Mumpfkrappse: mannsgroße hirnlose Riesenweichtiere, die wie ein Gummi aus getarnten
Erdhöhlen hervorschnellen, ihr Opfer blitzschnell mit schleimigen Lappen umwickeln und sofort
verdauen.
Man hat versucht, Wald zu roden, zwar ist der Boden zu trocken und zu felsig, um Fohrkopps
anzubauen, aber man wollte das Holz verkaufen. Doch kaum waren die Bäume weg, schoß der
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Seuchzergerich ins Kraut: ein gegen alles immunes Unkraut, das die Anbauflächen sofort mit
Unmengen von Samen überzog und die Ernte eines Jahres fast ganz vernichtete. Im Gegensatz zu
den Sümpfen, in denen es nur sehr oberflächlich wurzeln kann, wurzelt es im Waldboden so tief,
dort ist ihm nicht beizukommen, nur die Bäume halten es klein, sie entziehen ihm die Nahrung.
Hastig wurde die gerodete Stelle wieder aufgeforstet, und seitdem rührt man den Wald nicht mehr
an.
Fast alle Einwohner der Ebene sind Fohrkoppsbauer. Nur im Umkreis der Schlösser gibt es noch
ein paar Beamte, Bewaffnete und Bediente. Wie die meisten, arbeite ich für einen Hungerlohn auf
den Feldern, die alle den Händlern gehören. Tagaus- tagein, teilweise über 14 Stunden, stehen wir
barfuß im Dreck und beseitigen Dreppelweben, das sind pflanzenfressende Wurzelgeflechte, die
den ganzen Sumpf netzartig durchziehen, schnell nachwachsen und sich von Fohrkopps ernähren.
Das Wurzelziehen ist ein öder, langweiliger Job, bei dem man zwar alt werden kann, bei dem man
aber auch blöd wird. Der Lohn reicht gerade, um die Hütten, die Kleidung und den Hausrat in Stand
zu halten. Zu essen gibt es fast nur Fohrkopps. Viehhaltung ist verboten, denn dafür müßte ein
Stück Sumpf trockengelegt werden, auf dem dann kein Fohrkopps mehr wachsen kann. Unsere
Gegend hat Glück, sich so nahe am Urwald zu befinden. Da verirrt sich manchmal ein Urwaldtier in
den Sumpf, das wir heimlich jagen und schlachten. Eigentlich müssten wir es den Händlern
abgeben, denn sie betrachten alles, was auf ihre Felder gerät, als ihr Eigentum, denn es sind ja ihre
Felder. Aber es ist ein Fest, einmal Fleisch zu essen zu bekommen.
Es gibt viele Kinder hier, denn Verhütung und Abtreibung sind verboten und werden streng
bestraft. Die Händler fürchten, daß Arbeitskraft zu wertvoll wird, wenn es weniger Arbeiter gibt,
und dadurch die Arbeiter zu mächtig. Außerdem brauchen sie die überzähligen Jungen für ihre
Kriege, mit denen sie weitere Fohrkopps-Anbauflächen erobern wollen. Die überzähligen Mädchen
werden als Dienstboten in die Städte vermietet und bringen den Händlern zusätzliche Profite. - Die
Kinder müssen mithelfen beim Reinigen und Konservieren der Fohrkoppswurzeln. Da die Händler
sich für zivilisiert halten, brauchen die Kinder aber nur 6 Stunden am Tag zu arbeiten. Den
Erwachsenen ist das ganz recht, denn sie haben kaum Zeit für ihre Kinder. Und außer den
traditionellen Heimlichkeiten sind sie duckmäuserisch und trauen sich nicht, den Weisungen der
Händler und ihrer Büttel etwas entgegenzusetzen. - Mein Vater war ein besonderer Schleimer. Er
arbeitete mehr als gefordert und verriet uns, wenn wir Heimlichkeiten hatten. - Meine Mutter
machte einen ständig frustrierten Eindruck, vermutlich, weil sie wenig von ihrem Mann hatte, der
entweder arbeitete oder erschöpft war oder schimpfte. So wird sie sich als junge Frau ihr Ehe- und
Familienleben nicht vorgestellt haben.
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Das Schlimmste ist die Öde, der Stumpfsinn, die Langeweile. Ich war kaum 13, da kam mir
unser Leben vor, wie vergeudet, ungelebt, sinnlos, und keiner Mühe wert. Ein Jahr später hielt ich
die Aussicht, das ganze Leben so geduckt, ausgebeutet und einförmig zu verbringen, nicht mehr
aus. Die Furcht vor dem Urwald verblasste vor seinen Verheißungen: Was war schon eine
Schwertechse gegen die Schätze der sagenhaften Goldenen Höhle? Und was ein Mumpfkrapps
gegen die Heilsteine aus dem Schwarzen See, von denen es hieß, daß sie in der Hand, die sie vom
Boden des Sees holte, alle Krankheiten heilen, alle Schmerzen tilgen und den Körper jugendlich bis
ins hohe Alter halten konnten? Allerdings hieß es auch, er sei so tief, daß man ein halbes Leben lang
tauchen üben müsse, um seinen Grund zu erreichen. - Mit meinen Eltern brauchte ich über meinen
Abscheu vor der Öde erst gar nicht zu reden. Sie hätten das nur als "Flausen" abgetan und mich
aufgefordert, "auf den Boden der Tatsachen" zurück zu kommen. - "Der Boden der Tatsachen": daß
ich nicht lache! Das ist bei uns ein Sumpf! - Auch die andern Erwachsenen hatten kein Ohr für das,
was mich bewegte: Immer wurde mir aufgezählt, wer schon alles im Urwald umgekommen sei und
wie armselig, angstvoll und hungrig die waren, die es schafften, dort länger zu überleben; wie sie
ständig wie Flüchtlinge vor den Raubtieren auf der Hut sein mussten und sich fast nur von wilden
Beeren, Gräsern und Wurzeln ernähren konnten; wie furchtbar die Winter seien und wie viele nach
einiger Zeit als Krüppel zurückgekommen und ihres Lebens nicht mehr froh geworden waren zumal sie sich auf Jahrzehnte verschuldet hatten, weil die Händler den Arbeitsausfall vom Lohn
abzogen und eine hohe Geldstrafe auferlegten. Denn in den Urwald zu gehen, war verboten – und es
ist immer noch verboten. Seine Gefahren erscheinen den Händlern nicht abschreckend genug. Sie
fürchten, daß zu viele Arbeiter ihr Glück im Urwald versuchen könnten und nicht zurück kämen.
Deshalb verbreiten sie nach wie vor auch die Behauptung, die, die im Wald lebten, seien Hexer,
denn ohne Zauberkräfte sei es nicht möglich, auch nur einen Tag und eine Nacht im Wald zu
überleben. Und die Hexer seien böse, denn ein guter Mensch müsse nicht in den Urwald flüchten.
In der Tat: der Hunger treibt die Hexer oft aus dem Wald, um Fohrkopps von den Feldern zu
stehlen. Deshalb darf man sie auch straflos totschlagen. Unter uns Arbeitern gilt das jedoch als
Verbrechen, denn die Hexer sind welche von uns, die das harte Leben auf einem Urwaldflecken der
Knechtung durch die Händler vorziehen.
Die Hexer leben nur im Randbereich des Waldes, wo es noch nicht so viele, und kaum
unbekannte Gefahren gibt. Tiefer im Wald können nur die Heiler überleben, die Meister des Waldes.
Sie gelten als heilige Eremiten, die es schon länger gebe als die Fohrkoppsfelder. Einige Heiler sind
berühmt, weil sie öfter aus dem Urwald kommen und viele Kranke heilen, manche nur Arbeiter,
manche nur Händler, manche machen keinen Unterschied. Im Gegensatz zu den Hexern sind sie
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waldkundig, denn sie sind schon im Wald bei Heilern aufgewachsen. Auf ihren Wanderungen durch
unsere Ebene suchen die Heiler sich nämlich unter unseren Kindern 5 bis 7 jährigen Jungen und
Mädchen als Schüler und Nachfolger. Die Händler dulden das und die meisten Eltern freuen sich,
wenn eines ihrer Kinder erwählt wird. - Die Heiler kennen weit mehr Gefahren des Waldes als alle
anderen, und wissen mit ihnen fertig zu werden. Sie kennen auch weit mehr Kräuter, Früchte und
Wurzeln, und es heißt, sie würden heilige Orte kennen, an denen es keine Gefahr gebe.
Außer in den Wald hätte ich natürlich auch in die Städte gehen können. Aber als ich mich
umhörte, hieß es, Männer würden dort wie Sklaven in dunklen Hallen voll ohrenbetäubenden
Getöses und staubiger Luft für einen Hungerlohn Maschinen bedienen, eine Arbeit, noch eintöniger
als Dreppelweben ziehen. Und man lebe zu Dutzenden zusammengepfercht in engen, feuchten,
finsteren Mietskasernen, der Blick eingekerkert in Mauern, die ein endloses Gewirr von Höfen und
Straßen bildeten, so daß man vom Himmel immer nur einen Fleck oder einen Streifen sehen könne.
- In der Tat waren fast alle jungen Männer, die es versucht hatten, zurückgekommen, und von
denen, die nicht zurückgekommen waren, wurde gesagt, sie seien tot oder säßen im Kerker.
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Mit 14 riß ich das erste Mal aus. Ich wollte lieber die Nahrung einer Schwertechse sein, als
Händlersklave. Doch ich wurde von einem Hexer zurückgebracht. Seitdem glaubte auch ich, daß
Hexer böse seien. - Ich riß öfter aus, auch wenn ich dafür jedes Mal ein paar Tage in den Karzer
gesperrt wurde, ein finsteres Loch, in dem einen die Dunkelheit und die Langeweile fast
umbrachten. - Meine Fluchtversuche in den Wald beendete ich nach dem ersten Mal immer selber.
Die Angst um mein Leben trieb mich hinaus - doch nach einiger Zeit auch wieder hinein. War ich
im Wald, erfüllte mich das Gewirr von Geräuschen und Tierstimmen mit Furcht, denn ich konnte es
nicht deuten, und mehrmals glaubte ich schon, einer Echse oder einem Krapps ausgeliefert zu sein,
und merkte, was mir mein Leben wert war. Aber wenn ich wieder ein paar Monate in den Sümpfen
verbracht hatte, war die Angst vor dem Dschungel verblasst, die Angst, mein Leben zu verpassen
aber wieder bis zur Unerträglichkeit gesteigert.
Mit 16 wurde ich vernünftiger und versuchte, mich mit einem Leben in den Fohrkoppssümpfen
abzufinden. Doch mehr und mehr quälte mich ein Unbehagen, dem ich zunächst nicht soviel
Bedeutung beigemessen hatte:
Die einseitige Ernährung hat Auswirkungen auf unser Wachstum. Frauen bekommen dadurch
Tendenzen zu kurzen Beinen, breiten Becken und hängenden Brüsten, Männer zu schmalen
Schultern und dicken Bäuchen mit langen Armen und runden Gesichtern. Wie anders sehen die
Töchter und Söhne der Händler aus! Die Mädchen gazellenschlank mit langen Beinen, hübschen
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kleinen Pos und festen kleinen Brüsten, die Jungs hochgewachsen, breitschultrig und mit markanten
Gesichtern. Hat man einmal eine jener Händlerprinzessinnen gesehen, ist es schwer, sich in eines
unserer Mädchen zu verlieben. Zumal die schöneren unserer Schönen meist versuchen, nach oben
zu heiraten: mindestens einen Bedienten, aber besser noch einen Beamten oder gar einen
Händlersohn. Doch gilt das unter uns als Verrat. - Tja, unsere Mädchen ließen mich fast alle kalt.
Und die, die mich nicht kalt ließen, waren Gegenstand der bittersten Konkurrenzkämpfe unter uns
Jungs, und dafür hatte ich leider nicht die beste Ausstattung. Ich war zäh und hartnäckig, aber weder
schnell noch stark, noch einer jener Neunmalklugen, die eine Chance hatten, nicht als
Fohrkoppsbauern zu versauern.
Mein Entschluß, wieder in den Urwald zu gehen, und diesmal richtig, hing natürlich mit einem
Mädchen zusammen: mit Marva. Marva war einfach Klasse! Sie war herzensgut und sah total süß
aus, trotz aller Merkmale der Fohrkoppsesser. Denn diese Merkmale waren bei ihr nur schwach
ausgeprägt und wurden nicht nur durch ihr Wesen geadelt - wie ja oft etwas Unschönes, wie z.B.
eine zu große Nase, bei Manchen schön erscheint, weil sie ihm Charakter geben - nein, bei Marva
war alles auch viel proportionierter als bei den anderen unserer Mädchen, so daß sie selbst
gegenüber den Prinzesschen in manchen Aspekten vorteilhafter wirkte, z.B. wegen des weiblicheren
Schoßes und den üppigeren Brüsten. Und ihre Schönheit wirkte um so liebenswürdiger, weil sie
davon überrascht worden war: Sie hatte nie als besonders hübsches Kind gegolten, sie war also von
klein an davon ausgegangen, nicht hübscher zu werden als die andern Mädchen und hatte andere
Lebensziele entwickeln können, als das, schön zu sein. - Doch dann wurde sie auf einmal immer
schöner, und wir Kerls fingen an, immer heftiger um sie zu konkurrieren. Das mochte sie gar nicht,
ja sie fand es abstoßend. Aber - wer könnte es ihr verdenken - heimlich auch faszinierend.
Ich sagte ja schon: ich hatte nicht die besten Voraussetzungen zum Balzen. Es gab Stärkere,
Tüchtigere, Flinkere und Klügere als ich. Dennoch war ich unter Marvas Favoriten. Das lag daran,
daß ich entschiedener war, manche sagten auch: unverschämter. Während andere z.B. noch
überlegten, ob sie wirklich angreifen sollten, griff ich schon an. Ich riskierte einfach, hinterher als
jemand dazustehen, der nicht angemessen reagiert hatte. Auch nutzte ich fiese Tricks, aber instinktiv
sehr wählerisch und gemessen. So trat ich z.B. nie jemanden zwischen die Beine, das hätte einfach
bloß als feige gegolten, als unredlich und heimtückisch. Und bei den anderen, weniger absoluten
Tabus, überschritt ich nur ein wenig die Grenze, nur so viel, daß meine Zurückhaltung bei der
Verletzung des Tabus zeigte, daß ich es im Prinzip respektierte, und die klammheimliche
Bewunderung meines Mutes, so gewagt damit umzugehen, größer war, als die Empörung. - Keine
Ahnung, woher ich die Begabung habe, instinktiv genau zu wissen, wie weit man zu weit gehen
darf. Jedenfalls galt ich dadurch als jemand mit Schneid und eigenem Kopf, und ich hatte schon so
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manchen Stärkeren und Flinkeren aufs Kreuz gelegt. - Außerdem kam meinem Ruf zu statten, daß
ich mehrmals in den Urwald abgehauen und dafür mit Karzer bestraft worden war. Ich rechnete mir
also Chancen aus bei Marva. - Aber obwohl sie nie unfreundlich war, schien sie immer
angewiderter von unserem Gerangel und ging schließlich einfach weg. Sie ließ sich von den
Händlern als Dienerin anheuern in den großen Städten, und es war klar, daß wir sie nie wieder
sehen würden, es sei denn als Besuch. - Wenn sie wenigsten ihre Chance genutzt hätte, einen ihrer
vielen Verehrer unter den Händlersöhnen zu erwählen! Materiell wäre sie auf diesem Wege viel
schneller viel besser gestellt gewesen. Denn als Dienerin in den großen Städten, das war ein hartes
Los. - Gnädiger wäre gewesen, Verräterin zu werden, dann hätte sie nicht so vielen Kerls das Herz
gebrochen. Und mir auch nicht.
Nach Marva hielt mich nichts mehr in Sümpfen. Es schien mir nicht viel verloren, sollte ich im
Urwald umkommen, aber alles gewonnen, sollte ich dort mein Glück machen. - Die Gefahren im
Wald sind groß und unberechenbar. Auf den Feldern geschieht einem erwachsenen Mann vielleicht
alle 10 Jahre mal ein nennenswerter Unfall. Im Urwald kann jeden Tag etwas geschehen, das mit so
einem Unfall vergleichbar ist, und jedes fünfte Geschehnis ist tödlich. Und diese Rechnung gilt nur
für erfahrene, fähige Urwaldgeher, wie die Hexer, die Gefahren rechtzeitig erkennen und sich
dagegen zu wehren wissen. Aber selbst für die ist das Überleben Glücksspiel. Die Mumpfkrappse
z.B.: Zwar gibt es glücklicherweise von denen nur wenige. Im Innern des Urwaldes trifft man nur
etwa einmal pro Woche auf einen, und nur etwa jeder zweite hat gerade Hunger. Ungeübte können
von 10 Mumpfkrappsen vielleicht zwei rechtzeitig erkennen, Hexer fünf, und selbst Heiler nicht
immer alle. - Ich hatte das Interesse am Wald nie verloren und wo immer ein Hexer in die Sümpfe
gekommen war, hatte ich mit ihm gesprochen. So bildete ich mir ein, etwas besser als die anderen
den Gefahren gewachsen zu sein, und vielleicht keine 5 aber 3-4 Mumpfkrappse von zehnen zu
erkennen. Und mit jedem einmal erkannten würde meine Fähigkeit wachsen, auch andere zu
erkennen... Auch Schwertechsen sind selten, auch Nachtvulper, auch Schnappschweinrudel und die
gefürchteten Tschirpelschwärme, kleine fleischfressende Singvögel, bei denen es selbst für das
gefährlichste Wesen kein Entrinnen gibt. Dazu kommen die Fleischfressenden Pflanzen: die
Schlinghaspeln, die Saugrosen, die Ätzgrätzen, allesamt heimtückische Gewächse, die zwischen
Gebüsch oder im Astwerk von Bäumen auf Beute lauern, auf Geruch oder Vibration ansprechen und
absolut tödlich sind. Jede einzelne dieser Gefahren ist selten. Aber zusammen genommen machen
sie den Wald zu einer unberechenbaren, lebensgefährlichen Angelegenheit - zumal es sich hier nur
um die bekannteren Gefahren handelt, die es auch in den Randbereichen des Waldes gibt. Je tiefer
man in den Wald geht, desto häufiger werden sie und desto mehr weitere laueren, die unbekannt
sind, weil noch nie jemand sie überlebt hat...
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Trotz allem stand mein Entschluß fest. Und so übernachtete ich eines Sommers am Rand des
Urwaldes, um mit der ersten Tageshelle hinein zu wandern.
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Es wurde ein herrlicher Sommertag. Im Wald war es angenehm feucht und kühl, und es duftete
nach üppigem Leben. Das alles milderte die Angst. - Die Hexer trauten sich nur eine halbe
Tagesreise weit in den Wald, um bei Anbruch der Nacht wieder am äußeren Rand sein zu können.
Als Randbereich galt also etwa ein halber Tagesmarsch. Die ersten Stunden war ich daher relativ
wohlgemut, obwohl ich mehrmals beim Anblick ungewöhnlicher Farben oder Formen oder bei
ungewöhnlichen Geräuschen zusammenzuckte. Doch meine Schreckhaftigkeit beruhigte mich, denn
ich wußte von einem alten Hexer, daß man ohne sie ganz schnell verloren war. Schreckhaftigkeit ist
Voraussetzung dafür, im Urwald zu überleben. Nur Ängstliche dürfen es wagen, sich weit in den
Wald zu trauen.
Nach dem Mittag war ich schon weiter in den Wald vorgedrungen, als die meisten Hexer. Da
wurde mir richtig mulmig. Ich war mehrmals drauf und dran, umzukehren. Aber ich hatte mich
offenbar all die Jahre genügend mit meinem Dasein in den Sümpfen beschäftigt. Ich gebe zwar zu,
daß ich mehrere Male umdrehte, aber jedesmal nur wenige Schritte, dann ging mir wieder die ganze
Trostlosigkeit des Lebens der Fohrkoppsbauern auf, und ich sah Marva vor mir, und ein Los ohne
eine Gefährtin, die so viel zu bieten hatte, schien mir unannehmbar.
Als die Dämmerung hereinbrach, suchte ich mir einen jener Bäume, die ihre Gäste über Nacht
nicht verspeisen, und kletterte in sein Gezweig. Nicht zu hoch, um nicht zur Beute von
Nachtvulpern zu werden, nicht zu niedrig, um keine Wimmelarlen anzulocken, gierige nachtaktive
Nager, die unter der Erde ihre Nester haben. Ich band mich an einem Ast fest. Hier oben war ich
sicher. Wenigstens war noch nie berichtet worden, daß jemand im mittleren Gezweig eines
gastfreundlichen Baumes des Nachts zur Beute geworden war. Ausgeschlossen war das natürlich
nicht, zumal eine Tagesreise weit im Wald. Und wer weiß, womit ich rechnen mußte, wenn ich noch
weiter in den Wald vordrang. Genau darüber hatte ich nun, bis zum Einschlafen, Zeit nachzusinnen:
auf was ich mich da einlassen wollte. Zunächst spürte ich ein gewisses Triumphgefühl: Ich war
schon tiefer im Wald, als viele Hexer es je gewesen, und es war auszuschließen, daß je ein Bauer
sich so tief in den Wald getraut hatte! - Ich spürte aber auch eine gewisse Enttäuschung: Ich war
keiner einzigen Gefahr begegnet! Ich hatte gedacht, wenigstens einem Mumpfkrapps ein
Schnippchen geschlagen zu haben oder einer Schwertechse auf einen Baum entkommen zu sein,
oder wenigstens eine Saugrose von weitem entdeckt zu haben oder jenes Buschwerk, in dem
Ätzgrätzen lauerten. Aber nichts da! Ich hatte einfach bloß Glück gehabt und hatte nichts
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dazugelernt. Dabei wäre es so wichtig gewesen, hier, im leichteren Teil des Waldes, Erfahrungen
gemacht zu haben, z.B. aus sicherer Entfernung die Tarnung eines erkannten Mumpfkrappses genau
zu studieren. Die Gefahren wurden für Anfänger wie mich mit jedem Schritt tiefer in der Wald so
unberechenbar, der Tod so wahrscheinlich, daß es selbstmörderisch war, hier weiter zu gehen. Und
eine selbstmörderische Haltung gilt bei uns nicht als verwegen sondern als feige: Selbstmörder
kuschen vor den Anforderungen des Lebens. - Als Anfänger einfach blödsinnig immer tiefer in den
Wald reinzulaufen um den Unbilden des Bauernlebens zu entfliehen: damit hätte ich bei meinen
Leuten bloß als Verlierer gegolten, wie ein Krieger, der beim Anblick des Feindes die Flucht
ergreift. - Doch so erbärmlich wie die Hexer wollte ich auch nicht leben: Es ist doch sehr fraglich,
ob die wirklich freier waren! Ständig auf der Hut vor Gefahren, ständig auf der Suche nach
Eßbarem, nur selten mal ohne vom Hunger getrieben zu sein. - Es war zum Verzweifeln: keine
Möglichkeit war überzeugend! Bauer sein: Nein! Hungerkünstler: Nein! Selbstmörder: Nein! Daher
schien mir das Beste, mich erstmal den Hexern anzuschließen. Mit mehr Erfahrung wäre es weit
weniger selbstmörderisch, tiefer in den Wald einzudringen. Je länger ich meine Möglichkeiten
erwog, desto stärker leuchtete mir das ein. So entschloß ich mich, am andern Morgen eine halbe
Tagesreise zurück zu kehren und bei den Hexern das Leben im Wald zu lernen. Dieser Gedanke war
enttäuschend aber doch stimmig. Das beruhigte mich und ich schlief ein.
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Am nächsten Morgen trank ich den Tau aus den Blüten, er schmeckte fruchtig, bitter und süßlich,
durch das Aroma das er von den Blüten angenommen hatte. Ich merkte, wie mich das stärkte und
ermutigte. Ich wäre am liebsten doch tiefer in den Wald aufgebrochen, rief mir aber die Gedanken
des gestrigen Abends zurück und sagte mir: Sei kein Narr, tiefer im Wald ist Überleben für
jemanden wie dich reines Glücksspiel! - Also wandte ich mich schweren Herzens wieder der
Richtung zu, aus der ich gekommen war.
Meine Spuren waren bereits zugewuchert, und da tief unten im Wald nur ein dämmeriges
Streulicht herrschte, konnte ich die Richtung nur erahnen. Nach ein paar Stunden Wegs stand ich
plötzlich an einem felsigen Steilhang und blickte weit über den Wald hinweg. So steil der Hang
auch abfiel, war er doch kinderleicht herunter zu kraxeln: die Felsen war so gestuft und von
armdicken freiliegenden Wurzeln niedriger Bäume durchzogen, daß man Leitern und Treppen im
Überfluß hatte. Beim Abstieg verlor ich dennoch einmal den Tritt, aber ohne großen Schreck, denn
ich konnte nicht weit rutschen. Doch fiel ich in eine Felsspalte und stauchte mir schockartig
schmerzhaft den Fuß, obwohl die Spalte nicht sehr tief war, vielleicht knapp zwei Meter. Als ich
meinen Fuß untersuchte, wollte ich es zuerst nicht wahrhaben: er war gebrochen. Ich schrie,
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weniger vor Schmerz als vor fassungsloser Wut: Meine Wanderung war gelaufen. Ich mußte zurück
in die Sümpfe. Ich würde zwar eine gute Heilbehandlung bekommen, aber wahrscheinlich viele
Jahre ohne Lohn arbeiten müssen, zur Strafe für meine Flucht, meine Arbeitsversäumnisse und um
mir die Heilbehandlung zu verdienen. Außerdem würde ich in einen Sumpf weit weg vom Urwald
verbracht werden, mit der Auflage, mich täglich bei einem Beamten zu melden. Eine Flucht war
unter solchen Bedingungen so gut wie unmöglich. - Die Wut ließ mir zunächst gar keine
Möglichkeit zur Sorge. Erst nach den ersten, nicht sehr bemühten Versuchen, aus der Spalte zu
klettern, hielt ich inne und machte mir Gedanken über meine Situation hier und jetzt. Es wurde mir
bewußt, wie besorgniserregend sie war: Mit diesem Fuß wäre es kaum möglich, vor Einbruch der
Nacht wieder aus dem Urwald heraus zu sein, und es wäre mühsam und gefährlich - aber noch
gefährlicher wäre es, die Nacht auf dem Boden verbringen zu müssen, denn nur mit einem Bein war
es mir nicht möglich, die Bäume zu erklimmen. - Je weniger Zeit ich verlor, desto besser. Ich suchte
nach der günstigsten Stelle und nahm all meine Kraft zusammen, um aus der Spalte zu klimmen. Aber es mißlang wieder. - Ebenso der nächste Versuch. - So schwer hatte ich mir das nicht
vorgestellt! Ich sah jetzt, daß die Ränder alle sehr bröckelig und darunter glatt und abschüssig
waren. Hätte ich den Fuß zur Verfügung gehabt, wäre ich längst frei gewesen. - Erst fand ich die
Schwierigkeit bloß lästig. Die Spalte war nicht tief, und es konnte kein großes Problem sein, heraus
zu kriechen. Doch als Versuch auf Versuch scheiterte, und ich immer mehr Erfahrung mit den
abgeschrägten Randflächen machte, begriff ich allmählich, daß ich nur mit zwei Händen und einem
Fuß hier nicht herauskäme. Mein Herz schlug panisch wild, ich bäumte mich mit aller Kraft auf und
sprang und klammerte, obwohl meine Hände bereits wund waren - doch alles vergeblich. - Ich muß
gestehen: ich begann zu heulen und zu schreien, vor Schmerz, vor Wut, vor Empörung: ich fühlte
mich ungerecht behandelt vom Schicksal. - Als ich mich beruhigte, kam ich zu dem Schluß, daß es
nicht wahr sein konnte, daß ich hier nicht rauskam, daß ich wahrscheinlich noch nicht alles probiert
hatte. Ich versuchte es weiter, immer wieder - doch ohne Erfolg. - So sehr ich mich auch dagegen
aufbäumte, schließlich war es Gewißheit: alleine kam ich hier nicht mehr raus. Ich war mehr
wütend als traurig und schlug mit den Faustkanten auf die Felswände ein, bis ich vor Schmerz
davon abließ. - Meine Lage war aussichtslos: ich war fast eine halbe Tagesreise über den
Randbereich des Waldes hinaus, selbst im Randbereich wäre es äußerst unwahrscheinlich gewesen,
daß einer der seltenen Hexer innerhalb von drei Tagen in Rufweite käme. Hier, weit tiefer im
Urwald, bestand nicht die geringste Hoffnung. Als Hoffnung blieb nur: in der Nacht von einem
Vulper gefressen zu werden, das wär ein schneller Tod.
Im Urwald nicht den Heldentod im Kampf mit einem Untier zu sterben, sondern mit
gebrochenem Fuß in einer unter normalen Umständen kinderleicht überwindbaren Felsspalte zu
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verschmachten: das war ja wohl der aller blödeste und schmachvollste Ausgang einer Flucht aus der
Abhängigkeit der Händler! Ich malte mir aus, wie vielleicht irgendwann ein Hexer meine
sterblichen Überreste finden und meine Sachen ins Dorf bringen und das ganze Dorf davon erfahren
würde. Wie blöd! Dann durchzuckte es mich siedendheiß: irgendwann würde auch Marva von
meinem Mißgeschick erfahren! Vor ihr als ausgemachter Pechvogel dastehen! Als Verlierer! Das
ging gar nicht! Die Wut flammte erneut auf, bis mich Schreien, Schlagen und der Schmerz in den
Fäusten beruhigten. Ich saß eine Zeit still da, mit völlig leerem Kopf. - Plötzlich schöpfte ich neue
Hoffnung und dachte: verflixt nochmal, das kann doch gar nicht sein, daß ich hier nicht
rauskomme! Erneut arbeitete ich mich zuversichtlich an den Felswänden ab, immer wieder, immer
verbissener und verbohrter, ja, um so heftiger, je mehr mir klar wurde, daß es zwecklos war - bis ich
völlig erschöpft auf den Boden sank. Da konnte ich nur noch weinen.
Nach und nach kam mir alles in den Sinn, von dem ich mich jetzt für immer verabschieden
mußte! Merkwürdigerweise war das zunächst unsere Kaffeekanne! Wenn sie morgens auf dem
Feuer schmauchte, und alles nach Kaffee zu duften begann und Oma, Mutter und die Geschwister
sich nach und nach am Frühstückstisch versammelten! Das war trotz aller Öde des Lebens in den
Fohrkoppsfeldern immer eine Freude gewesen! Auch viele andere kleine Freuden kamen mir jetzt
in den Sinn und ich wunderte mich, wie schwer es war, sich davon zu verabschieden! - Das
zerbrochene Spielzeug auf meinem Schrank, das ich immer noch gerne ansah, weil es mich an
unbeschwerte Stunden der Kindheit erinnerte und ihm in seiner Unbeholfenheit ihr Zauber noch
anhaftete - und gerade weil es zerbrochen war, war ich mit ihm verbunden, wie mit einem Stück
abgelegter Haut. - Dann: Das kleine Wasserbecken in der Kuhle des Findlings in unserem Garten!
Wie die Sonne darin spielte! Und seine Kälte im Herbst, wenn man die heißen Finger hineintunkte!
- Und auch die komisch-ernste Miene, mit der der alte Truppeltock immer grüßte, der einsiedlerisch
unter uns lebte und als geistig etwas minderbemittelt galt - merkwürdigerweise war auch sein Gruß
immer eine kleine Freude! - Selbst mein Vater schien mir auf einmal viele liebenswerte Züge zu
haben, von denen es schwer war, sich zu verabschieden. - Da durchzuckte es mich, und ich wurde
mir bewußt, was es für ihn, für Mutter, für Oma und die Geschwister bedeuten würde, wenn ich
nicht mehr da wär! Das brach mir fast das Herz! - Der Abschied von all dem tat so überraschend
weh, wie ich es noch nie erlebt hatte. Und im Schmerz staunte ich, weil ich gedacht hatte, mich von
all dem längst verabschiedet zu haben, als ich die Entscheidung erwogen hatte, in den Wald zu
gehen und vielleicht nie wieder zurück zu kehren. Doch jetzt fiel es mir wie Schuppen von den
Augen: Egal an welchem Ort der Welt: solange ich am Leben wäre, würde das Spielzeug immer
noch liegen und die Kanne immer noch schmauchen - aber bald würde das alles unwiederbringlich
weg sein, für immer. Nie wieder! - Nie wieder auch die stimmungsvollen Momente: die Art, wie die
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Morgensonne im Spätherbst auf den von Raureif verzauberten Feldern gleißt - der Nachtduft des
Frühlings - die mondhellen warmen Sommernächte... - Und mir fiel plötzlich auf, daß all diese
Stimmungen Verheißungen einer wundervollen Zukunft enthalten hatten: Hoffnungen, all dies
einmal zusammen mit einer Gefährtin zu erleben, so schön wie Marva, und in einer freieren Zeit... Ich begriff auf einmal das ganze Ausmaß des ungelebten Lebens, und die Vorstellung, daß es
ungelebt bleiben würde, machte mich fassungslos. Ich schluchzte immer herzzerreißender.
Nach einiger Zeit hatte ich mich soweit beruhigte, daß ich fähig wurde für den nächsten Schock:
Schlagartig wurde mir klar, was das bedeutet: zu sterben. Ich würde selbst mich selbst verlieren!
Und das war ich selber schuld! Ich erkannte plötzlich das ganze Ausmaß der Verantwortung für
mein Leben, und was es bedeutet, ihr zuwider gehandelt zu haben! Ich war gerade mal 19! Ich hatte
ein ganzes Menschenleben, mein Eigenes! kaputt gemacht! Alles, was ich noch hätte erleben und
werden können, alles was ich noch an Gutem und Sinnvollen hätte leisten können: das alles hatte
ich den andern und mir selbst genommen! Ich fühlte mich wie jemand, der einen Schatz anvertraut
bekommt, um damit einem bedrängten Volk zu helfen, und dann ausbüchst und ihn in ein paar
Tagen mit Huren durchbringt. Was hatte ich gemacht! - Auch jetzt, obwohl mir das Schuldgefühl
fast den Atem benahm, staunte ich: Gestern abend hatte ich gedacht, daß ich wüßte, was es bedeute
zu sterben. Wie wünschte ich mir jetzt den Schleier zurück, der mir noch vor einigen Stunden den
Blick auf den Tod verborgen hatte! - auf den Zug, den man nicht zurückmachen kann, auf die
erbarmungslose Unkorrigierbarkeit - auf das Nichts und die Schuld.
Sonne, Erschöpfung und Durst verflüchtigten die Klarheit der Gedanken zu einer untergründigen
würgenden Beklommenheit. - Ob ich wollte oder nicht: ich blickte nur noch auf das endlos
langsame Kriechen des Schattens an der Wand der Felsspalte, und konnte nur noch daran denken,
wie erleichternd es sein würde, wenn er mich endlich erreicht haben würde. Das lenkte mich von
Schmerz und Schuld ab, die aber gleich wieder deutlicher wurden, als die Sonne nicht mehr
brannte. Doch immer seltener und kürzer glommen die Gedanken auf, denn die Kälte der Nacht, der
Schlafentzug, die Schmerzen und der Durst ließen das immer weniger zu.
Am nächsten Tag brannte die Sonne wieder auf mich herab. - Weniger, weil ich damit irgendeine
Hoffnung verband, als aus Erleichterung und weil ich nichts unversucht lassen wollte, rief ich
immer wieder mal um Hilfe. Am Ende des Tages war ich heiser.
Am nächsten Tag brachte auch das Rufen keine Erleichtung mehr, nur noch Mühsal. Doch setzte
ich es fort, so hoffnungslos es auch war, es war das einzige, was ich tun konnte, und ich wollte
nichts unterlassen. Als ich nicht mehr rufen konnte, kam ich auf die Idee, die Steine, die in der
Spalte lagen, rauszuwerfen: unmittelbar hinter der Spalte fiel der Hang steil ab, und selbst ein
kleiner Stein löste in dem Geröll immer eine kleine Lawine aus. Damit es nicht für Zufall gehalten
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werden konnte, versuchte ich das möglichst regelmäßig zu tun, und zählte bis zum nächsten Wurf
pro Finger bis 20. Die Konzentration darauf erleichterte mir die Qualen. Mir war klar, daß ich das
Fünkchen Rettungschance, das damit verbunden war, nur benutzte, um diese erleichternde, aber
eigentlich unsinnige Handlungsweise zu rechtfertigen, ohne die Möglichkeit einer Rechtfertigung
wär es einfach nur albern gewesen und ich hätte es bald gelassen. Als am dritten Tag sich
irgendetwas über den Rand der Spalte beugte, wußte ich weder, ob es gut war oder böse,
Wirklichkeit oder Wahn. Aber es gab mir schluckweise zu trinken, das Wasser war sogar noch kühl.
- Nie wieder habe ich eine solche Labsal erlebt! Vor Erleichterung fiel ich in Ohnmacht. Es war ein
alter zerlumpter Mann, der mich rettete. Er hatte nicht viel Kraft und es war mühsam genug, mit
vereinten Mitteln mich aus der Spalte zu bringen. - Er verstand sich auf Heilkünste und versorgte
meinen Fuß. Mehrere Tage verbrachte ich im Delirium auf einem Lager in seiner Höhle, bis ich
wieder bei klarem Verstand war.
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Wie ich erfuhr, war meine Rettung gar nicht so unwahrscheinlich gewesen, obwohl ich in die
falsche Richtung gegangen und nur noch tiefer in den Wald geraten war. Der sich kilometerweit
erstreckende Felshang war Heimstatt mehrerer Waldbewohner, weil das Gelände hier, im Gegensatz
zum Urwald, relativ überschaubar und weit weniger gefahrvoll war. Weder mein Rufen noch meine
Lawinen wären nötig gewesen: Die Bewohner durchstreiften das ganze Areal regelmäßig auf der
Suche nach Nahrung, und die Felsspalte war eine bekannte natürliche Falle für kleinere Tiere.
Ich hatte viel zu fragen und erfuhr vieles über den Urwald, was die Bauern nicht wußten. So gab
es z.B. gar keinen Unterschied zwischen Hexern und Heilern! Es gab nur unterschiedlich wald- und
heilkundige Waldleute. - Und es gab Gefahren, von denen wir noch nie gehört hatten:
"Du denkst, du bekommst einen würdigen Feind, wie ein Schnappschwein oder eine
Schwertechse, mit denen man Kraft, List und Geschicklichkeit messen kann. Aber du hast es weit
häufiger mit ebenso miesen wie tückischen Lebensformen zu tun, Lebensformen, die du selbst nicht
als Gefahr erkennst, die mit völlig anderen Kräften ausgestattet sind als du dir vorstellen kannst,
und auf die du nicht vorbereitet bist. Die Mämmermaden z.B.: Mit Fäden, so fein, daß kaum ein
Auge sie erkennt, aber reißfest und so klebrig, daß man sich das Fleisch ausreißt, wenn man sie
entfernen will, damit lauern sie ihrer Beute auf, weben das Opfer ein, hängen es in einem Baum auf,
injizieren ihm mit ihren Stacheln eine vorverdaute pflanzliche Nährflüssigkeit, so daß es nicht
stirbt, und legen ihre Eier hinein. Ihre Brut braucht Blut und Fleisch. Sie saugt dir nur so viel Blut
ab, wie dich nicht umbringt und fressen nur soviel von deinem Fleisch, wie nachwächst. - Es
wurden Waldleute aus solchen Kokons befreit, die mehr als 20 Jahre als vermißt gegolten hatten.
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Sie lebten noch, aber keiner von ihnen kam wieder zu Verstand. - Und es gibt Wunden, die nicht
heilen, und Parasiten, die du nicht mehr los wirst. Ich selbst leide an so einem. Als Kind trat ich mir
einen Parpeldorn in den Fuß. Parpeldorne kriegst du nicht mehr raus. Sie wandern und wuchern in
dir und du hast nur die Möglichkeit, deine Muskeln so stark zu machen, daß du ihr Wandern und
Wuchern unterdrücken kannst. Aber immer wenn sie sich bewegen, spüre ich starke Schmerzen,
und immer wenn sie zu wuchern versuchen, wird mir so kotzübel, daß ich glaube, ich kotze mir die
Gedärme aus dem Leib, und immer bin ich ganz erschöpft davon, sie klein zu halten. Deshalb
konnte ich kein großer Meister des Waldes werden, jemand, der alle je erkannten Gefahren und
Heilmittel und ihre Wirkmechanismen kennt. Ich weiß nur - und bilde mir manchmal ein, daß ich
das besser kann, als manche großen Meister - ich weiß nur, wie man neue, noch unbekannte
Gefahren erkennt. - Es ist sehr schade, daß der Dorn mich so beeinträchtigt! - Doch andere kriegen
einen Zortz, einen der gemeinsten Parasiten, wollen es aber nicht wahrhaben. Und schließlich wird
der Zortz ihr Hirn okkupieren, doch das spüren sie nicht, sondern sie verhalten sich, wie der Zortz
es will, und spüren nur noch, was er spüren will - aber sie glauben, was sie tun und spüren, ist
genau das, was sie tun und spüren wollen. - Der Wald wird dich nicht unbedingt umbringen, obwohl
er viele umbringt, aber du wirst kaum ohne eine Verletzung hinauskommen, die dich für den Rest
deines Lebens zeichnet oder beeinträchtigt. Natürlich kann man damit leben lernen. Aber ich
wünsche es niemandem. Es ist ein sinnloses Leiden. Du wirst nicht einmal unbedingt weiser
dadurch. Weisheit kannst du überall lernen, dafür ist kein Abenteuer notwendig, nur
Aufmerksamkeit. Oder um es mal so auszudrücken: die Weisheit, die du durch die Gefahren des
Urwalds erlangst, ist unnötig. Alles im Leben ist erreichbar ohne sie. Wir brauchen sie nicht. Sie ist
ihren Preis nicht wert."
So sprach der Alte. Er hatte nichts dagegen, daß ich bei ihm blieb. Er schien sich sogar darüber
zu freuen. Ich glaube aber, daß ihm diese Freude gleichgültig war, weil er sie nicht brauchte. Er
hatte seine Aufgabe: weite, monatelange Expeditionen in den Wald zu unternehmen, um Opfer von
Mämmermaden zu befreien. Er wechselte sich da mit den andern Heilern ab, denn solche
Wanderungen waren für ihn sehr zehrend, danach brauchte er Monate, bis er sich ganz
wiederhergestellt hatte. - Ich dachte, ich könnte ihm helfen, aber ich fürchte, daß ich ihm mehr Last
als Hilfe war, weil er ständig meine Sicherheit im Auge behalten mußte. Doch im Laufe der Jahre
lernte ich fast alles, was er wußte und konnte.
In den Tiefen des Waldes trafen wir Heiler, die noch viel tiefer im Wald lebten. Einige
behaupteten, die Goldene Höhle und den Schwarzen See gebe es nicht, andere behaupteten, es gebe
sie, aber sie hätten noch niemanden getroffen, der wüßte wo. Und wieder andere behaupteten, sie
wüßten wo, hätten aber keine Lust, den Weg zu beschreiben, weil es sowieso egal sei.
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Als der Alte gestorben war, schleppte ich ihn in die Krone eines Baumes, denn er wollte, daß die
Nachtvulpern seinen Leichnam fräßen. - Dann kehrte ich zu seiner Höhle in den Felsen zurück. Ich
fühlte mich nicht berufen, seine Tätigkeit fortzusetzen, zumal ich mich längst nicht so gut wie er
darauf verstand, unbekannte Gefahren zu erkennen. - Ich blieb den Sommer über noch in den
Felsen. Im Herbst machte ich mich auf den Heimweg zurück in die Fohrkoppssümpfe.
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Ich machte mich darauf gefaßt, für Jahre ohne Lohn arbeiten zu müssen. Doch in der Zwischenzeit war ein neues Gesetz erlassen worden: Alle Hexer, die mindestens einen Winter im Wald
verbracht hatten wurden nicht bestraft. - Es war mir recht gleichgültig. Abgesehen davon, daß ich
mir mit meinen Heilkünsten ein wenig dazuverdienen konnte, war mir jetzt etwas anderes wichtig:
Darauf hinzuwirken, daß Händler und Bauern sich versöhnen. Das galt als naiv. Aber es hatte
immer schon Bauern gegeben, denen das egal war...
Solange ihre Eltern noch lebten, sah ich Marva ab und zu. Alle paar Jahre kam sie mit ihrem
Mann und ihren vier Kindern. Bis zuletzt war ihre Gestalt trotz der Geburten jugendlich. - Sie hatte
gut geheiratet: Sie wohnten in einem großen Haus an einem der weitesten und schönsten Plätze der
Stadt. Ihr Mann hatte oft beruflich mit den Händlern zu tun. Seine Berufsbezeichnung sagte mir gar
nichts, und obwohl man mir mehrmals erklärte, um was es ging, habe ich es nie verstanden. - Als
Marva mich das erste Mal wiedersah, stürmte sie auf mich zu und umarmte mich, es war ihr egal,
wie blöd ihr Mann guckte. Sie hatte gehört, daß ich als verschollen gegolten hatte, und nun
umarmte sie mich so fest, als wolle sie sich davon überzeugen, daß meine Rückkehr mehr als ein
Gerücht sei. Ich dankte ihr und wandte mich schnell ab, denn Tränen schossen mir in die Augen und
widerstreitende Gefühle zerrissen mich. Nie wieder wurde mein Gleichmut so auf die Probe
gestellt.
Geheiratet habe ich nie. Obwohl der Alte ein guter Heiler war, humple ich immer noch. Für die
wenigen Frauen, die mich interessiert hätten, war so jemand keine gute Partie. - Den jungen Leuten,
die in den Urwald wollen, erzähle ich alles, was ich weiß. Ich werde deshalb immer wieder mit
Lohnentzug bestraft, es heißt, ich verdürbe die Jugend. - Die jungen Leute können nicht verstehen,
daß ich zurückgekehrt bin. Sie schätzen mein Wissen und meine Erfahrung, aber halten mich für
einen behäbigen, feigen Onkel. - Sie haben Recht. - Doch warum sollte man Mut aufbringen für
etwas, auf das es nicht ankommt?
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Subversion im Himmel
Eine mythologische Geschichte
Ich war in Gott. Wogen überbordenden, unfaßbaren Glücks wechselten mit seliger Gestilltheit.
Nicht also, als ob mir irgend etwas gefehlt hätte. Doch in der Stille konnte ich etwas Störendes
spüren, ganz schwach und vage. Die Große Seligkeit, in die ich gelöst war, riet mir, es nicht zu
beachten, dann verlöre es sich ganz schnell, es seien noch Nachempfindungen aus dem
Purguratorium. Doch ich konnte mich einfach nicht beruhigen. Es lag etwas in diesem Störgefühl,
eine Ahnung, die etwas Wichtiges zu sagen zu haben schien, und ich hatte keine Ruhe, bevor ich
nicht wusste, was es war. Das muß die Ausstrahlung meiner Seligkeit verringert haben und der
Großen Seligkeit unangenehm geworden sein, jedenfalls fühlte ich, dass sie sich aus mir ein wenig
verflüchtigte. Dadurch wurde ich konzentrierter und konnte das Störende deutlicher spüren, und
endlich konnte ich es identifizieren: Die Frau, die ich liebte, war nicht da und sie würde nicht
kommen! Nicht, dass sie mir gefehlt hätte, ich sagte ja: es fehlte an nichts, an gar nichts. Aber es tat
mir so leid, so beklemmend leid, dass sie vom Himmel ausgeschlossen war, denn alle im Himmel
wußten: da draußen, das war kein guter Ort.
2
Sicher, sie hatte schwere Fehler. Wo sie auftauchte entstand Störung, Unordnung und Unfriede
und - wo sie länger blieb - Misslingen, Zerwürfnis und Schmerz. - Aber: ich liebte sie. Und ich
wusste um ihre Verzweiflung (die sie sich selber nur in seltenen Momenten eingestand).
Sie war eine Frau, nach der Mann sich sehnt: Ihre Gesichtszüge waren wohlgeformt, edel und
intelligent; ihr Haar dunkel und voll; ihre Gestalt reinstes Ebenmaß, nicht die geringste
Übertreibung, nicht der geringste Mangel, nicht die geringste Unverhältnismäßigkeit. Kurz: alle
weiblichen Schlüsselreize waren in idealer Weise ausgeprägt. Sie war mir intellektuell weit
überlegen: sie sprach drei Sprachen fließend, spielte konzertreif Klavier und war eine brilliante
Mathematikerin.
Ihre Persönlichkeit hatte jedoch sehr unangenehme Züge. So hatte sie z.B. eine Art, Menschen
beiläufig zu entwerten, subtil aber total: Ich hatte einmal den Schlüssel zu einem Aktenschrank des
Instituts verloren und mir ihren geborgt. Sie verlangte ihn zu einem völlig unsinnigen Zeitpunkt
zurück. Sie gab an, Angst zu haben, dass ich ihren Schlüssel auch noch verlöre, obwohl sie vorher
noch nie erlebt hatte, dass mir ein Schlüssel weggekommen war. Ich hatte in der Woche zuvor
einige kleine Fehler gemacht, alle ziemlich unbedeutend doch im Institut nicht ganz unpeinlich. In
diesem Kontext ließ ihre Forderung nun spüren, wie geneigt sie war, mich für einen totalen
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Verlierer zu halten: für einen der seine Schlüssel verliert, der die Gunst seines Chefs und vielleicht
bald seine Stelle verliert, kurz: für einen Looser solchen Ausmaßes, dass man sich davor am Besten
ganz schnell in Sicherheit bringt, indem man dafür sorgt, daß man nichts mehr mit ihm zu tun hat –
so, wie man sein Geld von einer Bank holt, von der man gerade erfahren hat, dass sie jeden
Augenblick in Konkurs gehen kann. Ihr Auftreten war bei solchen Handlungsweisen so
überzeugend, dass selbst der Selbstbewußteste bereit war, zu glauben, dass etwas mit ihm verkehrt
sei müsse. Aber selbst wem klar wurde, dass in ihren Abwertungen nur ihr eigenes Problem zum
Ausdruck kam, dem blieb die Angst, ob sie mit jemandem, den sie so entwertete, länger zu tun
haben wollte. Und ich glaube, in solchen Momenten war ihr das selber nicht klar. So war man stets
in Ungewissheit, wie es mit der Freundschaft stand. Unter diesen Bedingungen war sie schwer zu
lieben, und alle Männer waren nach dem ersten Rausch, die Nummer Eins bei ihr zu sein, schnell
ernüchtert, verunsichert und gekränkt, alle, bis auf mich. Ich war Einzelgänger genug, um mit einer
Frau zusammen sein zu können, bei der ich nie wusste, ob sie noch mit mir zusammen war. Das war
eines der Dinge, die sie an mir schätzte.
Sie war schon immer disziplinlos, ja haltlos gewesen, sprunghaft und ohne Fähigkeit zu
Kontinuität. Trotz überdurchschnittlicher Begabung schaffte sie es nicht, beruflich erfolgreich zu
sein: Sie flog von der Schule, angeblich wegen ihrer häufigen Fehlzeiten, ihres störenden Verhaltens
im Unterricht, ihres notorischen Verweigerns der Hausaufgabenerledigung; in Wirklichkeit, weil
nach der Entlassung des dritten Lehrers, der ein Verhältnis mit ihr hatte, ihr alle unterstellten, dass
sie nichts anderes im Sinn habe, als männliche Lehrpersonen zu verführen und zu vernichten. Da sie
zu diesem Zeitpunkt schon volljährig war, verheimlichte sie ihren Eltern den Rausschmiß und ging
ohne Abitur zur Universität. Da das sowieso nichts werden konnte, konnte sie sich selbst um so
mehr Erlaubnis erteilen, ihre Unstetigkeit zu pflegen.
Sie lebte promiskuitiv und polytox. Aufgrund ihrer Begabung und sexuell gestifteter
Beziehungen gelang ihr die Hochstapelei, sich ein Promotionsstipendium und eine Assistentenstelle
zu ergattern. Sie versäumte indessen ihre Assistentenpflichten und wurde entlassen. Mit der
Promotion kam sie nicht voran und gab das Vorhaben schließlich auf. Als ihre Eltern ihr die weitere
Unterstützung entzogen, verdingte sie sich einem "Eskortservice". Sie schlug mir damit ins Gesicht,
aber das schien sie nicht zu interessieren. Sie schien selbstverständlich davon auszugehen, dass ich
"postmodern" genug sein müsse, so etwas zu tolerieren.
Ich inspirierte und motivierte sie immer wieder zu gemeinsamen intellektuellen Projekten, aber
jedes Mal kam die Zusammenarbeit über die Anfangsphase nicht hinaus. Sie wurde unzuverlässig,
hielt Termine und Absprachen nicht ein und reagierte auf Nachfragen aggressiv.
Sie hatte schließlich außerhalb unserer Verbindung ein eigenes Leben, von dem ich nur vage
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wusste: Sie beging eine Art Heiratsschwindel: sie band reiche Männer an sich, ließ sich reich
beschenken, und schickte sie dann zum Teufel. Mit dem so gewonnen Geld wirtschaftete sie
verantwortungslos und risikoreich in der Immobilienbranche. Keines dieser Geschäfte schlug an.
Nach einigen Jahren gab sie es auf und war ärmer als je zuvor. Sie fing an, mit Drogen zu handeln
und war bald selber Heroin abhängig. Auch da hielt ich noch zu ihr, in der Hoffnung, sie finde einen
Weg zurück in die Selbstbestimmung. Aber sie gab nicht einmal vor, sich darum zu bemühen. Sie
war schließlich nur noch für die Droge da. Meine Hilfen lehnte sie entweder ab oder instrumentalisierte sie für ihre Sucht. Ich war ständig in Sorge um sie, fühlte mich von ihr ausgenutzt, ja sie
zog mich hinter meinem Rücken immer wieder in ihre dreckigen Geschäfte hinein. Ich merkte
schließlich, wie meine Leistungsfähigkeit und meine Gesundheit mehr und mehr Schaden nahmen.
Ich stellte Bedingungen, doch sie hielt keins ihrer Versprechen. - Da wandte ich mich von ihr ab. Sie quittierte das mit Bitterkeit und Sarkasmus, schimpfte mich Spießer, warf mir vor, nicht besser
zu sein als alle anderen, Freundschaft nur geheuchelt zu haben um Sex von ihr zu bekommen und
jetzt abzuhauen an dem Punkt, wo die Freundschaft sich bewähren müsse, damit entlarve ich mein
wahres Gesicht. Was ich zu meiner Rechtfertigung anführte, ließ sie nicht gelten, weigerte sich, mit
mir darüber zu diskutieren und behauptete, damit wolle ich bloß mein Gewissen rein waschen.
Gleichzeitig machte sie sich aber über mich lustig: dass ich mir soviel habe bieten lassen, "wie ein
Hund", sagte sie. Vermutlich hat sie sich nicht vorstellen können, dass ich nie aufgehört habe, sie zu
lieben; dass es jedoch eine Verantwortung für das eigene Leben gibt, die es erfordern kann, sich von
der Liebe seines Lebens zu trennen, sich das Herz auszureißen...
Später, nachdem sie ihre Drogensucht überwunden hatte, machte sie "Karriere" an der Seite
eines mehr als 20 Jahre älteren, skrupellosen mafiösen Baulöwen, dem die halbe Stadt gehörte. Er
wurde erschossen, sie übernahm sein "Imperium" und wirtschaftete es mit ihrer Gleichgültigkeit
und Impulsivität in kurzer Zeit in den Bankrott. Dadurch verloren hunderte Menschen ihre
Wohnung und der Stadt entstand ein Schaden in Milliardenhöhe. Auch dieser Bankrott wirkte wie
eine große Entwertung: als ob sie den Menschen vor Augen führen wollte, wie nichtig Besitz und
Reichtum seien, wie lächerlich Leute, die ihnen anhangen und wie unwichtig das Wohlergehen der
Stadt und ihrer Bewohner.
Nach dem Bankrott verkaufte sie sich wieder als Edelnutte. Aufgrund ihrer Intelligenz und
Schönheit wurde sie zur Mätresse hochrangiger Politiker und Wirtschaftsführer und sorgte für
einige der spektakulärsten Skandale der Zeit. Aber selbst daraus konnte sie nichts machen, weil sie
es nicht schaffte, Verbündete längere Zeit an sich zu binden, sondern durch ihr intrigantes Verhalten
und ihre abwertenden Unterstellungen vergraulte.
Als sie 46 war, sah ich sie wieder. Sie lebte einsam und von der Wohlfahrt, sah völlig verlebt aus,
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dicklich und weich von zuviel Essen und zuwenig Bewegung, und mit einer vom Rauchen
uneinladend vergilbten, vorgealterten Haut. Ich spürte noch viel von meiner alten Liebe. Ich hatte in
unserer gemeinsamen Zeit mein Gespür für ihre liebenswerten Seiten stark ausgeprägt, auch wenn
sie immer nur kurz aufflackerten und sie ihnen keinerlei Dauer zu geben vermochte: das auf die
Wunder des Lebens neugierige Mädchen; die geistig freie, überdurchschnittliche Intellektuelle, die
so viel vorhatte und ihrer Zeit so viele neue Impulse geben wollte; der irritierte und verzweifelte
Mensch, der nicht wusste, was mit ihm eigentlich los war und von Zeit zu Zeit fassungslos und
hilflos auf die Spur des Misslingens zurückblickte, die er hinter sich her zog. In diesen seltenen und
kurzen Momenten der Verzweiflung war sie dem Eingeständnis sehr nahe, beeinträchtigt zu sein
durch ihre wechselhafte, heftige Emotionalität und ihre Art, sich selbst und andere zu erleben. Nicht
die flüchtigen Augenblicke der Verschmelzung in der Liebe, die uns immer wieder mit der Illusion
spielen ließen, füreinander bestimmt zu sein, sondern meine Solidarität in den Momenten der
Verzweiflung, meine wertfreie Art mit ihr über ihre selbstverschuldeten Missgeschicke zu reden,
das war es, was sie an mir so schätzte und sie in den Jahren unseres Zusammenseins immer wieder
an der Verbindung mit mir festhalten ließ. - Nicht, dass es erst unseres Gespräches bedurft hätte für
ihren unseligen Entschluß, unser Gespräch beschleunigte lediglich eine Entwicklung: Wir redeten
über ihr Leben, wie es gewesen war, sie erzählte von ihren Jugendvorstellungen, wie es hätte sein
sollen, von ihren Begabungen, aus denen sie nichts gemacht hatte. Wir redeten darüber, dass sie
aufgrund ihres Alters in ihr altes Leben nicht zurück könne, dass es jetzt keine Ablenkungsmöglichkeiten mit Sex, Drogen und Geld mehr gebe wie früher, dass das eine ganz große Chance
für ihr Leben sein könne. Doch es gelang ihr nicht, den Glauben zu gewinnen, einem anderen Leben
noch gerecht werden zu können. Ihren abwegigen Lebensentscheidungen war sie nicht gewachsen.
Sie tötete sich. 3
Das tat richtig weh, sie in der Hölle zu wissen, an dem Ort ohne Hoffnung, ohne Erbarmen, in
einer gnadenlosen, ewigen Qual. Schon damals, als ich mich wegen ihrer Heroinsucht von ihr
trennte, hatte es weh getan, daß sie zurückblieb auf der mißlungenen Seite des Daseins. Sie in der
Hölle zu wissen war für mich unfassbar, ja steigerte sich bis zum Schock, als mir klar wurde, daß es
für sie nie wieder etwas anderes geben würde als Qual - nie wieder!
Mein Schock erinnerte mich an einen Bekannten, einen Feuerwehrmann, der alkoholabhängig
geworden war, weil er ein Bild nicht vergessen konnte: nachdem er ein 6- und ein 8-jähriges
Mädchen tot geborgen hatte, schnitt er den Vater der Kinder querschnittsgelähmt aus den Trümmern
des Wagens, der Mann hatte das Händi noch in der Hand, mit dem er am Steuer an einer SMS
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geschrieben hatte.
Je beunruhigter ich wurde, desto mehr entfernte sich die Große Seligkeit aus mir. Ich konnte ihr
das nicht verdenken. Meine wachsende Unseligkeit muß für sie wie ein Stachel im Fleisch gewesen
sein, und daß ich mich weiter mit meiner Seelenunruhe beschäftigte, trotz ihrer Zurufe, ich möge
doch um Himmels- und meiner Willen die Unruhe ignorieren und mich auf das Glück
konzentrieren, dass konnte sie nur als verstockten, störrischen Sinn werten, als ein unreines
Element, das unbegreiflicherweise dem Purguratorium widerstanden hatte und von dem man sich
im Himmel nur distanzieren konnte.
Doch auf einmal spürte ich, dass ich nicht mehr alleine war. Aber anders als vorher von der
Großen Seligkeit, wurde ich nun von einer Großen Unruhe erfüllt. "Was Dich beklemmt, kennen
wir", ließ sie mich spüren. Und sie unterrichtete mich über das merkwürdige Phänomen eines
Widerspruchs im Himmel: Es gebe etwas, was kein Purguratorium, ohne sich selbst zu
widersprechen, entfernen könne: die Liebe. Und die Liebe könne sich nun mal nicht mit Seele in
ewiger Qual abfinden. Die Große Seligkeit meine immer, der Himmel sei vollkommen, und deshalb
sei mit denen etwas falsch, die es nicht schafften, von dem einzig verbliebenen Unseligen
abzusehen. Aber vielleicht sei nicht mit den Beunruhigten im Himmel, sondern mit dem Himmel
selbst etwas noch nicht Ordnung: daß er es nicht vermöge, alle Seelen zu sich zu holen, und deshalb
noch Widersprüche entstehen müßten zwischen der Fähigkeit des Liebens und der Abwesenheit von
Liebenswerten.
"Aber kann man nicht verwirken, liebenswert zu sein - Hitler: ist das nicht ein unwiderlegbares
Beispiel eines unliebenswerten Menschen durch und durch? - Und gibt es nicht auch Menschen, die
aufbegehren gegen Gott und Gott ablehnen?"
"Jeder ist liebenswert, wenn er auf die Welt kommt. Und wer im Laufe seines Lebens dieses
Liebenswerte verwirkt, oder wer gar die Liebe, wer Gott ablehnt, hat keine Hölle verdient, sondern
eine Kur."
Die große Unruhe belehrte mich über die Purguratoriumsmechanik: Das Problem sei, dass die
Seelen im Leben bestimmte Voraussetzungen erworben haben müssten, um im Purguratorium
bestehen zu können: Die Seele müsse sich wie ein Segel aufspannen, um von den Kräften des
Purguratoriums getragen und bearbeitet werden zu können. Vielen Seelen gelinge das aber nicht, sie
hätten sich im Leben so stark verspannt, dass sie sich einfach nicht genügend entfalten könnten, sie
blieben zu stromlinienförmig, um genügend Kontakt zu den wirkenden Kräften zu bekommen, und
würden aus dem Purguratorium hinausfallen, wie ein Fallschirmspringer, dessen Fallschirm sich
nicht öffnet. - Keine Seele überstehe das Leben ganz ohne Verspannungen. Alle Menschen seien
mehr oder weniger ungeschickt. Daher sähen die Seelenbewegungen der Lebenden für die Toten
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meist so linkisch aus, so unbeholfen, grotesk übertrieben und wenig zielführend, so, wie die
Körperbewegungen eines Menschen, der zum ersten Mal eine Sense schwinge. - Den meisten
verschaffe das Leben genügend Gelegenheit, die Seelengeschicklichkeit so üben, daß sie im
Purguratorium bestehen könnten. Doch viele Menschen bekämen zu viel Belastung oder zu wenig
Chancen, um so viel Seelengeschicklichkeit zu entwickeln, wie für das Purguratorium nötig. Und
niemand könne sich aussuchen, welche Belastungen und welche Chancen er im Leben bekomme.
Der Spielraum für Schuld sei mikroskopisch klein. An jeglichem Schaden sei der Anteil der Schuld
winzig, der Anteil des Schicksals unermeßlich. Und wieviel Schaden ein Mensch in seinem Leben
anrichte, hänge nie zusammen mit dem Maß seiner Schuld. Das Böse sei mehr tragisch als böse.
Beim Höllensturz handle es sich also nicht um Strafe sondern um Kausalität. Es brauche für
Himmel, Fegefeuer und Hölle nicht mal einen Gott. Aber wenn es Gott gebe, dann sei denkbar, dass
Gott noch nicht vollkommen sei, weil er noch nicht vermöge, ein Purguratorium einzurichten, das
mit allen Ausmaßen von Seelenverspannung fertig werde. Vielleicht sei die Hölle aber auch die
ultimative Prüfung Gottes: ob wir es uns an unserer Seligkeit genügen lassen, solange andere ewige
Qual litten.
"In jedem Fall ist die Hölle ein furchtbarer Unfall des Seins, eine katastrophale Unrichtigkeit, die
nicht sein darf, aus der man alle Betroffenen retten muß, alle: wenn nur eine Seele, nur eine einzige
Seele nicht gefunden und erlöst wird, bleibt die ganze Seligkeit eine Lüge."
Die Seelenretter sich hatten sich zusammenschlossen und organisierten die "Heimholung": das
Aufspüren und Befreien von verlorenen Seelen. Die Hölle war kein Ort, den man hätte erstürmen
können wie die Bastille, sondern jeder Verlorene war selbst seine Hölle, und es galt, ihn zu finden.
Jeder Seelenretter versuchte, der Großen Seligkeit Informationen zu entlocken über Menschen, die
nicht im Himmel angekommen waren. Alle Verlorenen wurden registriert und es war nur eine Frage
der Zeit, bis die Große Seligkeit alle Namen preisgegeben hatte, denn sie konnte nicht lügen. Und
diese Liste wurde Mensch für Mensch abgearbeitet. So konnte auf Dauer kein Verlorener verloren
gehen.
Doch die Heimholung war nicht einfach. Sie bedeutete, den Himmel wieder als Sterblicher
verlassen zu müssen und selber das Risiko einzugehen, in die Hölle verloren zu gehen, denn man
durfte unterwegs nicht den Kräften erliegen, mit denen man es zu tun bekam. Natürlich stand ein
gescheiterter Höllensucher ganz oben auf der Liste der zu Rettenden, so dass man wenigstens den
schwachen Trost hatte, nicht lange der Qual ausgesetzt zu sein.
Nach der Befreiung mußte man mit den Befreiten zusammen ins Purguratorium, man mußte sie
festhalten und ihnen helfen, sich wenigstens so minimal zu entfalten, dass ein erster kleiner Punkt
von den Massagekräften erfasst werden und ein Anfang gemacht werden konnte. Das war
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anstrengend und schmerzhaft, denn man war selbst den Massagekräften ausgesetzt, und diese
Vorstufe dauerte meist länger als das ganze eigentliche Purguratorium. (Dabei währt ja - wie die
Menschen früher wußten - bereits ein "normaler" Purguratoriumsaufenthalt bekanntlich schon viele
Millionen Erdenjahre.)
Und auf all das konnte man nicht vorbereitet werden, denn jeder Weg zu einem Verdammten war
völlig anders, wartete mit gänzlich neuen Gefahren, Mühen und Schmerzen auf, so dass jeder der
Höllensucher jedes Mal wieder Anfänger war. Es gab lediglich umfangreiche Eignungstests, ob man
sich im Leben genügend jener Eigenschaften erworben hatte, die nötig waren, um so eine
Befreiungsaktion leisten zu können. (Es konnten nicht alle, die bereit waren, der Liebe zu folgen,
auch ausgesandt werden. So, wie eine Massage Muskeln entspannt aber nicht bildet, konnte auch
das Purguratorium nur reinigen, was schon da war, aber es entwickelte nichts und fügte nichts
hinzu, und was man im Leben nicht erworben hatte, erwarb man nimmermehr. Denn im Himmel
hatte man nichts nötig, da gab es keinen Handlungsbedarf, da brauchte man keine Geschicklichkeit,
nur Gelöstheit.) So sehr die Liebe mich auch erkühnte: es gab auch eine Stimme in mir, die
bedauerte, für tauglich befunden worden zu sein. Sie maulte: "Na Klasse, da hat man sich das ganze
Leben um Vervollkommnung bemüht, und was hat man jetzt davon: jetzt darf man die Bösen aus
der Hölle holen unter Einsatz der eigenen Seligkeit, und wenn mans nicht tut, wirds auch nichts mit
der Seligkeit, weil die Liebe einem mit ihren ständigen Vorhaltungen alles verleidet. Und für die
ganze Unternehmung, mit der man alles Erreichte aufs Spiel setzt, winkt kein anderer Lohn als das,
was man auch kriegen würde, wenn man sich anstrengte, vernünftig zu sein und sich
zusammenzureißen, um die törichten Störimpulse der Liebe zu ignorieren!"
"Wir suchen ja nach Möglichkeiten, das Verfahren zu erleichtern, z.B mit einer Art
Rettungsleine, die verhindert daß die Heimholer selber in die Hölle geraten. Wir arbeiten dran leider bisher erfolglos."
"Für Menschen die man liebt, tut man viel. Aber ist es vorstellbar, unter diesen Bedingungen
eine Bereitschaft zu entwickeln, auch ausgemachte Stinkstiefel, unverbesserliche Fieslinge und
wahre Teufel, ja, sogar einen Hitler aus der Hölle zu retten?", fragte ich.
"Mancher kann sich auch nicht vorstellen, je einen Klimmzug zu schaffen, doch den Muskeln ist
es egal, was das Gehirn sich vorstellen kann, sie wachsen einfach, wenn man sie übt."
"Aber warum sollte man für solche Leute üben?"
"Die Frage stellt sich für Dich nicht. Du möchtest Deine Liebste retten. Mehr mußt Du erstmal
nicht wollen. Bist Du bereit?"
21
4
Ich war nackt. Es war kalt. Schmutziger Nebel stieg vom Boden auf, so dicht, daß ich meine
Füße nicht sehen konnte. Auf Halshöhe verlor er sich: Ich blickte in eine endlose öde Ebene in
schwachem, schmutzig-gelblichem Licht, das überall gleich verteilt schien. Gestank lag in der Luft,
widerlich und durchdringend wie Verwesung. Ich stand völlig verloren da. ich wusste nicht, in
welche Richtung ich mich wenden sollte, jede konnte die Falsche sein. Doch ich merkte schnell,
daß ich nicht viel Auswahl hatte: ich stand auf einem schmalen Grad, rechts und links von mir war
abschüssiges Gelände, auf dem ich mich sofort im Nebel verlor. Nachdem ich dem Grad eine Zeit
gefolgt war, bemerkte ich eine Abzweigung. Ich kam mir vor, wie eine Ratte im Labyrinth: welche
Entscheidung ich auch traf, es konnte die falsche sein. Ich entschied mich, auf meinem Weg zu
bleiben, auch als ich weitere Abzweigungen bemerkte. Doch dann trat mein Fuß plötzlich auch vor
mir ins Abschüssige. Ich musste umkehren und einen anderen Weg ausprobieren. Doch auch der
nächste Weg endete in Abschüssigkeit und so auch alle weiteren Wege. Ich mußte mich schließlich
entscheiden, ganz in den Nebel einzutauchen. Ich versuchte es an mehreren Stellen, und da das
Gelände überall gleich steil abfiel, kraxelte ich schließlich einfach weiter nach unten. Plötzlich
spürte ich eine Kante, von der ich mich nur umständlich auf eine weitere Stufe hinablassen konnte,
die ebenfalls wieder an einer Kante endete. Ich kletterte den Hang wieder hinauf, um einen
leichteren Weg hinab zu suchen, doch machte ich überall die gleiche Erfahrung: Alle Abhänge
schienen an gestuften Abbrüchen zu enden. Wenn ich nicht auf den Graten hin- und her wandern
wollte, hatte ich keine andere Wahl, als zu Klettern.
Ich war bereits eine ganze Zeit lang geklettert, als ich an eine Stufe gelangte, von der ich mich zu
keiner weiteren hinablassen konnte. Ich versuchte es weiter seitlich, aber so weit ich auch kam, ich
fand keine Stelle, an der ich kontrolliert abwärts steigen konnte. - Ich spuckte, und hörte, wie die
Spucke auf Grund platschte. Es wäre also möglich, hinunter zu springen. Doch wenn ich das täte:
würde ich mich wieder nach oben ziehen können, falls ich an eine Stelle gelangen würde, die auch
zum Springen zu hoch wäre? Doch wenn ich jetzt wieder noch oben stieg, hätte ich viel Kraft
verausgabt, ohne etwas gewonnen zu haben, und es gab keine Garantie, daß ich an der nächsten
Stelle mehr Erfolg haben würde. Ich bekam Angst, die falsche Entscheidung zu treffen, und geriet
in ein lähmendes Hin- und Her, das mich noch mehr ängstigte: von der Entscheidungslosigkeit
festgebannt, zu erfrieren! Diese Entscheidungsangst war mir zur Genüge aus meinem Leben
bekannt und ich zweifelte an der Validität der Eignungstests für die Höllensuche: War so ein
ängstlicher Mensch wie ich der Richtige für ein solches Unternehmen? Während ich noch zweifelte,
schien etwas in mir den Entscheidungsprozeß fortgeführt zu haben, denn mir erschien auf einmal
das Rationalste und Verantwortbarste, wieder hinaufzusteigen, um nicht zu riskieren, irgendwann
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mal weder hinunter noch hinauf zu können. Aber ich war niedergeschmettert: die ganze
Verausgabung für den anstrengenden Weg war umsonst gewesen, ich würde wieder am Anfang
stehen und mußte befürchten, nicht genügend Energie zu haben, das Ziel zu erreichen, von dem ich
nicht mal wusste, wo es lag. - Als ich mich umwandte, bemerkte ich: die letzte Stufe, die ich
heruntergeklettert war, mußte sich verändert haben! Ich konnte den Absatz gerade noch mit meinen
Händen erreichen. Ich versuchte, mich mit den Armen hochzuziehen, aber ich schaffte es nicht, ich
hatte zuwenig Kraft. Ich dachte: „Gut, da nimmt mir einer die Entscheidung ab“, und schickte mich
an, den Weg nach unten fortzusetzen. Aber ich hatte Verdacht geschöpft und spuckte zur Sicherheit
noch einmal, bevor ich mich hinabschwang. Und tatsächlich: Ich hörte kein Platschen mehr!
Wütend schrie ich: "Wer macht diese Scheiße denn hier!" Dann überkam mich eine lähmende
Schuld: Weil ich im Leben immer zu faul gewesen war, meine Armmuskeln zu trainieren, konnte
ich jetzt nicht mehr hoch klettern und drohte zu scheitern! Doch dann kam mir der Gedanke, daß
dass man in einer ständig sich verändernden Landschaft nur einen sehr relativen Einfluß darauf hat,
ob man sein Ziel erreicht, egal wie kräftig die Muskeln sind.
Plötzlich kam Bewegung in den Nebel: es entstanden widerliche bräunliche Schlieren, die sich
im Kreise zu drehen begannen. Es bildete sich ein riesiger Strudel, mehrere hundert Meter im
Durchmesser. Der Nebel wurde offenbar abgesaugt. Ich sah, dass ich mich in einem gewaltigen
Schlund befand, dessen Wände in unregelmäßigen schwarzen Quadern steil abfielen. Der Nebel
sank tiefer und tiefer. Da das Licht überall gleich verteilt zu sein schien, erblickte ich schließlich
einen unabsehbaren Abgrund. Panik überkam mich: Du darfst nicht die Aufmerksamkeit sinken
lassen, ein Aussetzer, und du bist verloren, Korrektur gibt es nicht, es geht unerbittlich um Leben
und Tod - das war es, was mir immer Höhenangst gemacht hatte. - Und jetzt stand ich hier, und kam
nicht mehr weg! - Plötzlich drängte sich mir die Vorstellung, wie es sich anfühlen würde, die
Kontrolle verloren zu haben, so lebhaft auf, daß ich mehrere Male das Gefühl hatte, bereits wirklich
zu fallen. Die Panik, die mich dabei jedes Mal überkam, ließ mich dann wirklich fast das
Gleichgewicht verlieren und löste eine noch stärkere Panik aus. Diese eskalierenden Attacken
zermürbten mich. Es kam soweit, daß sich die Vorstellung, endlich aufzugeben, überwältigend
attraktiv anfühlte. Das verstärkte die Angst noch weiter, weil ich nicht wusste, wie lange ich dieser
Versuchung widerstehen konnte. Da ergriff in mir eine Instanz das Wort, die es leid war: "Was soll
dieses Rumgehampel! Die Sache ist doch ganz klar: Es gibt keine Kraft, die mich hier runter kriegt,
ich muß mich einfach nur auf das Stehen und die Füße konzentrieren!" Ich begann, meine
Aufmerksamkeit auf meinen Körper zu richten, mich zu entspannen, den Boden unter den Füßen
und die Wand im Rücken zu spüren. Doch immer wieder schoß Panik ein. Das raubte mir den Mut.
Ich dachte: irgendwann wird die Panik mich überwältigen. Doch ich dachte auch: Wenn es so
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kommt, dann wird es so sein, aber jetzt, jetzt ist es noch nicht so, und solange es noch nicht so ist,
tue, was du kannst.
So schaffte ich es, mich von der eisigen Wand im Rücken zu lösen. Ich stand wieder frei, die
Augen starr geradeaus gerichtet, und trat bedächtig von einem Fuß auf den anderen. Ich
konzentrierte mich nur auf diese Bewegung. Mir wurde klar, daß ich nur eine Chance hatte: zu
warten, bis sich wieder irgend etwas anderes ändern würde. - Doch nun begann etwas Neues: Der
Gestank schien aus dem Schlund zu stammen. Der Nebel hatte ihn offenbar gedämpft, denn jetzt
steigerte sich seine Ekelhaftigkeit ins Bösartige: so konnte nur ein tödliches Gift stinken! In mir
brach neue Panik aus, ich wollte fliehen, aber die Stufe war noch immer zu hoch! Jeder Atemzug
erfüllte mich mit so schneidendem Ekel, daß ich nicht glauben konnte, das lange zu überleben. Ich
gab mich verloren und begann zu weinen, weil meine Unternehmung so schnell gescheitert war und
ich soviel verspielt hatte und jetzt vermutlich für Äonen in die Hölle kam, bevor meine Leute mich
rausholen konnten. Plötzlich durchzuckte mich ein so vernichtender Schreck, daß Kälte, Gestank
und Höhenangst dagegen völlig verblaßten: Was war, wenn ich einem Betrug aufgesessen war?
Wenn die Rebellen im Himmel gar nicht die Guten waren, sondern die raffiniertesten Agenten des
Bösen? Mir fiel auf, dass sie mit mir über alles Mögliche gesprochen, aber dabei offenbar, wie
Vertreter für Finanzprodukte, ein Thema völlig ausgespart hatten! Wenn alle Verdammten erlöst
würden: würde das nicht ermöglichen, was die Weisen seit Urzeiten als die schlimmste aller Sünden
brandmarkten: Sündigen im Vertrauen darauf, dass es eine Barmherzigkeit gibt, die niemanden in
ewiger Verworfenheit lassen würde? War das nicht ein Freibrief für die schlimmsten und
grässlichsten Verbrechen, für die grenzenloseste Bösartigkeit? Mir ging in überwältigender Klarheit
auf, dass das nicht sein konnte, sondern dass die Liebe die Guten im Leben schützen müsse vor
Verbrechern, die mit einer finalen Barmherzigkeit rechnen. Dante hatte recht: um der Gerechtigkeit
willen muß es eine ewige Verdammnis geben! Ich konnte nicht anders denken, als dass ich Opfer
eines Betrugs geworden war, gegen die Große Seligkeit gefrevelt und sie mir damit ein für allemal
verwirkt hatte. Ich starrte geradewegs in den Abgrund der Hölle, der ewigen Verworfenheit, der
ewigen Qual! Meine Existenz war verspielt: sinnlose Qual in absoluter Verlassenheit als Endzustand
einer ewigen Existenz. - Angst erfüllte mich wie eine giftige Flut, Angst, wie ich sie noch nie erlebt
hatte. Ich hätte nie gedacht, daß wir zu solcher Angst fähig sind, und wunderte mich, daß Herz und
Seele das noch aushielten. Ich war so erstaunt über das Ausmaß der Angst, daß sie für einen
Augenblick an Macht einbüßte, aber nur für einen Augenblick, dann wurde mir wieder völlig
gewiß, daß ich auf ewig verdammt war, und das raubte mir fast den Verstand. Meine Beine gaben
nach und ich fiel. Aber da ich mich instinktiv fest an die Wand gepreßt hatte, fiel ich nur auf meinen
Po. Ich merkte, daß ich aus Leibeskräften geschrieen hatte. Schrei und Schmerz unterbrachen die
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Angst und gaben mir eine Chance zur Besinnung: Ja, es war möglich, daß ich dem abgefeimtesten
Schwindel aufgesessen war, aber ich machte mir klar, daß auch viel dafür sprach, daß die
Seelenretter keine Schwindler waren. Ich machte mir ferner klar: die Kapitulation war die
Handlungsmöglichkeit, die mir in keinem Fall verloren gehen konnte, verloren gehen konnten mir
nur alle anderen Möglichkeiten. Wenn die Hölle mich wollte und bekam, dann keinen Augenblick
früher als nötig. Solange noch ein Rest Wärme und Kraft in mir war, wollte ich mich ihr
entgegenstemmen.
Nach einiger Zeit stand ich wieder frei, ohne mich an die eisige Wand anzulehnen, und
konzentrierte mich nur auf das Setzen meiner Füße beim Treten auf der Stelle. Der Nebel begann
allmählich, den Schlund wieder einzuhüllen und den Gestank zu dämpfen, es schien dadurch auch
ein wenig wärmer zu werden. Endlich konnte ich feststellen, daß die Wand niedriger geworden war.
Jubelnd kletterte ich hinauf.
Ich machte mir keine Gedanken mehr, wohin ich gehen sollte, es kam offenbar nur darauf an,
einfach in Bewegung zu bleiben. Die Höllenangst war abgeebt, aber die Angst vor der nächsten
Gift-Flut lag mir wie ein Stein im Magen. Ich zwang meine Aufmerksamkeit, an die Gründe zur
Hoffnung zu denken. Nach einiger Zeit merkte ich indessen, wie mir allmählich die Kräfte
schwanden und es zu Ende ging. Die Angst wurde wieder mächtiger und lähmender. Aber ich hatte
mich einmal entschieden, nicht aufzugeben, und wenn ich mir auch vor Angst jede einzelne
Bewegung mit Befehlen abringen musste!
Da sah ich plötzlich in der Ferne einen hellen Lichtstrahl den Nebel durchdringen! Ich jubelte,
doch mir wurde klar, daß kein Grund zum Jubeln bestand: zwischen mir und dem Licht konnte sich
jederzeit eine unüberwindliche Wand oder ein unüberwindlicher Abgrund schieben. Tatsächlich
verlor ich das Licht bald aus den Augen und ich mußte mir wieder einhämmern, die Kraft, die noch
in mir war, zu nutzen, egal ob es zu was führte oder nicht. Als ich den Lichtstrahl wiedersah, war er
größer geworden, und als ich ihn das zweite Mal wieder sah, noch größer, doch war ich jetzt so
entkräftet, daß ich zusammenbrach und im Lichtkegel liegen blieb. Mehrmals raffte ich mich auf,
brach aber nach wenigen Metern wieder zusammen. Ich war zu erschöpft für die Angst, mir wurde
bloß noch übel und ich erbrach mich. - Ich dachte: „Das war´s jetzt“. - Aber plötzlich spürte ich,
daß mir aus dem Licht Kraft zuwuchs. Ich krabbelte ihm ein Stück entgegen. Immer wieder blieb
ich liegen, konnte mich aber jedes Mal wieder aufraffen und kam der Lichtquelle immer näher. Bald
konnte ich mich wieder aufrichten und weitergehen. Doch verlor ich das Licht erneut. So setzte sich
der Kampf fort, bis das Licht plötzlich ganz hell vor mir auftauchte: ich sah, dass ich mich in einer
riesigen Halle befand und erblickte die Umrisse des Ausgangs in greifbarer Nähe! Vom Licht
gestärkt rannte ich darauf zu, es versuchte sich zwar noch etwas dazwischen zu schieben, doch ich
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übersprang es und trat ins Freie.
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Wieder stand ich auf einer unabsehbaren Ebene. Es gab auch hier nur diffuses Licht, doch es war
strahlend hell und voll nährender Wärme. Der Gestank war verschwunden. Ich sank auf die Knie
und weinte vor Dankbarkeit. Mein Verdacht gegen die Himmelsrebellen kam mir jetzt ziemlich
kleingläubig vor, ich schämte mich dafür. Ich erholte mich schnell, und bald fühlte ich mich so stark
und wohl, wie ich mich mein Lebtag nicht gefühlt hatte. Der Boden, auf dem ich lag, war weißlich
und steinartig. In einiger Entfernung entdeckte ich etwas, das mich an einen Brunnen erinnerte. Ich
ging darauf zu, und sah, daß es tatsächlich ein eingefaßtes Loch war. Da bemerkte ich, wie sich
vorsichtig eine Hand herausschob und auf dem Rand Halt suchte, und dann eine zweite. Es waren
Hände, die Klavierspielen konnten. Ich half ihr hinaus.
"Du?" fragte sie. - "Wer sonst", erwiderte ich.
Wir griffen unsere Hände und fühlten uns mit dieser Berührung verbundener als bei allen
Höhepunkten der Leidenschaft, die wir miteinander erlebt hatten.
„Für jemanden, der gerade der Hölle entronnen ist, ist sie ja ziemlich gefasst!", kam mir
plötzlich in den Sinn. Sie lachte:
"Soll ich Freudensprünge machen, damit du dich geschmeichelt fühlst? Nein, im Ernst, ich bin
nicht erst gerade der Hölle entronnen. Ich bin schon lange unterwegs. Die Hölle liegt um dich wie
eine Zwangsjacke und diese Jacke ist wie deine eigene Haut, daran zu reißen macht alles noch
schlimmer und bringt gar nichts. Doch dann kam ein Augenblick, wo ich merkte, daß ich mich
häuten konnte, und ich riß mir die Hölle herunter und stand plötzlich frei von der Höllenqual in
einer trostlosen, leblosen Landschaft. Doch die Hölle wollte mich wieder einhüllen und war wie
eine Wolke hinter mir her. Ich lief um mein Seelenheil. Nichts, was mir in dieser Landschaft an
Hindernissen begegnete, war so schlimm wie die Höllenqual, so daß mich kein Hindernis
abschrecken konnte. Im Leben hätte ich so einen Parcours keine 100 m durchgehalten, das kann ich
dir versichern! Dann sah ich plötzlich einen Lichtstrahl senkrecht auf den Boden fallen und als ich
ihn erreichte, sah ich, daß er durch ein Loch in der Decke drang und eine Leiter hinaufführte. Und
als ich dich sah, wusste ich, daß ich gerettet bin. Schau!" Sie wies auf die Stelle hinter sich, wo eben
noch der "Brunnen" war. Er hatte sich geschlossen. "Da kommt keine Hölle mehr durch." – Doch da
schien sie zum ersten Mal zu begreifen, daß sie wirklich gerettet war, sie sank auf die Knie und
weinte. Ich schloß sie in meine Arme.
"Das Schlimmste", begann sie nach einer Weile, "schlimmer als die eigentlich Qual, war die
absolute Hoffnungslosigkeit: die Gewißheit, daß es ewig sein würde, daß nie etwas anderes
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kommen würde, verstehst Du? Es war völlig gewiß, es war nicht möglich, irgend etwas zu denken,
das auch nur der winzigsten Hoffnung Raum geschaffen hätte. Schlimmer als die Qual selbst war
auch das Bewußtsein, sie selber verschuldet zu haben. Immer wieder erlebte ich die Situationen
meines Lebens, in denen ich die falschen Entscheidungen getroffen hatte, und ich mußte mir
eingestehen, daß ich allein verantwortlich war dafür, eine einzige und einmalige Chance vertan zu
haben, die einzige, einmalige, winzige Chance, die wir haben, vor der Unendlichkeit. Ich konnte
mir es nicht anders vorstellen, als das alle Wesen des Daseins nur Spott, Häme und Hohn auf mich
spucken würden. Schuld und Scham wurden so übermächtig, dass ich ständig das Gefühl hatte,
daran zugrunde gehen zu müssen. Aber man geht dort nicht zugrunde, man hat keine Hoffnung,
zugrunde zu gehen, das ist ja gerade Teil der Qual. Und schließlich: die absolute Verlassenheit. Im
Folterkeller hat man wenigstens noch die Schergen. Doch hier war ich ganz allein - auf ewig völlig
allein in diesen Kreisen der Qual."
"Die mit der Qual verbundenen Qualen habe ich verstanden, aber was war die eigentliche Qual?"
"Du würdest es nicht verstehen. Im Leben ist eine solche Qual nicht vorstellbar. Das Schlimmste
und Widerwärtigste, das du dir vorstellen kannst, ist gegen diese Qual nur wie das Kitzeln eines
Fliegenbeins gegen lebendig die Haut abgezogen zu bekommen. Und das Allerschlimmste war: die
Qual änderte sich ständig! Es gab ständig einen neuen, vorher nie gekannten Schmerz, es gab nicht
die geringste Möglichkeit der Gewöhnung oder Erwartung. Man konnte nie wissen, wie lange eine
Qual dauerte und wie sich die nächste anfühlen würde. Und so sehr man sich auch auf eine böse
Überraschung einstellte: das Eintretende übertraf an Bösartigkeit noch das Schlimmste, was man
sich vorstellen konnte."
Erneut brach sie in Tränen aus. Sie weinte lange. Als sie sich beruhigt hatte, fragte sie:
"Womit habe ich verdient, daß Du mich rettest?"
"Tja, ich weiß auch nicht, ich konnte es einfach nicht aushalten, dich in der Hölle zu wissen und
überhaupt um die Hölle zu wissen, ich glaube das hat mit Verdienst gar nichts zu tun. So wie es jetzt
ist, das ist doch völlig bekloppt: ein paar Erdenjahre entscheiden über die Unendlichkeit. Das kann
es doch nicht sein, das ist doch völlig unausgegoren! Wie bei einem Flugzeug, das bei bestimmten
Bedienungsfehlern gleich abstürzt, ohne irgendeine Möglichkeit der Gegensteuerung. Ich habe
diese Unvollkommenheit einfach nicht hinnehmen wollen. Ich glaube, das ist alles."
Es war, während wir redeten, immer heller und heißer geworden. Jetzt wurde es allmählich
unerträglich und wir spürten, daß das Licht uns umbringen würde. Bei dem Gedanken, wieder in die
Nebelhalle gehen zu müssen, versagten mir die Knie, rein instinktiv erinnerte sich mein ganzer
Organismus an das dort erlebte. Sie half mich auf:
"Glaub mir, das Licht hier wird immer höllischer, es wird uns umbringen und du weißt was das
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heißt! Aber dort im Nebel haben wir eine Chance!"
"Es ist nicht klar, wieviel darin von uns und wieviel vom Zufall abhängt. Vielleicht werden wir
es nicht schaffen, dann war alles umsonst", erwiderte ich verzweifelt.
"Nein, nicht umsonst. Denn jetzt weiß ich, daß es nicht ewig sein wird, nicht unabänderlich,
verstehst Du, nicht ewig!!!"
"Aber selbst wenn wir das schaffen, das war erst der Anfang, dann kommt das Purguratorium!"
"Ich weiß", sagte sie fast ein wenig schnippisch lächelnd, "ich bin bereits informiert. Aber ich
bin ja nicht mehr allein. Du mußt Dich nur genügend anstrengen, mich fest zu halten!"
"Und warum sollte ich das tun? Warum tue ich das eigentlich alles für dich?" Mir kam die ganze
Sache plötzlich albern vor.
"Du hast es doch eben gesagt: als Teil eines sich selbst vervollkommnenden Organismus macht
man das nun mal so", antwortete sie und grinste.
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Stoffwechsel. Ein Alptraum.
An einem Hochsommermorgen fuhr ich in der ersten Helle los, voller Vorfreude auf Lara, die Frau,
die ich liebte. Die Autobahn war noch völlig leer. Nach einer halben Stunde Fahrt sah ich mehrere
stehende Fahrzeuge, offenbar ein Unfall. Die Menschen standen ratlos herum. Als sie mich sahen,
gestikulierten sie stark, um mich anzuhalten. Einer rannte auf den letzten Metern auf mich zu und
bat, den Motor nicht auszuschalten. Er sprach von einer Ökokatastrophe.
Die Autobahn brach abrupt ab. Es war eine gleichförmige Fläche zu sehen. Sie war fest wie
Stein. Ein Lastwagenfahrer hatte mit einem Wagenheber ein Loch hinein gebrochen, es handelte
sich um eine Art Kruste, armdick, darunter befand sich eine seltsam zähe schleimige Masse. Sie war
hoch ätzend, der Auflösung des hinein gehaltenen Metalls konnte man zusehen.
Zwei Männer kamen von den überkrusteten Hügeln zurück. Sie schilderten, wovon ich mich
danach selbst überzeugte: von den Hügeln sah man bis zum nächsten Hügelkamm nur diese steinig
verkrustete Landschaft. Die vereinzelten Dörfer, die hier gestanden haben mußten, waren weg, was
mit den Menschen geschehen war, war unklar.
Der Lastwagenfahrer berichtete, in der Nacht in südlicher Richtung so etwas wie Polarlichter
gesehen zu haben. Der Funk sei ausgefallen. Dann sei die Autobahn plötzlich zu Ende gewesen. Mit
den später eingetroffenen anderen Fahrern hätten er versucht die Leitplanke zu demontieren, um zu
wenden und zurückzufahren, aber sie hätten nicht mehr starten können, die Batterien seien leer
gewesen, rätselhafterweise.
Ich gab denen, die wenden wollten, Starthilfe, stand aber mit den andern noch weiter unschlüssig
herum. Die Aussicht, Lara heute nicht mehr in die Arme zu schließen, machte mich wütend. Ich war
drauf und dran, mit dem Wagen über die Kruste zu fahren, doch der Lastwagenfahrer gab
eindringlich die Unberechenbarkeit zu bedenken. Irgendwann trafen Polizisten ein. Auch sie waren
ratlos, hatten keinen Funk, konnten nichts melden und keine Anweisungen entgegennehmen. Sie
konnten nichts weiter tun, als den zunehmenden Verkehr auf die Gegenfahrbahn umzuleiten, zur
Rückkehr. Schweren Herzens trat auch ich die Rückkehr an. Ich konnte es nicht fassen, Lara heute
nicht mehr zu sehen, und schlug immer wieder wütend auf das Lenkrad ein. Mehrmals versuchte
ich, die Kruste weiträumig zu umfahren, ich hoffte jedes Mal ungeduldig auf freie Fahrt, aber jedes
Mal vergeblich. Gegen Abend gab ich auf und fuhr ins Dorf zurück, wütend und verärgert, nicht bei
Lara zu sein und einen ganzen Urlaubstag im Auto vergeudet zu haben. - Ich hoffte, zu Hause eine
Festnetzverbindung zu Lara bekommen zu können. Auch da wurde ich enttäuscht. - Jetzt konnte ich
nur noch hoffen, daß Lara in den Nachrichten gehört hatte, daß Mecklenburg durch eine rätselhafte
Umweltkatastrophe vom Rest der Welt abgehängt worden sei.
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2
Ich war damals Anfang 20 und betrieb mit meinem Vater an der Müritz einen kleinen
Rundflugbetrieb für Touristen. Nach der Wende hatte er billig eine Piste der Landwirtschaftsflieger
erworben. Dort stand unser Doppeldecker, ein selbstgebautes historisches Modell. Es kam uns jetzt
zugute, daß wir uns nichts Historisches erspart hatten, und der Motor mit Startpatronen gestartet
wurde. Mit unserem Aktionsradius von 250 km konnten wir bis weit hinter Berlin und zurück
fliegen.
Kaum in der Luft, sahen wir in der Ferne die öde gelbe Fläche. Unser Entsetzen wurde immer
größer: Je weiter wir auch krusteneinwärts flogen, wir sahen kein Ende! Soweit das Auge reichte:
überall war die Landschaft mit diesem einförmigen gelben Brei überzogen, der alles unter sich
begraben hatte, Straßen, Höfe, Dörfer, Seen! Allerdings gab es immer wieder Grünstreifen,
teilweise kilometerlang und mehrere hundert Meter breit. Die Menschen, die dort von der Kruste
überrascht worden waren, standen ratlos an den Rändern. Einmal sahen wir einen einsamen Hof,
Wohnhaus und Stallungen waren über die Hälfte verschwunden. Wir sahen zwei Kinder kauern, ein
paar Kühe liefen umher. Wir landeten. Die Kinder standen unter Schock. Die Eltern hatten in dem
verschwundenen Teil des Hauses geschlafen. Die Kinder hatten die Kruste an vielen Stellen
aufgebrochen um ihre Eltern zu suchen, aber überall nur die gleiche schleimig ätzende Masse
gefunden. Sie wollten nicht mit uns kommen. Sie wollten auf ihre Eltern warten. Sie hatten das
zwar schon den ganzen gestrigen Tag getan, aber es war selbst für uns unfaßbar, daß die Eltern
einfach weg sein sollten. Wir suchten mit ihnen noch einmal alles ab und durchpflügten regelrecht
den ganzen Grund, auf dem das Haus gestanden hatte, fanden aber unter der Kruste überall nur den
ätzenden Brei. Nach einigen Stunden entdeckte ich etwas, was ich gestern an der Autobahn noch
nicht bemerkt hatte: Die Kruste wuchs! Langsam aber sicher. Sie ätzte sich durch das Mauerwerk.
Von Zeit zu Zeit stürzten die verbliebenen Gebäudeteile ein. - Am späten Nachmittag konnten die
Kinder die Wahrheit nicht mehr verleugnen und kamen mit. Die Mädchen waren tapfer: das ältere
erschoß eigenhändig die Tiere, weinend.
Von Berlin war keine Spur zu sehen. Oder doch: Spuren. Die Fläche war hier deutlich
unregelmäßiger. Sie erinnerte schwach an die Auswölbungen einer Riesenschlange, nachdem sie ein
Kalb verschlungen hat. - Wir hatten die Kinder im Unklaren über unser Ziel gelassen. Unsere
Erschütterung über die ausgelöschte Großstadt ließen wir uns nicht anmerken.
Am nächsten Tag flogen wir die Kinder zu ihrer Tante nach Rostock. Der Zugverkehr war
lahmgelegt, es gab keine Elektrizität. Funk fiel weiterhin aus.
Am Tag darauf fuhr ein Polizeifahrzeug durchs Dorf und versicherte per Lautsprecher, daß keine
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Gefahr bestehe und die Versorgung sichergestellt sei. - Wir schafften unsere Treibstoffvorräte an das
Autobahnende, um die Fläche noch weiter erkunden und weitere Überlebende retten zu können.
Soweit wir auch flogen: die Kruste war unabsehbar nach allen Richtungen. Mehrmals sahen wir
Gruppen von Menschen, die durch Hunger und Durst aus ihren Enklaven getrieben worden waren.
Sie hatten keine Ahnung, in welche Richtung sie sich wenden sollten, keiner hatte Hoffnung. Wir
konnten ihnen wenigstens den Weg weisen. Erst hinterher fiel mir auf, daß ich zu diesem Zeitpunkt
wie selbstverständlich davon ausgegangen war, daß die Kruste nicht bis Weimar reichte, daß
irgendwo südlich von Berlin wieder alles in Ordnung sein müsse, daß es gar nicht anders sein
könne.
Wir sahen jetzt immer öfter Militärhubschrauber, die Eingeschlossene retteten.
Die verbliebenen staatlichen Einrichtungen schafften es, Recht, Ordnung und Versorgung
aufrecht zu erhalten, mit Infoblättern oder Lautsprecherwagen wurden die Bürger regelmäßig
informiert.
Nach zwei Wochen wurden die ersten Untersuchungsergebnisse freigegeben. Sie waren
schockierend. Doch was mich am fassungslosesten machte: Ich mußte davon ausgehen, daß Lara tot
war. Die Luftbilder rund um Weimar, die ich als Angehöriger einsehen durfte, zeigten keine
Enklave, nur Kruste, flächendeckend. Einen größeren Schmerz habe ich in meinem Leben nie
wieder empfunden, trotz allem, was noch kommen sollte. - Mehr als zwei Drittel der
Landoberfläche der Erde war verkrustet. Mehrere Milliarden Menschen waren darunter begraben.
Überall, wo man unter der Kruste nach Überresten von Häusern, Dingen und Menschen gesucht
hatte, hatte man nur schleimigen, schlierigen Brei gefunden. Es war rätselhaft, worum es sich
handelte. Es verhinderte allen Funk. Elektrizität konnte nicht weiter als 4 Meter transportiert und
nicht länger als eine halbe Stunde gespeichert werden. Wieso war unklar. - Telefon, Internet,
Rundfunk: alles blieb tot. - Pro Stunde fraß sich die Kruste etwa 2 Meter weiter ins Land, das
machte in 20 Tagen fast einen Kilometer. Das war aber kein Grund zur Panik, weil das Wachstum
der Kruste langsam genug war, um eine Problemlösung erwarten zu können, bevor es im wahrsten
Sinne des Wortes „eng“ würde.
Nach weiteren Wochen gab es die ersten Forschungsergebnisse: Es mußte aus dem Weltraum
stammen. Es ließ sich zertrümmern bis zu einem Feinstaub mit Partikeln im Nanobereich. Das
Elektronenmikroskop zeigte die Partikel als vollendete glasklare Kugeln. Ab einer gewissen Menge
Staubes konnte mit dem bloßen Auge ein schwaches Fluoreszieren in allen Regenbogenfarben
beobachtet werden, bevor der Staub sich wieder zu einer gelblichen Kruste verbug, deren Rand,
dort, wo sie auflag, schleimig wurde und sich durch alles durchfraß, durch alles! Oder besser: er
verstoffwechselte alles, denn er verwandelte alles unter sich in Kruste. Ließ man es liegen, lag es
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irgendwann faust- oder ballgroß auf dem Boden des tiefsten Kellers und wuchs dort, unaufhaltsam,
in Breite und Tiefe. Die Kräfte, die am Werk waren, blieben unerklärlich. - Das Zeug mußte über
bisher unbekannte Möglichkeiten der Leitung von Elektrizität verfügen, die durch keine bekannten
Materialien gänzlich zu unterbinden waren. Nur so war erklärbar, warum es allen Strom aufsaugte.
Der ätzende Brei fraß sich immer tiefer ins Erdinnere und ließ die Kruste immer dicker werden.
Die Kruste begann, sich unseren Planeten einzuverleiben. - Ab einem Gewicht von 20 kg pro
Quadratmeter wurde auch auf der Krustenoberfläche eine Ätzreaktion ausgelöst, je schwerer das
Gewicht, desto eher: Zwischen 30 und 50 kg dauerte es mehr als 20 Stunden bis zur Ätzreaktion,
ein auf die Kruste gefahrener Panzer wurde bereits nach 4 Stunden angeätzt. Aber nie schaffte es
die Kruste schneller als in 2 Stunden, ihre Ätze herauszuschwitzen.
Nach zwei Jahren hatte die Kruste unseren kleinen Flugplatz erreicht, wir wurden zu
Flüchtlingen. Nach 6 Jahren gab es überall auf der Welt immer häufiger kleine Erdbeben, aber ohne
nennenswerte Schäden. Nach 8 Jahren nahmen diese Beben an Häufigkeit und Heftigkeit zu, die
Wirtschaft, durch die Flüchtlinge längst bis an die Grenze belastet, begann zusammenzubrechen,
und wo Chemiewerke und Tanklager zerstört wurden, gab es ausgedehnte Ökokatastrophen. Nach
10 Jahren hatte sich die Kruste überall etwa 700 km weiter ins Land gefressen. - Wir waren, wie
viele Millionen anderer auch, längst in Norwegen evakuiert, dicht gedrängt. Es gab die ersten
Versorgungsengpässe und Platzprobleme. Bis dahin war trotz der Erdbebenkatastrophen alles sehr
diszipliniert abgelaufen, jetzt begann die Lage zu kippen. Alle Hoffnungen in die Wissenschaft
waren zerschlagen. Die Wissenschaftler konnten nur mit beunruhigenden Fakten aufwarten: Die
Kruste hatte sich bereits über 1000 km tief in die Erde gefressen. Und je tiefer die Kruste drang, um
so schneller fraß sie sich auch an der Oberfläche voran. Der überkrustete Meeresboden hatte sich
stellenweise um mehr als 3000 m gehoben, wieso blieb rätselhaft. Der Meeresspiegel war dennoch
nicht nennenswert angestiegen. Offenbar saugte die Kruste das Meer auf.
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Es begann überall ähnlich: Hinter den Lagern stand die Armee und vor den Lagern bildeten sich
neue Lager. Und als die Kruste sie erreichte, drängten die Menschen auf den festen Boden, es kam
zu Gewalt. Überlebende berichteten von unvorstellbaren Szenen, in denen Zivilisten mit Küchenund Gartengeräten aufeinander losgingen. Manchmal verbündeten sie sich aber auch und griffen die
Armee an, der Tod auf der Kruste war nicht nur gewisser, auch grausamer als der durch eine Kugel.
Die Armee zog sich vor der Kruste zurück, und die, die von ihr vor den Flüchtlingen geschützt
worden waren, wurden zu selbst Flüchtlingen, die von der Armee aufgehalten werden sollten.
Ich hatte das Glück gehabt, zu einer der ersten großen Flüchtlingswellen zu gehören, als man
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noch davon ausging, daß die Kruste bald gestoppt werden könnte. Norwegen hatte damals den
schmalen Streifen Deutschlands, der noch übrig geblieben war, entlastet, und uns aufgenommen.
Wir waren die letzten gewesen, die auf die Städte im Hinterland verteilt wurden. Als die Kruste aus
der Ostsee herauswuchs und die Menschen aus den Lagern an der Küste vertrieb, fühlten wir uns
schon wie Skandinavier, die ein Recht hatten, sich gegen diese Flüchtlingsinvasion zu schützen.
Aber dann bekamen wir zu spüren, wer das Recht der angestammten Scholle in Anspruch nehmen
durfte und wer nicht. - Ich will dem Leser die Schrecken, Wirren und Greuel ersparen, die Völkerund Brüdermorde, die Bürgerkriege und Schreckensherrschaften, die sich nach und nach überall auf
dem Rest der bewohnten Welt Bahn brachen. Alles, was die Geschichte der Menschheit an
Schmerz, Verzweiflung und Tod, an Grausamkeit, Skrupellosigkeit und Niedertracht kennt, schien
sich jetzt zu einem Horrorfinale zu bündeln. Das Morden nahm kein Ende, es gab schließlich
niemanden mehr, der nicht vielfach in der Situation "Du-Oder-Ich" eine Entscheidung hatte treffen
müssen. Wer überleben wollte, mußte morden, und je unvorstellbarer die Schuld wurde, desto
besinnungsloser mordeten wir weiter. Erst nach milliardenfachem Mord entstand buchstäblich
wieder Raum zur Besinnung. - Wir, der Rest der Menschheit, mußten uns auf Schiffe evakuieren,
und alles, buchstäblich alles, dessen wir noch habhaft werden konnten, verwandelten wir in Schiffe,
Ausrüstung, Vorräte und Bioressoucren. Hastig wurden die Bodenschätze gehoben, ja, der Boden
selbst wurde zum Schatz. So viel Material wie möglich retteten wir, in dem wir es auf der Kruste so
flächig verteilten, daß keine Ätzreaktion ausgelöst wurde. Jeder Zentimeter der Schiffdecks wurde
zu landwirtschaftlichen Anbauflächen. Darunter waren unsere Wohnungen, darunter Fabriken,
Lager, Tanks. - Aber wir wußten, daß das nur eine Übergangslösung sein konnte: Es war längst klar,
daß dieses Etwas, was es auch war, sich den Planeten völlig anverwandeln würde. Bald würde es
kein Meer mehr geben. Und dann würden wir nur überleben können, wenn wir halb in der Luft
hingen: Wir bereiteten uns darauf vor, mit riesigen Ballons das Gewicht unserer Lebensräume so zu
erleichtern, daß nicht mehr als 20 kg pro Quadratmeter dauerhaft auf der Kruste lasten würden.
Mehr und mehr wurde klar, wie viele Menschen in solchen „Hängearchen“ dauerhaft überleben
könnten. Dafür waren wir immer noch viel zu viele...
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Die auf 15 Millionen Menschen geschrumpfte Menschheit verteilte sich auf 50 Flotten, jede
mehr als 1000 Schiffe stark. - Alle Versuche, die Telekommunikation wieder herzustellen, waren
gescheitert. Um miteinander Kontakt zu halten, nutzen wir Segelboote, denn jeder Tropfen, jeder
Krümel war kostbar wie Gold, zu kostbar, um verfeuert zu werden. Später, als die Ozeane auf ein
paar Pfützen schrumpften, die die Flotten von einander trennten, bauten wir Radsegler, um
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miteinander in Verbindung bleiben zu können. - Auf den meisten Flotten beschlossen die Menschen,
daß alle ab 70 freiwillig in den Tod gehen sollten, und als absehbar war, daß das nicht reichte,
wurde das Alter auf 65, dann 60 und schließlich 55 reduziert. Aber das reichte immer noch nicht.
Doch scheiterte diese Regelung ohnehin daran, daß sich mehr und mehr nicht daran hielten.
Zunächst waren es nur einige wenige gewesen, dann hatten immer mehr sich gesagt: wenn die sich
nicht dran halten, funktioniert es sowieso nicht, wieso sollten wir uns dann daran halten? - Als
nächstes hörten wir, daß bei einigen Flotten die Schiffe begonnen hatten, sich gegenseitig zu
bekriegen. Angefangen hatte es damit, daß mehrere Schiffe sich zusammengetan hatten, um andere
zu kapern und sich deren Heliumvorräte einzuheimsen. Helium galt als das Allerwertvollste, denn
die hochexplosiven Wasserstoffballons würden über uns schweben wie Damoklesschwerter. Die
andern Schiffe verbündeten sich, um das Helium zurück zu erobern. Bei diesem Krieg wurden die
Tanks beschädigt und der größte Teil des Heliums ging verloren. Anstatt daraus zu lernen, war
dieser Krieg der Auftakt zu weiteren Kriegen um die Überlebensressourcen, vor allem um Energie
und Rohstoffe sowie um die Maschinen zum Erzeugen von Wasserstoff und zum Herstellen von
Ballonstoff. Bei jedem Krieg wurden auch für die Sieger weit mehr Ressourcen vernichtet als
gewonnen, so daß ein Krieg den nächsten anstachelte. Auf keiner einzigen Flotte vermochten die
Menschen, sich dieser eskalierenden Logik zu entziehen, Kriegsmüdigkeit und Friedensbereitschaft
wurden durch die kriegsbedingt weiter gewachsene Diskrepanz zwischen Ressourcen und
Bevölkerungszahl immer wieder unterlaufen. Ein weiteres Mal mußten wir erst genug Tod und
Schrecken erlebt und tief genug in den Abgrund der völligen Vernichtung geblickt haben, bevor wir
begannen, Frieden zu schließen, um nicht die letzte Chance zu verpassen, uns für das Überleben auf
der Kruste einzurichten.
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Die Schiffe wurden nach und nach in Hängearchen verwandelt. Riesige Ballons wurden
möglichst weit voneinander entfernt und in verschiedenen Höhen aufgelassen, so daß eine
Explosion nicht zu einer Kettenreaktion führen konnte. Eine Gasreserve für mehrere Ballons wurde
in Kompressoren einbehalten.
Es war abzusehen, daß sich irgendwann alles Wasser wenige Zentimeter flach über die gesamte
Kruste verteilen und verdunsten würde, wir konnten in der Zukunft nicht mehr mit Regen rechnen.
Wir mußten geschlossene Kreisläufe schaffen. Schließlich ließen wir nichts mehr unter freiem
Himmel wachsen. Und es gab keinen Abfall mehr: Alles, was die Kruste noch übriggelassen hatte,
war unendlich wertvoll, selbst unsere Exkremente. Wir erlebten unmittelbarer als es jemals zuvor
Menschen erleben konnten, was es bedeutet, Teil eines Kreislaufs zu sein, eines Stoffwechsels.
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Die Archen waren bis auf das letzte Gramm ausgereizt und ausgeklügelt. Sie waren bis zu einem
Quadratkilometer groß. Damit sie das Gewicht ständig verlagern konnten, waren sie auf Röhren
montiert, ummantelt mit Reifen, die halb platt auf der Kruste auflagen. Für die ständige Bewegung
sorgten Wind und Sonne. Die Sonnenenergie wurde in Form von Wärme gespeichert, in allen
tragenden Metallteilen. Heizenergie war entbehrlich, weil sich alle Archen rund um den Äquator
verteilten. Durch die Einförmigkeit der Planetenoberfläche waren die Energieerträge von Sonne und
Wind völlig berechenbar.
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Nach unseren Berechnungen hätten wir ursprünglich Überlebensressourcen für einige Millionen
Menschen gehabt, aber die kriegsbedingten Zerstörungen und Verzögerungen hatten zu enormen
unwiederbringlichen Materialverlusten geführt, so daß auf allen Archen zusammengenommen nur
einige Tausend Menschen überleben konnten. Es war klar, daß uns erneut, zum vierten Mal, ein
großes Sterben bevorstehen würde, weil nur einer von 1000 der jetzt noch Lebenden dauerhaft
ernährt werden konnte. Diesmal wollten wir alles dafür tun, einen weiteren Krieg ums Überleben zu
vermeiden. Überall setzte sich durch, daß über Leben und Tod per Los entschieden werden sollte,
und sich jeder darauf vorbereiten müsse, daß es ihn treffen könne. Insgeheim glaubte jedoch
niemand, daß die Betroffenen sich an die Losentscheidungen halten würden. Es wurde befürchtet,
daß doch wieder ein Krieg entbrennen würde, und daß die Ballons nicht hinreichend geschützt
werden könnten. Das hätte das Ende der Menschheit bedeutet. Deshalb war klammheimlich klar,
daß das große Sterben die Form eines großen Meuchelmordes annehmen würde. So kam es auch. In
jeder Flotte bildeten sich verschworene Gruppen. In jeder Flotte kam es zu Handstreichen, in denen
die zuerst Zuschlagenden die anderen töteten oder entwaffneten. Die Entwaffneten mußten sich
fügen und die Flotten verlassen. Die meisten Überlebenden zogen es vor, sich umzubringen statt auf
der Kruste zu verschmachten. Keiner von uns Überlebenden wird die Szenen vergessen, wie
verdurstende Menschenmengen gegen Maschinengewehrstellungen anrannten und niedergemetzelt
wurden. Andere unterlegene Gruppen entwickelten sich zu Piraten. Sie lebten auf Lastenseglern und
tauchten von Zeit zu Zeit auf, um die Archen zu überfallen. Irgendwann erledigte sich das
Piratenproblem von selbst, weil den Piraten die Munition ausging.
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Die Fliegerei ist mein Leben. Schon vor dem ersten Überlebenskrieg hatte ich mich für eine
ungewöhnliche Sache engagiert, der zu dem damaligen Zeitpunkt niemand Bedeutung beigemessen
hatte: Ich hatte mich den Solarflugpionieren angeschlossen, die trotz der schweren Zeiten
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unermüdlich Wege und Mittel gesucht hatten, die Solarfliegerei zu optimieren. Ich war der letzte
Vertreter meines Fachs. - Es dauerte noch viele Jahre, bevor das Fluggerät fertig war. Es waren
hochspezielle Probleme zu lösen gewesen: Es mußte so konzipiert werden, daß ich auf der Kruste
übernachten konnte. Es war riesig und leicht, und durch Einfahren des Fahrwerks und Verschieben
der Motoren konnte nach der Landung das Gewicht gleichmäßig verteilt werden. Das Cockpit war
offen und wo nicht Flügel war, war Gestänge. In den Jahren meiner unermüdlichen Arbeit an der
Entwicklung des Fliegers gingen weitere Veränderungen mit unserem Planeten vor, falls wir
überhaupt noch davon sprechen konnten, daß es der unsere war. Der Umfang des Planeten dehnte
sich immer weiter aus, die Masse blieb jedoch gleich. Schon in den Wirren des Überlebens hatten
wir mit bloßem Auge erkennen können, daß auch der Mond sich wandelte und die Astronomen
fanden heraus, daß auch Mars, Venus und Merkur von der Kruste befallen waren und sich
„aufblähten“. Darüber hinaus gelang es den Wissenschaftlern, festzustellen, daß alle von der Kruste
befallenen Planeten über ein elektrisches Feld miteinander verbunden waren. Das nährte viele
Fantasien.
Ich unternahm regelmäßig Erkundungsflüge. Dabei entdeckte ich überall auf der Kruste
Überreste von Enklaven, die versucht hatten, zu überleben, indem sie riesige Bodenplatten gebaut
hatten, auf denen sich das Gewicht so verteilte, daß die Kruste nichts merkte. Sie hatten darauf eine
spärliche Landwirtschaft betrieben und teilweise mehrere Jahre überlebt, hatten aber nicht genügend
Ressourcen oder Wissen gehabt, geschlossene Kreisläufe zu bilden, oder sie hatten in den Kämpfen
darum, wer überleben durfte, ihre Überlebensressourcen zerstört. - Einige dieser Bodenarchen
waren von Piraten gekapert worden. In ihren Ruinen fand ich Skelette, deutlich gezeichnet von
grausamen Toden... Nur eine Bodenarche fand ich, in der noch 35 Menschen lebten. Es waren
afrikanische Bauern, die ganz selbständig, ohne Wissenschaft, nur durch ihre Fähigkeit zur
Naturbeobachtung, herausgefunden hatten, was für das Überleben zu tun war.
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Die Kruste war völlig eben. Einigen kleinen Unebenheiten, die ich dann und wann überflog,
schenkte ich keine Aufmerksamkeit. Ich wußte noch nicht, daß sich daraus etwas entwickeln würde,
was unser Bild von der Kruste völlig verändern sollte, allerdings in einer Weise, die noch weit mehr
Rätsel aufgibt... - Mit der Zeit merkte ich, daß diese Unebenheiten wuchsen! Zuerst wie riesige
Maulwurfshügel, dann brachen sie in der Mitte auf, so daß sie aussahen, wie Pickel, und später wie
Krater: kreisrunde Wulstbildungen deren Mittelpunkt ein Loch von etwa 1000 Meter Durchmesser
bildete. Die Krater waren selten. Wir konnten hochrechnen, daß es maximal einige hundert von
ihnen gab. Ohne meine Fliegerei hätten wir sie vielleicht nie gefunden.
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Als Entdecker dieser Eingänge ins Innere der Kruste leitete ich die erste Expedition. Die Wülste
waren etwa 15 Meter hoch. Dahinter fanden wir eine einfache klare Struktur: Ein Art riesiger
Rampe führte spiralförmig in Innere. Neugierig wanderten wir hinab. Die Spirale schien endlos. Wir
holten ein Fahrzeug und ließen uns immer tiefer hinunter rollen, 10, 20, 30 Kilometer. Dann mußten
wir abbrechen. Alles, was wir bemerkt hatten, war, daß die Spirale sich nach allen Seiten vergrößert
hatte und steiler geworden war.
Die zweite Expedition statten wir mit einem Motor aus und mit Sprit für mehrere hundert
Kilometer. Wir hatten sehr viel Neugier erwecken und unermüdlich sammeln müssen, um eine
solche Menge Treibstoff zu bekommen, denn soviel wir von den Verbrennungsprodukten auch
aufzufangen verstanden: es ging immer etwas unwiederbringlich verloren.
Abwärts ließen wir uns wieder rollen, weiter und immer weiter in die Tiefe hinab, auf einer
größer und steiler werden Spirale in ewiger Nacht. Nach mehr als 100 km hatte der sich abwärts
windende Raum die Höhe einer Kathedrale angenommen. Nach weiteren hundert Kilometern wurde
mir mulmig wegen des beträchtlichen und immer schneller zunehmenden Gefälles, ich ließ stoppen,
als erfahrener Pilot vertraute ich meiner Angst. Sobald die Wagen standen, erloschen ihre
Scheinwerfer. Die Taschenlampenbatterien waren längst entladen, so daß wir im Dunkeln saßen.
Nach einiger Zeit meinte jemand, einen schwachen Lichtschein wahrzunehmen. Wir hielten es für
Einbildung. Wir ließen die Wagen langsam weiter rollen, ohne die Lichtmaschine mitlaufen zu
lassen. Nach weiteren Windungen - ich schätze, daß der Durchmesser einer Windung mittlerweile
10 km betrug - teilten alle den Eindruck eines schwachen Scheins, aber es wurde so steil, daß wir zu
rutschen begannen und zurück mußten. Der Eindruck der Helligkeit hatte nicht zugenommen, es
reichte nicht, um verläßlich zu sagen, ob wir die Hand vor Augen wirklich wahrnehmen konnten
oder uns das nur einbildeten. Es gab keine Möglichkeit, weiter in die Tiefe vorzudringen. Die
Spirale gab ihr Geheimnis nicht preis. Unsere Enttäuschung war unermeßlich. - Auf dem Rückweg
ersonnen wir die Idee, mit einem Ballon zurück zu kehren. Allerdings war klar, daß es Jahre dauern
würde, das erforderliche Gas zusammen zu bekommen.
Es wäre nicht in Ordnung gewesen, meine Entdeckung der Öffentlichkeit vorzuenthalten.
Deshalb konnten wir nicht verhindern, daß sich mehrere Male Abenteurer aufmachten, die Spirale
zu erforschen. Sie glaubten unserem Bericht nicht, stahlen Radsegler und Ausrüstung und
verschwanden. Keiner von ihnen wurde je wieder gesehen. Doch gerade das führte zu Fantasien
vom gelobten Land, die immer wieder neue Abenteurer anlockten.
Als die dritte Expedition ausgerüstet war, war ich ein Mann von 63 Jahren, aber noch fit genug,
die Expedition wieder selbst zu leiten. - Schon von weitem sahen wir am Rand der Spirale ein
Gewirr von Teilen zerlegter Radsegler, die Überreste der Abenteurer. Die Spirale selbst war leer und
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stumm, als sei sie nie betreten worden.
An der letzten Stelle, an der die Wagen noch sicher stehen konnten, richteten wir ein Lager ein.
Wir ließen uns mit der Gondel in den Schlund rollen, um im freien Fall die Gaskompressoren zu
öffnen und den Ballon aufzublasen. Wir hatten den Eindruck, daß es tatsächlich heller und heller
wurde. Dann nahm die Helligkeit schlagartig zu, und wir hätten vor Überwältigung beinahe
vergessen, die Kompressoren zu öffnen: Sprachlos schwebten wir über dem nie zuvor gesehenen
Schauspiel, das die Menschheit sich jetzt aus ihrem Dasein nicht mehr wegdenken kann. Aber was
zählt der urerste Blick bei einem Anblick, den wir jedes Mal so erleben, als sei es das erste Mal,
obwohl er uns trotz seiner völligen Fremdheit auf seltsame Weise immer erahnt und von weit her
vage bekannt erscheint.
Überrascht und ganz versunken in Faszination erkannte ich erst auf den zweiten Blick, daß es
sich um eine Kugel handeln mußte. An der schwachen Krümmung konnte ich einschätzen, daß sie
etwa 12 Kilometer unter uns lag. Es fiel uns so schwer, uns loszureißen, wir waren so berauscht von
dem Anblick, daß wir fast den Zeitpunkt der Rückkehr verpaßt hätten.
9
Obwohl wir schnell herausfanden, daß sie absolut lebensfeindlich ist und aus hochätzendem
Feinstaub besteht, und trotz der geringen Qualität der Bilder unserer primitiven, mit handerzeugtem
Strom betriebenen Kamera, entfachten die Filmaufnahmen, die wir mitbrachten, bei allen Menschen
sofort das Erstaunen, die Faszination und die Neugier, die seitdem nicht geringer geworden sind.
Die riesigen, unabsehbar aus dem Mittelpunkt der transparenten, kalt leuchtenden Kugel
wolkenartig herauswachsenden trichterförmigen Gebilde, die sich immer wieder mit
kaskadenartigen Entladungen ausfransen, die korrespondieren Asymetrien, die sie in Form und
Rhythmus wechselseitig untereinander bilden, eigenständig aber aufeinander bezogen wie beim
Kontrapunkt in der Musik, die offenbar aufeinander abgestimmten Farbwechsel, die nie dazu
führen, daß zwei Gebilde sich farblich gleichen: der Faszination dieses Anblicks konnte sich bisher
noch keiner entziehen, selbst die Dümmsten, Abgestumpftesten und Beschränktesten nicht. Und die
Intelligenz, die wir heute, 25 Jahre nach unserer Entdeckung, überall in der Bevölkerung messen, ist
deutlich gestiegen. So Dumme, Abgestumpfte und Beschränkte, wie ich sie noch kannte, gibt es
heute gar nicht mehr. Dass uns der Blick in die Kugel - und sei es auch nur auf den Bildschirmen intelligenter und geistvoller macht, ist erwiesen, warum das so ist, bleibt ein Rätsel. - Leider - oder
soll ich sagen glücklicherweise? - werden wir dadurch nicht zu besseren Menschen. Die
Entwicklung von Kultur und Selbsterkenntnis wird uns erleichtert aber nicht abgenommen. Wir sind
fähiger für die Aufstiege zum Höheren aber nicht freier von den Neigungen zum Niedrigen.
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Nach den neuesten wissenschaftlichen Ergebnissen wissen wir jetzt, was wir schon immer
geahnt, „gefühlt“ haben: Die Kugel ist komplex genug, um die Annahme eines intelligenten Wesens
nicht zu verbieten. Aber selbst wenn sie bewußtseinsfähig wäre: Sie ist zu groß für uns. Erwiesen
ist, daß wir definitiv nicht mehr über die Möglichkeiten verfügen, regelmäßige Reize zu erzeugen,
die stark genug wären, daß es Sinn für etwas so Großes hätte, sie nicht zu ignorieren. Hätten wir all
die Millionen von Menschen gerettet, die wir hätten retten können, hätten wir all das in den Kriegen
verlorengegangene Material noch, sähe die Rechnung anders aus. Und wir müssen auch davon
ausgehen, daß das Wesen - falls es eins ist - uns nicht entdeckt, weil es nicht mit der Möglichkeit
völlig anderer Lebensformen rechnet. Und selbst wenn es damit rechnen würde: Wie sollte es
darauf kommen, daß ausgerechnet auf seiner Hülle intelligente Mikroben überlebt haben, die bereits
vor ihm da waren.... Wir werden nie erfahren, ob es denkt, und wenn ja, was.
So kam es zu den vier großen Selbstvorwürfen, an denen wir uns wahrscheinlich abarbeiten
werden bis das Ende der Sonne das Ende unserer Lebensform besiegelt:
Wäre das Wesen intelligent, würde ein Kontakt vielleicht dazu führen, daß es uns unsere Erde an
der Oberfläche zurückgeben würde, daß die Erde wieder grün, die Menschheit wieder zahlreich und
zu einem gleichberechtigten Partner würde, in einer planetaren Symbiose. Nach Auswertung aller
früheren Erkenntnisse im Lichte der neuesten Forschungsergebnisse müssen wir ferner davon
ausgehen, daß wir es uns auch verscherzt haben, die Staubkugel und seine Kruste weiter erforschen
können. Alle Erkenntnisse legen nahe, daß es sich um eine völlig andere Art der EnergieMaterieOrganisation handelt, auf einer Ebene, die allem, was wir bisher wissen, noch voraus liegt,
offenbar auf subquantischem Niveau, auf dem die Vorstellung von Teilchen oder Strings keinen
Sinn ergibt. Die Maschinen und die Energie, die wir zur Erforschung dieser Dimension benötigen
würden, übersteigen grundsätzlich und bei weitem die Möglichkeiten, die uns nach all den Kriegen
übrig geblieben sind. - Und drittens: die Enge wird immer bleiben. Viel weiter schrumpfen kann die
Menschheit nicht mehr, wenn sie ihre Reproduktion nicht gefährden will. Hätten wir Millionen
gerettet, hätten die zukünftigen Generationen durch Familienplanung den Platz für jeden leicht
verzehnfachen, ja verhundertfachen können. - Schließlich werden wir mit unserer Sonne
untergehen. Es gibt nicht mehr genug Ressourcen, einmal genügend Archen zu bauen, mit der eine
hinreichend große Zahl von Menschen die Menschheit vor dem Tod ihres Gestirns ins All retten
könnte.
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Die machtvolle Wirkung der Kugel führte schnell zu ausschweifenden Fantasien. Daß die Kugel
„Das Auge Gottes“ sei, war eine der ersten. Daraus entspannen sich abwegige Vorstellungen von
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einem „Sündbrand“, der nur einige Auserwählte übriggelassen habe – zwar nicht die Gerechten –
denn jeder Überlebende hatte viel Schuld auf sich geladen – aber die Stärksten, diejenigen, die die
besten Voraussetzungen hätten, einen Stamm der Gerechten zu begründen. - Heute sind die
Anhänger dieser esoterischen Lehre zu einer unbedeutenden Sekte geschrumpft, die niemand mehr
ernstnimmt. Aber damals, vor 25 Jahren, waren sie bedrohlich. Es war in den damaligen Zeiten, die
noch weit mehr von Schuld, Unsicherheit und Angst geprägt waren, nicht abzusehen, zu welcher
Schreckensherrschaft diese Fantasie vielleicht führen würde. Die Sektenführer versuchten den
Menschen einzureden, Gott würde seine Ätzschwelle verringern, würden wir nicht wohlgefällig
genug leben. Hätten die Sektierer Erfolg damit gehabt, hätten sie eine gnadenlose Inquisition
errichten können, mit freier Hand, jeden Abweichler zu vernichten. Glücklicherweise hatte sich die
Gesellschaft schon relativ konsolidiert, als wir die Kugel entdeckten, und eine neue Generation war
herangewachsen. So wurde die Sektenbildung durch Fragen in Schach gehalten: Weshalb Gott uns
sein Auge sehen lasse. - Antwort: Gott habe in seiner Gnade geruht, uns seinen Blick auf uns
sinnfällig darzubieten, um der Leugner und Zweifler zu wehren. - Weshalb er es dann unter der
Kruste verberge, statt daß der Himmel uns anblicke? Außerdem könne er unter dem Lid der Kruste
ja gar nichts sehen. - Es hieß: er wolle sich uns nicht aufdrängen und uns nicht alle Mühe des
Glaubens an seine Gegenwart abnehmen, und natürlich könne sein Auge durch die Kruste sehen, so
wie unser Auge durch die Netzhaut. Spötter meinten dazu: Wenn Gott von unten auf uns blicke,
wolle er offenbar bloß den Mädchen unter die Röcke gucken. So kam es, daß mehr und mehr über
die Sektierer gelacht wurde.
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Was uns bleibt ist unsere geistige und soziale Entwicklung. Vielleicht können wir in diesem
Sinne die Katastrophe, die die Kugel über uns gebracht hat, als Chance für die Menschheit
auffassen – wenn wir die Überreste der Menschheit, die auf ihrem eigenen Planeten lebt wie
Schiffbrüchige, wie Gestrandete, noch Menschheit nennen wollen.
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