Fantasien - Goethes Faust

Daniel Seefeld
Fantasien
Euphorions Wandlung ………………. 1
Subversion im Himmel ……………….16
Stoffwechsel ………………………….31
Euphorions Wandlung
1
Ich bin Arbeiter in den Fohrkoppssümpfen. Fohrkopps, (das "o" ist offen, wie in "Forke")
Fohrkopps, das ist unser Grundnahrungsmittel, eine nahrhafte aber recht fade schmeckende
Wurzel, die nur in sumpfiger Erde gedeiht.
Ursprünglich war unser Landstrich ein idyllisches sanftes Hügelland mit Seen in den
Niederungen. Die Hügel trugen Obstbäume, zwischen denen Rinder weideten. Doch nach und
nach hatten auf Geheiß der Händler Generationen von Bauern die Hügel abtragen und damit
die Seen auffüllen müssen, um weitere Anbauflächen für Fohrkopps zu schaffen. So entstand
diese sumpfige Ebene, die sich von Horizont zu Horizont hinzieht. Es gibt keine Hügel mehr,
außer denen, auf denen die Schlösser stehen, und keine Seen, außer in den ausgedehnten
Schloßparks, die aber für uns unzugänglich sind und durch hohe Mauern den Blicken
entzogen. Im Süden der Ebene ist der Horizont verstellt durch den Urwald. Kaum jemand
wagt sich da hinein. Dort gibt es Schwertechsen, flinke Reptilien, die an jeder Klaue eine
schwertartige Kralle besitzen. Oder Mumpfkrappse: mannsgroße hirnlose Riesenweichtiere,
die wie ein Gummi aus getarnten Erdhöhlen hervorschnellen, ihr Opfer blitzschnell mit
schleimigen Lappen umwickeln und sofort verdauen.
Man hat versucht, Wald zu roden, zwar ist der Boden zu trocken und zu felsig, um Fohrkopps
anzubauen, aber man wollte das Holz verkaufen. Doch kaum waren die Bäume weg, schoß
der Seuchzergerich ins Kraut: ein gegen alles immunes Unkraut, das die Anbauflächen sofort
mit Unmengen von Samen überzog und die Ernte eines Jahres fast ganz vernichtete. Im
1
Gegensatz zu den Sümpfen, in denen es nur sehr oberflächlich wurzeln kann, wurzelt es im
Waldboden so tief, daß ihm nicht beizukommen ist. Nur die Bäume halten es klein, sie
entziehen ihm die Nahrung. Die gerodete Stelle wurde schnell wieder aufgeforstet und
seitdem rührt man den Wald nicht mehr an.
Fast alle Einwohner der Ebene sind Fohrkoppsbauer. Sonst gibt es im Umkreis der Schlösser
nur noch ein paar Beamte, Bewaffnete und Bediente. Wie die meisten, arbeite ich für einen
Hungerlohn auf den Feldern, die alle den Händlern gehören. Tagaus- tagein, teilweise über 14
Stunden, stehen wir barfuß im Dreck und beseitigen Dreppelweben, das sind
pflanzenfressende Wurzelgeflechte, die den ganzen Sumpf netzartig durchziehen, schnell
nachwachsen und sich von Fohrkopps ernähren. Das Wurzelziehen ist ein öder, langweiliger
Job, bei dem man zwar alt werden kann, bei dem man aber auch blöd wird. Der Lohn reicht
gerade, um die Hütten, die Kleidung und den Hausrat in Stand zu halten. Zu essen gibt es fast
nur Fohrkopps. Viehhaltung ist verboten, denn dafür müßte ein Stück Sumpf trockengelegt
werden, auf dem dann kein Fohrkopps mehr wachsen kann. Unsere Gegend hat Glück, sich so
nahe am Urwald zu befinden. Da verirrt sich manchmal ein Urwaldtier in den Sumpf, das wir
heimlich jagen und schlachten. Eigentlich müssten wir es den Händlern abgeben, denn sie
betrachten alles, was auf ihre Felder gerät, als ihr Eigentum, denn es sind ja ihre Felder. Aber
es ist ein Fest, einmal Fleisch zu essen zu bekommen. Es gibt viele Kinder hier, denn Verhütung oder Abtreibung ist verboten und wird streng
bestraft. Die Händler fürchten, daß Arbeitskraft zu wertvoll wird, wenn es weniger Arbeiter
gibt, und dadurch die Arbeiter zu mächtig. Außerdem brauchen sie die überzähligen Jungen
für ihre Kriege, mit denen sie weitere Fohrkopps-Anbauflächen erobern wollen. Die
überzähligen Mädchen werden als Dienstboten in die Städte vermietet und bringen den
Händlern zusätzliche Profite. - Die Kinder müssen mithelfen beim Reinigen und Konservieren
der Fohrkoppswurzeln. Da die Händler sich für zivilisiert halten, brauchen die Kinder aber
nur 6 Stunden am Tag zu arbeiten. Den Erwachsenen ist das ganz recht, denn sie haben kaum
Zeit für ihre Kinder. Und außer den traditionellen Heimlichkeiten sind sie duckmäuserisch
und trauen sich nicht, den Weisungen der Händler und ihrer Büttel etwas entgegenzusetzen.
Mein Vater war ein besonderer Schleimer. Er arbeitete mehr als gefordert und verriet uns,
wenn wir Heimlichkeiten hatten. - Meine Mutter machte einen ständig frustrierten Eindruck,
vermutlich, weil sie wenig von ihrem Mann hatte, der entweder arbeitete oder erschöpft war
oder schimpfte. So wird sie sich als junge Frau ihr Ehe- und Familienleben nicht vorgestellt
haben.
2
2
Das Schlimmste ist die Öde, der Stumpfsinn, die Langeweile. Ich war kaum 13, da kam mir
unser Leben vor, wie vergeudet, ungelebt, sinnlos, und keiner Mühe wert. Ein Jahr später hielt
ich die Aussicht, das ganze Leben so geduckt, ausgebeutet und einförmig zu verbringen, nicht
mehr aus. Die Furcht vor dem Urwald verblasste vor seinen Verheißungen. Was war schon
eine Schwertechse gegen die Schätze der sagenhaften Goldenen Höhle? Und was ein
Mumpfkrapps gegen die Heilsteine aus dem Schwarzen See, von denen es hieß, daß sie in der
Hand, die sie vom Boden des Sees holte, alle Krankheiten heilen, alle Schmerzen tilgen und
den Körper jugendlich bis ins hohe Alter halten konnten? Allerdings hieß es auch, er sei so
tief, daß man ein halbes Leben lang tauchen üben müsse, um seinen Grund zu erreichen.
Mit meinen Eltern brauchte ich über meinen Abscheu vor der Öde erst gar nicht zu reden. Sie
hätten das nur als "Flausen" abgetan und mich aufgefordert, "auf den Boden der Tatsachen"
zurück zu kommen. "Der Boden der Tatsachen": daß ich nicht lache! Das ist bei uns ein
Sumpf! - Auch die andern Erwachsenen hatten kein Ohr für das, was mich bewegte: Immer
wurde mir aufgezählt, wer schon alles im Urwald umgekommen sei und wie armselig,
angstvoll und hungrig die waren, die es schafften, dort länger zu überleben; wie sie ständig
wie Flüchtlinge vor den Raubtieren auf der Hut sein mussten und sich fast nur von wilden
Beeren, Gräsern und Wurzeln ernähren konnten; wie furchtbar die Winter seien und wie viele
nach einiger Zeit als Krüppel zurückgekommen und ihres Lebens nicht mehr froh geworden
waren - zumal sie sich auf Jahrzehnte verschuldet hatten, weil die Händler den Arbeitsausfall
vom Lohn abzogen und eine hohe Geldstrafe auferlegten. Denn in den Urwald zu gehen, war
verboten. Seine Gefahren erschienen den Händlern nicht abschreckend genug. Sie fürchteten,
daß zu viele Arbeiter ihr Glück im Urwald versuchen könnten und nicht zurück kämen.
Deshalb verbreiteten sie auch die Behauptung, die, die im Wald lebten, seien Hexer, denn
ohne Zauberkräfte sei es nicht möglich, auch nur einen Tag und eine Nacht im Wald zu
überleben. Und die Hexer seien böse, denn ein guter Mensch müsse nicht in den Urwald
flüchten. - In der Tat trieb der Hunger die Hexer oft aus dem Wald, um Fohrkopps von den
Feldern zu stehlen. Deshalb durfte man sie auch straflos totschlagen. Unter uns Arbeitern galt
das jedoch als Verbrechen, denn die Hexer waren welche von uns, die das harte Leben auf
einem Urwaldflecken der Knechtung durch die Händler vorzogen.
Die Hexer lebten nur im Randbereich des Waldes, wo es noch nicht so viele und kaum
unbekannte Gefahren gab. Tiefer im Wald lebten nur die Heiler, die Meister des Waldes. Sie
galten als heilige Eremiten, die es schon länger gebe als die Fohrkoppsfelder und die
ursprünglich aus dem gleichen Geschlecht wie die Händler stammen sollten. Einige von ihnen
3
waren berühmt, weil sie öfter aus dem Urwald kamen und viele Kranke heilten. Manche nur
Arbeiter, manche nur Händler, manche machten keinen Unterschied. Im Gegensatz zu den
Hexern waren sie waldkundig, denn sie waren schon im Wald bei Heilern aufgewachsen. Auf
ihren Wanderungen durch die Ebene suchten die Heiler sich nämlich unter den 5 bis 7
jährigen Kindern Schüler und Nachfolger. Die Händler duldeten das und die meisten Eltern
freuten sich, wenn eines ihrer Kinder erwählt wurde. - Die Heiler kannten weit mehr der
Gefahren des Waldes als alle anderen und wussten mit ihnen fertig zu werden. Sie kannten
auch weit mehr Kräuter, Früchte und Wurzeln, und es hieß, sie würden heilige Orte kennen,
an denen es keine Gefahr gebe. Allerdings trauten sich auch die Heiler nicht gerne über den
ihnen bekannten Teil des Waldes hinaus.
Die Städte waren keine Alternative zum Sumpf: Männer, hieß es, würden dort wie Sklaven in
dunklen Hallen voll ohrenbetäubenden Getöses und staubiger Luft für einen Hungerlohn
Maschinen bedienen, eine Arbeit, noch eintöniger als Dreppelweben ziehen. Und man lebe zu
Dutzenden zusammengepfercht in engen, feuchten, finsteren Mietskasernen, der Blick
eingekerkert in Mauern, die ein endloses Gewirr von Höfen und Straßen bildeten, so daß man
vom Himmel immer nur einen Fleck oder einen Streifen sehen könne. - In der Tat waren fast
alle jungen Männer, die es versucht hatten, zurückgekommen, und von denen, die nicht
zurückgekommen waren, wurde gesagt, sie seien tot oder säßen im Kerker.
3
Mit 14 riß ich das erste Mal aus. Ich wollte lieber die Nahrung einer Schwertechse sein, als
Händlersklave. Doch ich wurde von einem Hexer zurückgebracht. Seitdem glaubte auch ich,
daß Hexer böse seien. - Ich riß öfter aus, auch wenn ich dafür jedes Mal ein paar Tage in den
Karzer gesperrt wurde, ein finsteres Loch, in dem einen die Dunkelheit und die Langeweile
fast umbrachten. - Meine Fluchtversuche in den Wald beendete ich nach dem ersten Mal
immer selber. Die Angst um mein Leben trieb mich hinaus - doch nach einiger Zeit auch
wieder hinein. War ich im Wald, erfüllte mich das Gewirr von Geräuschen und Tierstimmen
mit Furcht, denn ich konnte es nicht deuten und mehrmals glaubte ich schon, einer Echse oder
einem Krapps ausgeliefert zu sein, und merkte, was mir mein Leben wert war. Aber wenn ich
wieder ein paar Monate in den Sümpfen verbracht hatte, war die Angst vor dem Dschungel
verblasst, die Angst, mein Leben zu verpassen aber wieder bis zur Unerträglichkeit gesteigert.
Mit 16 wurde ich vernünftiger und versuchte, mich mit einem Leben in den
Fohrkoppssümpfen abzufinden. Doch mehr und mehr quälte mich ein Unbehagen, dem ich
zunächst nicht soviel Bedeutung beigemessen hatte:
Die einseitige Ernährung hatte Auswirkungen auf unser Wachstum. Frauen bekamen dadurch
4
Tendenzen zu kurzen Beinen, breiten Becken und hängenden Brüsten, Männer zu runden
Rücken mit langen Armen und runden Gesichtern mit Knollennase. Wie anders sahen die
Töchter und Söhne der Händler aus! Die sahen irgendwie "richtig" aus: die Mädchen
gazellenschlank mit langen Beinen, hübschen kleinen Pos und festen kleinen Brüsten, die
Jungs hochgewachsen, breitschultrig und mit markanten Gesichtern. Hatte man einmal eine
jener Händlerprinzessinnen gesehen, war es schwer, sich in eines unserer Mädchen zu
verlieben. Zumal die schöneren unserer Schönen meist versuchten, nach oben zu heiraten:
mindestens einen Bedienten, aber besser noch einen Beamten oder gar einen Händlersohn.
Doch galt das unter uns als Verrat. Die Mädchen, die für uns übrig blieben, ließen mich fast
alle kalt. Und die, die mich nicht kalt ließen, waren Gegenstand der bittersten
Konkurrenzkämpfe unter uns Jungs, und dafür hatte ich leider nicht die beste Ausstattung. Ich
war zäh und hartnäckig, aber weder schnell noch stark, noch einer jener Neunmalklugen, die
eine Chance hatten, nicht als Fohrkoppsbauern zu versauern.
Mein Entschluß, wieder in den Urwald zu gehen, und diesmal richtig, hing natürlich mit
einem Mädchen zusammen: mit Marva. Marva war einfach Klasse! Sie war herzensgut und
sah total süß aus, trotz aller Merkmale der Fohrkoppsesser. Denn diese Merkmale waren bei
ihr nur schwach ausgeprägt und wurden nicht nur durch ihr Wesen geadelt - wie ja oft etwas
Unschönes, wie z.B. eine zu große Nase, bei Manchen schön erscheint, weil sie ihm Charakter
geben - nein, bei Marva war alles auch viel proportionierter als bei den anderen unserer
Mädchen, so daß sie selbst gegenüber den Prinzesschen in manchen Aspekten vorteilhafter
wirkte, z.B. wegen des weiblicheren Schoßes und den üppigeren Brüsten. Ihre Schönheit
wirkte bei ihr um so liebenswürdiger, weil sie davon selbst überrascht worden war: Sie hatte
nie als besonders hübsches Kind gegolten; wie bei den meisten von uns, wurde darauf von
den Erwachsenen gar nicht geachtet. Sie war also von Kind an davon ausgegangen, nicht
hübscher zu werden als die andern Mädchen und hatte andere Lebensziele entwickeln können,
als das, schön zu sein. - Doch dann wurde sie auf einmal immer schöner, und wir Kerls fingen
an, immer heftiger um sie zu konkurrieren. Das mochte sie gar nicht, ja sie fand es abstoßend.
- Aber - wer könnte es ihr verdenken - heimlich auch faszinierend.
Ich sagte ja schon: ich hatte nicht die besten Karten beim Balzen. Es gab Stärkere, Tüchtigere,
Flinkere und Klügere als ich. Dennoch war ich unter Marvas Favoriten. Das lag daran, daß ich
entschiedener war, manche sagten auch: skrupelloser. Während andere z.B. noch überlegten,
ob sie wirklich angreifen sollten, griff ich schon an. Ich riskierte einfach, hinterher als jemand
dazustehen, der nicht ganz angemessen reagiert hatte. Auch nutzte ich fiese Tricks, aber
instinktiv sehr wählerisch und gemessen: So trat ich z.B. nie jemanden zwischen die Beine,
5
das hätte einfach als feige gegolten, als unredlich und heimtückisch. Und bei anderen,
weniger absoluten Tabus, überschritt ich nur ein wenig die Grenze, nur so viel, daß meine
Zurückhaltung bei der Verletzung des Tabus zeigte, daß ich es im Prinzip respektierte, und
die klammheimliche Bewunderung meines Mutes, so gewagt damit umzugehen, größer war,
als die Empörung. - Keine Ahnung, woher ich die Begabung habe, instinktiv genau zu wissen,
wie weit man zu weit gehen darf. Jedenfalls galt ich dadurch als jemand mit Schneid, Biß und
eigenem Kopf und ich hatte schon so manchen Stärkeren und Flinkeren aufs Kreuz gelegt. Außerdem kam meinem Ruf zu statten, daß ich mehrmals in den Urwald abgehauen und dafür
mit Karzer bestraft worden war. Ich rechnete mir also Chancen aus bei Marva. - Aber obwohl
sie nie unfreundlich war, schien sie immer angewiderter von unserem Gerangel und ging
schließlich einfach weg. Sie ließ sich von den Händlern als Dienerin anheuern in den großen
Städten und es war klar, daß wir sie nie wieder sehen würden, es sei denn als Besuch. - Wenn
sie wenigsten ihre Chance genutzt hätte, einen ihrer vielen Verehrer unter den Händlersöhnen
zu erwählen! Materiell wäre sie auf diesem Wege viel schneller viel besser gestellt gewesen.
Denn als Dienerin in den großen Städten, das war ein hartes Los. Einige, die nicht hübsch
genug waren, um dort eine Partie zu machen, waren zurückgekommen und hatten davon
erzählt. - Marva hatte extra diesen weitaus schwereren Weg gewählt, weil sie für den leichten
zuviel Charakter hatte. Gnädiger wäre gewesen, Verräterin zu werden, dann hätte sie nicht so
vielen Kerls das Herz gebrochen. Und mir auch nicht.
Nach Marva hielt mich nichts mehr in Sümpfen. Es schien mir nicht viel verloren, sollte ich
im Urwald umkommen, aber alles gewonnen, sollte ich dort mein Glück machen. - Die
Gefahren waren groß und unberechenbar. Auf den Feldern geschah einem erwachsenen Mann
vielleicht alle 10 Jahre mal ein nennenswerter Unfall. Im Urwald konnte jeden Tag etwas
geschehen, das mit so einem Unfall vergleichbar war, und jedes fünfte Geschehnis war
tödlich. Und diese Rechnung galt nur für erfahrene, fähige Urwaldgeher, wie die Hexer, die
Gefahren rechtzeitig erkennen und sich dagegen wehren konnten. Aber selbst für die war das
Überleben Glücksspiel. Die Mumpfkrappse z.B.: zwar gab es glücklicherweise von denen nur
wenige. Es hieß, daß man im Innern des Urwaldes nur etwa einmal pro Woche auf einen
treffen würde und nur etwa jeder zweite habe gerade Hunger. Ungeübte konnten von 10
Mumpfkrappsen vielleicht zwei rechtzeitig erkennen, Hexer fünf und selbst Heiler nicht
immer alle. Aber nicht wenige Hexer hatten auch im Randbereich des Waldes schon Krappse
gesehen oder waren gleich bei der ersten Begegnung an einen von denen geraten, die sich
besser tarnen konnten... - Ich hatte das Interesse am Wald nie verloren und wo immer ein
Hexer in die Sümpfe gekommen war, hatte ich mit ihm gesprochen. So bildete ich mir ein,
6
etwas besser als die anderen den Gefahren gewachsen zu sein, und vielleicht keine 5 aber 3-4
Mumpfkrappse von zehnen zu erkennen. Und mit jedem einmal erkannten würde meine
Fähigkeit wachsen, auch andere zu erkennen... Auch Schwertechsen waren selten, auch
Nachtvulper, auch Schnappschweinrudel und die gefürchteten Tschirpelschwärme, kleine
fleischfressende Singvögel, bei denen es selbst für das gefährlichste Wesen kein Entrinnen
gab. Dazu kamen die Fleischfressenden Pflanzen: die Schlinghaspeln, die Saugrosen, die
Ätzgrätzen: allesamt heimtückische Gewächse, die zwischen Gebüsch oder im Astwerk von
Bäumen auf Beute lauerten, auf Geruch oder Vibration ansprachen und absolut tödlich waren.
Jede einzelne dieser Gefahren war selten. Aber zusammen genommen machten sie den Wald
zu einer unberechenbaren, lebensgefährlichen Angelegenheit - zumal es sich hier nur um die
bekannteren Gefahren handelte, die es auch in den Randbereichen des Waldes gab. Je tiefer
man in den Wald ging, desto häufiger wurden sie und desto mehr weitere lauerten, die
unbekannt waren, weil noch nie jemand sie überlebt hatte...
Trotz allem stand mein Entschluß fest. Und so übernachtete ich eines Sommers am Rand des
Urwaldes, um mit der ersten Tageshelle hinein zu wandern.
4
Es wurde ein herrlicher Sommertag. Im Wald war es angenehm feucht und kühl und es
duftete nach üppigem Leben, nicht diese fade sterile Geruchlosigkeit der Fohrkoppsfelder!
Das alles milderte die Angst. - Die Hexer trauten sich nur eine halbe Tagesreise weit in den
Wald, um bei Anbruch der Nacht wieder am äußeren Rand sein zu können. Als Randbereich
galt also etwa ein halber Tagesmarsch. Die ersten Stunden war ich daher relativ wohlgemut,
obwohl ich mehrmals beim Anblick ungewöhnlicher Farben oder Formen oder bei
ungewöhnlichen Geräuschen zusammenzuckte. So unangenehm und verunsichernd diese
Schreckhaftigkeit auch war: ich wußte von einem alten Hexer, daß man ohne sie ganz schnell
verloren war. Schreckhaftigkeit war Voraussetzung dafür, im Urwald zu überleben. Nur
Ängstliche durften es wagen, sich weit in den Wald zu trauen.
Nach dem Mittag war ich schon weiter in den Wald vorgedrungen, als die meisten Hexer es
gewöhnlich tun. Da wurde mir richtig mulmig. Ich war mehrmals drauf und dran,
umzukehren. Aber ich hatte mich offenbar all die Jahre genügend mit meinem Dasein in den
Sümpfen beschäftigt. Ich gebe zwar zu, daß ich mehrere Male umdrehte, aber jedesmal nur
wenige Schritte, dann ging mir wieder die ganze Trostlosigkeit des Lebens der
Fohrkoppsbauern auf und ich sah Marva vor mir, und ein Los ohne eine Gefährtin, die so viel
zu bieten hatte, schien mir unannehmbar.
Als die Dämmerung hereinbrach, suchte ich mir einen jener Bäume, die ihre Gäste über Nacht
7
nicht verspeisen, und kletterte in sein Gezweig. Nicht zu hoch, um nicht zur Beute von
Nachtvulpern zu werden, nicht zu niedrig, um keine Wimmelarlen anzulocken, gierige
nachtaktive Nager, die unter der Erde ihre Nester haben.
Ich band mich an einem Ast fest. Hier oben war ich sicher. Wenigstens war noch nie berichtet
worden, daß jemand im mittleren Gezweig eines gastfreundlichen Baumes des Nachts zur
Beute geworden war. Ausgeschlossen war das natürlich nicht, zumal eine Tagesreise weit im
Wald. Und wer weiß, womit ich rechnen mußte, wenn ich noch weiter in den Wald vordrang.
- Genau darüber hatte ich nun, bis zum Einschlafen, Zeit nachzusinnen: Auf was ich mich
einließ, wenn ich weiter kommen wollte als die Hexer. Zunächst spürte ich ein gewisses
Triumphgefühl: Ich war schon tiefer im Wald, als viele Hexer es je gewesen und es war
auszuschließen, daß je ein Bauer sich so tief in den Wald getraut hatte! - Ich spürte aber auch
eine gewisse Enttäuschung: Ich war keiner einzigen Gefahr begegnet! Ich hatte gedacht,
wenigstens einem Mumpfkrapps ein Schnippchen geschlagen zu haben oder einer
Schwertechse auf einen Baum entkommen zu sein, oder wenigstens eine Saugrose von
weitem entdeckt zu haben oder jenes Buschwerk, in dem Ätzgrätzen lauerten. Aber nichts da!
Ich hatte mich nicht ausprobieren, geschweige denn bewähren können, und hatte nichts
dazugelernt. Ich hatte einfach bloß Glück gehabt. In diesem Bereich des Waldes war das noch
recht wahrscheinlich. Aber es würde nicht so bleiben. Deshalb wäre es ja wichtig gewesen,
hier, im leichteren Teil des Waldes, Erfahrungen gemacht zu haben, z.B. aus sicherer
Entfernung die Tarnung eines erkannten Mumpfkrappses genau zu studieren. Ich war also
nach wie vor Anfänger, doch befand mich schon im gefährlicheren Teil des Waldes! Die
Gefahren waren hier für mich so unberechenbar, der Tod so wahrscheinlich, daß es
selbstmörderisch war, hier weiter zu gehen. Und eine selbstmörderische Haltung galt bei uns
nicht als verwegen sondern als feige: Selbstmörder kuschen vor den Anforderungen des
Lebens. Als Anfänger einfach blödsinnig immer tiefer in den Wald reinzulaufen um den
Unbilden des Bauernlebens zu entfliehen: da würde ich nur als Verlierer gelten, wie ein
Krieger, der beim Anblick des Feindes die Flucht ergreift.
Andererseits: so erbärmlich wie Hexer wollte ich auch nicht leben: Es ist doch sehr fraglich,
ob die wirklich freier waren! Ständig auf der Hut vor Gefahren, ständig auf der Suche nach
Eßbarem, nur selten mal ohne vom Hunger getrieben zu sein. - Es war zum Verzweifeln:
keine Möglichkeit war überzeugend! Bauer sein: Nein! Hungerkünstler: Nein! Selbstmörder:
Nein! Daher schien mir das Beste, mich erstmal den Hexern anzuschließen. Mit mehr
Erfahrung wäre es weit weniger selbstmörderisch, tiefer in den Wald einzudringen. Je länger
ich meine Möglichkeiten erwog, desto stärker leuchtete mir das ein. So entschloß ich mich,
8
am andern Morgen eine halbe Tagesreise zurück zu kehren und bei den Hexern das Leben im
Wald zu lernen. Dieser Gedanke war enttäuschend aber doch stimmig. Das beruhigte mich
und ich schlief ein.
5
Am nächsten Morgen trank ich den Tau aus den Blüten, er schmeckte fruchtig, bitter und
süßlich, durch das Aroma das er von den Blüten angenommen hatte. Ich merkte, wie mich das
stärkte und ermutigte. Ich wäre am liebsten doch tiefer in den Wald aufgebrochen, rief mir
aber die Gedanken des gestrigen Abends zurück und sagte mir: sei kein Narr, tiefer im Wald
ist Überleben für dich reines Glücksspiel! - Also wandte ich mich schweren Herzens wieder
der Richtung zu, aus der ich gekommen war.
Meine Spuren waren bereits zugewuchert und da tief im Wald nur ein dämmeriges Streulicht
herrschte, konnte ich die Richtung nur erahnen. Nach ein paar Stunden Wegs stand ich
plötzlich an einem felsigen Steilhang und blickte weit über den Wald hinweg. So steil der
Hang auch abfiel, war er doch kinderleicht herunter zu kraxeln: die Felsen war so gestuft und
von armdicken freiliegenden Wurzeln niedriger Bäume durchzogen, daß man Leitern und
Treppen im Überfluß hatte. Beim Abstieg verlor ich dennoch einmal den Tritt, aber ohne
großen Schreck, denn ich konnte nicht weit rutschen. Doch fiel ich in eine Felsspalte und
stauchte mir schockartig schmerzhaft den Fuß, obwohl die Spalte nicht sehr tief war,
vielleicht knapp zwei Meter. Als ich meinen Fuß untersuchte, wollte ich es zuerst nicht
wahrhaben: er war gebrochen. Ich schrie, weniger vor Schmerz als vor fassungsloser Wut:
Meine Wanderung war gelaufen. Ich mußte zurück in die Sümpfe. Ich würde zwar eine gute
Heilbehandlung bekommen, aber wahrscheinlich viele Jahre ohne Lohn arbeiten müssen, zur
Strafe für meine Flucht, meine Arbeitsversäumnisse und um mir die Heilbehandlung zu
verdienen. Außerdem würde ich in einen Sumpf weit weg vom Urwald verbracht werden, mit
der Auflage, mich täglich bei einem Beamten zu melden. Eine Flucht war unter solchen
Bedingungen so gut wie unmöglich. - Die Wut ließ mir zunächst gar keine Möglichkeit zur
Sorge. Erst nach den ersten, nicht sehr bemühten Versuchen, aus der Spalte zu klettern, hielt
ich inne und machte mir Gedanken über meine Situation hier und jetzt. Es wurde mir bewußt,
wie besorgniserregend sie war: Mit diesem Fuß wäre es kaum möglich, vor Einbruch der
Nacht wieder aus dem Urwald heraus zu sein, und es wäre mühsam und gefährlich - aber noch
gefährlicher wäre es, die Nacht auf dem Boden verbringen zu müssen, denn allein mit den
Armen war es mir nicht möglich, die Bäume zu erklimmen. - Je weniger Zeit ich verlor, desto
besser. Ich suchte nach der günstigsten Stelle und nahm all meine Kraft zusammen, um aus
der Spalte zu klimmen. - Aber es mißlang wieder. - Ebenso der nächste Versuch. - So schwer
9
hatte ich mir das nicht vorgestellt! Ich sah jetzt, daß die Ränder alle sehr bröckelig und
darunter glatt und abschüssig waren. Hätte ich den Fuß zur Verfügung gehabt, wäre ich längst
frei gewesen. - Erst fand ich die Schwierigkeit bloß lästig. Die Spalte war nicht tief und es
konnte kein großes Problem sein, heraus zu kriechen. Doch als Versuch auf Versuch
scheiterte, und ich immer mehr Erfahrung mit den abgeschrägten Randflächen machte, begriff
ich allmählich, daß ich nur mit zwei Händen und einem Fuß hier nicht herauskäme. Mein
Herz schlug panisch wild, ich bäumte mich mit aller Kraft auf und sprang und klammerte,
obwohl meine Hände bereits wund waren - doch alles vergeblich: ich fiel nur um so heftiger
wieder zurück und auf den gebrochenen Fuß, so daß ich vor Schmerz kurzzeitig wie erstarrt
war. - Ich muß gestehen: nach der Schockstarre begann ich zu heulen und zu schreien, vor
Schmerz, vor Wut, vor Empörung: ich fühlte mich ungerecht behandelt vom Schicksal. Als
ich mich beruhigte, kam ich zu dem Schluß, daß es nicht wahr sein konnte, daß ich hier nicht
rauskam, daß ich wahrscheinlich noch nicht alles probiert hatte. Ich versuchte es weiter,
immer wieder - doch ohne Erfolg. So sehr ich mich auch dagegen aufbäumte, schließlich war
es Gewißheit: alleine kam ich hier nicht mehr raus. Ich war mehr wütend als traurig und
schlug mit den Faustkanten auf die Felswände ein, bis ich vor Schmerz davon abließ. - Meine
Lage war aussichtslos: ich war fast eine halbe Tagesreise über den Randbereich des Waldes
hinaus, selbst im Randbereich wäre es äußerst unwahrscheinlich gewesen, daß einer der
seltenen Hexer innerhalb von drei Tagen in Rufweite käme. Hier, weit tiefer im Urwald,
bestand nicht die geringste Hoffnung. Als Hoffnung blieb nur: in der Nacht von einem Vulper
gefressen zu werden. Das wär ein schneller Tod.
Im Urwald nicht den Heldentod im Kampf mit einem Untier zu sterben, sondern mit
gebrochenem Fuß in einer unter normalen Umständen kinderleicht überwindbaren Felsspalte
zu verschmachten: das war ja wohl der aller blödeste und schmachvollste Ausgang einer
Flucht aus der Abhängigkeit der Händler! Ich malte mir aus, wie vielleicht irgendwann ein
Hexer meine sterblichen Überreste finden und meine Sachen ins Dorf bringen und das ganze
Dorf davon erfahren würde. Wie blöd! Dann durchzuckte es mich siedendheiß: irgendwann
würde auch Marva von meinem schmachvollen Mißgeschick erfahren! Vor ihr als
ausgemachter Pechvogel dastehen! Als Verlierer! Das ging gar nicht! Die Wut flammte erneut
auf, bis mich Schreien, Schlagen und der Schmerz in den Fäusten beruhigten. Ich saß eine
Zeit still da, mit völlig leerem Kopf. Plötzlich schöpfte ich neue Hoffnung und dachte: verflixt
nochmal, das kann doch gar nicht sein, daß ich hier nicht rauskomme! Erneut arbeitete ich
mich zuversichtlich an den Felswänden ab, immer wieder, immer verbissener und verbohrter,
ja, um so heftiger, je mehr mir klar wurde, daß es zwecklos war - bis ich völlig erschöpft auf
10
den Boden sank. Da konnte ich nur noch weinen.
Nach und nach kam mir alles in den Sinn, von dem ich mich jetzt für immer verabschieden
mußte! Merkwürdigerweise war das zunächst unsere Kaffeekanne! Wenn sie morgens auf
dem Feuer schmauchte und alles nach Kaffee zu duften begann und Oma, Mutter und die
Geschwister sich nach und nach am Frühstückstisch versammelten! Das war trotz aller Öde
des Lebens in den Fohrkoppsfeldern immer eine Freude gewesen! Auch viele andere kleine
Freuden kamen mir jetzt in den Sinn und ich wunderte mich, wie schwer es war, sich davon
zu verabschieden! - Das zerbrochene Spielzeug auf meinem Schrank, das ich immer noch
gerne ansah, weil es mich an unbeschwerte Stunden der Kindheit erinnerte, und ihm in seiner
Unbeholfenheit ihr Zauber noch anhaftete - und gerade weil es zerbrochen war, war ich mit
ihm verbunden, wie mit einem Stück abgelegter Haut. - Dann: Das kleine Wasserbecken in
der Kuhle des Findlings in unserem Garten! Wie die Sonne darin spielte! Und seine Kälte im
Herbst, wenn man die heißen Finger hineintunkte! - Und auch die komisch-ernste Miene, mit
der der alte Truppeltock immer grüßte, der einsiedlerisch unter uns lebte und als geistig etwas
minderbemittelt galt - merkwürdigerweise war auch sein Gruß immer eine kleine Freude! Selbst mein Vater schien mir auf einmal viele liebenswerte Züge zu haben, von denen es
schwer war, sich zu verabschieden. - Da durchzuckte es mich, und ich wurde mir bewußt, was
es für ihn, für Mutter, für Oma und die Geschwister bedeuten würde, wenn ich nicht mehr da
wär! Das brach mir fast das Herz. - Der Abschied von all dem tat so überraschend weh, wie
ich es noch nie erlebt hatte. Und im Schmerz staunte ich, weil ich gedacht hatte, mich von all
dem längst verabschiedet zu haben, als ich die Entscheidung erwogen hatte, in den Wald zu
gehen und vielleicht nie wieder zurück zu kehren. Doch jetzt fiel es mir wie Schuppen von
den Augen: Egal an welchem Ort der Welt: solange ich am Leben wäre, würde das Spielzeug
immer noch liegen und die Kanne immer noch schmauchen - aber bald würde das alles
unwiederbringlich weg sein, für immer. Nie wieder! - Nie wieder auch die stimmungsvollen
Momente: die Art, wie die Morgensonne im Spätherbst auf den von Raureif verzauberten
Feldern gleißt - der Nachtduft des Frühlings - die mondhellen warmen Sommernächte... - Und
mir fiel plötzlich auf, daß all diese Stimmungen Verheißungen einer wundervollen Zukunft
enthalten hatten: Hoffnungen, all dies einmal zusammen mit einer Gefährtin zu erleben, so
schön wie Marva, und in einer freieren Zeit... - Ich begriff auf einmal das ganze Ausmaß des
ungelebten Lebens, und die Vorstellung, daß es ungelebt bleiben würde, machte mich
fassungslos. Ich schluchzte immer herzzerreißender.
Das beruhigte mich soweit, daß ich fähig wurde für den nächsten Schreck: Schlagartig wurde
mir klar, was das bedeutet: zu sterben. Ich würde alles verlieren, alles, selbst mich selbst! Und
11
das war ich selber schuld! Wegen meiner Entscheidung, in den Wald zu gehen, und weil ich
nicht gut genug auf meine Füße aufgepaßt hatte! Ich erkannte plötzlich das ganze Ausmaß der
Verantwortung für mein Leben, und was es bedeutet, ihr zuwider gehandelt zu haben! Ich war
gerade mal 19! Ich hatte ein ganzes Menschenleben, mein Eigenes! kaputt gemacht! Alles,
was ich noch hätte erleben und werden können, alles was ich noch an Gutem und Sinnvollen
hätte leisten können: das alles hatte ich den andern und mir selbst genommen! Ich fühlte mich
wie jemand, der einen Schatz anvertraut bekommt, um damit einem bedrängten Volk zu
helfen, und dann ausbüchst und ihn in ein paar Tagen mit Huren durchbringt. Was hatte ich
gemacht! - Und auch jetzt, obwohl mir das Schuldgefühl fast den Atem benahm, staunte ich:
Gestern abend hatte ich gedacht, daß ich wüßte, was es bedeute zu sterben. Wie wünschte ich
mir jetzt den Schleier zurück, der mir noch vor einigen Stunden den Blick auf den Tod
verborgen hatte! - auf den Zug, den man nicht zurückmachen kann, auf die erbarmungslose
Unkorrigierbarkeit - auf das Nichts und die Schuld.
Sonne, Erschöpfung und Durst verflüchtigten die Klarheit der Gedanken zu einer
untergründigen würgenden Beklommenheit. - Ob ich wollte oder nicht: ich blickte nur noch
auf das endlos langsame Kriechen des Schattens an der Wand der Felsspalte, und konnte nur
noch daran denken, wie erleichternd es sein würde, wenn er mich endlich erreicht hätte. Das
lenkte mich etwas von Schmerz und Schuld ab, die aber gleich wieder deutlicher wurden, als
die Sonne nicht mehr brannte. Doch immer seltener und kürzer glommen die Gedanken klar
auf, denn die Kälte der Nacht, der Schlafentzug, die Schmerzen und der Durst ließen das
immer weniger zu.
Am nächsten Tag brannte die Sonne wieder auf mich herab. - Weniger, weil ich damit
irgendeine Hoffnung verband, als aus Erleichterung und weil ich nichts unversucht lassen
wollte, rief ich immer wieder mal um Hilfe. Am Ende des Tages war ich heiser. Am nächsten
Tag brachte auch das keine Erleichtung mehr sondern war eine zusätzliche Mühe. Doch setzte
ich es fort, so hoffnungslos es auch war, es war das einzige, was ich tun konnte, und ich
wollte nichts unterlassen. Als ich nicht mehr rufen konnte, kam ich auf die Idee, die Steine,
die in der Spalte lagen, rauszuwerfen: unmittelbar hinter der Spalte fiel der Hang steil ab, und
selbst ein kleiner Stein löste in dem Geröll immer eine kleine Lawine aus. Damit es nicht für
Zufall gehalten werden konnte, versuchte ich das möglichst regelmäßig zu tun, und zählte bis
zum nächsten Wurf immer pro Finger bis 20. Die Konzentration darauf erleichterte mir die
Qualen. Mir war klar, daß ich das Fünkchen Rettungschance, das damit verbunden war, nur
benutzte, um diese erleichternde, aber eigentlich unsinnige Handlungsweise zu rechtfertigen ohne die Möglichkeit einer Rechtfertigung wär es einfach nur albern gewesen und ich hätte es
12
bald gelassen.
Als am dritten Tag sich irgendetwas über den Rand der Spalte beugte, wußte ich weder, ob es
gut war oder böse, Wirklichkeit oder Wahn. Aber es gab mir schluckweise zu trinken, das
Wasser war sogar noch kühl. - Nie wieder habe ich eine solche Labsal erlebt! Vor
Erleichterung fiel ich in Ohnmacht.
Es war ein alter zerlumpter Mann, der mich rettete. Er hatte nicht viel Kraft und es war
mühsam genug, mit vereinten Mitteln mich aus der Spalte zu bringen. - Er verstand sich auf
Heilkünste und versorgte meinen Fuß. Mehrere Tage verbrachte ich im Delirium auf einem
Lager in seiner Höhle, bis ich wieder bei klarem Verstand war.
6
Wie ich erfuhr, war meine Rettung gar nicht so unwahrscheinlich gewesen, obwohl ich in die
falsche Richtung gegangen und nur noch tiefer in den Wald geraten war. Der sich
kilometerweit erstreckende Felshang war Heimstatt mehrerer Waldbewohner, weil das
Gelände hier, im Gegensatz zum Urwald, relativ überschaubar und weit weniger gefahrvoll
war. Weder mein Rufen noch meine Lawinen wären nötig gewesen: Die Bewohner
durchstreiften das ganze Areal regelmäßig auf der Suche nach Nahrung, und die Felsspalte
war eine bekannte natürliche Falle für kleinere Tiere.
Ich hatte viel zu fragen und der alte Mann antwortete bereitwillig. Ich erfuhr vieles über den
Urwald, was die Bauern nicht wußten. So gab es z.B. gar keinen Unterschied zwischen
Hexern und Heilern! Es gab nur unterschiedlich wald- und heilkundige Waldleute. - Und es
gab Gefahren, von denen wir noch nie gehört hatten:
"Du denkst, du bekommst einen würdigen Feind, wie ein Schnappschwein oder eine
Schwertechse, mit denen man die Kräfte, die Geschicklichkeit und die Listigkeit messen
kann. Aber du hast es weit häufiger mit ebenso miesen wie tückischen Lebensformen zu tun,
Lebensformen, die du selbst nicht als Gefahr erkennen oder die mit völlig anderen Kräften
ausgestattet sind als du dir vorstellen kannst, und auf die du nicht vorbereitet bist. Die
Mämmermaden z.B.: Mit Fäden, so fein, daß kaum ein Auge sie erkennt, aber reißfest und so
klebrig, daß man sich das Fleisch ausreißt, wenn man sie entfernen will, damit lauern sie ihrer
Beute auf, weben das Opfer ein, hängen es in einem Baum auf, ernähren es, so daß es nicht
stirbt, und legen ihre Eier hinein. Ihre Brut braucht frisches Fleisch, das Opfer wird als
lebende Maschine benutzt, die Blätter in Blut und Pflanzen in Fleisch verwandelt. Es wurden
Waldleute aus solchen Kokons befreit, die mehr als 20 Jahre als vermißt gegolten hatten. Sie
lebten noch, aber keiner von ihnen kam wieder zu Verstand.
Und es gibt Wunden, die nicht heilen, und Parasiten, die du nicht mehr los wirst. Ich leide
13
selbst an so einem. Ich trat mir einen Parpeldorn in den Fuß. Parpeldorne wirst du nicht mehr
los. Sie wandern und wuchern in dir und du hast nur die Möglichkeit, deine Muskeln so stark
zu machen, daß du ihr Wandern und Wuchern unterdrücken kannst. Aber immer wenn sie
sich bewegen, spüre ich starke Schmerzen, die mich völlig lähmen, und immer wenn sie zu
wuchern versuchen, wird mir so kotzübel daß ich glaube, ich kotze mir die Gedärme aus dem
Leib und oft bin ich ganz erschöpft davon, sie klein zu halten. Deshalb konnte ich kein großer
Meister des Waldes werden, wie meine Eltern, jemand, der alle je erkannten Gefahren und
Heilmittel und ihre Wirkmechanismen kennt. Ich weiß nur - und bilde mir manchmal ein, daß
ich das besser kann, als manche großen Meister - ich weiß nur, wie man neue, noch
unbekannte Gefahren erkennt. - Es ist sehr schade, daß der Dorn mich so beeinträchtigt!
Andere kommen aus dem Wald und bringen einen Zortz mit, einen der gemeinsten Parasiten,
wollen es aber nicht wahrhaben. Und schließlich wird der Zortz ihr Herz oder ihr Hirn
okkupiert haben, doch das können sie dann kaum noch merken, sondern verhalten sich, wie
der Zortz es will und spüren nur noch, was er spüren will - aber sie glauben, was sie tun und
spüren, ist genau das, was sie tun und spüren wollen.
Der Wald wird dich nicht unbedingt umbringen, obwohl er viele umbringt, aber du wirst
kaum ohne eine Verletzung hinauskommen, die dich für den Rest deines Lebens zeichnet oder
beeinträchtigt. Natürlich kann man damit leben lernen. Aber ich wünsche es niemandem. Es
ist ein sinnloses Leiden. Du wirst nicht einmal unbedingt weiser dadurch. Weisheit kannst du
überall lernen, dafür ist kein Abenteuer notwendig, nur Aufmerksamkeit. Oder um es mal so
auszudrücken: die Weisheit, die du durch die Gefahren des Urwalds erlangst, ist unnötig.
Alles im Leben ist uns erreichbar ohne sie. Wir brauchen sie nicht. Sie ist ihren Preis nicht
wert."
So sprach der Alte. Er hatte nichts dagegen, daß ich bei ihm blieb. Er schien sich sogar
darüber zu freuen. Ich glaube aber, daß ihm diese Freude gleichgültig war, weil er sie nicht
brauchte. Er hatte seine Aufgabe: weite, monatelange Expeditionen in den Wald zu
unternehmen, um Opfer von Mämmermaden zu befreien. Er wechselte sich da mit den andern
Heilern ab, denn solche Wanderungen waren für ihn sehr zehrend. Danach brauchte er
Monate, bis er sich ganz wiederhergestellt hatte.
Ich dachte, ich könnte ihm dabei helfen, aber ich fürchte, daß ich ihm mehr Last als Hilfe war,
weil er ständig meine Sicherheit im Auge behalten mußte. Doch im Laufe der Jahre lernte ich
fast alles, was er wußte und konnte.
In den Tiefen des Waldes trafen wir Heiler, die noch viel tiefer im Wald lebten. Einige
behaupteten, die Goldene Höhle und den Schwarzen See gebe es nicht, andere behaupteten, es
14
gebe sie, aber sie hätten noch niemanden getroffen, der wüßte wo. Und wieder andere
behauptete, sie wüßten wo, hätten aber keine Lust, den Weg zu beschreiben, weil es sowieso
egal sei.
Als der Alte gestorben war, schleppte ich ihn in die Krone eines Baumes, denn er wollte, daß
die Nachtvulpern seinen Leichnam fräßen. - Dann kehrte ich zu seiner Höhle in den Felsen
zurück. Ich fühlte mich nicht berufen, seine Tätigkeit fortzusetzen, zumal ich mich längst
nicht so gut wie er darauf verstand, unbekannte Gefahren zu erkennen. - Ich blieb den
Sommer über noch in den Felsen. Im Herbst machte ich mich auf den Heimweg zurück in die
Fohrkoppssümpfe.
7
Ich machte mich darauf gefaßt, für Jahre ohne Lohn arbeiten zu müssen, wegen
Arbeitsverweigerung. Doch in der Zwischenzeit war ein neues Gesetz erlassen worden: Alle
Hexer, die mindestens einen Winter im Wald verbracht hatten und dann reumütig
zurückkehrten, wurden nicht bestraft. - Es war mir recht gleichgültig. Abgesehen davon, daß
ich mir mit meinen Heilkünsten ein wenig dazuverdienen konnte, brauchte ich für das, was
mir jetzt wichtig war und am Herzen lag, keinen Lohn: Daran mitzuwirken, daß Händler und
Bauern sich versöhnen. Es hatte immer schon Bauern gegeben, die sich dafür eingesetzt
hatten. Aber sie hatten von je als einfältig und naiv gegolten.
Solange ihre Eltern noch lebten, sah ich Marva ab und zu. Alle paar Jahre kam sie mit ihrem
Mann und ihren vier Kindern. Bis zuletzt war ihre Gestalt trotz der Geburten jugendlich. - Sie
hatte gut geheiratet: Sie wohnten in einem großen Haus an einem der weitesten und schönsten
Plätze einer Stadt. Ihr Mann hatte oft beruflich mit den Händlern zu tun. Seine
Berufsbezeichnung sagte mir gar nichts, und obwohl man mir mehrmals erklärte, um was es
ging, habe ich es nie verstanden. - Als Marva mich das erste Mal wiedersah, stürmte sie auf
mich zu und umarmte mich, es war ihr egal, wie blöd ihr Mann guckte. Sie hatte gehört, daß
ich als verschollen gegolten hatte und umarmte mich so fest, als wolle sie sich davon
überzeugen, daß meine Rückkehr nun mehr als ein Gerücht sei. Ich dankte ihr und wandte
mich schnell ab, denn Tränen schossen mir in die Augen und widerstreitende Gefühle
zerrissen mich. Nie wieder wurde mein Gleichmut so auf die Probe gestellt.
Geheiratet habe ich nie. Obwohl der Alte ein guter Heiler war, humple ich immer noch. Für
die wenigen Frauen, die mich interessiert hätten, war so jemand keine gute Partie.
Den jungen Leuten, die in den Urwald wollen, erzähle ich alles, was ich weiß. - Ich werde
deshalb immer wieder mit Lohnentzug bestraft, es heißt, ich verdürbe die Jugend. - Die
jungen Leute können nicht verstehen, daß ich zurückgekehrt bin. Sie schätzen mein Wissen
15
und meine Erfahrung, aber halten mich für einen behäbigen, feigen Onkel. - Sie haben Recht.
- Doch warum sollte man Mut aufbringen für etwas, auf das es nicht ankommt?
Subversion im Himmel
Eine mythologische Geschichte
1
Ich war in Gott. Wogen überbordenden, unfaßbaren Glücks wechselten mit seliger
Gestilltheit. Nicht also, als ob mir irgend etwas gefehlt hätte. Doch in der Stille konnte ich
etwas Störendes spüren, ganz schwach und vage. Die Große Seligkeit, in die ich gelöst war,
riet mir, es nicht zu beachten, dann verlöre es sich ganz schnell, es seien noch
Nachempfindungen aus dem Purguratorium. Doch ich konnte mich einfach nicht beruhigen.
Es lag etwas in diesem Störgefühl, eine Ahnung, die etwas Wichtiges zu sagen zu haben
schien, und ich hatte keine Ruhe, bevor ich nicht wusste, was es war. Das muß die
Ausstrahlung meiner Seligkeit verringert haben und der Großen Seligkeit unangenehm
geworden sein, jedenfalls fühlte ich, dass sie sich aus mir ein wenig verflüchtigte. Dadurch
wurde ich konzentrierter und konnte das Störende deutlicher spüren und endlich konnte ich es
identifizieren: Sie, die Frau, die ich liebte, war nicht da und sie würde nicht kommen! Nicht,
dass sie mir gefehlt hätte, ich sagte ja: es fehlte an nichts, an gar nichts. Aber es tat mir so
leid, so beklemmend leid, dass sie vom Himmel ausgeschlossen war, denn alle im Himmel
wußten: da draußen, das war kein guter Ort.
2
Sicher, sie hatte schwere Fehler. Wo sie auftauchte entstand Störung, Unordnung und
Unfriede und - wo sie länger blieb - Misslingen, Zerwürfnis und Schmerz. - Aber: ich liebte
sie. Und ich wusste um ihre Verzweiflung (die sie sich selber nur in seltenen Momenten
eingestand).
Sie war eine Frau, nach der Mann sich sehnt: Ihre Gesichtszüge waren wohlgeformt, edel und
intelligent; ihr Haar dunkel und voll; ihre Gestalt reinstes Ebenmaß, nicht die geringste
Übertreibung, nicht der geringste Mangel, nicht die geringste Unverhältnismäßigkeit. Kurz:
16
alle weiblichen Schlüsselreize waren in idealster Weise ausgeprägt. Sie war mir intellektuell
weit überlegen: sie sprach drei Sprachen fließend, spielte konzertreif Klavier und war eine
brilliante Mathematikerin.
Ihre Persönlichkeit hatte jedoch sehr unangenehme Züge. So hatte sie z.B. eine Art, Menschen
beiläufig zu entwerten, ganz subtil aber total: Als wir uns noch nicht so gut kannten, hatte ich
einmal den Schlüssel zu einem relativ unbedeutenden Spint des Instituts verloren und mir
ihren geborgt. Sie verlangte ihn zu einem völlig unsinnigen Zeitpunkt zurück. Sie gab an,
Angst zu haben, dass ich ihren Schlüssel auch noch verlöre, obwohl sie vorher noch nie erlebt
hatte, dass mir ein Schlüssel weggekommen war. Ich hatte in der Woche zuvor einige kleine
Fehler gemacht, alle ziemlich unbedeutend doch in der Institutsöffentlichkeit nicht ganz
unpeinlich. In diesem Kontext ließ ihre Bemerkung nun spüren, wie geneigt sie war, mich für
einen totalen Verlierer zu halten: für einen der seine Schlüssel verliert, der die Gunst seines
Chefs und vielleicht bald seine Stelle verliert, kurz: für einen Looser solchen Ausmaßes, dass
man sich davor am Besten ganz schnell in Sicherheit bringt, indem man dafür sorgt, daß man
nichts mehr mit ihm zu tun hat. Sie forderte den Schlüssel so hastig zurück, wie man sein
Geld von einer Bank holt, von der man gerade erfahren hat, dass sie jeden Augenblick in
Konkurs gehen kann. Ihr Auftreten war bei solchen Handlungsweisen so überzeugend, dass
selbst der Selbstbewußteste seine Fehler in ganz anderem Licht sah und bereit war, zu
glauben, dass etwas mit ihm verkehrt sei müsse. Aber selbst wem klar wurde, dass in ihren
Abwertungen nur ihr eigenes Problem zum Ausdruck kam, dem blieb die Angst, ob sie mit
jemandem, den sie so entwertete, länger zu tun haben wollte. Und ich glaube, in solchen
Momenten war ihr das selber nicht klar. So war man stets in Ungewissheit, wie es mit der
Freundschaft stand. Unter diesen Bedingungen war sie schwer zu lieben und alle Männer
waren nach dem ersten Rausch, die Nummer Eins bei ihr zu sein, schnell ernüchtert,
verunsichert und gekränkt, alle, bis auf mich. Ich war Einzelgänger genug, um mit einer Frau
zusammen sein zu können, bei der ich nie wusste, ob sie noch mit mir zusammen war. Das
war eines der Dinge, die sie an mir schätzte.
Sie war schon immer disziplinlos, ja haltlos gewesen, sprunghaft und ohne Fähigkeit zu
Kontinuität. Trotz überdurchschnittlicher Begabung schaffte sie es nicht, beruflich erfolgreich
zu sein: Sie flog von der Schule, angeblich wegen ihrer häufigen Fehlzeiten, ihres störenden
Verhaltens im Unterricht, ihres notorischen Verweigerns der Hausaufgabenerledigung; in
Wirklichkeit, weil nach der Entlassung des dritten Lehrers, der ein Verhältnis mit ihr hatte, ihr
alle unterstellten, dass sie nichts anderes im Sinn habe, als männliche Lehrpersonen zu
verführen und zu vernichten. Da sie zu diesem Zeitpunkt schon volljährig war, verheimlichte
17
sie ihren Eltern den Rausschmiß und ging ohne Abitur zur Universität. Da das sowieso nichts
werden konnte, konnte sie sich selbst um so mehr Erlaubnis erteilen, ihre Unstetigkeit zu
pflegen.
Sie lebte promiskuitiv und polytox. Aufgrund ihrer Begabung und sexuell gestifteter
Beziehungen gelang ihr die Hochstapelei, sich ein Promotionsstipendium und eine
Assistentenstelle zu ergattern. Sie versäumte indessen ihre Assistentenpflichten und wurde
entlassen. Mit der Promotion kam sie nicht voran und gab das Vorhaben nach einigen Jahren
schließlich auf. Als ihre Eltern ihr die weitere Unterstützung entzogen, verdingte sie sich
einem sogenannten Eskortservice. Sie schlug mir damit ins Gesicht, aber das schien sie nicht
zu interessieren. Sie schien selbstverständlich davon auszugehen, dass ich "postmodern"
genug sein müsse, so etwas zu tolerieren.
Ich inspirierte und motivierte sie immer wieder zu gemeinsamen intellektuellen Projekten und
jedes Mal freute ich mich, wenn ich sie mal wieder soweit hatte, aber jedes Mal kam die
Zusammenarbeit über die Anfangsphase nicht hinaus. Sie wurde unzuverlässig, hielt Termine
und Absprachen nicht ein und reagierte auf Nachfragen aggressiv.
Sie hatte schließlich außerhalb unserer Verbindung ein eigenes Leben, von dem ich nur vage
wusste: Sie beging eine Art Heiratsschwindel: sie band reiche Männer an sich, ließ sich reich
beschenken, und schickte sie dann zum Teufel. Mit dem so gewonnen Geld wirtschaftete sie
verantwortungslos und risikoreich in der Immobilienbranche. Keines dieser Geschäfte schlug
an. Nach einigen Jahren gab sie es auf und war ärmer als je zuvor.
Sie fing an, mit Drogen zu handeln und war bald selber Heroin abhängig. Auch da hielt ich
noch zu ihr, in der Hoffnung, sie finde einen Weg zurück in die Selbstbestimmung. Aber sie
gab nicht einmal vor, sich darum zu bemühen. Sie war schließlich nur noch für die Droge da,
alles andere zählte nicht mehr. Alle meine Hilfen lehnte sie entweder ab oder
instrumentalisierte sie für ihren Drogenkonsum. Ich fühlte mich von ihr ausgenutzt, ja
ausgesaugt, war ständig in Sorge um sie und um unsere Partnerschaft und wurde aufgerieben
von den ständigen Unberechenbarkeiten, die mit ihrem kriminellen Verhalten verbunden
waren.
Ich merkte schließlich, wie meine Leistungsfähigkeit und meine Gesundheit immer mehr
Schaden nahmen. Ich wandte mich von ihr ab. Sie quittierte das mit Bitterkeit und Sarkasmus,
schimpfte mich Spießer, warf mir vor, nicht besser zu sein als alle anderen, Freundschaft nur
geheuchelt zu haben um Sex von ihr zu bekommen und jetzt abzuhauen an dem Punkt, wo die
Freundschaft sich bewähren müsse, damit entlarve ich mein wahres Gesicht. Was ich zu
meiner Rechtfertigung anführte, ließ sie nicht gelten, weigerte sich, mit mir darüber zu
18
diskutieren und behauptete, damit wolle ich bloß mein Gewissen rein waschen. Gleichzeitig
machte sie sich aber über mich lustig: dass ich solange bei ihr geblieben sei und mir soviel
habe bieten lassen, "wie ein Hund", sagte sie. Vermutlich hat sie sich nicht vorstellen können,
dass ich nie aufgehört habe, sie zu lieben; dass es jedoch eine Verantwortung gibt für das
eigene Leben, für die eigenen Ressourcen, eine Verantwortung, die es manchmal erfordert,
sich von der Liebe seines Lebens zu trennen, sich das Herz auszureißen...
Später, nachdem sie ihre Drogensucht überwunden hatte, machte sie "Karriere" an der Seite
eines mehr als 20 Jahre älteren, skrupellosen mafiösen Baulöwen, dem die halbe Stadt
gehörte. Er wurde erschossen, sie übernahm sein "Imperium" und wirtschaftete es mit ihrer
Gleichgültigkeit und Impulsivität in kurzer Zeit in den Bankrott. Dadurch verloren hunderte
Menschen ihre Wohnung und der Stadt entstand ein Schaden in Milliardenhöhe. Auch dieser
Bankrott wirkte wie eine große Entwertung: als ob sie den Menschen vor Augen führen
wollte, wie nichtig Besitzt und Reichtum seien, wie lächerlich Leute, die ihnen anhangen und
wie unwichtig das Wohlergehen der Stadt und ihrer Bewohner.
Nach dem Bankrott verkaufte sie sich wieder als Edelnutte. Aufgrund ihrer Intelligenz und
Schönheit wurde sie zur Mätresse hochrangiger Politiker und Wirtschaftsführer und sorgte für
einige der spektakulärsten Skandale der Zeit. Aber selbst daraus konnte sie nichts machen,
weil sie es nicht schaffte, Verbündete längere Zeit an sich zu binden, sondern durch ihr
intrigantes Verhalten und ihre abwertenden Unterstellungen vergraulte.
Als sie 46 war, sah ich sie wieder. Sie lebte einsam und von der Wohlfahrt, sah völlig verlebt
aus, dicklich und weich von zuviel Essen und zuwenig Bewegung und mit einer vom Rauchen
uneinladend vergilbten, vorgealterten Haut. Und doch, trotz weitgehenden Ausbleibens
körperlicher Attraktion, spürte ich noch viel von meiner alten Liebe. Ich hatte in unserer
gemeinsamen Zeit mein Gespür für ihre liebenswerten Seiten stark ausgeprägt, auch wenn sie
immer nur kurz aufflackerten und sie ihnen keinerlei Dauer zu geben vermochte: das auf die
Wunder des Lebens neugierige Mädchen; die Frau, die gerne Kinder gehabt hätte; die geistig
freie, überdurchschnittliche Intellektuelle, die so viel vorhatte und ihrer Zeit so viele neue
Impulse geben wollte; der irritierte und verzweifelte Mensch, der nicht wusste, was mit ihm
eigentlich los war und von Zeit zu Zeit fassungslos und hilflos auf die Spur des Misslingens
zurückblickte, die er hinter sich her zog. In diesen seltenen und kurzen Momenten der
Verzweiflung war sie dem Eingeständnis sehr nahe, beeinträchtigt zu sein durch ihre
wechselhafte, heftige Emotionalität und ihre Art, sich selbst und andere zu erleben. Nicht die
flüchtigen Augenblicke der Verschmelzung in der Liebe, die uns immer wieder mit der
Illusion spielen ließen, füreinander bestimmt zu sein, sondern meine Solidarität in den
19
Momenten der Verzweiflung, meine wertfreie Art mit ihr über ihre selbstverschuldeten
Missgeschicke zu reden, das war es, was sie an mir so schätzte und sie in den Jahren unseres
Zusammenseins immer wieder an der Verbindung mit mir festhalten ließ. - Nicht, dass es erst
unseres Gespräches bedurft hätte für ihren unseligen Entschluß, unser Gespräch beschleunigte
lediglich eine Entwicklung: Wir redeten über ihr Leben, wie es gewesen war, sie erzählte von
ihren Jugendvorstellungen, wie es hätte sein sollen, von ihren Begabungen, aus denen sie
nichts gemacht hatte. Wir redeten darüber, dass sie aufgrund ihres Alters in ihr altes Leben
nicht zurück könne, dass es jetzt keine Ablenkungsmöglichkeiten mit Sex, Drogen und Geld
mehr gebe wie früher, dass das eine ganz große Chance für ihr Leben sein könne. Doch es
gelang ihr nicht, den Glauben zu gewinnen, einem anderen Leben noch gerecht werden zu
können. Ihren Versäumnissen und abwegigen Lebensentscheidungen war sie nicht
gewachsen. Sie tötete sich. 3
Das tat richtig weh, sie in der Hölle zu wissen, an dem Ort ohne Hoffnung, ohne Erbarmen, in
einer gnadenlosen, ewigen Qual. Schon damals, als ich mich wegen ihrer Heroinsucht von ihr
trennte, hatte es weh getan, daß sie zurückblieb auf der mißlungenen Seite des Daseins, sie,
die Frau, die ich nie aufgehört hatte zu lieben, deren Träume ich kannte, deren Potentiale ich
kannte, deren verleugnete Wünsche, sich zu verändern, ich so sehr zu unterstützen versucht
hatte, bis fast zum eigenen Untergang. Sie in der Hölle zu wissen war für mich unfassbar, ja
steigerte sich fast bis zum Schock, als mir die Bedeutung von "Ewigkeit" klar wurde: daß es
für sie nie wieder etwas anderes geben würde als Qual - nie wieder!
Mein Schock erinnerte mich an einen Bekannten, ein Feuerwehrmann, der alkoholabhängig
geworden war, weil er ein Bild nicht vergessen konnte: nachdem er die 6 und 8 jährigen
Töchter bereits tot geborgen hatte, schnitt er den Vater der Kinder querschnittsgelähmt aus
den Trümmern des Wagens, der Mann hatte das Händi noch in der Hand, mit dem er am
Steuer an einer SMS geschrieben hatte.
Je beunruhigter ich wurde, desto mehr entfernte sich die Große Seligkeit aus mir. Ich konnte
ihr das nicht verdenken. Meine wachsende Unseligkeit muß für sie wie ein Stachel im Fleisch
gewesen sein und daß ich mich weiter mit meiner Seelenunruhe beschäftigte, trotz ihrer
Zurufe, ich möge doch um Himmels- und meiner Willen die Unruhe ignorieren und mich auf
das Glück konzentrieren, dass konnte sie nur als verstockten, störrischen Sinn werten, als ein
unreines Element, das unbegreiflicherweise dem Purguratorium widerstanden hatte und von
dem man sich im Himmel nur distanzieren konnte.
Doch auf einmal spürte ich, dass ich nicht mehr alleine war. Aber anders als vorher von der
20
Großen Seligkeit, wurde ich nun von einer Großen Unruhe erfüllt. "Was Dich beklemmt,
kennen wir", ließ sie mich spüren. Und sie unterrichtete mich über das merkwürdige
Phänomen eines Widerspruchs im Himmel: Es gebe etwas, was kein Purguratorium, ohne sich
selbst zu widersprechen, entfernen könne: die Liebe. Und die Liebe könne sich nun mal nicht
damit abfinden, dass viele Menschen auf ewig gefoltert würden. Die Große Seligkeit meine
immer, der Himmel sei vollkommen und deshalb sei mit denen etwas falsch, die es nicht
schafften, von dem einzig verbliebenen Unseligen abzusehen. Aber vielleicht sei nicht mit
den Beunruhigten im Himmel, sondern mit dem Himmel selbst etwas noch nicht Ordnung:
daß er es nicht vermöge, alle Menschen zu sich zu holen und deshalb noch Widersprüche
entstehen müßten zwischen der Fähigkeit des Liebens und der Abwesenheit von
Liebenswerten.
"Aber kann man nicht verwirken, liebenswert zu sein - Hitler: ist das nicht ein
unwiderlegbares Beispiel eines unliebenswerten Menschen durch und durch? - Und gibt es
nicht auch Menschen, die aufbegehren gegen Gott und Gott ablehnen?"
"Jeder ist liebenswert, wenn er auf die Welt kommt. Und wer im Laufe seines Lebens dieses
Liebenswerte verwirkt, oder wer gar die Liebe, wer Gott ablehnt, hat keine Hölle verdient,
sondern eine Kur."
Die große Unruhe belehrte mich über die Purguratoriumsmechanik: Das Problem sei, dass die
Seelen im Leben bestimmte Voraussetzungen erworben haben müssten, um im Purguratorium
bestehen zu können: Die Seele müsse sich wie ein Segel aufspannen, um von den Kräften des
Purguratoriums erfasst, getragen und bearbeitet werden zu können. Vielen Seelen gelinge das
aber nicht, sie hätten sich im Leben so stark verspannt, dass sie sich einfach nicht genügend
entfalten könnten, sie blieben zu stromlinienförmig, um genügend Kontakt zu den wirkenden
Kräften zu bekommen und würden aus dem Purguratorium hinausfallen, wie ein
Fallschirmspringer, dessen Fallschirm sich nicht öffnet. Seelenverspannung im Leben habe
immer zu tun mit Konkurrenz, Aggression, Vermeidung und Ichbezogenheit. Doch das seien
alles notwendige Züge des Lebens, die seien nicht an sich schlecht. Es sei nur so schwer, sie
zielgenau zu applizieren und richtig zu dosieren. Keine Seele überstehe das Leben ganz ohne
Verspannungen. Jedoch tue niemand das Schlechte freiwillig, sondern alle Menschen seien
mehr oder weniger ungeschickt. Daher wirkten die Seelenbewegungen der Lebenden auf die
Toten meist so linkisch, unbeholfen, grotesk übertrieben und wenig zielführend, wie die
Körperbewegungen eines Menschen, der zum ersten Mal eine Sense schwinge. - Das Leben
verschaffe von sich aus nicht allen Menschen gleichviel Gelegenheit, die
Seelengeschicklichkeit zu üben und da kein Mensch über die Startbedingungen seines Lebens
21
verfügen könne, sei das Versagen im Leben und im Purguratorium nicht böse sondern
tragisch. Beim Höllensturz handle es sich also nicht um Strafe sondern um Kausalität. Es
brauche für Himmel, Fegefeuer und Hölle nicht mal einen Gott, es sei alles auch als Natur
vorstellbar. Aber wenn es Gott gebe, dann sei denkbar, dass Gott noch nicht vollkommen sei,
weil er noch nicht vermöge, ein Purguratorium einzurichten, das mit allen Ausmaßen von
Seelenverspannung fertig werde. Vielleicht sei die Hölle aber auch die ultimative Prüfung
Gottes: ob wir es uns an unserer Seligkeit genügen lassen, solange es noch ewige Qual gibt.
"In jedem Fall ist die Hölle ein furchtbarer Unfall des Seins, eine katastrophale Unrichtigkeit,
die nicht sein darf, aus der man alle Betroffenen retten muß, alle: wenn nur eine Seele, nur
eine einzige Seele nicht gefunden und erlöst wird, bleibt die ganze Seligkeit eine Lüge."
Die Seelenretter sich hatten sich zusammenschlossen und organisierten die "Heimholung":
das Aufspüren und Befreien von verlorenen Seelen. Die Hölle war kein Ort, den man hätte
erstürmen können wie die Bastille, sondern jeder Verlorene war selbst seine Hölle und es galt,
ihn zu finden. Jeder Seelenretter versuchte, der Großen Seligkeit Informationen zu entlocken
über Menschen, die nicht im Himmel angekommen waren. Alle Verlorenen wurden registriert
und es war nur eine Frage der Zeit, bis die Große Seligkeit alle Namen preisgegeben hatte,
denn sie konnte nicht lügen. Und diese Liste wurde Mensch für Mensch abgearbeitet. So
konnte auf Dauer kein Verlorener verloren gehen.
Doch die Heimholung war nicht einfach. Sie bedeutete, den Himmel wieder als Sterblicher
verlassen zu müssen und selber das Risiko einzugehen, in die Hölle verloren zu gehen, denn
man durfte unterwegs nicht den Kräften erliegen, mit denen man es zu tun bekam. Natürlich
stand ein gescheiterter Höllensucher ganz oben auf der Liste der zu Rettenden, so dass man
wenigstens den schwachen Trost hatte, nicht lange der Qual ausgesetzt zu sein.
Nach der Befreiung mußte man mit den Befreiten zusammen ins Purguratorium, man mußte
sie festhalten und ihnen helfen, sich wenigstens so minimal zu entfalten, dass ein erster
kleiner Punkt von den Massagekräften erfasst werden und ein Anfang gemacht werden
konnte. Das war anstrengend und schmerzhaft, denn man war selbst den Massagekräften
ausgesetzt, und diese Vorstufe dauerte meist länger als das ganze eigentliche Purguratorium.
(Dabei währt ja bereits ein "normaler" Purguratoriumsaufenthalt bekanntlich schon viele
Millionen Erdenjahre.)
Und auf all das konnte man nicht vorbereitet werden, denn jeder Weg zu einem Verdammten
war völlig anders, wartete mit gänzlich neuen Gefahren, Mühen und Schmerzen auf, so dass
jeder der Höllensucher jedes Mal wieder Anfänger war. Es gab lediglich umfangreiche
Eignungstests, ob man sich im Leben genügend jener Eigenschaften erworben hatte, die nötig
22
waren, um so eine Befreiungsaktion leisten zu können. (Es konnten nicht alle, die bereit
waren, der Liebe zu folgen, auch ausgesandt werden. So wie eine Massage Muskeln entspannt
aber nicht bildet, konnte auch das Purguratorium nur reinigen, was schon da war, aber es
entwickelte nichts und fügte nichts hinzu, und was man im Leben nicht erworben hatte,
erwarb man nimmermehr. Denn im Himmel hatte man nichts nötig, da gab es keinen
Handlungsbedarf, da brauchte man keine Geschicklichkeit, nur Gelöstheit.)
So sehr die Liebe mich auch erkühnte, bemerkte ich doch auch eine Instanz in mir, die
bedauerte, für tauglich befunden worden zu sein. Sie maulte: "Na Klasse, da hat man sich das
ganze Leben um Vervollkommnung bemüht und was hat man jetzt davon: jetzt darf man die
Bösen aus der Hölle holen unter Einsatz der eigenen Seligkeit und wenn mans nicht tut, wirds
auch nichts mit der Seligkeit, weil die Liebe einem mit ihren ständigen Vorhaltungen alles
verleidet. Und für die ganze Unternehmung, mit der man alles Erreichte aufs Spiel setzt,
winkt kein anderer Lohn als das, was man auch kriegen würde, wenn man sich anstrengte,
vernünftig zu sein und sich zusammenzureißen, um die törichten Störimpulse der Liebe zu
ignorieren!"
"Wir suchen ja nach Möglichkeiten, das Verfahren zu erleichtern, z.B mit einer Art
Rettungsleine, die verhindert daß die Heimholer selber in die Hölle geraten. Wir arbeiten dran
- leider bisher erfolglos."
"Für Menschen die man liebt, tut man viel. Aber ist es vorstellbar, unter diesen Bedingungen
eine Bereitschaft zu entwickeln, auch ausgemachte Stinkstiefel, unverbesserliche Fieslinge
und wahre Teufel, ja, sogar einen Hitler aus der Hölle zu retten", fragte ich.
"Mancher kann sich auch nicht vorstellen, je einen Klimmzug zu schaffen, doch den Muskeln
ist es egal, was das Gehirn sich vorstellen kann, sie wachsen einfach, wenn man sie übt."
"Aber warum sollte man für solche Leute üben?"
"Die Frage stellt sich für Dich nicht. Du möchtest Deine Liebste retten. Mehr mußt Du
erstmal nicht wollen. Bist Du bereit?"
4
Ich war nackt. Es war kalt. Vom Boden stieg ein schmutziger Nebel auf, in Bodennähe so
dicht, daß ich meine Füße nicht sehen konnte. Doch etwa auf Halshöhe verlor er sich: Ich
erblickte eine endlose öde Ebene, in einem schwachen, schmutzig-gelblichen Licht, das
überall gleich verteilt schien. Ein Gestank lag in der Luft, widerlich und durchdringend wie
Verwesung. Ich stand völlig verloren da und wusste nicht, in welche Richtung ich mich
wenden sollte, jede konnte die Falsche sein. Doch ich spürte mit meinen Füßen, daß ich gar
nicht viel Auswahl hatte: ich stand auf einem schmalen Grad, rechts und links von mir war
23
gähnende Leere. Nachdem ich dem Grad eine Zeit gefolgt war, bemerkte ich eine
Abzweigung. Ich kam mir vor, wie eine Ratte im Labyrinth: welche Entscheidung ich auch
traf, es konnte die falsche sein. Ich entschied mich, auf meinem Weg zu bleiben, auch als ich
weitere Abzweigungen bemerkte. Doch dann trat mein Fuß plötzlich auch vor mir ins Leere,
der Grad brach jäh ab, ich hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. Ich musste umkehren
und einen anderen Weg ausprobieren. Doch auch der nächste Weg endete an einem Abgrund
und so auch alle weiteren Wege. Ich setzte mich schließlich auf den Boden, um in dem
dichten Nebel mit den Füßen zu erkunden, ob es Stufen gab. Und tatsächlich: der Grad vor
mir war abgestuft. Ich kletterte hinunter. Nach einer anstrengenden Kletterpartie kam, was ich
befürchtet hatte: eine Stufe, nach der ich keinen Boden mehr unter den Füßen spüren konnte.
Ich spuckte, und ich hörte, wie die Spucke auf Grund platschte. Aber wenn ich mich dort
hinabschwang: würde ich mich wieder nach oben ziehen können, falls die "Treppe"
schließlich doch an einem Abgrund enden würde? Andererseits: wenn ich jetzt wieder hoch
stieg, hätte ich viel Kraft verausgabt, ohne etwas gewonnen zu haben, konnte ich das
verantworten? Ich bekam Angst, die falsche Entscheidung zu treffen und geriet in ein
lähmendes Hin- und Her, das mich noch mehr ängstigte: von der Entscheidungslosigkeit
festgebannt, zu erfrieren! Diese Entscheidungsangst war mir zur Genüge aus meinem Leben
bekannt und ich zweifelte an der Validität der Eignungstests für die Höllensuche: War so ein
ängstlicher Mensch wie ich der Richtige für ein solches Unternehmen? Während ich noch
zweifelte, schien etwas in mir den Entscheidungsprozeß fortgeführt zu haben, denn mir
erschien auf einmal das Rationalste und Verantwortbarste, wieder hinaufzusteigen, um nicht
zu riskieren, irgendwann mal weder hinunter noch hinauf zu können. Aber ich war
niedergeschmettert: die ganze Verausgabung für den anstrengenden Weg war umsonst
gewesen, ich würde wieder am Anfang stehen und mußte befürchten, nicht genügend Energie
zu haben, das Ziel zu erreichen, von dem ich nicht mal wusste, wo es lag.
Nachdem ich einige Stufen erklommen hatte, ging es nicht mehr weiter: die Stufe vor mir
mußte sich verändert haben! Ich konnte den Absatz gerade noch mit meinen Händen
erreichen. Ich versuchte, mich mit den Armen hochzuziehen, aber ich schaffte es nicht, ich
hatte zuwenig Kraft. Wütend schrie ich: "Wer macht diese Scheiße denn hier!" Schuld
überkam mich: weil ich im Leben immer zu faul gewesen war, meine Armmuskeln zu
trainieren, drohte ich jetzt zu scheitern und die wichtigste Chance zweier Seelen zu
verspielen! Doch dann kam mir der Gedanke, daß hinter all dem, was ich erlebte, vielleicht
gar keine Absicht steckte sondern daß es eine Art "Natur" sein könnte und dass der Sinn der
Übung vielleicht gar nicht das Erreichen eines räumlichen Zieles sei, denn offenbar war hier
24
alles in Veränderung begriffen, so dass sich jederzeit eine Wand oder ein Abgrund um mich
bilden könnte, egal, welchen Weg ich einschlüge. Ich sagte mir: in einer ständig sich
verändernden Landschaft hat man nur einen sehr relativen Einfluß darauf, ob man sein Ziel
erreicht, egal wie kräftig die Muskeln sind. Das half mir über das bleierne Schuldgefühl
hinweg.
Plötzlich kam Bewegung in den Nebel: es entstanden widerliche bräunliche Schlieren, die
sich im Kreise zu drehen begannen. Es bildete sich ein riesiger Strudel, etwa hundert Meter
im Durchmesser. Der Nebel wurde offenbar abgesaugt. Ich sah, dass ich mich in einem
gewaltigen Schlund befand, dessen Wände in unregelmäßigen schwarzen Quadern steil
abfielen. Der Nebel sank tiefer und tiefer. Da das Licht offenbar nicht aus einer Lichtquelle
stammte sondern überall gleich verteilt zu sein schien, erblickte ich schließlich einen
unabsehbaren Abgrund. Ich hatte immer schon Höhenangst gehabt. Mir sank der Mut: Ich
traute mir nicht zu, hier lange standhalten zu können. Reflexhaft preßte ich mich mit dem
Rücken gegen die eiskalte Wand und suchte mit den Händen Halt. - Einen bestimmten Schritt
nicht tun zu dürfen, die Kontrolle nicht verlieren zu dürfen, weil dann alles aus ist, nicht die
Möglichkeit einer Korrektur zu haben: das war es, was in großen Höhen für mich immer so
furchterregend gewesen war. Du darfst in dieser Situation nicht die Aufmerksamkeit sinken
lassen, du musst etwas leisten und das hat zu funktionieren, ein Fehltritt und du bist verloren,
die Situation ist tot ernst. Solchen Situationen hatte ich mich im Leben nie gewachsen gefühlt.
- Da begann es, daß die Vorstellung, wie es sich anfühlen würde, die Kontrolle verloren zu
haben und in den Schlund zu stürzen, sich mir so lebhaft aufdrängte, daß ich mehrere Male
das Gefühl hatte, bereits wirklich zu fallen. Die Panik, die mich dabei jedes Mal überkam, ließ
mich dann wirklich fast das Gleichgewicht verlieren und löste eine noch stärkere Panik aus.
Diese eskalierenden Attacken zermürbten mich völlig. Ich konnte mir nicht vorstellen, unter
diesen Umständen lange die Kontrolle zu behalten. Es kam soweit, daß sich die Vorstellung,
endlich aufzugeben, endlich mich fallen zu lassen, überwältigend attraktiv anfühlte. Das
verschlimmerte meine Hoffnungslosigkeit, weil ich nicht wusste, wie lange ich dieser
Versuchung widerstehen konnte. Da ergriff in mir eine Instanz das Wort, die es leid war:
"Was soll dieses Rumgehampel! Die Sache ist doch ganz klar: Es gibt keine äußere Kraft, die
mich von dem Vorsprung hier runter kriegt, ich muß mich einfach nur auf das Stehen und die
Füße konzentrieren!" Ich begann, meine Aufmerksamkeit nur auf meinen Körper zu richten,
mich zu entspannen, den Boden unter den Füßen und die Wand im Rücken zu spüren. Doch
immer wieder wurde ich dabei von erneut aufwallender Panik unterbrochen. Ich war nahe
daran, allen Mut zu verlieren und dachte: ich werde es nicht schaffen, die Panik dauerhaft
25
genug herunter zu schrauben, irgendwann wird sie mich überwältigen. Doch ich dachte auch:
Wenn es so kommt, dann wird es so sein, aber jetzt, jetzt ist es noch nicht so, und solange es
noch nicht so ist, tue, was du kannst.
So schaffte ich es, mich von der eisigen Wand im Rücken zu lösen. Ich stand wieder frei, die
Augen starr geradeaus gerichtet, und trat bedächtig von einem Fuß auf den anderen. Ich
konzentrierte mich nur auf diese Bewegung. Mir wurde klar, daß ich nur eine Chance hatte:
zu warten, bis die Stufe über mir sich erniedrigen oder sich irgend etwas anderes ändern
würde. - Doch nun begann etwas Neues: Der Gestank schien aus dem Schlund zu stammen.
Der Nebel hatte ihn offenbar gedämpft, denn jetzt steigerte sich seine Ekelhaftigkeit ins
Bösartige: so konnte nur ein tödliches Gift stinken! In mir brach erneut Panik aus, ich wollte
nur noch fliehen. Doch die Stufe über mir war noch immer zu hoch. Der Gestank benahm mir
den Atem, ich konnte mich kaum mehr bewegen. Dadurch begann die Kälte noch schneller in
mich einzudringen. Ich gab mich verloren und begann zu weinen, weil meine Unternehmung
so schnell gescheitert war und ich soviel verspielt hatte und jetzt vermutlich für Äonen in die
Hölle kam, bevor meine Leute mich rausholen konnten. Plötzlich durchzuckte mich ein so
vernichtender Schreck, daß Kälte, Gestank und Höhenangst dagegen völlig verblaßten: Was
war, wenn ich einem Betrug aufgesessen war? Wenn die Rebellen im Himmel gar nicht die
Guten waren sondern die raffiniertesten Agenten des Bösen? Mir fiel auf, dass sie mit mir
über alles Mögliche gesprochen aber dabei offenbar, wie Vertreter für Finanzprodukte, ein
Thema völlig ausgespart hatten! Wenn alle Verdammten erlöst würden: würde das nicht
ermöglichen, was die Weisen seit Urzeiten als die schlimmste aller Sünden brandmarkten:
Sündigen im Vertrauen darauf, dass es eine Barmherzigkeit gebe, die niemanden in ewiger
Verworfenheit lassen würde? War das nicht ein Freibrief für die schlimmsten und
grässlichsten Verbrechen, für die grenzenloseste Bösartigkeit? Mir ging in überwältigender
Klarheit auf, dass das nicht sein konnte, sondern dass die Liebe die Guten im Leben schützen
müsse vor Verbrechern, die mit einer finalen Barmherzigkeit kalkulieren. Dante hatte recht:
um der Gerechtigkeit willen muß es eine ewige Verdammnis geben! Ich konnte nicht anders
denken, als dass ich Opfer eines Betrugs geworden war, gegen die Große Seligkeit gefrevelt
und sie mir damit ein für allemal verwirkt hatte. Ich starrte geradewegs in den Abgrund der
Hölle, der ewigen Verworfenheit, der ewigen Qual! Ich würde mich hier nicht mehr lange
halten können. Meine Existenz war verspielt: völlige Verlassenheit und sinnlose Qual als
Endzustand einer ewigen Existenz. - Die Angst erreichte ein Ausmaß, als ob ich aus dem
Bauch heraus mit einem Gift geflutet würde, weit giftiger als der Gestank. Ich glaubte vor
Angst das Bewusstsein zu verlieren. Aber ich verlor es nicht. Doch die Augenblicke, in denen
26
ich das Gefühl hatte, den Sturz nicht mehr aufhalten zu können, wurden immer häufiger und
ich verlor den letzten Rest Hoffnung. Nie zuvor hatte ich eine solche Angst erlebt! Bis dahin
hatte ich nicht gewusst, zu welcher Angst der Mensch fähig ist, ich wunderte mich, dass Herz
und Seele das noch aushielten. Mit war völlig gewiß, daß ich verloren war und das raubte mir
fast den Verstand. Aber etwas in mir sträubte sich mit aller noch vorhandenen Vitalität gegen
das Aufgeben. Doch meine schlotternden Beine gaben nach und ich fiel. Aber da ich mich
instinktiv wieder fest an die Wand gepreßt hatte, fiel ich nur auf meinen Po. Ich merkte, daß
ich aus Leibeskräften geschrieen hatte. Schrei und Schmerz unterbrachen die Angst und gaben
mir eine Chance zur Besinnung: Ja, es war möglich, daß ich dem abgefeimtesten Schwindel
aufgesessen und für ewig verloren war (sobald ich mir diese Möglichkeit wieder vor Augen
geführt hatte, fühlte ich wieder das Anfluten der giftigen Angst), aber ich machte mir klar,
dass ich nur Indizien hatte, keinen Beweis, und dass auch viel für die andere Möglichkeit
sprach, für die Hoffnung. Es war hier und jetzt unentscheidbar, ob die Seelenretter Schwindler
waren oder nicht. Ich machte mir ferner klar: die Kapitulation war die Handlungsmöglichkeit,
die mir in keinem Fall verloren gehen konnte, verloren gehen konnten mir nur alle anderen
Möglichkeiten. Wenn die Hölle mich wollte und bekam, dann keinen Augenblick früher als
nötig. Solange noch ein Rest Wärme und Kraft in mir war, wollte ich mich ihr
entgegenstemmen.
Ich kam wieder auf meine Füße, wobei ich merkte, daß ich mich verletzt hatte und stark
blutete, meine Schwäche würde mich also teuer zu stehen kommen, denn durch den
Blutverlust würde meine Kraft noch schneller erschöpft sein. Ich stand jetzt schon wieder
längere Zeit frei, ohne mich an die eisige Wand anzulehnen und konzentrierte mich nur auf
das Setzen meiner Füße beim Treten auf der Stelle. Jetzt wurde es allmählich wieder dunstig
und nach einiger Zeit war es wieder so neblig, dass ich die Hand vor Augen nicht mehr sah.
Endlich konnte ich feststellen, daß die Wand niedriger geworden war. Jubelnd kletterte ich die
Stufe hinauf. Bald stand ich wieder auf einem ebenen Grad und ich setzte meine anfängliche,
mit den Füßen schlurfend-erkundende Fortbewegung fort.
Ich hatte die Höllenangst erstmal überwunden. Sie steckte allerdings noch wie ein Klotz in
meinem Bauch und es blieb eine würgende Angst davor, daß die Angst mich wieder
überfluten würde. Ich zwang meine Aufmerksamkeit, an die hoffnungsvolleren Möglichkeiten
zu denken. Nach einiger Zeit merkte ich indessen, wie mir allmählich die Kräfte schwanden
und es zu Ende ging. Die Angst wurde wieder mächtiger und lähmender. Aber ich hatte mich
einmal entschieden, nicht aufzugeben, und wenn mir ich auch vor Angst jede einzelne
Bewegung mit Befehlen abringen musste!
27
Da sah ich plötzlich in der Ferne einen hellen Lichtstrahl den Nebel durchdringen! Ich jubelte,
dabei hätte ich beinahe Tritt verloren und wäre abgestürzt. Mir wurde klar, daß kein Grund
zum Jubeln bestand: zwischen mir und dem Licht konnte sich jederzeit eine unüberwindliche
Wand oder ein unüberwindlicher Abgrund schieben. Und was würde mich an der Lichtquelle
erwarten? Tatsächlich verlor ich das Licht bald aus den Augen und ich mußte mir wieder
einhämmern, die Kraft, die noch in mir war, zu nutzen, egal ob es zu was führte oder nicht.
Als ich den Lichtstrahl wiedersah, war er größer geworden und als ich ihn das zweite Mal
wieder sah, noch größer, doch war ich jetzt so entkräftet, daß ich zusammenbrach und im
Lichtkegel liegen blieb. Mehrmals raffte ich mich auf, brach aber nach wenigen Metern
wieder zusammen. Ich war halb bewusstlos vor Erschöpfung und Blutverlust, das dämpfte die
Angst ein wenig, so dass sie sich nicht mehr zur Panik steigern konnte. Allerdings erfüllte sie
mich mit solcher Übelkeit, dass ich mich erbrach. Ich verging vor Übelkeit und Kälte. Dachte
ich jedenfalls. Aber nach einiger Zeit spürte ich doch wieder etwas Kraft, um der Lichtquelle
ein kleines Stück weiter entgegen zu krabbeln. Ich bemerkte, daß mir die Kraft aus dem Licht
zuwuchs. Immer wieder blieb ich liegen, konnte mich aber jedes Mal nach kurzer Zeit wieder
aufraffen und jedes Mal kam ich der Lichtquelle näher und fühlte mich kräftiger. Bald konnte
ich mich wieder ganz aufrichten und weitergehen. Doch verlor ich das Licht erneut. So setzte
sich der Kampf weiter fort, bis das Licht plötzlich ganz hell vor mir auftauchte: ich sah, dass
ich in einer riesigen Halle war und erblickte die Umrisse des Ausgangs in greifbarer Nähe!
Vom Licht gestärkt rannte ich darauf zu, es versuchte sich zwar noch etwas dazwischen zu
schieben, doch ich übersprang es und trat ins Freie.
5
Wieder stand ich auf einer unabsehbaren Ebene. Es gab auch hier nur diffuses Licht, doch es
war strahlend hell und mit nährender Wärme. Der Gestank war verschwunden. Ich sank auf
die Knie und weinte vor Dankbarkeit. Mein Verdacht gegen die Himmelsrebellen kam mir
jetzt ziemlich kleingläubig vor und ich schämte mich dafür. Ich merkte, wie ich mich erholte
und sogar meine Wunde heilte. Schnell war ich wiederhergestellt und fühlte mich so stark und
wohl, wie ich mich mein Lebtag nicht gefühlt hatte.
Der Boden, auf dem ich lag, war weißlich und steinartig. In einiger Entfernung entdeckte ich
etwas, das mich an einen Brunnen erinnerte. Ich ging darauf zu und sah, daß es tatsächlich ein
eingefaßtes Loch war. Da bemerkte ich, wie sich vorsichtig eine Hand herausschob, und auf
dem Rand Halt suchte und dann eine zweite. Es waren Hände, die Klavierspielen konnten. Ich
half ihr hinaus.
"Du?" fragte sie. - "Wer sonst", erwiderte ich.
28
Wir griffen unsere Hände, mehr wollten unsere Körper nicht mehr voneinander. Doch in
dieser Berührung fühlten wir uns verbundener denn je und das fühlte sich seliger an, als alles,
was wir im Leben an Höhepunkten der Leidenschaft miteinander erlebt hatten. Doch dann fiel
mir plötzlich etwas auf:
"Für jemanden, der gerade der Hölle entronnen ist, bist du ja ziemlich gefasst!"
Sie lachte: "Soll ich Freudensprünge machen, damit du dich geschmeichelt fühlst? Nein, im
Ernst, ich bin nicht erst gerade der Hölle entronnen. Ich bin schon lange unterwegs. Die Hölle
liegt um dich wie eine Zwangsjacke und diese Jacke ist wie deine eigene Haut, daran zu
reißen macht alles noch schlimmer und bringt gar nichts. Doch dann kam ein Augenblick, wo
ich merkte, daß ich mich häuten konnte und ich riß mir die Hölle herunter und stand plötzlich
frei von der Höllenqual in einer komischen, unwirklichen, trost- und leblosen Landschaft.
Doch die Hölle war wie eine Wolke hinter mir her, um mich wieder einzuhüllen. Ich lief um
mein Seelenheil. Nichts, was mir in dieser Landschaft an Hindernissen begegnete, war so
schlimm wie die Höllenqual, so daß mich kein Hindernis abschrecken konnte. Im Leben hätte
ich so einen Parcours keine 100 m durchgehalten, das kann ich dir versichern! Dann sah ich
plötzlich einen Lichtstrahl senkrecht auf den Boden fallen und als ich ihn erreichte sah ich,
daß er durch ein Loch in der Decke drang und eine Leiter hinaufführte. Und als ich dich sah,
wusste ich, daß ich gerettet bin. Schau!" Sie wies auf die Stelle hinter sich, wo eben noch der
"Brunnen" war. Er hatte sich geschlossen. "Da kommt keine Hölle mehr durch."
Doch da schien sie zum ersten Mal zu begreifen, daß sie wirklich gerettet war, sie sank auf die
Knie und weinte. Ich schloß sie in meine Arme.
"Das Schlimmste", begann sie nach einer Weile, "schlimmer als die eigentlich Qual, war die
absolute Hoffnungslosigkeit: die Gewißheit, daß es ewig sein würde, daß nie etwas anderes
kommen würde, verstehst Du, es war völlig gewiß, es war nicht möglich, irgend etwas zu
denken, das auch nur der winzigsten Hoffnung Raum geschaffen hätte. Schlimmer als die
Qual selbst war auch das Bewußtsein, sie selber verschuldet zu haben. Immer wieder erlebte
ich die Situationen meines Lebens, in denen ich die falschen Entscheidungen getroffen hatte,
und ich mußte mir eingestehen, daß ich allein verantwortlich war dafür, eine einzige und
einmalige Chance entwertet und vertan zu haben, die einzige, einmalige, winzige Chance, die
wir haben, vor der Unendlichkeit. Ich konnte mir es nicht anders vorstellen, als das alle
Wesen des Daseins nur Spott, Häme und Hohn auf mich spucken würden. Schuld und Scham
wurden so übermächtig, dass ich ständig das Gefühl hatte, daran zugrunde gehen zu müssen.
Aber man geht dort nicht zugrunde, man hat keine Hoffnung, zugrunde zu gehen, das ist ja
gerade Teil der Qual. Und schließlich: die absolute Verlassenheit. Im Folterkeller hat man
29
wenigstens noch die Schergen. Doch hier war ich ganz allein - auf ewig völlig allein in diesen
Kreisen der Qual."
"Die Qualen der Qual habe ich verstanden, aber was war die eigentliche Qual?"
"Davon kann ich dir nichts sagen, du würdest es nicht verstehen. Im Leben ist eine solche
Qual nicht vorstellbar. Das Schlimmste und Widerwärtigste, das du dir vorstellen kannst, ist
gegen diese Qual nur wie das Kitzeln eines Fliegenbeins gegen lebendig die Haut abgezogen
zu bekommen. Und das Allerschlimmste war: die Qual änderte sich ständig! Es gab ständig
einen neuen, vorher nie gekannten Schmerz, es gab nicht die geringste Möglichkeit der
Gewöhnung oder Erwartung. Man konnte nie wissen, wie lange eine Qual dauerte und wie
sich die nächste anfühlen würde. Und so sehr man sich auch auf eine böse Überraschung
einstellte: das Eintretende übertraf an Bösartigkeit noch das Schlimmste, was man sich
vorstellen konnte. - Erneut brach sie in Tränen aus. Sie weinte lange. Als sie sich beruhigt
hatte, fragte sie: "Womit habe ich verdient, daß Du mich rettest?"
"Tja, ich weiß auch nicht, ich konnte es einfach nicht aushalten, dich in der Hölle zu wissen
und überhaupt um die Hölle zu wissen, ich glaube das hat mit Verdienst gar nichts zu tun. So
wie es jetzt ist, das ist doch völlig bekloppt: ein paar Erdenjahre entscheiden über die
Unendlichkeit. Das kann es doch nicht sein, das ist doch völlig unausgegoren! Wie bei einem
Flugzeug, das bei bestimmten Bedienungsfehlern gleich abstürzt, ohne irgendeine
Möglichkeit der Gegensteuerung. Ich habe diese Unvollkommenheit einfach nicht hinnehmen
wollen. Ich glaube, das ist alles."
Es war, während wir redeten, immer heller und heißer geworden. Jetzt wurde es allmählich
unerträglich und wir spürten, daß das Licht uns umbringen würde. Bei dem Gedanken, wieder
in die Nebelhalle gehen zu müssen, versagten mir die Knie, rein instinktiv erinnerte sich mein
ganzer Organismus an das dort erlebte.
Sie hob mich auf: "Glaub mir, das Licht hier wird immer höllischer, es wird uns umbringen
und du weißt was das heißt! Aber dort im Nebel haben wir eine Chance und zudem kann uns
dort keiner das Zusammensein nehmen!"
"Es ist nicht klar, wieviel darin von uns und wieviel vom Zufall abhängt. Vielleicht werden
wir es nicht schaffen, dann war alles umsonst", erwiderte ich verzweifelt.
"Nein, nicht umsonst. Denn jetzt weiß ich, daß es nicht ewig sein wird, nicht unabänderlich,
verstehst Du, nicht ewig!!!"
"Aber selbst wenn wir das schaffen, das war erst der Anfang, dann kommt das
Purguratorium!"
"Ich weiß", sagte sie fast ein wenig schnippisch lächelnd, "ich bin bereits informiert. Aber ich
30
bin ja nicht mehr allein. Du mußt Dich nur genügend anstrengen, mich fest zu halten!"
"Und warum sollte ich das tun? Warum tue ich das eigentlich alles für dich?" Mir kam die
ganze Sache plötzlich albern vor.
"Du hast es doch eben gesagt: als Teil eines sich selbst vervollkommnenden Organismus
macht man das nun mal so", antwortete sie und grinste.
Stoffwechsel. Ein Alptraum.
1
Voller Vorfreude auf die Frau, die ich liebte, war ich an einem Sommermorgen in der ersten
Helle losgefahren. Die Autobahn war noch völlig leer. Nach einer halben Stunde Fahrt sah ich
mehrere stehende Fahrzeuge, offenbar ein Unfall. Die Menschen standen ratlos herum. Als sie
mich sahen, gestikulierten sie stark, um mich anzuhalten. Einer rannte auf den letzten Metern
auf mich zu und bat, den Motor nicht auszuschalten. Er sprach von einer Ökokatastrophe.
Die Autobahn brach abrupt ab und es war eine gleichförmige Fläche zu sehen. Sie war fest
wie Stein. Ein Lastwagenfahrer hatte mit einem Wagenheber ein Loch hinein gebrochen, es
handelte sich um eine Art Kruste, mehr als armdick, darunter befand sich eine seltsam zähe
schleimige Masse, die den Asphalt bereits aufgelöst hatte. Sie war hoch ätzend, der Auflösung
des hinein gehaltenen Metalls konnte man zusehen.
Zwei Männer kamen von den überkrusteten Hügeln zurück. Sie schilderten, wovon ich mich
danach selbst überzeugte: von den Hügeln sah man bis zum nächsten Hügelkamm nur diese
steinig verkrustete Landschaft. Die vereinzelten Dörfer, die hier gestanden haben mußten,
waren weg, was mit den Menschen geschehen war, war unklar.
Der Lastwagenfahrer berichtete, in der Nacht in Richtung Berlin so etwas wie Polarlichter
gesehen zu haben. Der Funk sei ausgefallen. Danach sei er noch etwa eine Stunde gefahren,
dann sei die Autobahn plötzlich zu Ende gewesen. Auch von den später eintreffenden
Fahrzeugen habe keines Funk gehabt. Sie hätten die Leitplanke demontiert, um zu wenden
und zurückzufahren, aber sie hätten nicht mehr starten können, die Batterien seien leer
gewesen, rätselhafterweise.
Ich gab denen, die wenden wollten, Starthilfe, stand aber mit den andern und den neu
Ankommenden noch weiter unschlüssig herum. Die Aussicht, meine Gefährtin heute nicht
31
mehr in die Arme zu schließen, machte mich wütend. Ich war drauf und dran, mit dem Wagen
über die Kruste zu fahren, doch der Lastwagenfahrer gab eindringlich die Unberechenbarkeit
zu bedenken. Irgendwann trafen Polizisten ein. Auch sie waren ratlos, hatten keinen Funk,
konnten nichts melden und keine Anweisungen entgegennehmen. Sie konnten nichts weiter
tun, als den zunehmenden Verkehr auf die Gegenfahrbahn umzuleiten, zur Rückkehr.
Schweren Herzens und immer wieder wütend auf das Lenkrad schlagend, trat auch ich die
Rückkehr an. Ich versuchte mehrmals, die Kruste weiträumig zu umfahren, jedes Mal
ungeduldig auf freie Fahrt hoffend, aber jedes Mal vergeblich. Gegen abend gab ich auf und
fuhr ins Dorf zurück, wütend und verärgert, daß ich Lara nicht sehen würde und einen ganzen
Urlaubstag im Auto vergeudet hatte. - Obwohl ich den ganzen Tag weder Händi- noch
Radioempfang gehabt hatte, hoffte ich, zu Hause irgendeine Verbindung bekommen zu
können. Auch da wurde ich enttäuscht. - Jetzt konnte ich nur noch hoffen, daß Lara in den
Nachrichten gehört hatte, daß Mecklenburg durch eine rätselhafte Umweltkatastrophe vom
Rest der Welt abgehängt worden sei.
2
Ich war damals Anfang 20 und betrieb mit meinem Vater an der Müritz einen kleinen
Rundflugbetrieb für Touristen. Nach der Wende hatte er billig eine
Landwirtschaftsfliegerpiste erworben. Dort stand unser Doppeldecker, ein selbstgebautes
historisches Modell. Es kam uns jetzt zugute, daß wir uns nichts Historisches erspart hatten
und der Motor mit Startpatronen gestartet wurde. Mit unserem Aktionsradius von 250 km
konnten wir bis weit hinter Berlin und zurück fliegen.
Kaum in der Luft, sahen wir in der Ferne die öde gelbe Fläche. Unser Entsetzen wurde immer
größer: Je weiter wir auch krusteneinwärts flogen, wir sahen kein Ende! Soweit das Auge
reichte: überall war die Landschaft mit diesem einförmigen gelben Brei überzogen, der alles
unter sich begraben hatte, Straßen, Höfe, Dörfer, Seen! Allerdings gab es immer wieder
Grünstreifen, teilweise kilometerlang und mehrere hundert Meter breit. Die Menschen, die
dort von der Kruste überrascht worden waren, standen ratlos an den Rändern. Einmal sahen
wir einen einsamen Hof, Wohnhaus und Stallungen waren über die Hälfte verschwunden,
überkrustet und darunter offenbar weggeätzt. Wir sahen zwei Kinder kauern, ein paar Kühe
liefen umher. Wir landeten. Die Kinder standen unter Schock. Die Eltern hatten in dem
verschwundenen Teil des Hauses geschlafen. Die Kinder hatten die Kruste an vielen Stellen
aufgebrochen um ihre Eltern zu suchen, aber überall nur die gleiche schleimige ätzende
Masse gefunden. Sie wollten nicht mit uns kommen. Sie wollten auf ihre Eltern warten. Sie
hatten das zwar schon den ganzen gestrigen Tag getan, aber es war selbst für uns unfaßbar,
32
daß die Eltern einfach weg sein sollten. Wir suchten mit ihnen noch einmal alles ab und
durchpflügten regelrecht den ganzen Grund, auf dem das Haus gestanden hatte, fanden aber
unter der Kruste überall nur den ätzenden Brei. Nach einigen Stunden entdeckte ich etwas,
was ich gestern noch nicht bemerkt hatte: Die Kruste wuchs! Langsam aber sicher. Sie ätzte
sich durch das Mauerwerk. Von Zeit zu Zeit stürzten die verbliebenen Gebäudeteile
stückweise ein. Die größeren Trümmer verschwanden nach einiger Zeit: sie schmolzen
regelrecht und hinterließen noch kurz einen feuchten Fleck bevor die Kruste wieder hart und
trocken wurde wie zuvor. - Am späten Nachmittag konnten die Kinder die Wahrheit nicht
mehr verleugnen und kamen mit. – Die Mädchen waren tapfer: das ältere erschoß eigenhändig
die Tiere, weinend.
Von Berlin war keine Spur zu sehen. Oder doch: Spuren. Die Fläche war hier deutlich
unregelmäßiger. Sie erinnerte schwach an die Auswölbungen einer Riesenschlange, nachdem
sie ein Kalb verschlungen hat. In der Abenddämmerung konnten wir in der Ferne noch einige
Plattenbauten sehen, offenbar auch eine Stelle, die nicht von der Kruste betroffen war.
Wir hatten die Kinder im Unklaren über unser Ziel gelassen. Unsere Erschütterung über die
ausgelöschte Großstadt ließen wir uns nicht anmerken.
Am nächsten Tag flogen wir die Kinder zu ihrer Tante nach Rostock. Der Zugverkehr war
lahmgelegt, es gab keine Elektrizität. Funk fiel weiterhin aus.
Am Tag darauf fuhr ein Polizeifahrzeug durchs Dorf und versicherte per Lautsprecher, daß
keine Gefahr bestehe, daß die Versorgung sichergestellt sei und alle Ruhe bewahren sollten.
Wir schafften unsere Treibstoffvorräte an das Autobahnende, um die Fläche noch weiter
erkunden und weitere Überlebende retten zu können. Soweit wir auch flogen: die Kruste war
unabsehbar nach allen Richtungen. Die Spree war verschwunden, bis auf eine vage, flache
Vertiefung. Mehrmals sahen wir Gruppen von Menschen, die durch Hunger und Durst aus
ihren Enklaven getrieben worden waren. Sie hatten keine Ahnung, in welche Richtung sie
sich wenden sollten, keiner hatte Hoffnung. Wir konnten ihnen wenigstens den Weg weisen.
Erst hinterher fiel mir auf, daß ich zu diesem Zeitpunkt wie selbstverständlich davon
ausgegangen war, daß die Kruste nicht bis Weimar reichte, daß irgendwo südlich von Berlin
wieder alles in Ordnung sein müsse, daß es gar nicht anders sein könne.
Wir sahen jetzt immer öfter Militärhubschrauber, die Eingeschlossene retteten. Man erteilte
uns schließlich, was zu erwarten gewesen war, Flugverbot. Das Gebiet wurde zur Sperrzone
erklärt.
Die verbliebenen staatlichen Einrichtungen schafften es, Recht, Ordnung und Versorgung
aufrecht zu erhalten, mit Infoblättern oder Lautsprecherwagen wurden die Bürger regelmäßig
33
informiert.
Nach zwei Wochen wurden die ersten Untersuchungsergebnisse freigegeben. Sie waren
schockierend. Doch was mich am fassungslosesten machte: Ich mußte davon ausgehen, daß
Lara, die Frau meines Lebens, tot war. Die Luftbilder rund um Weimar, die ich als
Angehöriger einsehen durfte, zeigten keine Enklave, nur Kruste, flächendeckend. Einen
größeren Schmerz habe ich in meinem Leben nie wieder empfunden, trotz allem, was noch
kommen sollte. - Mehr als zwei Drittel der Landoberfläche der Erde war verkrustet. Mehrere
Milliarden Menschen waren darunter begraben. Überall, wo man unter der Kruste nach
Überresten von Häusern, Dingen und Menschen gesucht hatte, hatte man nur schleimigen,
schlierigen Brei gefunden. Es war rätselhaft, worum es sich handelte. Es verhinderte allen
Funk. Elektrizität konnte nicht weiter als 2 Meter transportiert und nicht länger als eine halbe
Stunde gespeichert werden. Wieso war unklar. Telefon, Internet, Rundfunk: alles blieb tot. Pro Stunde fraß sich die Kruste jetzt etwa 2 Meter weiter ins Land, das machte in 20 Tagen
etwa einen Kilometer. Das beschleunigte das Tempo der Forschung, obwohl es kein Grund
zur Panik war, weil die Kruste langsam genug war, um eine Problemlösung erwarten zu
können, bevor es im wahrsten Sinne des Wortes „eng“ werden konnte.
Nach weiteren Wochen gab es die ersten Forschungsergebnisse: Es mußte aus dem Weltraum
stammen. Es ließ sich zertrümmern bis zu einem Feinstaub mit Partikeln im Nanobereich. Das
Elektronenmikroskop zeigte die Partikel als vollendete glasklare Kugeln. Ab einer gewissen
Menge Staubes konnte mit dem bloßen Auge ein schwaches Fluoreszieren in allen
Regenbogenfarben beobachtet werden, bevor der Staub sich wieder zu einer gelblichen Kruste
verbug, deren Rand, dort, wo sie auflag, schleimig wurde und sich durch alles durchfraß,
durch alles! Oder besser: er verstoffwechselte alles, denn er verwandelte alles unter sich in
Kruste. Ließ man es liegen, lag es irgendwann faust- oder ballgroß auf dem Boden des tiefsten
Kellers und wuchs dort, unaufhaltsam, in Breite und Tiefe. Die Kräfte, die im Spiel waren,
blieben unerklärlich. Das Pulver mußte über bisher unbekannte Möglichkeiten der Leitung
von Elektrizität verfügen, die durch keine bekannten Materialien gänzlich zu unterbinden
waren. Nur so war erklärbar, warum es allen Strom aufsaugte.
Die Kruste fraß sich auch immer tiefer ins Erdinnere. Die Bohrungen mußten allerdings
abgebrochen werden, weil das Gerät von ätzender Säure angegriffen wurde. Bei Druck von
mehr als 30 kg pro Quadratmeter und mehr als einer Stunde Druckeinwirkung begann die
Kruste, ihre Ätze heraus zu „schwitzen". - Die Enklavenflüchtlinge hatten diesen Umstand als
erste zu spüren bekommen: die Ätzreaktion hatte sie immer wieder aufgescheucht und bis zur
völligen Erschöpfung vorwärtsgetrieben. Wer nicht mehr konnte, war verloren.
34
Luftaufnahmen zeigten, daß auch die Gebirge „angefressen“ wurden und zwar nicht nur von
oben, sondern die Kruste fraß sich auch horizontal in den Fels, so daß es zu Bergrutschen
kam. Die Trümmer wurden von unten aufgelöst und einverleibt. Die Kruste begann offenbar
unsere Gebirge zu verspeisen. - Auf dem Meeresboden bot sich das gleiche Bild: die Kruste
fraß sich auch hier in die Erde. Dort, wo sie ins Meer hineinreichte, war zu erkennen, wie sie
das Meerwasser aufsog.
3
Nach zwei Jahren hatte die Kruste unseren kleinen Flugplatz erreicht und wir wurden zu
Flüchtlingen. Nach 6 Jahren gab es überall auf der Welt immer häufiger kleine Erdbeben, aber
ohne nennenswerte Schäden. Nach etwa 8 Jahren nahmen diese Beben an Häufigkeit und
Heftigkeit immer weiter zu, die Wirtschaft, durch die zunehmenden Flüchtlinge längst bis an
die Grenze belastet, begann zusammenzubrechen, und wo Chemiewerke und Tanklager
zerstört wurden, gab es ausgedehnte Ökokatastrophen. Nach 10 Jahren hatte sich die Kruste
überall etwa 700 km weiter ins Land gefressen. - Wir waren, wie viele Millionen anderer
auch, längst in Norwegen evakuiert, dicht gedrängt. Es gab die ersten Versorgungsengpässe
und Platzprobleme. Bis dahin war trotz der Erdbebenkatastrophen alles sehr diszipliniert
abgelaufen, jetzt begann die Lage zu kippen. Alle Hoffnungen in die Wissenschaft waren mit
einem Mal zerschlagen. Die Wissenschaftler konnten nur mit beunruhigenden Fakten
aufwarten: Die Kruste schien sich den gesamten Planeten anzuverwandeln. Sie hatte sich
bereits über 2000 km tief in die Erde gefressen. Und je tiefer die Kruste drang, um so
schneller fraß sie sich auch an der Oberfläche voran. Der überkrustete Meeresboden hatte sich
stellenweise um mehr als 3000 m gehoben, wieso blieb rätselhaft. Der Meeresspiegel war
dennoch nicht nennenwert angestiegen. Offenbar saugte die Kruste das Meer auf.
4
Es begann überall ähnlich: Den neu ankommenden Flüchtlingen wurde der Zutritt zu den
Lagern verwehrt. Hinter den Lagern stand die Armee und vor den Lagern bildeten sich neue
Lager. Und als die Kruste sie erreichte, drängten die Menschen auf den festen Boden, es kam
zu Gewalt. Überlebende berichteten von unvorstellbaren Szenen, in denen Zivilisten mit
Küchen- und Gartengeräten aufeinander losgingen. Manchmal verbündeten sie sich aber auch
gleich, und griffen in ihrer Verzweiflung und Todesnot die Armee an, der Tod auf der Kruste
war nicht nur gewisser, auch grausamer als der durch eine Kugel. Die Armee zog sich vor der
Kurste zurück, und die, die von ihr vor den Flüchtlingen geschützt worden waren, wurden zu
selbst Flüchtlingen, die von der Armee aufgehalten werden sollten.
35
Ich hatte das Glück gehabt, zu einem der ersten großen Flüchtlingsströme zu gehören, als
man noch davon ausging, daß die Kruste bald gestoppt werden könnte. Norwegen hatte
damals den schmalen Streifen Deutschlands, der noch übrig geblieben war, entlastet, und uns
aufgenommen. Wir waren die letzten gewesen, die noch auf die Städte im Hinterland verteilt
wurden. Als die Kruste aus der Ostsee herauswuchs und die Menschen aus den Lagern an der
Küste vertrieb, fühlten wir uns schon wie Skandinavier, die ein Recht hatten, sich gegen diese
Flüchtlingsinvasion zu schützen. Aber dann bekamen wir von den Norwegern zu spüren, wer
das Recht der angestammten Scholle in Anspruch nehmen durfte und wer nicht. Ich will dem
Leser die Schrecken, Wirren und Greuel ersparen, die Völker- und Brüdermorde, die
Bürgerkriege und Schreckensherrschaften, die sich nach und nach überall auf den Resten der
bewohnten Welt Bahn brachen. Alles, was die Geschichte der Menschheit an Schmerz,
Verzweiflung und Tod, an Grausamkeit, Skrupellosigkeit und Niedertracht kennt, schien sich
jetzt zu einem Horrorfinale zu bündeln, überall auf der Welt. Überleben hieß schuldig werden.
Auch ich kann mich davon nicht freisprechen. Es gab weiteren milliardenfachen Tod, diesmal
aber von Menschenhand. Erst dadurch entstand buchstäblich wieder Raum zur Besinnung.
Die Wissenschaftler berechneten, was zu tun war: Der Rest der Menschheit mußte auf Schiffe
evakuiert werden und alles, buchstäblich alles, dessen wir noch habhaft werden konnten,
verwandelten wir in Schiffsraum, Ausrüstung, Vorräte und Bioressoucren. Hastig wurden alle
Bodenschätze gehoben – ja, der Boden selbst wurde zum Schatz. Jeder Zentimeter der
Schiffdecks wurde zu landwirtschaftlichen Anbauflächen. Darunter waren unsere
Wohnungen, darunter Fabriken, Lager, Tanks. Aber wir wußten, daß das nur eine
Übergangslösung sein konnte: Es war längst klar, daß dieses Etwas, was es auch war, sich den
Planeten völlig einverleiben würde. Wir hatten bloß Glück, daß es keine schädlichen Gase
ausschied. Bald würde es kein Meer mehr geben. Und dann würden wir nur überleben
können, wenn wir halb in der Luft hingen: Wir bereiteten uns darauf vor, mit riesigen Ballons
das Gewicht unserer Lebensräume so zu erleichtern, daß nicht mehr als 30 kg pro
Quadratmeter auf der Kruste lasten würden. Mehr und mehr wurde klar, wie viele Menschen
überhaupt in solchen „Hängearchen“ dauerhaft überleben könnten. Dafür waren wir immer
noch viel zu viele...
5
Die auf 15 000 000 Menschen geschrumpfte Menschheit verteilte sich auf viele kleine und 12
große Flotten, jede mehr als 1000 Schiffe stark. Alle Versuche, die Telekommunikation
wieder herzustellen, waren gescheitert. Um miteinander Kontakt zu halten, nutzen wir
Segelboote, denn jeder Tropfen, jeder Krümel war kostbar wie Gold, zu kostbar, um
36
verfeuert zu werden. Später, als die Ozeane auf paar Pfützen schrumpften, auf die die Flotten
sich verteilten, bauten wir Radsegler, um miteinander in Verbindung bleiben zu können.
Auf den meisten Flotten beschlossen die Menschen, daß alle ab 70 freiwillig in den Tod
gehen sollten, und als absehbar war, daß das nicht reichte, wurde das Alter auf 65, dann 60
und schließlich 55 reduziert. Aber das reichte immer noch nicht. Doch scheiterte diese
Regelung ohnehin daran, daß sich mehr und mehr nicht daran hielten. Zunächst waren es nur
einige wenige gewesen, dann hatten immer mehr sich gesagt: wenn die sich nicht dran halten,
funktioniert es sowieso nicht, wieso sollten wir uns dann daran halten? - Als nächstes hörten
wir, daß bei einigen Flotten die Schiffe begonnen hatten, sich gegenseitig zu bekriegen.
Angefangen hatte es damit, daß mehrere Schiff sich zusammengetan hatten, um andere zu
kapern, und sich deren Heliumvorräte einzuheimsen. Helium galt als das Allerwertvollste,
denn die hochexplosiven Wasserstoffballons würden über uns schweben wie
Damoklesschwerter. Die andern Schiffe verbündeten sich, um das Helium zurück zu erobern.
Bei diesem Krieg wurden die Tanks beschädigt und der größte Teil des Heliums ging
verloren. Anstatt daraus zu lernen, war dieser Krieg der Auftakt zu weiteren Kriegen um die
Überlebensressourcen, vor allem um Energie und Rohstoffe sowie um die Maschinen zum
Erzeugen von Wasserstoff und zum Herstellen von Ballonstoff. Bei jedem Krieg wurden auch
für die Sieger weit mehr Ressourcen vernichtet als gewonnen, so daß ein Krieg den nächsten
anstachelte. Auf keiner einzigen Flotte vermochten die Menschen, sich dieser eskalierenden
Logik zu entziehen, Kriegsmüdigkeit und Friedensbereitschaft wurden durch die
kriegsbedingt weiter gewachsene Diskrepanz zwischen Ressourcen und Bevölkerungszahl
immer wieder unterlaufen. Auch diesmal mußte erst genug Tod, Schrecken und Absurdität
aufgehäuft und tief genug in den Abgrund der völligen Vernichtung geblickt werden, bevor
wir begannen, bedingungslos Frieden zu schließen, um uns erst einmal für das Überleben
einzurichten.
6
In dem Maße, in dem sich der Meeresboden hob und ausbeulte zu einer fast ebenen
Oberfläche, wurden die Meerespfützen immer flacher. Wir mußten die Schiffe hastig immer
weiter verkleinern. Es entstanden immer mehr kleine Boote, aus denen „Bodenarchen“
hervorgehen sollten, großflächige Platten, die das Gewicht gleichmäßig verteilten und als
Lager und Wohnraum nutzbar waren. Die großen Schiffe wurden nach und nach in
„Hängearchen“ verwandelt, die die gerettete Erde beherbergten. Riesige Ballons mit
beschichteten Oberflächen wurden möglichst weit voneinander entfernt und in verschiedenen
Höhen aufgelassen, so daß die Explosion eines Ballons nicht zu einer Kettenreaktion führen
37
konnte. Eine Gasreserve für mehrere Ballons wurde in Kompressoren einbehalten.
Es war abzusehen, daß sich irgendwann alles Wasser wenige Zentimeter flach über die
gesamte Kruste verteilen und verdunsten würde. Wir konnten in der Zukunft nicht mehr mit
Regen rechnen, nur mit Tau. Wir mußten geschlossene Kreisläufe schaffen. Schließlich ließen
wir nichts mehr unter freiem Himmel wachsen. Und es gab keinen Abfall mehr: Alles, was es
außer Kruste noch auf unserem Planeten gab, war unendlich wertvoll, selbst unsere
Exkremente. Wir wurden auf unserem eigenen Planeten in Raumstationen verbannt! Wir
erlebten unmittelbarer als es jemals zuvor Menschen erleben konnten, was es bedeutet, Teil
der lebendigen Natur zu sein, teil eines Kreislaufs, eines Stoffwechsels...
Die Archen waren bis auf das letzte Gramm ausgereizt und ausgeklügelt: Sie waren bis zu
einem Quadratkilometer groß, auf eng hintereinanderliegenden röhrenartig schmalen Rollen
montiert, so daß sich das Gewicht ständig verlagern konnte. Das erhöhte die mögliche
Schwere um das 10fache. Die Rollen dienten gleichzeitig als Tanks. Für die ständige
Bewegung sorgten Wind und Sonne. Die Sonnenenergie wurde in Form von Wärme
gespeichert, in allen tragenden Metallteilen. Durch Isolierung konnten wir im Metall so hohe
Temperaturen erzielen, daß wir Turbinen betreiben konnten. Heizenergie war entbehrlich,
weil sich alle Archen rund um den Äquator verteilten. Da es keine nennenswerte
Wolkenbildung mehr gab, war die Sonnenenergie völlig berechenbar, und durch die
Einförmigkeit der Planetenoberfläche ebenso die Winde.
7
Nach unseren Berechnungen hätten wir ursprünglich Überlebensressourcen für einige
Millionen Menschen gehabt, aber die kriegsbedingten Zerstörungen und Verzögerungen
hatten zu enormen unwiederbringlichen Materialverlusten geführt, so daß auf allen Archen
zusammengenommen nur einige Tausend Menschen überleben konnten. Es war klar, daß uns
wieder, zum vierten Mal, ein großes Sterben bevorstehen würde, weil nur einer von 1000 der
jetzt noch Lebenden dauerhaft ernährt werden könnte. Diesmal wollten wir alles dafür tun,
einen weiteren Krieg ums Überleben zu vermeiden. Überall setzte sich durch, daß über Leben
und Tod per Los entschieden werden sollte, und sich jeder darauf vorbereiten müsse, daß es
ihn treffen könne. Insgeheim glaubte jedoch niemand, daß die Betroffenen sich an die
Losentscheidungen halten würden. Es wurde befürchtet, daß doch wieder ein Krieg
entbrennen würde, und daß die Ballons nicht hinreichend geschützt werden könnten. Das
hätte das Ende der Menschheit bedeutet. Deshalb war klammheimlich klar, daß das große
Sterben doch wieder die Form eines großen Mordens annehmen würde, und diejenigen, die es
schafften, als erste loszuschlagen, würden überleben. So kam es auch. In jeder Flotte bildeten
38
sich verschworene Gruppen. In jeder Flotte kam es zu Handstreichen, in denen die zuerst
Zuschlagenden die anderen töteten oder entwaffneten. Die Entwaffneten mußten sich fügen
und die Flotten verlassen. Keiner von uns Überlebenden wird die Szenen vergessen, wie
Entwaffnete gegen Maschinengewehrstellungen anrannten und zu hunderten niedergemetzelt
wurden. Die meisten Überlebenden zogen es vor, sich umzubringen statt auf der Kruste zu
verätzen.
Ich gehörte zu einer jener kleinen Gruppen, die für den Fall des Unterliegens schon frühzeitig
vorgesorgt hatten. Aus den kleinen Booten waren um die Archen herum nach und nach
riesige, viele Quadratkilometer große Lager entstanden, in denen das Gewicht flächig genug
verteilt war, um keine Ätzreaktion auszulösen. - Was für uns heute so selbstverständlich
geworden ist, wie Zähneputzen, mußten wir damals erst lernen und akzeptieren: Dinge so zu
bauen, daß sie klein genug zerlegbar sind, um auf der Kruste gelagert werden können. - Als
wir entwaffnet und ausgeschlossen wurden von den Hängearchen, stahlen wir uns
Lastensegler und nahmen mit, soviel wir transportieren konnten. Davon bauten wir uns eine
Bodenarche. Allerdings war es nicht möglich, eine Bodenarche zu schaffen, auf der man
generationenlang autark leben konnte. Doch ich hatte etwas, mit dem wir hofften, ins
Geschäft kommen zu können mit den Hängearchen.
Andere unterlegene Gruppen, die nicht entwaffnet aber dennoch überwunden worden waren,
entwickelten sich zu Piraten. Sie lebten auf Lastenseglern, tauchten von Zeit zu Zeit auf, um
die Lager der Archen zu überfallen. Irgendwann erledigte sich das Piratenproblem von selbst,
weil den Piraten die Munition ausging. Einige ergaben sich, von den anderen fanden wir bis
auf einige leichte Gegenstände keine Spur mehr...
8
Die Fliegerei ist mein Leben. Schon vor dem ersten Überlebenskrieg hatte ich mich für eine
ungewöhnliche Sache engagiert, der zu dem damaligen Zeitpunkt niemand Bedeutung
beigemessen hatte: Ich hatte mich den Solarflugpionieren angeschlossen, die trotz der
schweren Zeiten unermüdlich Wege und Mittel gesucht hatten, die Solarfliegerei zu
optimieren. Ich war weltweit einer der letzten, vielleicht der allerletzte Vertreter meines
Fachs. Zwar konnten wir selbst keinen Flieger bauen, aber es war klar, daß unsere
Splittergruppe durch mich für die großen Archen interessant würde, Unterstützung erhandeln
und unsere Kinder vielleicht irgendwann integriert werden könnten. - So überlebte ich. Und
ich bekam meinen Flieger. - Es dauerte noch viele Jahre, bevor das Fluggerät fertig war. Es
waren hochspezielle Probleme zu lösen gewesen: Es mußte so konzipiert werden, daß ich auf
der Kruste übernachten konnte. Es war riesig und leicht, und durch Einfahren des Fahrwerks
39
und Verschieben der Motoren konnte nach der Landung das Gewicht, inklusive das des
Piloten gleichmäßig verteilt werden. Das Cockpit war offen und wo nicht Flügel war, war
Gestänge. Eine geniale Faltung, die ursprünglich von einem Papiermöbelhersteller erfunden
worden war, ermöglichte es, mit ultraleichten Verbundstoffen eine sturmtaugliche Stabilität
zu erreichen.
In den Jahren meiner unermüdlichen Arbeit an der Entwicklung des Fliegers gingen weitere
Veränderungen mit unserem Planeten vor, falls wir überhaupt noch davon sprechen konnten,
daß es der unsere war. Die Erde war es jedenfalls nicht mehr. - Der Umfang des Planeten
dehnte sich immer weiter aus, die Masse blieb jedoch gleich. - Schon in den Wirren des
Überlebens hatten wir mit bloßem Auge erkennen können, daß auch der Mond sich wandelte
und die Astronomen fanden heraus, daß Mars, Venus und Merkur sowie einige Jupiter- und
Saturnmonde ebenfalls von der Kruste befallen waren und sich „aufblähten“. Darüber hinaus
gelang es den Wissenschaftlern, festzustellen, daß alle von der Kruste befallenen Planeten
über ein elektrisches Feld miteinander verbunden waren. Das nährte viele Fantasien.
Ich unternahm regelmäßig Erkundungsflüge. Dabei entdeckte ich überall auf der Kruste
Überreste von Enklaven, die versucht hatten, zu überleben, indem sie riesige Bodenplatten
gebaut hatten, auf denen sich das Gewicht so verteilte, daß die Kruste nichts merkte. Sie
hatten darauf eine spärliche Landwirtschaft betrieben und teilweise mehrere Jahre überlebt,
hatten aber nicht genügend Ressourcen oder Wissen gehabt, geschlossene Kreisläufe zu
bilden, oder sie hatten in den Kämpfen darum, wer überleben durfte, ihre
Überlebensressourcen zerstört. - Einige dieser Bodenarchen waren von Piraten gekapert
worden. Ich fand nur noch spärliche Reste. Die Piraten hatten offenbar alles Stück für Stück
abbauen und verkaufen wollen, aber nicht alles wegschaffen können. Auf den Plattenruinen,
fand ich Skelette, deutlich gezeichnet von grausamen Toden... Nur eine „Bodenarche“ fand
ich, in der noch 35 Menschen lebten. Es waren afrikanische Bauern, die ganz selbständig,
ohne Wissenschaft, nur durch ihre Fähigkeit zur Naturbeobachtung, herausgefunden hatten,
was für das Überleben zu tun war.
9
Die Kruste war völlig eben. Einigen kleinen Unebenheiten, die ich dann und wann überflog,
schenkte ich keine Aufmerksamkeit, denn nichts ist perfekt. Ich wußte noch nicht, daß sich
daraus etwas entwickeln würde, was unser Bild von der Kruste völlig verändern sollte,
allerdings in einer Weise, die noch weit mehr Rätsel aufgibt... - Mit der Zeit merkte ich, daß
diese Unebenheiten wuchsen! Zuerst wie Maulwurfshügel, dann brachen sie in der Mitte auf,
so daß sie aussahen, wie Pickel, und später wie Krater: kreisrunde Wulstbildungen deren
40
Mittelpunkt ein Loch von etwa 100 Meter Durchmesser bildete. Sie waren selten. Wir
konnten hochrechnen, daß es maximal einige hundert von ihnen gab. Ohne meine Fliegerei
hätten wir sie vielleicht nie gefunden. Als Entdecker dieser Eingänge ins Innere der Kruste
leitete ich die erste Expedition. Die Wülste waren fünf bis sechs Meter hoch. Dahinter fanden
wir eine einfache klare Struktur: Ein Art riesiger Rampe führte spiralförmig in Innere. Sie war
so asphaltartig wie die Kruste. Neugierig wanderten wir hinab. Die Spirale schien endlos. Wir
holten ein Fahrzeug und ließen uns immer tiefer hinunter rollen, 10, 20, 30 Kilometer. Dann
mußten wir abbrechen. Alles, was wir bemerkt hatten, war, daß die Spirale sich nach allen
Seiten vergrößert hatte und steiler geworden war.
Die zweite Expedition statten wir mit einem Motor aus und mit Sprit für mehrere hundert
Kilometer. Wir hatten sehr viel Neugier erwecken und unermüdlich sammeln müssen, um
eine solche Menge Treibstoff zu bekommen, denn soviel wir von den Verbrennungsprodukten
auch aufzufangen verstanden: es ging immer etwas unwiederbringlich verloren.
Abwärts ließen wir uns wieder rollen, weiter und immer weiter in die Tiefe hinab, auf einer
größer und steiler werden Spirale in ewiger Nacht. Nach 100 km hatte der sich abwärts
windende Raum die Weite einer Kathedrale angenommen, unser spärliches Licht reichte nicht
mehr, um sie auszuleuchten. So riesig sie war, so öde und leer war sie. Nach weiteren hundert
Kilometern wurde mir mulmig wegen des beträchtlichen und immer schneller zunehmenden
Gefälles, ich ließ stoppen. Die jungen Leute waren ungehalten, ihnen fing es gerade erst so
richtig an, Spaß zu machen. Aber als erfahrener Pilot vertraute ich meiner Angst. Sobald die
Wagen standen, erloschen ihre Scheinwerfer. Die Taschenlampenbatterien waren längst
entladen, so daß wir im Dunkeln über meine Entscheidung diskutierten. Plötzlich meinte
jemand, einen schwachen Lichtschein wahrzunehmen. Wir hielten es für Einbildung. Wir
ließen die Wagen langsam weiter rollen, ohne die Lichtmaschine mitlaufen zu lassen. Nach
vielen weiteren Windungen – ich schätze, daß der Durchmesser einer Windung mittlerweile 1
km betrug – teilten alle den Eindruck eines schwachen Scheins, aber es wurde es so steil, daß
die Wagen selbst bei angezogener Bremse zu rutschen begannen. Wir mußten die Motoren
anwerfen und ein Stück zurück fahren. Wir gingen zu Fuß noch ein paar Windungen weiter,
bis es so abschüssig wurde, daß wir uns kaum noch halten konnten. Die Helligkeit nahm
kaum zu, sie reichte nicht, um verläßlich zu sagen, ob wir die Hand vor Augen wirklich
wahrnehmen konnten oder uns das nur einbildeten. Es gab keine Möglichkeit, weiter in die
Tiefe vorzudringen. Die Spirale gab ihr Geheimnis nicht preis. Unsere Enttäuschung war
unermeßlich. - Auf dem Rückweg ersonnen wir die Idee, mit einem Ballon zurück zu kehren.
Allerdings war klar, daß es Jahre dauern würde, das erforderliche Gas zusammen zu
41
bekommen.
Es wäre nicht in Ordnung gewesen, meine Entdeckung der Öffentlichkeit vorzuenthalten.
Deshalb konnten wir jetzt nicht verhindern, daß sich mehrere Male Abenteurer aufmachten,
die Spirale zu erforschen. Sie glaubten unserem Bericht nicht, stahlen Radsegler und
Ausrüstung und verschwanden. Keiner von ihnen wurde je wieder gesehen. Doch gerade das
führte zu Fantasien vom gelobten Land, die immer wieder neue Abenteurer anlockten. Als die dritte Expedition ausgerüstet war, war ich zwar schon ein Mann von 63 Jahren, aber
noch fit genug, um es mir nicht nehmen zu lassen, die Expedition wieder selbst zu leiten. Als wir uns der Spirale näherten, sahen wir von weitem schon ein Gewirr von Teilen zerlegter
Radsegler, die Überreste der Abenteurer. Die Spirale selbst war leer und stumm, als sei sie nie
betreten worden.
An der letzten Stelle, an der die Wagen noch sicher stehen konnten, richteten wir ein Lager
ein. Wir ließen uns mit der Gondel in den Schlund rollen, um im freien Fall die
Gaskompressoren zu öffnen und den Ballon aufzublasen. Wir hatten den Eindruck, daß es
tatsächlich heller und heller wurde. Dann nahm die Helligkeit schlagartig zu, und wir hätten
vor Überwältigung beinahe vergessen, die Kompressoren zu öffnen: Sprachlos schwebten wir
über dem nie zuvor gesehenen Schauspiel, das die Menschheit sich jetzt aus ihrem Dasein
nicht mehr wegdenken kann. Aber was zählt der urerste Blick bei einem Anblick, den wir
jedes Mal so erleben, als sei es das erste Mal, obwohl er uns trotz seiner völligen Fremdheit
auf seltsame Weise immer erahnt und von weit her vage bekannt erscheint.
Überrascht und ganz versunken in Faszination erkannte ich erst auf den zweiten Blick, daß es
sich um eine Kugel handeln mußte. An der schwachen Krümmung konnte ich einschätzen,
daß sie etwa 12 Kilometer unter uns lag. Es fiel uns so schwer, uns loszureißen, wir waren so
berauscht von dem Anblick, daß wir fast den Zeitpunkt der Rückkehr verpaßt hätten.
10
Obwohl wir schnell herausfanden, daß sie absolut lebensfeindlich ist und aus hochätzendem
Feinstaub besteht, und trotz der geringen Qualität der Bilder unserer primitiven, mit
handerzeugtem Strom betriebenen Kamera, entfachten die Filmaufnahmen, die wir
mitbrachten, bei allen Menschen sofort das Erstaunen, die Faszination und die Neugier, die
seitdem nicht geringer geworden sind. Die riesigen, unabsehbar aus dem Mittelpunkt der kalt
leuchtenden Kugel wolkenartig herauswachsenden trichterförmigen Gebilde, die sich immer
wieder mit kaskadenartigen Entladungen ausfransen, die korrespondieren Assymetrien, die sie
in Form und Rhythmus wechselseitig untereinander bilden, eigenständig aber aufeinander
bezogen wie beim Kontrapunkt in der Musik, die offenbar aufeinander abgestimmten
42
Farbwechsel, die nie dazu führen, daß zwei Gebilde sich farblich gleichen: der Faszination
dieses Anblicks konnte sich bisher noch keiner entziehen, selbst die Dümmsten,
Abgestumpftesten und Beschränktesten nicht. Und die Intelligenz, die wir heute, 25 Jahre
nach unserer Entdeckung, überall in der Bevölkerung messen, ist deutlich gestiegen. So
Dumme, Abgestumpfte und Beschränkte, wie ich sie noch kannte, gibt es heute gar nicht
mehr. Dass uns der Blick in die Kugel - und sei es auch nur auf den Bildschirmen intelligenter und geistvoller macht, ist erwiesen, warum das so ist, bleibt ein Rätsel. Leider –
oder soll ich sagen glücklicherweise? - werden wir dadurch nicht zu besseren Menschen. Die
Entwicklung von Kultur und Selbsterkenntnis wird uns erleichtert aber nicht abgenommen.
Wir sind freier für die Aufstiege zum Höheren aber nicht freier von den Neigungen zum
Niedrigen.
Nach den neuesten wissenschaftlichen Ergebnissen wissen wir jetzt, was wir schon immer
geahnt, „gefühlt“ haben: daß eine Komplexität gegeben ist, die die Annahme eines
intelligenten Wesens nicht verbietet. Die Kugel ist komplex genug, um intelligent sein zu
können. Aber selbst wenn sie intelligent und bewußtseinsfähig wäre: Sie ist zu groß für uns.
Erwiesen ist, daß wir definitiv nicht mehr über die Möglichkeiten verfügen, regelmäßige
Reize zu erzeugen, die stark genug sind, daß es Sinn für etwas so Großes hätte, sie nicht zu
ignorieren. Hätten wir all die Millionen von Menschen gerettet, die wir hätten retten können,
hätten wir all das in den Kriegen verlorengegangene Material noch, sähe die Rechnung anders
aus. Und wir müssen auch davon ausgehen, daß das Wesen – falls es eins ist – uns nicht
entdeckt, weil es nicht mit der Möglichkeit völlig anderer Lebensformen rechnet. Und selbst
wenn es damit rechnen würde: Wie sollte es darauf kommen, daß ausgerechnet auf seiner
Hülle intelligente Mikroben überlebt haben, die bereits vor ihm da waren.... Wir werden nie
erfahren, ob es denkt, und wenn ja, was.
So kam es zu den drei großen Selbstvorwürfen, an denen wir uns wahrscheinlich abarbeiten
werden bis das Ende der Sonne das Ende unserer Lebensform besiegelt:
Wäre das Wesen intelligent, würde ein Kontakt vielleicht dazu führen, daß es uns unsere Erde
an der Oberfläche zurückgeben würde, daß die Erde wieder grün, die Menschheit wieder
zahlreich und zu einem gleichberechtigten Partner würde, in einer planetaren Symbiose.
Nach Auswertung aller früheren Erkenntnisse im Lichte der neuesten Forschungsergebnisse
müssen wir ferner davon ausgehen, daß wir es uns auch verscherzt haben, die Staubkugel und
seine Kruste weiter erforschen können. Alle Erkenntnisse legen nahe, daß es sich um eine
völlig andere Art der Energie-Materie-Organisation handelt, auf einer Ebene, die allem, was
wir bisher wissen, noch voraus liegt, offenbar auf subquantischem Niveau, auf einem Niveau,
43
auf dem die Vorstellung von Teilchen oder Strings keinen Sinn ergibt. Die Maschinen und die
Energie, die wir zur Erforschung dieser Dimension benötigen würden, übersteigen
grundsätzlich und bei weitem die Möglichkeiten, die uns nach all den Kriegen übrig geblieben
sind.
Und schließlich: die Enge wird immer bleiben. Viel weiter schrumpfen kann die Menschheit
nicht mehr, wenn sie ihre Reproduktion nicht gefährden will. Hätten wir Millionen gerettet,
hätten die zukünftigen Generationen durch Familienplanung den Platz für jeden leicht
verzehnfachen, ja verhundertfachen können.
11
Die machtvolle Wirkung der Kugel führte schnell zu ausschweifenden Fantasien. Daß die
Kugel „Das Auge Gottes“ sei, war eine der ersten. Daraus entspannen sich die abwegigen
Vorstellungen von einem „Sündbrand“, der nur einige Auserwählte übriggelassen habe – zwar
nicht die Gerechten – denn jeder Überlebende hatte viel Schuld auf sich geladen – aber die
Stärksten, diejenigen, die die besten Voraussetzungen hätten, einen Stamm der Gerechten zu
begründen. - Heute sind die Anhänger dieser esoterischen Lehre zu einer unbedeutenden
Sekte geschrumpft, die niemand mehr ernstnimmt. Aber damals, vor 25 Jahren, waren sie
bedrohlich. Es war in den damaligen Zeiten, die noch weit mehr von Schuld, Unsicherheit und
Angst geprägt waren, nicht abzusehen, zu welcher Schreckensherrschaft diese Fantasie
vielleicht führen würde. Die Sektenführer versuchten den Menschen einzureden, Gott würde
seine Ätzschwelle verringern, würden wir nicht wohlgefällig genug leben. Hätten die
Sektierer Erfolg damit gehabt, hätten sie eine gnadenlose Inquisition errichten können, mit
freier Hand, jeden Abweichler zu vernichten. Glücklicherweise hatte sich die Gesellschaft
schon relativ konsolidiert, als wir die Kugel entdeckten, und eine neue Generation war
herangewachsen. So wurde die Sektenbildung durch Fragen in Schach gehalten: Weshalb
Gott uns sein Auge sehen lasse. - Antwort: Gott habe in seiner Gnade geruht, seinen Blick auf
uns uns sinnfällig darzubieten, um der Leugner und Zweifler zu wehren. - Weshalb er es dann
unter der Kruste verberge, statt daß der Himmel uns anblicke? Außerdem könne er unter dem
Lid der Kruste ja gar nichts sehen. - Es hieß: er wolle sich uns nicht aufdrängen und uns nicht
alle Mühe des Glaubens an seine Gegenwart abnehmen, und natürlich könne sein Auge durch
die Kruste sehen, so wie unser Auge durch die Netzhaut. Spötter meinten dazu: Wenn Gott
von unten auf uns blicke, wolle er offenbar bloß den Mädchen unter die Röcke gucken. So
kam es, daß mehr und mehr über die Sektierer gelacht wurde. Dennoch hat die Sekte bis heute
Bestand, für die wenigen, die es immer gibt, die einen erhöhten Bedarf haben, innere
44
Konflikte und unbewußt schwärende Ängste einzumauern oder sich auserwählt und überlegen
zu fühlen.
12
Was uns bleibt ist unsere geistige und soziale Entwicklung. Vielleicht können wir in diesem
Sinne die Katastrophe, die die Kugel über uns gebracht hat, als Chance für die Menschheit
auffassen – wenn wir die Überreste der Menschheit, die auf ihrem eigenen Planeten lebt wie
Schiffbrüchige, wie Gestrandete, noch Menschheit nennen wollen.
Copyright:
Die Texte sind urheberrechtlich geschützt. Copyright-Kontakt über www.goethesfaust.com
Kopieren für den privaten Gebrauch ist gern gesehen.
Jede andere Verwendung, auch auszugsweise, bedarf der ausdrücklichen Genehmigung.
D.h.: Auch mit Nennung des Namens dürfen die Texte nicht ohne unsere Genehmigung “herausgegeben”
werden! Alles, was über den Rahmen des Zitierens hinausgeht, bedarf einer Lizenz!
45