Laut und zäh« Wenigstens reden

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DIEZEIT
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Titelfoto (Ausschnitt): Peathegee Inc/Blend Images LLC/Gallerystock
Wie geht das?
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Alles okay, Jesper
Juul? – Der berühmte
Familientherapeut
hatte seine Stimme
verloren. Jetzt gab
er uns ein Interview
Chancen, Seite 61
AUFSTAND GEGEN TRUMP
MERKEL BEI ERDOĞAN
»Laut und zäh« Wenigstens reden
Die gefeierte US-Autorin SIRI HUSTVEDT beschreibt, wie
der Marsch der rosa Mützen Wirkung zeigen kann
Das Bild vom Scharlatan, der einer begeisterten
Menge sein Quacksalberprodukt aufschwatzt,
ist ein in Amerika wohlvertrautes Bild, und
während des Wahlkampfs konnten die Medien
gar nicht genug bekommen vom Trump-Zirkus.
Sie räumten ihm deutlich mehr Zeit ein als Hil‑
lary Clinton, aber in der Reporterschaft glaub‑
ten nur wenige, dass der mürrische, herumstol‑
zierende Fernsehstar tatsächlich die Wahl ge‑
winnen würde. Doch jetzt, wo unser commander-in-chief auch weiterhin für die Kameras po‑
siert und narzisstische Floskeln über die Größ‑
ten, die Besten und die Tollsten absondert, ist es
wichtig, dass die Medien seine verschlüsselte
Prahlerei über Penisgröße genauso zu analysie‑
ren lernen wie seine Handlungen, die unsere
Gesetze und Gepflogenheiten sowie die Stabili‑
tät der Republik selbst untergraben. Aber womit
genau haben wir es zu tun?
Ist Trumpismus tatsächlich, wie so viele auf
beiden Seiten des politischen Spektrums argu‑
mentieren, eine Gegenbewegung gegen die Glo‑
balisierung? Hat die gewöhnliche Arbeiterschaft
rebelliert, Menschen, die vertrieben wurden vom
Freihandel, einer neuen Weltordnung der inter‑
nationalen Großunternehmen und der neolibe‑
2. Februar 2017 No 6
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Dossier, Seite 13
MAGAZIN
Wütende weiße Männer wählten Trump,
die Stimme des Volkes sind sie nicht
www.zeit.de/apps
Sie soll alles
richten: Terroristen
fassen und Diebe
ergreifen. Doch
es fehlt ihr am
Nötigsten.
Ein Report aus
Berlins Polizei
Jeder wird älter. Doch nicht
­jedem macht es etwas aus.
Wie werden Menschen damit
fertig: Was bedauern sie? Was
macht sie zufrieden? ­Worauf
sind sie gespannt?
Eine Suche von Susanne Mayer
A
Jetzt für Ihr Smartphone!
Arme
P lizei!
In
Würde
altern
m Tag nach der Amtseinfüh‑
rung Donald Trumps mar‑
schierte ich gemeinsam mit
Hunderttausenden Frauen und
Männern in Washington.
Während ich so über das Meer
rosafarbener »Pussy-Mützen«
in der Menschenmenge hinwegblickte, hoffte ich,
dass die Märsche in den USA und die Schwes‑
termärsche in Europa Auftakt für einen starken
Widerstand gegen den populistischen, frauen‑
feindlichen, rassistischen, fremdenfeindlichen,
autoritären weißen Zorn sein würden, der uns
Trump, den Brexit und in ganz Europa immer
mehr rechtsextreme Parteien beschert hat. Exakt
eine Woche später setzte eine Bundesrichterin
nach massiven Protesten am JFK-Flughafen
Trumps »Muslim-Verbot« aus. Uns steht ein lang‑
wieriger und mühsamer Kampf bevor. Es wird
Erfolge geben, und es wird Rückschläge geben,
aber wir müssen hartnäckig, strategisch denkend,
zäh und laut bleiben.
DIE ZEIT im
Taschenformat.
ralen, angeblich durch Hillary Clinton verkör‑
perten Agenda? Haben die inzwischen zu einer
Partei der urbanen Eliten und der Minderheiten
verkommenen Demokraten den Kontakt verlo‑
ren zum »Volk«, zur armen Arbeiterschaft dort
draußen im Herzland der USA (wo ich aufge‑
wachsen bin), zu Menschen, die nichts wollen,
als mit ehrlicher Arbeit ihren Lebensunterhalt zu
verdienen? Wieder und wieder wird diese Ge‑
schichte vorgetragen, und sie mag Teile der
Wahrheit enthalten, aber wir sollten vorsichtig
damit sein, sie als Erklärung hinzunehmen.
Europas rechtsgerichtete Bewegungen haben
drei Dinge gemeinsam, sagt der niederländische
Gelehrte Cas Mudde: Nativismus, Autoritaris‑
mus und Populismus. Damit ist auch perfekt der
Trumpismus beschrieben. Trump führte einen
rassistischen, gegen Einwanderung gerichteten
Law-and-Order-Wahlkampf, in dem heftige
Vorurteile gegen alles Kosmopolitische laut wur‑
den. Populismus ist ein vager Begriff, der auf
Bewegungen aus dem rechten wie dem linken
Spektrum zutrifft, aber eines ist immer dabei: der
Kampf zwischen anständigen, gewöhnlichen,
hart arbeitenden Menschen und den bösen, un‑
anständigen Eliten, die das Sagen haben. Bei der
radikalen Rechten dagegen fühlten sich von die‑
ser Ideologie nicht so sehr diejenigen angespro‑
chen, die in wirtschaftlicher Not sind – Trump
erhielt die Stimmen genauso vieler wohlhaben‑
der Wähler und Wählerinnen wie Hillary Clin‑
ton, und Clinton gewann die Mehrheit der Ar‑
beiterschicht. Trumps Wählerschaft fühlte sich
vielmehr kulturell bedroht. Ronald Ingelhart
und Pippa Norris von der Harvard Kennedy
School kommen zu dem Schluss, dass die These
von der wirtschaftlichen Unsicherheit das Phä‑
nomen nicht erklärt. Ihre Erklärung: »kulturelle
Werte in Kombination mit mehreren gesell‑
schaftlichen und demografischen Faktoren«.
63 Prozent der weißen Männer stimmten für
Trump und 53 Prozent der weißen Frauen. Doch
täuschen wir uns nicht: Wie schreibt Mudde im
Guardian? »Die erste wichtige Lek­tion, die wir
daraus [dem Aufstieg Trumps und des rechten
Populismus, Anm. d. Red.] ziehen müssen, ist
die, dass wütende weiße Männer nicht die Stim‑
me des Volks sind.« Trump beharrt darauf, dass
die Zuschauermenge bei seiner Amtseinführung
»gewaltig« und »die größte überhaupt« war. Er
Fortsetzung auf S. 2
Wenn Demokraten nicht mehr offen mit Autokraten sprechen,
dann hören die von niemandem mehr die Wahrheit VON ÖZLEM TOPÇU
S
o viel stand schon vor Reisebeginn
fest: Beim Treffen von Bundes‑
kanzlerin Angela Merkel mit dem
türkischen Präsidenten Tayyip
Er­doğan würde es auch um die
40 türkischen Nato-Soldaten
gehen, die Asyl in Deutschland
beantragt haben. Sie wollen nicht in die Türkei
zurück, weil sie dort kein faires juristisches­
Verfahren erwarten und weil ihnen sogar Folter
droht. Die türkische Regierung beschuldigt sie,
am Putschversuch vom Juli 2016 beteiligt ge­
wesen zu sein. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird
es bei diesen 40 Asyl­bewerbern bleiben. Ausliefern
oder nicht?
Der Fall zeigt das Dilemma, in dem die
deutsche Türkeipolitik jetzt steckt: Ein NatoPartner, zu dessen Verteidigung Deutschland
im Zweifel in den Krieg ziehen müsste, und
immer noch EU-Beitrittskandidat, baut seine
ohnehin zerbrechliche Demokratie in atem­
beraubender Geschwindigkeit in ein autoritäres
System um: Alle Macht soll beim Präsidenten
liegen. Und nun fordert dessen Regierung von
Berlin die Auslieferung ihrer vermeintlichen
Feinde. Zugespitzter lässt sich ein Interessen‑
konflikt kaum denken.
Die Prüfung der Asylanträge der türkischen
Soldaten dürfte sehr, sehr lange dauern
Natürlich hat jede demokratisch gewählte Re‑
gierung das Recht, Putschisten zu bekämpfen.
Aber die türkische Regierung bekämpft heute
jeden, der nicht auf ihrer Linie ist, und zwar
mit allen Mitteln, auch solchen, die einem
Rechtsstaat Hohn sprechen.
Das alles weiß auch die Bundesregierung.
Angela Merkel kann und wird die Soldaten
nicht in diese Türkei ausliefern. Auf die Frage
Erdoğans nach den Soldaten gibt es für die
Bundeskanzlerin nur die Antwort: Über solche
Dinge entscheidet in Deutschland die Justiz.
Die Prüfung der Anträge dürfte sehr, sehr lange
dauern. Sich auf das korrekte Verfahren zurück‑
ziehen zu können ist für Merkel auch ange‑
nehm. Aber es wäre falsch, darin ein Auswei‑
chen zu sehen. Es ist eine Lektion in Rechts‑
staatlichkeit.
Damit wäre die rechtliche Frage beantwortet,
aber die politischen Probleme bleiben. Deutsche
und türkische Kritiker rügen die Kanzlerin: Wie
Political ­
Correctness
Josef Joffe begründet,
warum sie kein
Phantom ist, sondern
eine reale Gefahr für
die freie Gesellschaft
Geschichte, Seite 17
PROMINENT IGNORIERT
könne sie nur zu diesem Despoten fahren –­
gerade jetzt! Erdoğan werde ihren Besuch als
Unterstützung auslegen! Die mächtigste Frau
Europas leiste Wahlkampfhilfe vor dem Referen‑
dum im April, bei dem die Be­völkerung über
das Präsidialsystem abstimmen soll.
So richtig es ist, deutliche und öffentliche
Worte der deutschen Kanzlerin zu fordern: Die
Polemik gegen Merkels Reise ist Unsinn. Das
Referendum ist ja nicht in zwei Tagen, sondern
erst in zwei Monaten. Zudem ist die Stimmung
in der Türkei derzeit so antiwestlich und anti‑
deutsch, dass der hartgesottene Wahlkämpfer
Erdoğan sicher nicht die Hilfe der deutschen
Kanzlerin braucht. Mit Autokraten zu sprechen
ist heute übrigens keine Frage des Wollens, son‑
dern eine des Müssens. Sie werden immer mehr,
auch im Westen, und es gibt kein Handbuch für
den Umgang mit diesen Männern. Richtig ist
jedenfalls, nicht lockerzulassen.
Zwei handfeste Interessen Deutschlands im
Gespräch mit Erdoğan liegen auf der Hand:
erstens, das Flüchtlingsabkommen mit der Tür‑
kei zu bewahren; zweitens, das Übergreifen­
innertürkischer Konflikte auf die Türkeistäm‑
migen in Deutschland zu verhindern.
Im direkten Gespräch lässt sich aber auch
wirksamer Kritik üben und auf die Lage von
unterdrückten Oppositionellen, Inhaftierten
und Minderheiten hinweisen. Von Angesicht zu
Angesicht lässt sich deutlicher erklären, dass ein
Rechtsstaat Gewaltenteilung braucht. Und es ist
nun einmal so: Nur wenn man den Big Boss­
besucht, kann man auch die Opposition und
Vertreter der Zivilgesellschaft treffen.
Es ist verführerisch, angesichts der autoritä‑
ren Welle in der internationalen Politik extreme
Forderungen zu stellen: Sofort Beziehungen ab‑
brechen! Klare Kante zeigen! Nicht mehr kom‑
munizieren! Damit findet man links wie rechts
leicht Applaus. Aber nichts wäre falscher: Demo‑
kraten müssen das Gespräch suchen.
Je stärker Autokraten werden, desto weniger
Menschen befinden sich um sie herum, die ih‑
nen widersprechen. Das Korrektiv muss also
von außen kommen – dieser Gedanke steht
hinter Merkels Türkeireise. Das ist auch eine Art
des Ernstnehmens. Denn: Wenn jemand wie
Merkel Erdoğan nicht ein paar Wahrheiten sagt,
wird er sie nie hören.
www.zeit.de/audio
Kaltes Land
Eine Umfrage hat ergeben, dass
deutsche Schlafzimmer europa‑
weit die kältesten sind. Nach Jah‑
ren, in denen Deutschland als
Vorbild an Vernunft gepriesen
wurde, war es höchste Zeit, wieder
etwas für die Liste skurriler deut‑
scher Vorlieben zu liefern: Müll
trennen, Bier und Cola mischen,
beim FKK schwitzen – und nun
im Schlafzimmer frieren. Wobei
Letzteres energiepolitisch ja doch
wieder vernünftig ist. AKE
Kleine Fotos (v. o.): F. Bischof/laif; Plainpicture;
P. Matsas/Opale/Leemage/laif (l.)
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