PREIS DEUTSCHLAND 4,90 € 101158_ANZ_10115800005367 [P].indd 1 DIEZEIT 15.01.16 09:12 WO C H E N Z E I T U N G F Ü R P O L I T I K W I RTS C H A F T W I S S E N U N D KU LT U R Titelfoto (Ausschnitt): Peathegee Inc/Blend Images LLC/Gallerystock Wie geht das? 15.01.16 09:11 Alles okay, Jesper Juul? – Der berühmte Familientherapeut hatte seine Stimme verloren. Jetzt gab er uns ein Interview Chancen, Seite 61 AUFSTAND GEGEN TRUMP MERKEL BEI ERDOĞAN »Laut und zäh« Wenigstens reden Die gefeierte US-Autorin SIRI HUSTVEDT beschreibt, wie der Marsch der rosa Mützen Wirkung zeigen kann Das Bild vom Scharlatan, der einer begeisterten Menge sein Quacksalberprodukt aufschwatzt, ist ein in Amerika wohlvertrautes Bild, und während des Wahlkampfs konnten die Medien gar nicht genug bekommen vom Trump-Zirkus. Sie räumten ihm deutlich mehr Zeit ein als Hil‑ lary Clinton, aber in der Reporterschaft glaub‑ ten nur wenige, dass der mürrische, herumstol‑ zierende Fernsehstar tatsächlich die Wahl ge‑ winnen würde. Doch jetzt, wo unser commander-in-chief auch weiterhin für die Kameras po‑ siert und narzisstische Floskeln über die Größ‑ ten, die Besten und die Tollsten absondert, ist es wichtig, dass die Medien seine verschlüsselte Prahlerei über Penisgröße genauso zu analysie‑ ren lernen wie seine Handlungen, die unsere Gesetze und Gepflogenheiten sowie die Stabili‑ tät der Republik selbst untergraben. Aber womit genau haben wir es zu tun? Ist Trumpismus tatsächlich, wie so viele auf beiden Seiten des politischen Spektrums argu‑ mentieren, eine Gegenbewegung gegen die Glo‑ balisierung? Hat die gewöhnliche Arbeiterschaft rebelliert, Menschen, die vertrieben wurden vom Freihandel, einer neuen Weltordnung der inter‑ nationalen Großunternehmen und der neolibe‑ 2. Februar 2017 No 6 101159_ANZ_10115900005368 [P].indd 1 Dossier, Seite 13 MAGAZIN Wütende weiße Männer wählten Trump, die Stimme des Volkes sind sie nicht www.zeit.de/apps Sie soll alles richten: Terroristen fassen und Diebe ergreifen. Doch es fehlt ihr am Nötigsten. Ein Report aus Berlins Polizei Jeder wird älter. Doch nicht jedem macht es etwas aus. Wie werden Menschen damit fertig: Was bedauern sie? Was macht sie zufrieden? Worauf sind sie gespannt? Eine Suche von Susanne Mayer A Jetzt für Ihr Smartphone! Arme P lizei! In Würde altern m Tag nach der Amtseinfüh‑ rung Donald Trumps mar‑ schierte ich gemeinsam mit Hunderttausenden Frauen und Männern in Washington. Während ich so über das Meer rosafarbener »Pussy-Mützen« in der Menschenmenge hinwegblickte, hoffte ich, dass die Märsche in den USA und die Schwes‑ termärsche in Europa Auftakt für einen starken Widerstand gegen den populistischen, frauen‑ feindlichen, rassistischen, fremdenfeindlichen, autoritären weißen Zorn sein würden, der uns Trump, den Brexit und in ganz Europa immer mehr rechtsextreme Parteien beschert hat. Exakt eine Woche später setzte eine Bundesrichterin nach massiven Protesten am JFK-Flughafen Trumps »Muslim-Verbot« aus. Uns steht ein lang‑ wieriger und mühsamer Kampf bevor. Es wird Erfolge geben, und es wird Rückschläge geben, aber wir müssen hartnäckig, strategisch denkend, zäh und laut bleiben. DIE ZEIT im Taschenformat. ralen, angeblich durch Hillary Clinton verkör‑ perten Agenda? Haben die inzwischen zu einer Partei der urbanen Eliten und der Minderheiten verkommenen Demokraten den Kontakt verlo‑ ren zum »Volk«, zur armen Arbeiterschaft dort draußen im Herzland der USA (wo ich aufge‑ wachsen bin), zu Menschen, die nichts wollen, als mit ehrlicher Arbeit ihren Lebensunterhalt zu verdienen? Wieder und wieder wird diese Ge‑ schichte vorgetragen, und sie mag Teile der Wahrheit enthalten, aber wir sollten vorsichtig damit sein, sie als Erklärung hinzunehmen. Europas rechtsgerichtete Bewegungen haben drei Dinge gemeinsam, sagt der niederländische Gelehrte Cas Mudde: Nativismus, Autoritaris‑ mus und Populismus. Damit ist auch perfekt der Trumpismus beschrieben. Trump führte einen rassistischen, gegen Einwanderung gerichteten Law-and-Order-Wahlkampf, in dem heftige Vorurteile gegen alles Kosmopolitische laut wur‑ den. Populismus ist ein vager Begriff, der auf Bewegungen aus dem rechten wie dem linken Spektrum zutrifft, aber eines ist immer dabei: der Kampf zwischen anständigen, gewöhnlichen, hart arbeitenden Menschen und den bösen, un‑ anständigen Eliten, die das Sagen haben. Bei der radikalen Rechten dagegen fühlten sich von die‑ ser Ideologie nicht so sehr diejenigen angespro‑ chen, die in wirtschaftlicher Not sind – Trump erhielt die Stimmen genauso vieler wohlhaben‑ der Wähler und Wählerinnen wie Hillary Clin‑ ton, und Clinton gewann die Mehrheit der Ar‑ beiterschicht. Trumps Wählerschaft fühlte sich vielmehr kulturell bedroht. Ronald Ingelhart und Pippa Norris von der Harvard Kennedy School kommen zu dem Schluss, dass die These von der wirtschaftlichen Unsicherheit das Phä‑ nomen nicht erklärt. Ihre Erklärung: »kulturelle Werte in Kombination mit mehreren gesell‑ schaftlichen und demografischen Faktoren«. 63 Prozent der weißen Männer stimmten für Trump und 53 Prozent der weißen Frauen. Doch täuschen wir uns nicht: Wie schreibt Mudde im Guardian? »Die erste wichtige Lektion, die wir daraus [dem Aufstieg Trumps und des rechten Populismus, Anm. d. Red.] ziehen müssen, ist die, dass wütende weiße Männer nicht die Stim‑ me des Volks sind.« Trump beharrt darauf, dass die Zuschauermenge bei seiner Amtseinführung »gewaltig« und »die größte überhaupt« war. Er Fortsetzung auf S. 2 Wenn Demokraten nicht mehr offen mit Autokraten sprechen, dann hören die von niemandem mehr die Wahrheit VON ÖZLEM TOPÇU S o viel stand schon vor Reisebeginn fest: Beim Treffen von Bundes‑ kanzlerin Angela Merkel mit dem türkischen Präsidenten Tayyip Erdoğan würde es auch um die 40 türkischen Nato-Soldaten gehen, die Asyl in Deutschland beantragt haben. Sie wollen nicht in die Türkei zurück, weil sie dort kein faires juristisches Verfahren erwarten und weil ihnen sogar Folter droht. Die türkische Regierung beschuldigt sie, am Putschversuch vom Juli 2016 beteiligt ge wesen zu sein. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird es bei diesen 40 Asylbewerbern bleiben. Ausliefern oder nicht? Der Fall zeigt das Dilemma, in dem die deutsche Türkeipolitik jetzt steckt: Ein NatoPartner, zu dessen Verteidigung Deutschland im Zweifel in den Krieg ziehen müsste, und immer noch EU-Beitrittskandidat, baut seine ohnehin zerbrechliche Demokratie in atem beraubender Geschwindigkeit in ein autoritäres System um: Alle Macht soll beim Präsidenten liegen. Und nun fordert dessen Regierung von Berlin die Auslieferung ihrer vermeintlichen Feinde. Zugespitzter lässt sich ein Interessen‑ konflikt kaum denken. Die Prüfung der Asylanträge der türkischen Soldaten dürfte sehr, sehr lange dauern Natürlich hat jede demokratisch gewählte Re‑ gierung das Recht, Putschisten zu bekämpfen. Aber die türkische Regierung bekämpft heute jeden, der nicht auf ihrer Linie ist, und zwar mit allen Mitteln, auch solchen, die einem Rechtsstaat Hohn sprechen. Das alles weiß auch die Bundesregierung. Angela Merkel kann und wird die Soldaten nicht in diese Türkei ausliefern. Auf die Frage Erdoğans nach den Soldaten gibt es für die Bundeskanzlerin nur die Antwort: Über solche Dinge entscheidet in Deutschland die Justiz. Die Prüfung der Anträge dürfte sehr, sehr lange dauern. Sich auf das korrekte Verfahren zurück‑ ziehen zu können ist für Merkel auch ange‑ nehm. Aber es wäre falsch, darin ein Auswei‑ chen zu sehen. Es ist eine Lektion in Rechts‑ staatlichkeit. Damit wäre die rechtliche Frage beantwortet, aber die politischen Probleme bleiben. Deutsche und türkische Kritiker rügen die Kanzlerin: Wie Political Correctness Josef Joffe begründet, warum sie kein Phantom ist, sondern eine reale Gefahr für die freie Gesellschaft Geschichte, Seite 17 PROMINENT IGNORIERT könne sie nur zu diesem Despoten fahren – gerade jetzt! Erdoğan werde ihren Besuch als Unterstützung auslegen! Die mächtigste Frau Europas leiste Wahlkampfhilfe vor dem Referen‑ dum im April, bei dem die Bevölkerung über das Präsidialsystem abstimmen soll. So richtig es ist, deutliche und öffentliche Worte der deutschen Kanzlerin zu fordern: Die Polemik gegen Merkels Reise ist Unsinn. Das Referendum ist ja nicht in zwei Tagen, sondern erst in zwei Monaten. Zudem ist die Stimmung in der Türkei derzeit so antiwestlich und anti‑ deutsch, dass der hartgesottene Wahlkämpfer Erdoğan sicher nicht die Hilfe der deutschen Kanzlerin braucht. Mit Autokraten zu sprechen ist heute übrigens keine Frage des Wollens, son‑ dern eine des Müssens. Sie werden immer mehr, auch im Westen, und es gibt kein Handbuch für den Umgang mit diesen Männern. Richtig ist jedenfalls, nicht lockerzulassen. Zwei handfeste Interessen Deutschlands im Gespräch mit Erdoğan liegen auf der Hand: erstens, das Flüchtlingsabkommen mit der Tür‑ kei zu bewahren; zweitens, das Übergreifen innertürkischer Konflikte auf die Türkeistäm‑ migen in Deutschland zu verhindern. Im direkten Gespräch lässt sich aber auch wirksamer Kritik üben und auf die Lage von unterdrückten Oppositionellen, Inhaftierten und Minderheiten hinweisen. Von Angesicht zu Angesicht lässt sich deutlicher erklären, dass ein Rechtsstaat Gewaltenteilung braucht. Und es ist nun einmal so: Nur wenn man den Big Boss besucht, kann man auch die Opposition und Vertreter der Zivilgesellschaft treffen. Es ist verführerisch, angesichts der autoritä‑ ren Welle in der internationalen Politik extreme Forderungen zu stellen: Sofort Beziehungen ab‑ brechen! Klare Kante zeigen! Nicht mehr kom‑ munizieren! Damit findet man links wie rechts leicht Applaus. Aber nichts wäre falscher: Demo‑ kraten müssen das Gespräch suchen. Je stärker Autokraten werden, desto weniger Menschen befinden sich um sie herum, die ih‑ nen widersprechen. Das Korrektiv muss also von außen kommen – dieser Gedanke steht hinter Merkels Türkeireise. Das ist auch eine Art des Ernstnehmens. Denn: Wenn jemand wie Merkel Erdoğan nicht ein paar Wahrheiten sagt, wird er sie nie hören. www.zeit.de/audio Kaltes Land Eine Umfrage hat ergeben, dass deutsche Schlafzimmer europa‑ weit die kältesten sind. Nach Jah‑ ren, in denen Deutschland als Vorbild an Vernunft gepriesen wurde, war es höchste Zeit, wieder etwas für die Liste skurriler deut‑ scher Vorlieben zu liefern: Müll trennen, Bier und Cola mischen, beim FKK schwitzen – und nun im Schlafzimmer frieren. Wobei Letzteres energiepolitisch ja doch wieder vernünftig ist. AKE Kleine Fotos (v. o.): F. Bischof/laif; Plainpicture; P. Matsas/Opale/Leemage/laif (l.) Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, 20079 Hamburg Telefon 040 / 32 80 ‑ 0; E-Mail: [email protected], [email protected] ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de; ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de ABONNENTENSERVICE: Tel. 040 / 42 23 70 70, Fax 040 / 42 23 70 90, E-Mail: [email protected] PREISE IM AUSLAND: DK 49,00/FIN 7,50/N 66,00/E 6,10/ CAN 6,30/F 6,10/NL 5,30/ A 5,00/CH 7.30/I 6,10/GR 6,70/ B 5,30/P 6,30/L 5,30/H 2090,00 o N6 7 2. J A H RG A N G C 7451 C 06 4 190745 104906
© Copyright 2024 ExpyDoc