AUFSÄTZE Zivilrecht Öffentliches Recht Strafrecht

Inhalt
AUFSÄTZE
Zivilrecht
Die Minderung im Dienstvertragsrecht – Mut zur
Rechtsfortbildung?
Von stud. iur. Philipp Lerch, LL.M., Münster
1
Schadenersatz im Deliktsrecht aus Rechtsökonomischer
Perspektive
Von stud. iur. Lea Larissa Faltmann, Köln
10
Öffentliches Recht
Rechtsbehelfe von Umweltverbänden: Die Aufgabe des
Individualrechtsschutzsystems in Deutschland?
Von stud. rer. oec./stud. iur. Marvin Pötsch, LL.B,
Hamburg/Essen
19
Strafrecht
Sonstige häufig wiederkehrende Tathandlungen im
Medienstrafrecht
Beiträge zum Medienstrafrecht – Teil 7
Von Prof. Dr. Manfred Heinrich, Kiel
25
Bericht über einen Moribunden: Das Privatklageverfahren
Rechtliches, Rechtstatsächliches, Reform- und
Zukunftsperspektiven – Teil 1
Von Jun.-Prof. Dr. Tillmann Bartsch, Tübingen
40
ÜBUNGSFÄLLE
Zivilrecht
Fortgeschrittenenklausur: Der abgeschleppte
Sattelauflieger – Folgen eines Notrufs
Von Rechtsanwältin Dr. Simona Liauw, Düsseldorf
52
Inhalt (Forts.)
1/2017
ÜBUNGSFÄLLE (Forts.)
Zivilrecht (Forts.)
Schwerpunktbereichsklausur: Der kontrollfreudige
Minderheitsaktionär
Von Oberregierungsrat Dr. Michael Hippeli, LL.M., MBA (MDX),
Frankfurt a.M.
57
Öffentliches Recht
Hausarbeit: Surfreviere
Von Wiss. Mitarbeiter Dr. Henry Hahn, Rostock
64
Hausarbeit: „Deutschland zuerst“?
Von Wiss. Mitarbeiter Stefan Martini, Kiel
74
Strafrecht
Übungsfall: Jacqueline und der Fluch der
Damenhandtasche
Von Diplom-Jurist Sascha Sebastian, M.mel.,
Diplom-Jurist Henning T. Lorenz, Halle (Saale)
84
ENTSCHEIDUNGSANMERKUNGEN
Zivilrecht
BGH, Urt. v. 12.10.2016 – VIII ZR 103/15
(Beweislastumkehr nach § 476 BGB zugunsten des
Verbrauchers bei jedem sich innerhalb der ersten sechs
Monate nach Gefahrübergang zeigenden Mangel?)
(Stud. iur. Cornelia Stietz, Heidelberg)
101
BGH, Urt. v. 24.9.2014 – VIII ZR 394/12
(Der Begriff der wesentlichen Vertragsverletzung im UNKaufrecht)
(Rechtsanwältin Dr. Katrin Hagemann, Minden)
103
Öffentliches Recht
BGH, Urt. v. 20.10.2016 – III ZR 278/15, 302/15, 303/15
(Amtshaftung wegen unterbliebener Bereitstellung von
Plätzen in der Kindertagesbetreuung seitens der
öffentlichen Jugendhilfe)
(Prof. Dr. Torsten Noak, LL.M., Ludwigsburg)
106
Strafrecht
BGH, Beschl. v. 3.2.2016 – 4 StR 594/15
(Gefährliche Körperverletzung mittels eines gefährlichen
Werkzeugs)
(Prof. Dr. Martin Böse, Bonn)
110
BGH, Urt. v. 28.4.2016 – 4 StR 563/15
(Sukzessive Mittäterschaft beim räuberischen Angriff auf
Kraftfahrer)
(Prof. Dr. Paul Krell, Hamburg)
115
Inhalt (Forts.)
1/2017
Entscheidungsanmerkungen (Forts.)
Strafrecht (Forts.)
BGH, Beschl. v. 15.9.2016 – 4 StR 90/16
(Falsches Überholen im Straßenverkehr)
(Prof. Dr. Hans Theile, LL.M., Konstanz)
122
Rezensionen
Zivilrecht
Marc-Philippe Weller/Jens Prütting, Handels- und
Gesellschaftsrecht, 9. Aufl. 2016
(Dr. Stephan Szalai, LL.M., Leipzig)
125
Öffentliches Recht
Friedrich Schoch, Kommentar zum
Informationsfreiheitsgesetz, 2. Aufl. 2016
(Mag. iur. René Rosenau, Köln)
126
Strafrecht
Bettina Enz, Verminderte Schuldfähigkeit im deutschen
und US-amerikanischen Strafrecht, 2016
(Diplom-Juristin Lea Babucke, Hamburg)
127
Kai Ambos, Internationales Strafrecht.
Strafanwendungsrecht – Völkerstrafrecht – Europäisches
Strafrecht, 4. Aufl. 2014
(Univ.-Ass. Mag. iur. Sebastian Gölly, Graz)
129
Die Minderung im Dienstvertragsrecht – Mut zur Rechtsfortbildung?
Von stud. iur. Philipp Lerch, LL.M., Münster*
Ob bei Dienstverhältnissen die Vergütung des Dienstverpflichteten zu mindern ist, wenn dieser seine Dienstpflichten
schlecht erfüllt, wird kontrovers beurteilt. In diesem Aufsatz
werden zunächst verschiedene dogmatische Lösungswege
erörtert. Dem Studenten kann die Lektüre dabei die Möglichkeit geben, insbesondere noch einmal die diskutierten allgemein-schuldrechtlichen Rechtsinstitute, über welche ein allgemeines Minderungsrecht potentiell begründbar wird,
gründlich zu durchdenken. Im Anschluss wird auf Grundlage
allgemeiner rechtlicher und wirtschaftlicher Wertungen eine
Gesamtanalogie zu den bestehenden Minderungsrechten
nahegelegt.
I. Einführung
Das Dienstvertragsrecht (§§ 611-630 BGB) trifft im Gegensatz zum Werkvertragsrecht (§§ 631-651 BGB) keinerlei
Regelungen über Gewährleistungsrechte. Die überwiegende
Ansicht in Rechtsprechung und Literatur sieht darin einen
Grund, im Falle von Schlechtleistungen dem Dienstberechtigten kein Minderungsrecht zu gewähren. 1 Dieser Aufsatz stellt
eine rechtsdogmatische Untersuchung an, ob sich entgegen
der herrschenden Auffassung über eine direkte oder entsprechende Anwendung bestehender Rechtsinstitute eine Minderung der Vergütung in Dienstverträgen doch begründen lässt.
Dazu ist es erforderlich, zunächst die einschlägigen Vorschriften des allgemeinen und besonderen Schuldrechts auszulegen und zu untersuchen, ob nicht eine versteckte, möglicherwiese allgemeinschuldrechtliche Minderung von Gegenleistungen bereits im Gesetz vorgesehen ist, die eine Diskussion über Rechtsfortbildung überflüssig machte. Des
Weiteren ist mittels Auslegung zu ermitteln, ob das Gesetz
gegenüber einer Minderung auf dem Wege der Rechtsfortbildung überhaupt offen ist oder Wertungen des Gesetzgebers
dieser entgegenstehen. Unabhängig vom Ergebnis dieser
Auslegung soll zudem am Ende dieses Aufsatzes eine Erörterung dessen vorgenommen werden, ob eine Minderung im
Dienstvertrag in der Sache gerechtfertigt ist oder nicht.
* Der Verf. ist studentische Hilfskraft in Münster am Institut
für Rechtsgeschichte, Lehrstuhl Prof. Dr. Sebastian Lohsse.
Der Aufsatz ist im Zuge eines Seminars zum allgemeinen
Zivilrecht entstanden.
1
BGHZ 159, 376; BGH NJW 2004, 2817; OLG Frankfurt
MDR 1992, 347; Mansel, in: Jauernig, Kommentar zum
BGB, 15. Aufl. 2014, § 611 Rn. 16; Schreiber, in: Schulze
u.a., Handkommentar zum BGB, 8. Aufl. 2014, § 611
Rn. 17a; Weidenkaff, in: Palandt, Kommentar zum BGB,
74. Aufl. 2015, § 611 Rn. 16; a.A. z.B. Medicus/Lorenz,
Schuldrecht II, Besonderer Teil, 16. Aufl. 2012, Rn. 630;
Schlechtriem/Schmidt-Kessel, Schuldrecht Allgemeiner Teil,
6. Aufl. 2005, Rn. 556; Ji, Haftungsfragen im freien Dienstvertrag, 2007, S. 106 f.
II. Grundsatzfragen
1. Der Aspekt der Qualität im Dienstvertragsrecht
Unstreitig ist, dass beim Dienstvertrag – im Gegensatz zum
Werkvertrag – nicht die Herbeiführung eines bestimmten
Arbeitsergebnisses geschuldet ist.2 Eine Minderung der Vergütung kommt daher nicht schon alleinig deshalb in Betracht,
weil ein bestimmtes Arbeitsergebnis nicht erreicht wurde.
Gegenstand der Leistung ist die Tätigkeit des Dienstverpflichteten. Dies schließt jedoch nicht schon begrifflich aus,
dass auf Dienstverträge schlecht geleistet werden kann, ist
doch möglicherweise auch eine Tätigkeit – sei es im Hinblick
auf Konzentration, Intensität etc. – als nicht vertragsgemäß
und damit schlecht zu klassifizieren, ohne dass sie schon als
Nichtleistung zu bezeichnen ist: ein Rechtsanwalt, der einen
Vertragsentwurf verfassen soll und nach Stundensatz bezahlt
wird, braucht dabei mangels Konzentration doppelt so lange
wie man es eigentlich von einem durchschnittlichen Anwalt
in derartigen Fällen erwarten kann. Er rechnet dennoch jede
Stunde ab. Offensichtlich liegt hier keine Nichtleistung vor:
der Anwalt hat eine Dienstleistung erbracht, die sogar zum
bezweckten Ergebnis führte. Der Mandant hat etwas für sein
Geld erhalten, an dem er auch ein Interesse hat. In Betracht
kommt jedoch, die Leistung als Schlechtleistung zu qualifizieren, wenn seine Unkonzentriertheit pflichtwidrig war. Dies
setzt voraus, dass die Qualität der Leistung überhaupt erheblich ist, der Dienstverpflichtete dem Dienstberechtigten also
Dienste bestimmter Qualität, insbesondere Intensität schuldet
und eine Leistung unter diesem Qualitätsniveau zu bestimmten Rechtsfolgen führt.
a) Erheblichkeit der Dienstleistungsqualität
Bereits diese Frage ist schon stark umstritten. Zum Teil wird
vertreten, dass auch mangelhafte Dienste Erfüllungswirkung
entfalten und daher voll vergütet werden müssen.3 Hierfür
wird angeführt, dass das Dienstvertragsrecht im Gegensatz
zum Kauf-, Miet-, und Werkvertragsrecht keine Regelungen
über die Folgen einer Schlechterfüllung trifft.4 Aus solch
einer Nichtregelung ohne weiteres e contrario zu folgern,
dass jede auch mangelhafte Dienstleistung, soweit sie zeitlich-quantitativ erbracht ist, Erfüllung im Sinne des § 362
2
Richardi/Fischinger, in: Staudinger, Kommentar zum BGB,
2010, § 611 Rn. 516; Fuchs, in: Beck’scher OnlineKommentar zum BGB, Ed. 41, Stand: 1.11.2016, § 611
Rn. 11; Müller-Glöge, in: Münchener Kommentar zum BGB,
6. Aufl. 2012, § 611 Rn. 22; Mansel (Fn. 1), vor § 611
Rn. 15.
3
Richardi/Fischinger (Fn. 2), § 611 Rn. 716; Ullrich, NJW
1984, 585; Fikentscher/Heinemann, Schuldrecht, 10. Aufl.
2006, Rn. 1157; Mansel (Fn. 1), § 611 Rn. 16; Larenz/
Canaris, Schuldrecht II/1, 13. Aufl. 1986, S. 315 f.;
Emmerich, BGB – Schuldrecht Besonderer Teil, 14. Aufl.
2015, Rn. 13.
4
Fikentscher/Heinemann (Fn. 3), Rn. 1157; BGH NJW 2002,
1571 (1572); OLG Koblenz NJW-RR 1994, 52 f.
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1
AUFSÄTZE
Philipp Lerch
Abs. 1 BGB darstellen soll, ist schon logisch nicht haltbar,
betrifft sie schließlich gar nicht die Möglichkeit des tatbestandlichen Vorliegens einer Schlechtleistung, sondern deren
Rechtsfolge.5
Die Möglichkeit zur Schlechtleistung sei tatbestandlich
schon deshalb ausgeschlossen, weil der Leistungsmaßstab
des Verpflichteten ein subjektiver sei und sich damit nach der
individuellen Leistungsfähigkeit richte.6 Jedoch wird mit
dieser Aussage nicht die Frage verneint, ob nachteilige Abweichungen von der geschuldeten Qualität der Tätigkeit eine
Leistungsstörung darstellen: vielmehr stellt sie nur eine Bestimmung des Qualitätsmaßstabs dar. Dem Argument ist nur
insoweit zuzugeben, dass durch die Subjektivierung des Leistungsmaßstabes der praktische Anwendungsbereich der hier
gegenständlichen Problematik eingegrenzt würde, da auch bei
statistisch weit unterdurchschnittlichen Leistungen des
Dienstverpflichteten dieser, soweit sie seinem subjektiven
Vermögen entsprechen, die Leistung wie geschuldet bewirkt
hat. Allerdings kann – insbesondere bei vorsätzlich wenig
intensiver und langsamer Ausführung – auch dieser subjektive Leistungsmaßstab nicht eingehalten sein, sodass eine
Schlechtleistung auch bei dieser Annahme in Betracht käme.
Richtig ist folgendes: geschuldet ist das Tätigwerden des
Dienstverpflichteten. Dies ist der Leistungsgegenstand und
nicht der damit bezweckte Erfolgseintritt. Der Anwalt schuldet bemühtes Handeln, um den Prozess zu gewinnen, nicht
jedoch den positiven Ausgang des Verfahrens für den Mandanten. Offensichtlich ist jedoch, dass auch diese Dienstverpflichtung auf die Erreichung eines bestimmten Erfolges
gerichtet ist: niemand wird allein der Tätigkeit wegen angestellt, sondern zu einem bestimmten Zweck, in diesem Fall zu
einem positiven Prozessausgang.
Es liegt nahe, zur Bestimmung der geschuldeten Leistungsqualität der Erfolgsbezogenheit jeglicher Dienstleistungen gerecht zu werden und auf die Rechtsgedanken des besonderen Schuldrechts abzustellen: wenn keine explizite
Vereinbarung über die Qualität der Leistung getroffen wurde,
ist prinzipiell die geschuldete Qualität daran zu beurteilen, ob
sie dem Vertragszweck gerecht wird, die §§ 434 Abs. 1 S. 2,
633 Abs. 2 S. 2 BGB sind Ausdruck dieses allgemeinen
Rechtsgedanken.7 Diese Vorschriften haben im Schuldrecht
einen Modellcharakter für die Beurteilung der Vertragsgemäßheit einer Leistung. Ausgangspunkt der Bestimmung des
Leistungsmaßstabs muss der mit der Dienstleistung erkennbar bezweckte Erfolg bzw. der üblicherweise mit derartigen
Dienstleistungen bezweckte Erfolg, wenn der Zweck der
Leistung dem Dienstverpflichteten nicht bekannt war, sein.
Dass dann eine vertragswidrige Leistung Erfüllungswirkung
entfalten solle, kann heute nicht mehr ernsthaft vertreten
werden: nach dem Wortlaut des § 362 Abs. 1 BGB ist die
geschuldete Leistung zu erbringen. Erbracht ist eine Leistung,
wenn sie in der durch das Schuldverhältnis bestimmten Art
und Weise ausgeführt wurde und der geschuldete Leistungserfolg vollständig eingetreten ist.8 Somit muss die Leistungshandlung ordnungsgemäß erbracht werden, also sowohl hinsichtlich der Qualität als auch der Intensität einem vertraglichen Standard genügen. Sieht man im Dienstvertrag richtigerweise einen Austausch von Geld und Chancenerbringung
zur Erreichung des Vertragszwecks9, so liegt der geschuldete
Leistungserfolg darin, dass der Schuldner den mit dem
Dienstvertrag verfolgten Zweck fördert. In diesem Sinne
muss ein konkreter Erfolg auch beim Dienstvertrag eintreten.
Die Aussage, dass dort gerade kein Erfolg geschuldet sei10,
ist demnach zu relativieren: der Erfolg liegt zwar nicht im
Eintritt des mit der Leistung verfolgten Ergebnisses, aber in
der Zweckförderung durch Chancenerbringung. Freilich ist
dies zunächst nur eine begriffliche Frage, da selbstverständlich auch nach der hier vertretenen Auffassung der Dienstverpflichtete nicht das Risiko des Erreichens des Arbeitsergebnisses11 trägt, was Wesensmerkmal des Dienstvertrages
ist. Jedoch sollte auch beim Dienstvertrag wegen der Erfolgsgerichtetheit des geschuldeten Handelns an dem zweigliedrigen Leistungsbegriff bestehend aus Leistungshandlung und
Leistungserfolg festgehalten werden.
Ebenso ist zu berücksichtigen, dass Beeinträchtigungen
dieses schwachen Leistungserfolges beim Dienstvertrag, die
aus der Sphäre des Dienstberechtigten herrühren, z.B. durch
mangelhafte Weisungen, keine Auswirkungen auf den Vergütungsanspruch haben dürfen. Dies ergibt sich a minori ad
maius aus dem Rechtsgedanken des § 645 Abs. 1 BGB und
dürfte in der Sache unstreitig sein – denn sogar beim Werkvertrag trägt der Unternehmer nicht die Konsequenzen solcher Beeinträchtigungen.
Nach der hier vertretenen Ansicht wird ein Anspruch auf
Diensterbringung aus einem Dienstvertrag somit nicht
dadurch erfüllt, dass die Leistung zwar der Gattung nach der
geschuldeten Leistung entspricht, jedoch nicht die geschuldete Qualität aufweist, zum Beispiel selbst für die Person des
Leistenden eine zu wenig konzentrierte und intensive Arbeit
darstellt. Zugleich muss geeignetes Handeln vorliegen. Die
Leistung muss die Chancen des Gläubigers, seinen Vertragszweck zu erreichen, auch tatsächlich erhöhen, was bei objektiv geeigneter Handlung der Fall ist; selbstverständlich gilt
dies nicht, wenn der Gläubiger selbst für das Ausbleiben der
Chancenerhöhung verantwortlich ist. Nichtleistung ist gegeben, wenn die Handlung überhaupt nicht zur Erreichung des
Vertragszwecks geeignet ist, die geschaffene Mehrchance
also null beträgt. Hat die nicht vertragsgemäße Leistung
immerhin noch eine Chancenerhöhung unter dem geschuldeten Niveau bewirkt, liegt Schlechtleistung vor.
5
So auch Tillmanns, Strukturfragen des Dienstvertrages,
2007, S. 87 f.
6
Richardi/Fischinger (Fn. 2), § 611 Rn. 716; ähnlich Larenz/
Canaris (Fn. 3), S. 315 f., der das Problem darin sieht, dass
es überhaupt „an einem brauchbaren Maßstab“ fehle.
7
Vgl. Weller, Persönliche Leistungen, 2012, S. 472 ff.;
Tillmanns (Fn. 5), S. 405.
8
Dennhardt, in: Beck’scher Online-Kommentar zum BGB,
Ed. 41, Stand: 1.11.2016, § 362 Rn. 14.
9
Weller (Fn. 7), S. 480 ff.
10
Nachweise siehe Fn. 3.
11
Schreiber (Fn. 1), § 611 Rn. 6.
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ZJS 1/2017
2
Die Minderung im Dienstvertragsrecht – Mut zur Rechtsfortbildung?
b) Bestimmung des Leistungsmaßstabs
Nach einer weit verbreiteten Ansicht ist der Leistungsmaßstab ein subjektiver.12 Der Umfang der geschuldeten Leistung
richte sich nach dem individuellen Leistungsvermögen des
Verpflichteten, nicht nach einer durchschnittlichen objektiven
Normalleistung. Dabei betont Tillmanns, dass dieser Maßstab
ein vertraglicher und kein tatsächlicher sei, dieser müsse
durch die Vertragsauslegung bestimmt werden.13 Es wäre
widersinnig, wenn ein Schuldner, der sich als in einer bestimmten Weise qualifiziert ausgegeben hat, auch bei vollkommener Unkenntnis vom erforderlichen Handwerk erfüllen könnte. Im Einzelfall ist also nach den allgemeinen Regeln (§§ 133, 157 BGB) zu ermitteln, welchen MindestLeistungsstandard der Gläubiger erwarten kann.
Weller führt an, der abstrahierte Leistungsinhalt beim
Dienstvertrag sei die Ausübung fehlerfreien Ermessens hinsichtlich der nicht schon vertraglich konkretisierten Leistungsmodalitäten.14 Dabei berücksichtigt er, dass es nicht
möglich ist, den Leistungsinhalt vollständig durch Vertragsauslegung zu bestimmen. Der Dienstverpflichtete habe demnach seine Handlungen in der Art und Weise selbstständig zu
konkretisieren, dass der Dienstberechtigte eine möglichst
große Chance zur Erreichung des bezweckten Erfolges erhält.
Für diese selbstständige Konkretisierung sei § 315 BGB
anzuwenden.15 Die geschuldete Dienstleistungsqualität lässt
sich demnach ermitteln, indem erstens durch Auslegung ein
vertragliches Mindestmaß dessen ermittelt wird, was der
Gläubiger vom Schuldner erwarten kann und zweitens der
Gläubiger im Rahmen pflichtgemäßer Ermessensausübung
den Leistungsinhalt konkretisiert. Dem Anwalt, der nach
Stundensatz abrechnet und einen Vertrag entwerfen soll, ist
es freigestellt, im Rahmen einer insgesamt noch angemessenen Geschwindigkeit zu arbeiten und sich z.B. nach freiem
Ermessen währenddessen einen Kaffee aus der Küche zu
holen, oder aber mal konzentrierter, mal unkonzentrierter zu
arbeiten.
Auf weitere detaillierte Ausführungen kann an dieser
Stelle verzichtet werden. Insbesondere soll offengelassen
werden, ob der Dienstverpflichtete dem Gläubiger möglicherweise eine objektive Normalleistung schuldet.16 Auch bei
einem subjektiven Leistungsmaßstab kann der Dienstverpflichtete jedenfalls von dem ihm eingeräumten Ermessen
falschen Gebrauch machen, womit er dann pflichtwidrig
gehandelt hat und von einer Schlechtleistung zu sprechen ist.
2. Nacherfüllungsanspruch und Vorrang der Nacherfüllung
Für den Fall, dass ein Dienstverpflichteter nach der hier vertretenen Ansicht schlecht geleistet hat, seine Leistungshandlung also zur Erreichung des Vertragszwecks nur bedingt
12
Vgl. nur Richardi/Fischinger (Fn. 2), § 611 Rn. 532
m.w.N.
13
Tillmanns (Fn. 5), S. 161 f.
14
Weller (Fn. 7), S. 459 f.
15
Weller (Fn. 7), S. 459 f.
16
Z.B. vertreten bei Singer/Schiffer, JA 2006, 833.
ZIVILRECHT
geeignet war, stellt sich die Frage, ob er zur Nacherfüllung
verpflichtet bzw. zur zweiten Andienung berechtigt ist.
a) Auslegung der gesetzlichen Vorschriften
Das Dienstvertragsrecht selbst trifft keine Regelungen zur
Nacherfüllung und steht damit im Gegensatz zum Kauf- und
Werkvertragsrecht, in denen es derartige Vorschriften gibt
(§§ 439, 635 BGB). Daraus alleine ist jedoch nicht zu folgen,
dass eine Nacherfüllungspflicht im Dienstvertragsrecht nicht
besteht:17 Zunächst einmal handelt es sich um einen rechtsmethodisch sehr zweifelhaftes argumentum e contrario, welches bei konsequenter Anwendung die generelle Ablehnung
von Analogien implizieren würde.
Systematisch setzt das allgemeine Schuldrecht den generellen Vorrang der Nacherfüllung voraus: § 281 Abs. 1 S. 1
BGB sieht vor, dass im Falle einer Schlechtleistung der
Gläubiger nur Schadensersatz statt der Leistung verlangen
kann, „wenn er dem Schuldner erfolglos eine angemessene
Frist zur Leistung oder Nacherfüllung bestimmt hat“. Diese
gesetzliche Bestimmung steht im allgemeinen Schuldrecht,
ist also prinzipiell auf alle Vertragstypen anzuwenden. Die
dahinter stehende gesetzliche Wertung ist, dass der Schuldner
generell eine Schadensersatzpflicht durch Nachleistung abwenden können soll. Die Nacherfüllung hat die Stellung eines
allgemeinen Rechtsbehelfs. Die Sonderregelungen im Kaufund Werkvertragsrecht bestimmen lediglich spezielle Modifikationen dieses Nacherfüllungsanspruchs.18
Dass § 281 Abs. 1 S. 1 BGB keine Anspruchsgrundlage
beinhaltet, ist unerheblich.19 Rechtstechnisch ist ein Nacherfüllungsanspruch ohnehin nicht als ein neuer Gewährleistungsanspruch zu verstehen, sondern als der ursprüngliche
(aber modifizierte) Erfüllungsanspruch, der mangels vertragsgemäßer Leistung nicht untergegangen ist.20 Die sogenannte Gewährleistungstheorie21 zum alten Schuldrecht, nach
der der ursprüngliche Erfüllungsanspruch auch durch
Schlechtleistung erlischt und die Gewährleistungsansprüche
unabhängige Sekundäransprüche seien, ist im Hinblick auf
die klare Vorstellung des Gesetzgebers der Schuldrechtsmodernisierung22 zumindest für die neue Rechtslage abzulehnen.23
Das allgemein gesetzlich normierte Konzept der Nacherfüllung spricht dafür, eine allgemeine Pflicht zur Nacherfüllung und gleichzeitig eine allgemeine Berechtigung des
Schuldners zur zweiten Andienung (resp. den Vorrang des
Nacherfüllung) anzuerkennen und diese auf das Dienstver17
Dahingehend jedoch Otto, in: Staudinger, Kommentar zum
BGB, 2009, § 326 Rn. B 42.
18
Tillmanns (Fn. 5), S. 348.
19
Vgl. jedoch Wendehorst, AcP 206 (2006), 264.
20
H.M. hinsichtlich des neuen Kaufrechts: nur BGH NJW
2008, 2837 (2838 Rn. 18); Faust, in: Beck’scher OnlineKommentar zum BGB, Ed. 41, Stand: 1.8.2014, § 439 Rn. 6;
Huber, NJW 2002, 1004 (1005); Saenger, in: Schulze (Fn. 1),
§ 439 Rn. 1b.
21
Z.B. Larenz/Canaris (Fn. 3), § 41 II e.
22
BT-Drs. 14/6040, S 221.
23
Zum Streitstand Tillmanns (Fn. 5), S. 92 ff.
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3
AUFSÄTZE
Philipp Lerch
tragsrecht zu übertragen.24 Jedenfalls würde sich ein derartiges Nacherfüllungsrecht gut in die gesetzliche Systematik
einfügen. Es entbindet jedoch keineswegs von der Frage, ob
ein derartiger Rechtsbehelf in der Sache gerechtfertigt ist,
wird dies zumindest von einigen Stimmen verneint.
b) Wertungen
Wertungsmäßig werden Zweifel an einem solchen Nacherfüllungsanspruch im Dienstvertragsrecht in der Hinsicht geäußert, dass regelmäßig bei einer Neuleistung der Dienste im
Zuge der Nacherfüllung der Gläubiger mehr bekommt, als
ihm eigentlich nach dem Vertrag zusteht.25 Dies führe zu
einer Ausgleichspflicht des Gläubigers entsprechend §§ 635
Abs. 4, 346 Abs. 2 Nr. 1 BGB, dessen Umfang schwer zu
bemessen sei. Dem ist entgegenzustellen, dass sich – gerade
auch im von Wendehorst genannten Beispiel des Fahrlehrers26 – der Nacherfüllungsanspruch durchaus in zeitlichquantitativer Hinsicht auf das Minus beschränken kann. Der
Dienstverpflichtete kann seine Handlung in zeitlicher Hinsicht soweit nacherfüllen, wie es zu einer äquivalenten Deckung der tatsächlich bewirkten Chance auf den Eintritt des
Vertragserfolges mit der nach dem Vertrag geschuldeten
Mindestchance erforderlich ist. Konkret angewandt auf das
Beispiel des Fahrlehrers bedeutet dies: war der Fahrlehrer
unkonzentriert und hat den Schüler nicht (noch nie) darauf
hingewiesen, dass er an einem Fußgängerüberweg langsamer
fahren sollte und auf Fußgänger achten sollte, so liegt eine
mangelhafte Leistung vor. Denn die Chance, mit diesem
Lernstand die Führerscheinprüfung zu bestehen (und dies ist
der vertraglich bezweckte Erfolg), ist vermindert. Das heißt
allerdings noch nicht, dass der Fahrlehrer die ganze Stunde
wiederholen muss. Ausreichend ist, um die vertraglich geschuldete Chancenerbringung zu leisten, dass der Fahrlehrer
sich zusätzliche Zeit nimmt, dem Fahrschüler das Verhalten
an Fußgängerüberwegen zu erklären. Zwar hat der Fahrschüler dann fünf Minuten mehr Unterricht erhalten, als ihm nach
dem Vertrag zusteht. Seine Chancen auf die Erreichung des
Vertragszwecks Fahrerlaubnis haben sich dadurch jedoch
nicht erhöht. Die Frage eines Ausgleichsanspruchs wird sich
regelmäßig nicht stellen. Man kann gegen einen Nacherfüllungsanspruch in diesem Fall auch nicht anführen, dass der
Schuldner über Gebühr hinaus belastet wird: auch der Nachbesserungsanspruch im Kaufrecht kann den Gläubiger deutlich mehr belasten als es vom ursprünglichen Erfüllungsanspruch her abzusehen war.27
Wendehorst führt ferner an, dass ein Nacherfüllungsanspruch im Widerspruch zu § 627 BGB stehen würde, nach
dem der Schuldner von Diensten höherer Art jederzeit kündigen kann.28 Dieser Einwand überzeugt nicht. Nur weil durch
die Kündigung einseitig eine Leistungspflicht durch den
Schuldner aufgehoben werden kann, negiert das Gesetz nicht
die Obligation – schließlich kann sich der Schuldner ja auch
24
Weller (Fn. 7), S. 537 f.
Wendehorst, AcP 206 (2006), 264 f.
26
Wendehorst, AcP 206 (2006), 264 f.
27
Tillmanns (Fn. 5), S. 348 f.
28
Tillmanns (Fn. 5), S. 348 f.
der ursprünglichen Leistungspflicht durch Kündigung entziehen.29
Aus Sicht des Schuldners wäre es nicht sachgerecht, wenn
dieser beim Dienstvertrag gegenüber einem Werkunternehmer hinsichtlich seines Rechts zur zweiten Andienung, welches § 281 Abs. 1 S. 1 BGB normiert, benachteiligt wird. Der
Werkunternehmer will sich einer strengeren, erfolgsbezogenen Haftung unterwerfen, dagegen ist das Maß der gewollten
Haftung beim Dienstvertrag geringer als beim Werkvertrag,
da der Dienstverpflichtete nur für einen schwachen Chancenerfolg, nicht für ein bestimmtes Ergebnis einstehen möchte.
Daher bestimmt das Gesetz auch Erleichterungen im Dienstvertragsrecht, die von allgemeinen Regeln abweichen,
§§ 615, 616, 619a BGB. Dann sollte der Dienstverpflichtete
auch nicht schlechter als der Werkunternehmer gestellt werden, wenn es darum geht, eine weitere Chance zu erhalten,
einen Schadensersatzanspruch durch Nacherfüllung von sich
abzuwenden.
Die wertende Betrachtung führt damit zu keinem anderen
Ergebnis als die formale Auslegung, womit nach der hier
vertretenen Auffassung ein Nacherfüllungsanspruch bei einer
Schlechtleistung auf einen Dienstvertrag entsteht. Der Dienstverpflichtete hat somit prinzipiell die Möglichkeit, einen
Schadensersatzanspruch durch fristgerechte Nacherfüllung
abzuwenden, wenn die Nacherfüllung noch möglich und der
Vertragszweck erreichbar ist. Gleichzeitig kann der Gläubiger die Nacherfüllung vom Dienstberechtigten solange verlangen, bis die Dienstleistung unmöglich wird.
3. Zwischenergebnis
Für den Dienstvertrag gelten im Wesentlichen die allgemeinen Vorschriften des Schuldrechts. Erfüllung einer Verbindlichkeit setzt ordnungsgemäße Leistungshandlung und Bewirkung des geschuldeten Erfolgs voraus. Dass beim Dienstvertrag kein Arbeitsergebnis geschuldet ist, ist für die Aufrechterhaltung der Voraussetzungen für die Erfüllung im
Dienstvertragsrecht unerheblich. Der Erfolg liegt in der
Chancenerbringung für den Gläubiger im Rahmen einer
pflichtgemäßen Ermessensausübung, der Schuldner trägt
nicht das Risiko des Nichterreichens eines bestimmten Arbeitsergebnisses. Ist die geschuldete Handlung mangelhaft
erbracht, da ihre Geeignetheit zum Erreichen des Arbeitsergebnisses beeinträchtigt ist, so hat der Dienstberechtigte
mangels Erfüllung den vorrangigen Nacherfüllungsanspruch.
Erst wenn die Nacherfüllung nicht mehr möglich oder aus
anderen Gründen unterblieben ist, stellt sich die Frage der
Minderung.
III. Verstecktes Minderungsrecht im allgemeinen Schuldrecht?
Durchaus möglich ist, dass der Gesetzgeber mit den Vorschriften des allgemeinen Schuldrechts entgegen der herrschenden Auffassung bereits eine Minderung vorgesehen hat.
25
29
Weller (Fn. 7), S. 540 f.
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ZJS 1/2017
4
Die Minderung im Dienstvertragsrecht – Mut zur Rechtsfortbildung?
1. Minderung kraft Gesetzes aufgrund konditionellen Synallagmas (§ 326 Abs. 1 S. 1 BGB)
a) Wortlaut
Wenn nach einer schlechten Leistung der Dienste die Nacherfüllung z.B. aufgrund des Fixcharakters der Schuld unmöglich ist (sog. qualitative Unmöglichkeit30), stellt sich die Frage, ob nicht wie bei teilweiser quantitativer Unmöglichkeit
die Vergütung ex lege um das Leistungsdefizit gemindert
wird. § 326 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 BGB legt fest, dass im Falle
einer teilweisen Unmöglichkeit der Gegenanspruch um denselben Anteil erlischt wie Unmöglichkeit eingetreten ist.
§ 326 Abs. 1 S. 2 BGB bestimmt vom Wortlaut her, dass im
Falle qualitativer Unmöglichkeit eine solche automatische
Minderung nicht stattfinden soll. Dem Wortlaut des Gesetzes
zufolge ist eine Ex-lege-Minderung bei Schlechtleistungen
für alle Vertragstypen damit ausgeschlossen.
b) Teleologische Reduktion des § 326 Abs. 1 S. 2 BGB?
Nach einer Einzelmeinung soll der § 326 Abs. 1 S. 2 BGB
entgegen dem klaren Wortlaut beim Dienstvertrag keine
Anwendung finden.31 Als Grund wird angeführt, dass der
Regelungszweck der Norm lediglich darin liege, eine exlege-Minderung in den Fällen zu verhindern, in denen der
Gläubiger nach den speziellen Regelungen des Kauf- und
Werkvertragsrechts die Minderung durch Erklärung ausüben
kann.32
aa) Normzweck
In der Tat führt der Gesetzgeber in der Begründung zum
Schuldrechtsmodernisierungsgesetz an, dass § 326 Abs. 1
S. 2 BGB bezwecke, den Widerspruch einer automatischen
Minderung zu den speziellen Gewährleistungsvorschriften,
die eine Minderungserklärung vorsehen, aufzuheben.33 Darüber hinaus werden jedoch auch weitere Gründe genannt: Ob
die Voraussetzungen für die Minderung kraft Gesetzes vorlagen, sei für den Gläubiger erstens schwer erkennbar und
zweitens für sein Leistungsinteresse unerheblich.34
Dies ist dahingehend zu verstehen, dass es dem Gläubiger
gar nicht darauf ankommen wird, aus welchen Gründen die
Leistung ausgeblieben ist: „Es kann aber für die Rechte des
Käufers keinen Unterschied machen, ob eine Nacherfüllung
deshalb fehlschlägt, weil der Verkäufer aus Nachlässigkeit
eine ordnungsgemäße Reparatur des verkauften PKW nicht
erreicht oder ob das Ausbleiben des Leistungserfolgs daran
30
Z.B. Stadler, in: Jauernig (Fn. 1), § 326 Rn. 26; Ernst, in:
Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 326
Rn. 32; Peukert, AcP 205 (2005), 430 (431).
31
Emmerich, Das Recht der Leistungsstörungen, 6. Aufl.
2005, § 10 Rn. 34.
32
Emmerich (Fn. 31), § 5 Rn. 24; dass sich der Normzweck
auf dies beschränkt, wird auch noch von vielen weiteren
vertreten. Nachweise bei Peukert, AcP 205 (2005), 430
(437).
33
BT-Drs. 14/6040, S. 189.
34
BT-Drs. 14/6040, S. 189.
ZIVILRECHT
liegt, dass eine Reparatur von vornherein nicht möglich ist.“35
Vielmehr ist für ihn erheblich, dass sie überhaupt trotz Fristsetzung ausgeblieben ist. Schließlich knüpfen die §§ 441, 638
BGB an den Rücktritt an, dessen Voraussetzung gem. § 323
Abs. 1 BGB die ausgebliebene Nacherfüllung ist. Unabhängig davon, ob der Käufer weiß, dass der Schuldner gar nicht
mehr nacherfüllen kann, so kann er jedenfalls nach der Fristsetzung endgültig mindern. Von einer Minderung ex lege bei
qualitativer Unmöglichkeit könnte der Gläubiger mangels
Kenntnis von dieser regelmäßig nicht Gebrauch machen, was
der Gesetzgeber mit der Vorschrift berücksichtigt hat. Die
Gründe, die der Gesetzgeber vorbringt, erscheinen freilich
fragwürdig, weil sich beide auch auf die teilweise Unmöglichkeit übertragen lassen, für welche eine Verminderung des
Vergütungsanspruchs ex lege jedoch vorgeschrieben ist. Die
Wertung des Gesetzgebers scheint zu sein, dass die qualitative Unmöglichkeit schwerer erkennbar ist als die teilweise
Unmöglichkeit. Jedenfalls ist dies als gesetzgeberische Entscheidung zu berücksichtigen.
Diese Äußerungen zeigen, dass der Zweck des § 326
Abs. 1 S. 2 BGB im Wesentlichen darin liegt, aus den genannten sachlichen Gründen eine automatische Minderungskonstruktion abzulehnen. Im Folgenden ist der Ansatz Emmerichs auch auf seine Systemkonformität zu untersuchen.
bb) Rechtssystematik: Schlechtleistung als Teilnichtleistung?
(1) Differenzierung zwischen Schlecht- und Teilnichtleistung
Emmerich nimmt an, dass die qualitative Unmöglichkeit
einen Unterfall der (quantitativen) Teilunmöglichkeit darstellt.36 In der Tat erscheint es damit konsequent, im Falle der
qualitativen Unmöglichkeit eine Minderung ex lege anzunehmen, da § 326 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 BGB dies für die Teilunmöglichkeit normiert. Jedoch besteht nach der weit überwiegenden Ansicht ein struktureller Unterschied zwischen
Schlecht- und Teilleistung, wofür die gesetzlichen Differenzierungen auf Tatbestands- und Rechtsfolgenebene zwischen
diesen Fällen in den §§ 281 Abs. 1, 323 Abs. 1 und 5 BGB
angeführt werden.37 Auch laut der Begründung des Regierungsentwurfes sind Teilnichtleistungen und Schlechtleistungen unterschiedliche Kategorien von Leistungsstörungen.38
Allerdings lässt der Wortlaut des § 326 Abs. 1 BGB auch die
entgegengesetzte Deutung zu, da der Gesetzgeber die Fälle
nicht behebbarer qualitativer Schlechtleistungen ausdrücklich
von den Teilnichtleistungen ausnimmt. Wenn man davon
ausgeht, dass der Gesetzgeber mit Vorschriften konstitutiv
Regelungen treffen will, liegt der Schluss nahe, dass er von
einer gesetzlichen Konzeption, in der eine Schlechtleistung
einen Unterfall der Teilleistung darstellt, abweichen wollte,
da sonst der Regelungsgehalt der Vorschrift gegen null ginge.
35
BT-Drs. 14/6040, S. 189.
Emmerich (Fn. 31), § 5 Rn. 24.
37
Tillmanns (Fn. 5), S. 205 m.w.N.; vgl. auch Ernst (Fn. 30),
§ 281 Rn. 123; Gsell, in: Soergel, Kommentar zum BGB,
13. Aufl. 2005, § 326 Rn. 26; Grüneberg, in: Palandt (Fn. 1),
§ 326 Rn. 5.
38
BT-Drs. 14/6040, S. 189.
36
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5
AUFSÄTZE
Philipp Lerch
Jedoch wird in der Regierungsbegründung deutlich, dass dem
§ 326 Abs. 1 S. 2 BGB lediglich deklarative Funktion zukommen soll: „Dem Wortlaut des § 326 Abs. 1 Satz 1 RE
könnte zu entnehmen sein, dass sich auch in diesem Fall der
Wert der Gegenleistung im Umfang der Unmöglichkeit kraft
Gesetzes mindert. § 326 Abs. 1 Satz 3 RE stellt indes klar,
dass dies nicht zutrifft […].“39
Der gesetzliche Dualismus zwischen Schlecht- und Teilleistung zeigt deutlich, dass selbst ohne den § 326 Abs. 1 S. 2
BGB der S. 1 keine direkte Anwendung finden würde. Emmerichs Ansatz ist folglich nicht systemgerecht.
(2) Schlechtleistung als funktionale Teilnichtleistung
Nach Tillmanns kann eine Schlechtleistung, die formal aufgrund eines bestehenden Leistungsdefizits als eine solche
anzusehen ist, eine Teilleistung darstellen, womit der § 326
Abs. 1 S.1 Hs. 2 BGB Anwendung finde.40 Man denke an
einen Rechtsanwalt, der seinen Mandanten hinsichtlich zweier Ansprüche in einem Prozess vertritt, und dessen schriftliche Ausführungen zum einen Anspruch gegen alle Regeln
der juristischen Kunst verstoßen und unbrauchbar sind, hinsichtlich des anderen Anspruchs jedoch als ordnungsgemäß
einzustufen sind.
Voraussetzung für eine Teilleistung sei nämlich, dass der
erbrachten Leistung eine eigenständige Teilfunktion zukomme, was auch bei qualitativen Leistungsdefiziten gegeben
sein kann.41 Dies ist wertungsmäßig konsistent und zugleich
systemkonform: im Gegensatz zu § 281 Abs. 1 BGB bevorzugt der § 326 Abs. 1 S. 2 BGB den Gläubiger, der eine Teilund keine Schlechtleistung erhält, indem seine Gegenleistungsschuld vermindert wird. Diese Bevorzugung ist an der
Stelle nur gerechtfertigt, soweit die in qualitativer Hinsicht
defizitäre Leistung keinem eigenständigen vertraglichen
Leistungszweck dienlich ist.42 Dies setzt freilich voraus, dass
man sich von der rein horizontal-zeitlichen Anschauung des
Dienstvertrages löst und in eine vertikal-funktionale überführt. Wie oben dargelegt43 ist die Schuld des Dienstverpflichteten immer auch in ihrem funktionalen Kontext zu
beurteilen. Wenn eine Handlung lediglich dazu geeignet ist,
eine Teilfunktion zu erfüllen, und daher der schwache Leistungserfolg in Form von Chancenerbringung nur hinsichtlich
dieses gegenständlich abtrennbaren Teils eintreten kann, so
entspricht dies ebenfalls einer gegenständlichen Teilnichtleistung, wie wenn z.B. nur zwei von vier der geschuldeten
Weinflaschen geliefert wurden.
2. Minderung durch Rücktritt
Als weitere Möglichkeit, ein Minderungsrecht im Dienstvertrag herzuleiten, wird der Rücktritt nach §§ 323, 326 BGB
39
BT-Drs. 14/6040, S. 189; dies nicht berücksichtigend
Schlechtriem/Schmidt-Kessel (Fn. 1), Rn. 556.
40
Tillmanns (Fn. 5), S. 414 ff.
41
Tillmanns (Fn. 5), S. 261 ff.
42
Ähnliches Argument bei Tillmanns (Fn. 5), S. 246 f.
43
Siehe oben III. 1. a).
angeführt.44 Hier sind zwei mögliche Ansätze erkennbar: zum
einen ist ein Rücktritt lediglich vom Leistungsdefizit (qualitativer Teilrücktritt) nach § 323 Abs. 5 BGB zu erwägen45, zum
anderen ein Rücktritt vom ganzen Dienstvertrag in Verbindung mit einer Aufrechnung mit dem nach § 346 Abs. 2 Nr. 1
BGB entstehenden Wertersatzanspruch des Dienstberechtigten.46
a) Isolierter Rücktritt vom Leistungsdefizit
aa) Allgemeinschuldrechtliche Zulässigkeit eines „Rücktritts
vom Leistungsdefizit“
Sehr fragwürdig ist, ob nach dem allgemeinen Schuldrecht
bei einer Schlechtleistung der Gläubiger teilweise, und zwar
isoliert vom Leistungsdefizit zurücktreten, ob ein Teilrücktritt
also auch vom Minderwert der Leistung erklärt werden kann.
Zum Teil wird dies abgelehnt47, zum Teil befürwortet.48
Beispiel: Der Rechtsanwalt arbeitet unkonzentriert (50 %
der normalen bzw. geschuldeten Leistung) und der Mandant
„tritt“ sozusagen von der halben für ihn geschuldeten Konzentration „zurück“.
(1) Wortlaut und Systematik
Der Wortlaut des § 323 Abs. 5 S. 2 BGB ist nicht eindeutig
und wird verschiedentlich beurteilt. Nach der Vorschrift kann
im Falle einer nicht vertragsgemäßen, d.h. schlechten Leistung „der Gläubiger vom Vertrag nicht zurücktreten, wenn
die Pflichtverletzung unerheblich ist“. Im Hinblick auf S. 1
der Vorschrift, nach dem der Gläubiger bei einer Teilleistung
„vom ganzen Vertrag“ nur zurücktreten kann, wenn er an der
Teilleistung kein Interesse hat, wird der Schluss gezogen,
dass S. 2 keinen Teilrücktritt zulasse, da dort nur „vom Vertrag“ die Rede ist.49 Allerdings lässt sich dieser Wortlaut
auch entgegengesetzt interpretieren: weil S. 2 im Gegensatz
zu S. 1 den Rücktritt „vom Vertrag“ und nicht nur „vom
ganzen Vertrag“ erlaube, spräche der Wortlaut für einen
Teilrücktritt bei der Schlechtleistung.50
Beiden Argumenten ist entgegenzuhalten, dass der § 323
Abs. 5 BGB vom Wortlaut her nicht bestimmt, ob und unter
welchen Umständen ein Teilrücktritt zulässig ist. Vielmehr
regelt die Vorschrift, unter welchen Umständen bei Teil- und
Schlechtleistung der Rücktritt nicht zulässig ist. Es handelt
sich um Ausschlussgründe. Daher lässt sich aus dem Wortlaut der Vorschrift die Zulässigkeit oder Nichtzulässigkeit
eines Teilrücktritts vom Leistungsdefizit nicht ableiten.
44
Weller (Fn. 7), S. 562 ff.; i.E. ablehnend Tillmanns (Fn. 5),
S. 412.
45
Weller (Fn. 7), S. 562 ff.
46
Angedeutet, aber abgelehnt bei Canaris, in: Festschrift für
Karsten Schmidt zum 70. Geburtstag, 2009, S. 177 (181).
47
Stadler (Fn. 30), § 323 Rn. 20; Looschelders, Schuldrecht
Allgemeiner Teil, 12. Aufl. 2014, Rn. 709; Peukert, AcP 205
(2005), 430 (439).
48
Ernst (Fn. 30), § 323 Rn. 240; Tillmanns (Fn. 5), S. 390;
Weller (Fn. 7), S. 562 ff.
49
Peukert, AcP 205 (2005), 430 (440).
50
Weller (Fn. 7), S. 563.
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ZJS 1/2017
6
Die Minderung im Dienstvertragsrecht – Mut zur Rechtsfortbildung?
Gegen die Annahme, Rücktritt und Minderung seien wesensgleich, mag man den Wortlaut der §§ 441 Abs. 1, 638
BGB anführen: „statt zurückzutreten“ kann der Gläubiger
mindern. Jedoch könnte damit auch gemeint sein „statt vom
ganzen Vertrag zurückzutreten, kann der Gläubiger auch
einen Teilrücktritt vom Leistungsdefizit erklären“. Auch
dieser Wortlaut bietet keinen eindeutigen Hinweis auf die
systematischen Erwägungen des Gesetzgebers.
(2) Historische und teleologische Auslegung
Tillmanns führt an, dass der Gesetzgeber mit dem § 323
Abs. 5 BGB dem UN-Kaufrecht folgen wollte.51 Da sich der
Art. 51 Abs. 1 CISG nicht nur auf die Vertragsaufhebung,
sondern auch auf die Minderung gem. Art. 50 CISG beziehe,
und der Gesetzgeber dieses Konzept umsetzen wollte, sei
anzunehmen, dass § 323 BGB auch den Rücktritt vom Leistungsdefizit ermögliche. Dieses Argument überzeugt nicht –
in den Gesetzesmaterialien lassen sich für einen solchen
Schluss keine hinreichenden Anhaltspunkte finden.
Im Hinblick auf die Gesetzesmaterialien wird deutlich,
dass der Gesetzgeber sich bewusst gegen ein allgemeines
Minderungsrecht entschieden hat: „Dabei ist zunächst die
Frage zu behandeln, ob die Minderung als Rechtsbehelf in
das allgemeine Leistungsstörungsrecht neben Rücktritt und
Schadensersatz eingestellt werden soll. Entscheidend dagegen spricht, dass die Minderung für einzelne Vertragstypen,
insbesondere für den Dienstvertrag, als Rechtsbehelf ausgeschlossen bleiben muss. Für den Kauf- und Werkvertrag
bedarf es daher einer besonderen Vorschrift über die Minderung.“52 Eine „Minderung durch Teilrücktritt“ wäre dabei
nichts anderes als die Minderung im Sinne des besonderen
Gewährleistungsrechts – es handelt sich „im Kern um dieselbe Sache“53.
§ 323 Abs. 5 S. 2 BGB bestimmt, dass der Gläubiger bei
einer Schlechtleistung vom Vertrag nicht zurücktreten kann,
„wenn die Pflichtverletzung unerheblich ist“. Zweck der
Vorschrift ist wohl, dass der Gläubiger daran gehindert werden soll, schon bei jeder kleinsten, unerheblichen Pflichtverletzung vom ganzen Vertrag zurückzutreten, der Rücktritt
also verhältnismäßig sein muss.54 Daher liegt es nahe, anzunehmen, dass der Gesetzgeber auch nur den Totalrücktritt vor
Augen hatte: unbillig ist lediglich der Totalrücktritt im Falle
der Schlechtleistung, nicht die Minderung (vgl. § 441 Abs. 1
S. 2 BGB). Trotzdem differenziert er nicht im Wortlaut, sondern spricht nur „vom Vertrag.“ Die Gesetzesmaterialien
bestätigen diesen vom Gesetzgeber intendierten Zweck: zwar
findet auch ein möglicher Teilrücktritt im Falle des § 323
Abs. 5 S. 2 BGB Erwähnung, jedoch nur für den Fall einer
teilweisen Schlechtleistung, also wenn z.B. von den 100
bestellten Flaschen Wein 20 mindere Qualität aufweisen.55
51
Tillmanns (Fn. 5), S. 390 f. mit Berufung auf Ernst
(Fn. 30), § 323 Rn. 199.
52
BT-Drs 14/6040, S. 223.
53
Ernst (Fn. 30), § 323 Rn. 240.
54
Schmidt, in: Beck’scher Online-Kommentar zum BGB,
Ed. 41, Stand: 1.11.2016, § 323 Rn. 39.
55
BT-Drs. 14/6040, S. 186.
ZIVILRECHT
Vor diesem Hintergrund ist es zweifelhaft, mit Weller anzunehmen, Zweck der Vorschrift bzw. des Erheblichkeitserfordernisses im Falle der Schlechtleistung sei, dem Schuldner auch gegen den Teilrücktritt (d.h. die Minderung) eine
„freiheitserweiternde Sicherheitszone“ zu schaffen.56 Denn
zu diesem Schluss kann man nur gelangen, wenn bereits die
Möglichkeit des Teilrücktritts vom Leistungsdefizit bejaht
ist. Die Anführung eines solchen Arguments würde eine
petitio principi darstellen.
bb) Zwischenergebnis
Die Auslegung des § 323 Abs. 5 S. 2 BGB lässt nicht darauf
schließen, dass diese Vorschrift des allgemeinen Schuldrechts
einen isolierten Teilrücktritt vom Leistungsdefizit im Falle
einer Schlechtleistung zulassen soll. Allerdings könnten immer noch gute sachliche Gründe für ein solches Recht sprechen. Eine unmittelbare Herleitung des Minderungsrechts aus
einem „Teilrücktritt vom Leistungsdefizit“ ist jedenfalls
abzulehnen, da dies systemfremd wäre, besteht schließlich
zwischen Schlecht- und Teilleistung eine klare gesetzliche
Differenzierung und ist doch im Wortlaut des § 323 Abs. 5
S. 2 BGB kein Anhaltspunkt für diese Annahme ersichtlich.
b) Rücktritt vom ganzen Vertrag und Aufrechnung mit Wertersatzanspruch
Neben dem Teilrücktritt vom Leistungsdefizit ist auch ein
Totalrücktritt denkbar, bei dem der Dienstberechtigte durch
Aufrechnung seines Vergütungsrückgewähranspruchs (§ 346
Abs. 1 BGB) mit dem Wertersatzanspruch des Dienstverpflichteten (§ 346 Abs. 2 Nr. 1 BGB) funktional mit einem
Minderungsrecht ausgestattet wäre.57 Ein Rücktrittsrecht wird
jedoch für den bereits (teilweise) vollzogenen Dienstvertrag
im Allgemeinen nicht anerkannt.58 Das Rücktrittsrecht werde
durch das Kündigungsrecht ersetzt, was auch § 314 BGB
zeige.59 Im Hinblick auf das eindeutige Votum des Reformgesetzgebers60 ist dieser Auffassung Recht zu geben. Mit
Vollzug des Dauerschuldverhältnisses entfällt das Recht zum
Rücktritt vom Vertrag.
c) Zwischenergebnis
Die Auslegung der Rücktrittsvorschriften ergibt, dass das
Rücktrittsrecht bei Dienstverhältnissen keinen adäquaten
Rechtsbehelf bietet, die Vergütung zu vermindern.
3. Minderungsrecht durch Rechtsfortbildung – wertungsmäßige Betrachtung der Interessenlage
Im folgenden Abschnitt soll eine Abwägung der Interessen
des Dienstberechtigten und des Dienstverpflichteten hinsichtlich eines Minderungsrechts vorgenommen werden.
56
Weller (Fn. 7), S. 564.
Ähnliches ablehnend Canaris (Fn. 46), S. 181.
58
Vgl. nur Schmidt (Fn. 54), § 323 Rn. 2; Canaris (Fn. 46),
S. 181; Ernst (Fn. 30), § 323 Rn. 35; Tillmanns (Fn. 5),
S. 397 f.
59
Tillmanns (Fn. 5), S. 398.
60
BT-Drs. 14/6040, S. 177.
57
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7
AUFSÄTZE
Philipp Lerch
a) Symmetrie von Vergütungsanpassungen
Gegen eine Minderung von Dienstvergütungen wird die fehlende Symmetrie der Vergütungsanpassung angeführt:61 bei
einer Besserleistung des Schuldners erhöht sich dessen Vergütung nicht, daher sei eine Minderung der Dienstvergütung
nicht billig. Dieses Argument ist jedoch keineswegs überzeugend, erhöht sich der Kaufpreis eines Gutes nicht auch bei
Lieferung von Waren besserer als der vereinbarten Qualität.
Der Schuldner hat im Gegensatz zum Gläubiger die Macht,
die Qualität des Leistungsgegenstands auszusuchen – daher
ist er im Gegensatz zu diesem nicht schutzbedürftig. Des
Weiteren ist eine Besserleistung im Dienstvertragsrecht
schon begrifflich ausgeschlossen, schuldet der Dienstverpflichtete schließlich eine nach seinem Ermessen möglichst
gute Leistung.62 Leistet er besser als üblich, dann ist dies
lediglich Ausdruck pflichtgemäßen Verhaltens.
b) Bemessungsschwierigkeiten
Ferner wird gegen ein derartiges Minderungsrecht angeführt,
dass der Minderwert der Dienstleistung schwer zu bemessen
sei.63 Dieses Problem kann sich im Kaufrecht allerdings auch
ergeben, wenn für die minderwertige Sache kein Markt besteht.64 Wenn Maßstab des Wertes einer Dienstleistung die
mit ihr einhergehende Chance ist, einen bestimmten vertraglichen Zweck zu erreichen65, so ist bei Dienstleistungen entsprechend § 441 Abs. 3 BGB die Vergütung in dem Verhältnis herabzusetzen, wie der Wert einer vertragsgemäßen Leistung, die dem Dienstberechtigten die Soll-Chancen zur Erreichung des Erfolgs erbracht hätte, zum marktüblichen Wert
einer Leistung, welche dem Dienstberechtigten eine zur erbrachten Leistung äquivalenten Chance erbracht hätte, zum
Vertragsschluss gestanden hätte. Wird jemand eingesetzt,
einen Hof zu kehren, und schafft aufgrund von mangelnder
Motivation an diesem Tag nur die Hälfte des Hofs in der für
ihn üblichen und einem statistischen Durchschnitt entsprechenden Zeit (z.B. zwei Stunden) zu kehren, so hat dieser nur
einen Vergütungsanspruch für eine Stunde, da er dem Dienstberechtigten nur die Hälfte der geschuldeten Chance, einen
sauberen Hof zu erhalten, erbracht hat.66
c) Sanktion der Pflichtverletzung und Anreiz
Höchst unbefriedigend ist es, wenn der Dienstberechtigte
keine Möglichkeit hat, auf die Schlechtleistung des Schuldners zu reagieren und diese zu sanktionieren. Zunächst einmal bleibt dem Gläubiger im Dienstverhältnis zwar das Kündigungsrecht. Dieses kann einen ausreichenden Rechtsbehelf
darstellen, wird es jedoch nicht in vielen Fällen. Man denke
61
Lotmar, Der Arbeitsvertrag nach dem Privatrecht des Deutschen Reiches, 1908, Bd. 2, S. 40 ff.
62
Siehe oben I. 1. b).
63
Tillmanns (Fn. 5), S. 402 ff. m.w.N.
64
Weller (Fn. 7), S. 556.
65
Siehe oben I. 1. a).
66
Dabei sei jedoch unterstellt, dass es sich nicht um ein Arbeitsverhältnis handelt. Soziale bzw. arbeitsrechtliche Schutzerwägungen sind nicht Gegenstand dieser Arbeit.
sich Fälle, in denen der Rechtsanwalt das schlechte Gutachten fertiggestellt hat und erst dann sich herausstellt, dass eine
Schlechtleistung vorliegt. Die Kündigung ist dann ein nutzloser Rechtsbehelf, da sie lediglich ex nunc wirkt. Man mag
zwar anführen, dass es in der Risikosphäre des Gläubigers
liegen sollte, die Leistung zu überwachen und ggf. einzugreifen und das Abdriften der Leistung zu verhindern. In der Tat
kann eine solche Risikoverteilung geboten sein, allerdings
auch nur dann, wenn dem Dienstverpflichteten die dafür
notwendigen Kontroll- und Überwachungsrechte überhaupt
zustehen. Im Arbeitsvertrag ist dies tatsächlich der Fall (vgl.
§ 106 GewO). Im freien Dienstvertrag sieht dies vollkommen
anders aus: der Mandant hat keine betrieblichen Weisungsrechte gegenüber dem Anwalt. Daher ist hier im Gegensatz
zum Arbeitsvertrag auch eine andere Risikoverteilung gerechtfertigt. Den Gläubiger freier Dienstverträge trifft keine
Überwachungsobliegenheit, womit es nicht gerechtfertigt ist,
diesem einen nachträglichen Rechtsbehelf zur Minderung zu
verwehren.
Außerdem besteht gerade dort, wo der Gläubiger keine
Überwachungsmöglichkeiten hat und ein starkes Vertrauensband besteht, die Gefahr des sog. Opportunismus.67 Opportunismus im ökonomischen Sinne ist ein Verhalten, bei dem
jemand das Vertrauen eines anderen bricht und anstatt der
Vorteile, die er aus einem treuen Verhalten erlangen könnte,
lieber die Vorteile aus dem Bruch des Vertrauens, die sog.
Opportunismusprämie, zieht.68 Der Anwalt, der lieber schnell
und unkonzentriert seine Arbeit für den Mandanten beendet,
um sich einem doppelt so rentablen Mandat zuwenden zu
können, verhält sich opportunistisch: er verletzt seine Vertragspflichten, um an einem rentableren Projekt zu arbeiten
und damit eine höhere Opportunismusprämie, das Mehrhonorar, zu kassieren. Ohne eine Möglichkeit der Minderung
würde die Opportunitätsprämie die Vorteile aus einem vertragsgerechten Verhalten („Goodwill“69), z.B. die Aussicht
auf einen guten Ruf als Anwalt wegen hervorragender Vertretung, in vielen Fällen übertreffen. Es bestünde ein erheblicher Anreiz zum Vertragsbruch. Eine effiziente Rechtsordnung soll jedoch gerade den Anreiz zu vertragsgemäßem
Handeln erhöhen, indem sie die Aussicht auf eine Opportunismusprämie senkt.70 Dies kann bei Arbeitnehmern durch
die hohen wirtschaftlich-sozialen Folgen der Kündigung
geschehen, bei freien Dienstverträgen jedoch lediglich durch
die Anerkennung einer nachträglichen Sanktion in Form der
Minderung der Dienstvergütung.
IV. Eigene Lösung und Ergebnis
Mut zur Rechtsfortbildung! Obwohl eine Auslegung des
Gesetzes nicht unmittelbar zu einem Rechtsbehelf führt, der
zu einer echten, verschuldensunabhängigen Minderung des
Vergütungsanspruchs bei einer Schlechtleistung geeignet ist,
67
Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des
Zivilrechts, 4. Aufl. 2005, S. 511; vgl. auch Weller (Fn. 7),
S. 466 ff.
68
Schäfer/Ott (Fn. 67), S. 511.
69
Schäfer/Ott (Fn. 67), S. 511.
70
Schäfer/Ott (Fn. 67), S. 513.
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ZJS 1/2017
8
Die Minderung im Dienstvertragsrecht – Mut zur Rechtsfortbildung?
sprechen gewichtige sachliche Gründe für eine Minderung.71
Problematisch ist jedoch, dass weder eine direkte noch analoge Anwendung des § 326 Abs. 1 BGB auf als Schlechtleistung zu qualifizierende Leistungsstörungen möglich ist, da
dies systemfremd wäre.72 Ein systemkonformer und direkt
gesetzlich normierter Ansatz jedenfalls ist, Schlechtleistungen als funktionale Teilnichtleistungen zu begreifen, indem
von einer rein zeitlich-quantitativen Beurteilung der Reichweite von Dienstleistungen Abstand genommen und in direkter Anwendung des § 326 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 BGB die Vergütung herabgesetzt wird.73 Hieran sind jedoch strenge Maßstäbe anzulegen, damit die Grenzen zwischen Schlecht- und
Teilleistung nicht verwischt werden. Die Leistung muss im
Hinblick auf die Teilfunktion als Nichtleistung zu qualifizieren sein, darf den abtrennbaren Teilzweck also in keiner
Weise fördern. Nicht ausreichend ist, dass die Geeignetheit
zur Förderung dieses Teilzwecks lediglich eingeschränkt ist.
Für alle anderen Fälle von Schlechtleistung, z.B. bei minderer
Arbeitsintensität, mag es zwar systemgerecht sein, die Minderung auszuschließen – in der Sache gerechtfertigt ist dies
jedoch nicht. Eine systemkonforme Lösung ist, analog §§ 441
Abs. 1, 638 Abs. 1, 323 BGB dem Gläubiger von Dienstleistungen im freien Dienstvertrag ein Minderungsrecht zu gewähren. Dies setzt entsprechend § 323 Abs. 1 BGB eine
erfolglose Nachfristsetzung voraus. Die Minderungserklärung
ist weiterhin erforderlich, da § 326 Abs. 1 S. 2 BGB einer exlege-Minderung aus nicht leicht nachvollziehbaren, jedoch zu
berücksichtigenden Gründen74 entgegensteht. In der Sache
hat die Minderungserklärung dabei immer noch eine Funktion: mit Erklärung der Minderung erlischt der Nacherfüllungsanspruch nämlich endgültig.75 Somit wird für beide
Parteien klargestellt, dass die Leistung nicht mehr nachholbar
ist und der Vertrag umgestaltet wurde. Vorteil der Lösung ist,
dass sie den Wertungen des § 326 Abs. 1 S. 276 gerecht wird
und an die erfolglose Fristsetzung ansetzt, welche für den
Gläubiger regelmäßig das entscheidende Kriterium sein wird,
da die Unmöglichkeit der Nacherfüllung für ihn regelmäßig
nicht erkennbar ist. Jedenfalls nach erfolgloser Fristsetzung
können beide Parteien dann sicher sein, dass die Voraussetzungen für die Minderung vorlagen.
Insbesondere die Rechtsprechung behandelt die Frage der
Minderung im Dienstvertragsrecht viel zu formal. Es scheint
die Furcht zu überwiegen, dass durch eine Öffnung des
Dienstvertragsrechts für Gewährleistungshaftung der soziale
Schutz des Arbeitnehmers unterlaufen würde. Viel sachgemäßer ist es, zwischen Dienst- und Arbeitsvertrag an dieser
Stelle streng zu differenzieren und im ersten Fall dem
Dienstberechtigten ein Minderungsrecht zu gewähren. De
lege ferenda wäre es wünschenswert, wenn der Gesetzgeber
hierzu eindeutigere Regeln treffen würde, z.B. wie eine all-
ZIVILRECHT
gemeinschuldrechtliche Minderung durch Erklärung, wie sie
Sec. III.-3:601 des Draft Common Frame Of Reference vorsieht.
71
Siehe oben III. 3.
Siehe oben III. 2. b) bb) (1).
73
Siehe oben III. 2. b) bb) (2).
74
Siehe oben III. 2. b) aa).
75
Faust (Fn. 20), § 441 Rn. 14; Westermann, in: Münchener
Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 2016, § 441 Rn. 17.
76
Siehe oben III. 2. b) aa).
72
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9
Schadenersatz im Deliktsrecht aus Rechtsökonomischer Perspektive
Von stud. iur. Lea Larissa Faltmann, Köln *
Der ökonomischen Analyse des Rechts wird an deutschen
Universitäten regelmäßig wenig bis keine Beachtung geschenkt. Sie gehört allerdings im anglo-amerikanischen
Raum – aus gutem Grund – zu den Standardkursen jedes
Jurastudenten. Auch deutsche Gerichte berücksichtigen
selbstverständlich rechtsökonomische Überlegungen in deliktsrechtlichen Fragestellungen. Studenten können und sollten rechtsökonomische Argumente in Klausuren heranziehen.
Dieser Beitrag bietet eine Einführung in die Thematik.
I. Ausgangsfall: „Immer dem Navi nach“
Gerade für Juristen, die sich sehr wahrscheinlich noch nicht
mit der ökonomischen Analyse des Rechts geschweige denn
ökonomischen Modellen beschäftigt haben, ist es hilfreich,
die folgenden Überlegungen an einem kleinen Fall zu veranschaulichen, bevor die notwendigen theoretischen Ausführungen und ihre Anwendung auf das Deliktsrecht folgen:
Autofahrer A befährt abends, seinem Navigationsgerät
folgend, eine schmale Straße in der nordrhein-westfälischen
Gemeinde X. Die Straße ist als Sackgasse ausgeschildert und
hat keine Fahrbahnmarkierungen oder Bürgersteige. Der
Asphalt ist an einer Stelle in einer Länge von einigen Metern
unterbrochen. In der Straßenmitte ist an dieser Stelle ein
Sperrpfosten mit Gelenk eingelassen, der nach Bedarf aufgestellt werden kann und dann die Durchfahrt für Autofahrer
verhindert. Der Sperrpfosten ist zum fraglichen Zeitpunkt
umgelegt, also die Durchfahrt möglich. Rechts und links von
diesem Sperrpfosten befinden sich zwei Findlinge. Die Fahrbahndecke neben den Sperrpfosten ist aufgrund ausgespülter
bzw. ausgefahrener Spurrinnen abgesenkt. Beim Überfahren
dieser Stelle verkantet sich der Motor von As Auto aufgrund
der unterschiedlichen Höhe der Fahrbahn am Sperrpfosten.
Der Motor wird zerstört; es kommt zu einem wirtschaftlichen
Totalschaden.1
Welche Ansprüche des A könnten bestehen?
Mangels vertraglicher oder quasivertraglicher Ansprüche,
kommen nur deliktische Ansprüche in Frage, insbesondere
aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 9a StrWG NRW.2 Die Verkehrssicherungspflicht aus § 9a StrWG NRW umfasst die
notwendigen Maßnahmen zur Herbeiführung und Erhaltung
eines für den Straßenbenutzer hinreichend sicheren Straßenzustandes. Mangels eines anderen Anspruchsgegners wird A
vorbringen wollen, dass das Land NRW eine Pflicht gehabt
habe, eine für die Durchfahrt freigegebene Straße in einem
solchen Zustand zu erhalten, dass es nicht zu Schäden an den
passierenden Kraftfahrzeugen kommt. Das Land könnte diese
Verkehrssicherungspflicht verletzt haben. Dann bestünde
* Die Autorin studiert englisches und deutsches Recht an der
Universität Köln und dem University College London.
1
Vgl. LG Bonn, Urt. v. 6.4.2016 – 1 O 374/15 = BeckRS
2016, 10911.
2
§ 839 BGB i.V.m. Art 34 GG – dann liegt im gem. § 823
Abs. 2 BGB i.V.m. § 9a StrWG NRW relevanten Unterlassen
des Beamten eine Amtspflichtverletzung.
eine Haftung wegen schuldhaften Unterlassens, die eine
Amtspflichtverletzung darstellt.
Hier drängt sich die Überlegung auf, ob es sinnvoll ist,
auch bei Straßen, die erkennbar keine Durchfahrtsstraßen
sind und auch sonst nur eine geringe Verkehrsbedeutung
haben, ständig eine intakte Fahrbahndecke zu gewährleisten.
Man könnte, unter Berücksichtigung der Anzahl von Autofahrern, die die Straße nutzen, überlegen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit eines solchen Schadenseintritts ist und wie
groß der jeweilige Schaden voraussichtlich ausfallen wird.
Diese Überlegung könnte man dann mit den Kosten für Kontrollen und gegebenenfalls notwendigen Fahrbahnerneuerungen vergleichen. Abstrakter wäre zu bedenken, wie eine
Norm bzw. deren Anwendung ausgestaltet sein müsste, die
Anreize zur Verhinderung von Schäden setzt, ohne jedoch die
Kostenüberlegungen zu vernachlässigen.
In diesem Beitrag wird gezeigt, dass solche Überlegungen
gewinnbringend sind und erläutert, wie diese Herangehensweise aus rechtsökonomischer Sicht begründet wird. Zunächst werden daher die Grundlagen der ökonomischen Analyse des Rechts erläutert (unter II.). Dann wird die lenkende
Funktion von Haftungsregeln und die effiziente Ausrichtung
des Haftungsrechts am Beispiel des Ausgangsfalls untersucht
(unter III.) und zuletzt gezeigt, dass die vorgebrachte Kritik
gegen den rechtsökonomischen Ansatz zwar teilweise berechtigt ist, aber die Bedeutung der Erkenntnisse für die Ausgestaltung und Anwendung des Deliktrechts dadurch nicht
geschmälert werden sollte (unter IV.).
II. Grundlagen der ökonomischen Analyse des Rechts
1. Modell und Methodik
Die ökonomische Analyse des Rechts ist ein interdisziplinäres Forschungsgebiet, das sich der Analyse und Bewertung
rechtlicher Normen anhand ökonomischer Maßstäbe verschrieben hat. Ziel der Ausgestaltung des Rechts anhand der
Erkenntnisse der Rechtsökonomik ist die Wohlfahrtssteigerung, d.h. die Steigerung des gesellschaftlichen Wohlstands
im Allgemeinen.
Um dieses Ziel durchsetzen zu können, bedarf es einer
Vorstellung von den Verhaltensweisen und Reaktionen der
Marktteilnehmer. Voraussetzung dafür ist die Annahme, dass
alle Menschen gleichartig, jedoch nicht gleich, handeln. Die
Rechtsökonomik greift dafür auf das Modell des homo oeconomicus zurück. Dabei geht man davon aus, dass alle Menschen sich grundsätzlich rational und nutzenmaximierend
verhalten. Der idealtypische, egoistische Marktteilnehmer
entscheidet sich immer für die für ihn vorteilhafteste Option
innerhalb der ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten
unter Berücksichtigung seiner Handlungsrestriktionen wie
z.B. seines Gehalts in bestimmter Höhe (Methodologischer
Individualismus).3 Er entscheidet, nachdem er sich Kosten
3
Im Englischen häufig als REMM-Hypothese (resourceful,
evaluating, maximizing man) bezeichnet. Vgl. Tietzel, in:
Jahrbuch für Sozialwissenschaften, 1981, S. 115 ff., insb.
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10
Schadenersatz im Deliktsrecht aus Rechtsökonomischer Perspektive
und Nutzen seiner Entscheidungsmöglichkeiten vor Augen
geführt hat. Die Auswahl, die er trifft, stellt seine persönliche
Präferenzordnung4 und, aufgrund seiner vollkommenen Rationalität, auch die effizienteste Auswahlmöglichkeit dar.5 Dies
setzt voraus, dass die Präferenzordnung vollständig, transitiv,
also übertragbar, unabhängig, widerspruchsfrei und konsistent ist.6 Daher bildet beispielsweise ein Vertragsschluss als
privatautonome Lösung idealerweise die effizienteste Ausgestaltung des von den Parteien gewünschten Ergebnisses ab.
Aufgrund dieser Annahme kann man Verhaltensweisen der
Marktteilnehmer analysieren und prognostizieren, was man
positive Ökonomik nennt.7
Über die bloße Beschreibung und Prognose einer Entwicklung hinaus, bedarf es eines Maßstabes, anhand dessen
gemessen werden kann, ob eine Entwicklung wünschenswert
ist und daher gefördert oder eben unterbunden werden sollte.
Diese Bewertung erfolgt anhand des Kaldor-HicksKriteriums.8 Danach stellt ein Zustand dann eine Verbesserung, also eine Steigerung der Effizienz dar, wenn der gesamte Nutzen9 größer ist als die damit verbundenen Nachteile.10
Das bedeutet, man stellt die Gesamtvorteile der Individuen,
die von einer Entscheidung profitieren dem Gesamtnachteil
aller, denen die Entwicklung Kosten verursacht, gegenüber.11
Effizient ist eine Entwicklung, wenn die Geschädigten potenziell (und hypothetisch) für den Nachteil entschädigt werden
könnten und dann immer noch ein Restvorteil verbliebe. Für
einen solchen Vergleich kommt es auch nicht auf genaue
quantitative Bestimmungen an, sondern die Beantwortung der
Frage, ob Kosten oder Nutzen überwiegen, reicht aus.12 Begründet wird dieses Vorgehen, trotz der ausbleibenden Entschädigung im Einzelfall, durch den langfristigen Eintritt
S. 125. Zum methodologischen Individualismus vgl. Behrens,
Die ökonomischen Grundlagen des Rechts, 1986, S. 34 ff.;
Kirchgässner, Homo Oeconomicus, 3. Aufl. 2008.
4
Vgl. Dawes, Rational Choice in an Uncertain World, 1988,
S. 64 ff.
5
Behrens (Fn. 3), S. 34 ff.
6
Dawes (Fn. 4), S. 64 ff.
7
Posner, Economic Analysis of Law, 6. Aufl. 2003, S. 24 ff.;
Weigel, Rechtsökonomik, 2003, S. 16 f.
8
Das Pareto-Kriterium hingegen ist unvereinbar mit in den
Markt eingreifenden Maßnahmen staatlicher Organe, die
entscheidend in der modernen Wirtschafts- und Rechtspolitik
sind. Staatliches Eingreifen bei der Vermögensumverteilung,
beispielsweise durch Subventionen, stören das Marktgleichgewicht, sodass nie ein Pareto-optimaler Zustand erreicht
würde, vgl. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl.
2005, S. 48 ff.
9
Unter Berücksichtigung des Gesetzes vom abnehmenden
Grenznutzen des Einkommens, das besagt, dass der Einkommensnutzen einer Person mit steigendem Einkommen zwar
zunimmt, aber nur unterproportional.
10
Baumann, RNotZ 2007, 297 (298).
11
Posner (Fn. 7), S. 25.
12
Ablehnung des Kardinalismus, zuerst umfassend kritisiert
von Robbins, An Essay on the Nature and Significance of
Economic Science, 1932.
ZIVILRECHT
einer Generalkompensation durch die Verbesserung der gesamtwirtschaftlichen Umstände.13 Die Bewertung anhand des
Kaldor-Hicks Effizienzkriteriums bezeichnet man als normative Ökonomik.
2. Einführung in ein rechtsökonomisches Verständnis des
Deliktsrechts
Während man vor allem im Zusammenhang vertraglicher
Schuldverhältnisse die Möglichkeit der Herbeiführung des
effizientesten Ergebnisses durch privatautonome Verhandlungsmöglichkeiten hat,14 kommt ein solcher Mechanismus
im Deliktsrecht naturgemäß nicht in Frage. Schließlich ist es
nicht möglich, als Teilnehmer am Straßenverkehr mit möglichen Schädigern bzw. Geschädigten in Verhandlungen zu
treten und sich vor dem schädigenden Ereignis auf ein Haftungsregime zu einigen. Unüberschaubar hohe Transaktionskosten verhindern damit den optimalen Zustand des Marktes,
den eine Vertragslösung gewährleisten würde.15 In einem
solchen Zusammenhang muss die Rechtsordnung Effizienz
substituieren und für die bestmögliche Allokation der knappen Ressourcen sorgen.16
Haftungsregeln sollen das Verhalten der von ihnen betroffenen Individuen lenken, also Anreize schaffen, dass sie
sich so verhalten, dass es zu einem gesamtgesellschaftlichen
Vorteil kommt. Die Überlegung der lenkenden Funktion
beruht darauf, dass Rechtsnormen als Nebenbedingungen des
menschlichen Handelns, wenn sie eine Sanktion vorsehen,
eine ursprünglich billige Handlungsalternative verteuern und
diese Handlungsform damit den Marktteilnehmern weniger
attraktiv erscheint.17 Der Marktteilnehmer wird also automatisch die zusätzlich anfallenden Kosten in seinen Entscheidungsprozess einbeziehen, was man als Internalisierung von
Externalitäten bezeichnet. Sofern sie dadurch im Verhältnis
zu den anderen Handlungsoptionen hinsichtlich der KostenNutzen-Relation überwiegt, wird der homo oeconomicus sein
Verhalten ändern.18
So soll das Ziel der maximalen Wohlfahrt erreicht werden. Diese ergibt sich aus dem Nutzen des Schädigers aus der
relevanten Aktivität abzüglich der Kosten getroffener Sorg13
Ablehnend Eidenmüller (Fn. 8), S. 48.
Dieser Annahme liegt zu Grunde, dass Marktteilnehmer als
homines oeconomici die für sich effizienteste Lösung erkennen und einen dem entsprechenden Vertrag abschließen. Dies
gilt so lange, wie externe Faktoren eine solche Einigung nicht
verhindern.
15
Vgl. Coase, The Journal of Law and Economics 1960, 1.
16
Die Wirtschaftswissenschaft unterstellt in all ihren Anwendungsbereichen Knappheit. Danach haben die Menschen
prinzipiell unbegrenzte Bedürfnisse, während die Mittel, die
ihnen zur Bedürfnisbefriedigung zur Verfügung stehen, nur
begrenzt sind.
17
Cooter, Columbia Law Review 1984, 1523.
18
Notwendig werden kann insbesondere eine Neuzuordnung
von Verfügungsrechten (property rights), um Handlungsanreize für Individuen zu schaffen und gesellschaftlichen Schaden zu begrenzen, siehe Demsetz, American Economic Review 1967, 347.
14
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11
AUFSÄTZE
Lea Larissa Faltmann
faltsmaßnahmen abzüglich der Kosten des erwarteten Schadens. Der erwartete Schaden ergibt sich aus der Multiplikation der Höhe des eintretenden Schadens mit der Wahrscheinlichkeit seines Eintritts.19 Die Kosten eines wirtschaftlichen
Gutes sind gleich dem entgangenen Ertrag, den dieses Gut in
der bestmöglichen alternativen Verwendung schaffen könnte
(Opportunitätskosten).20
Das bedeutet, die Wohlfahrt kann erhöht werden, wenn
die Kosten bei einem gegebenen Nutzen verringert werden
und Aktivitäten überhaupt nur aufgenommen werden, wenn
sie mehr nutzen als kosten. Im Ausgangsfall könnte die
Wohlfahrt also erhöht werden, wenn der konkrete Nutzen, die
Qualität der Straße, die allen Straßennutzern zu Gute kommt,
gegenüber den Kosten für die Instandhaltung und erwarteten
Unfallkosten überwiegt.
Wohlfahrt = Gesamt-Nutzen - Kosten der Sorgfaltsmaßnahmen - erwarteter Schaden
III. Haftungsregeln als Mittel der effizienten Gestaltung
des Deliktsrechts
Die Minimierung der Kosten verlangt notwendigerweise nach
einer Aufstellung der anfallenden Kosten. Zunächst muss
eine solche Aufstellung den Wert der Schäden aller Opfer
einer Schädigung umfassen (primäre Kosten). Weiterhin sind
alle Kosten zu berücksichtigen, die beispielsweise im Zusammenhang mit Versicherungen entstehen (sekundäre Kosten). Zuletzt müssen auch Kosten der Rechtsdurchsetzung,
der Verwaltung sowie alle anderen administrativen Kosten
einbezogen werden (tertiäre Kosten).21
Diese anfallenden Kosten sollen möglichst weit gesenkt
werden, aber nicht über ein sozial nützliches Niveau hinaus.
Daher werden im Folgenden die Faktoren der jeweiligen
Kosten sowie die Konsequenzen ihrer Umsetzung im Deliktsrecht dargestellt.
1. Beeinflussung primärer Kosten
a) Das Ziel der optimalen Sorgfalt
Die Sorgfaltsmaßnahmen, d.h. die Kosten, die aufgewendet
werden, um die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts
oder das Ausmaß des Schadens zu verringern, spielen eine
entscheidende Rolle auf der Kosten-Seite. Da sie, genau wie
die Schadenshöhe den gesamtwirtschaftlichen Nutzen reduzieren, können die beiden Posten zu Gesamtverlusten addiert
werden. Eine Minimierung dieser Kosten kann durch die
Ausgestaltung von Rechtsnormen dergestalt erreicht werden,
dass die Beteiligten dazu angehalten sind, ihrerseits auf eine
Verhinderung des schädigenden Ereignisses hinzuwirken.
Ziel ist dabei das Erreichen des optimalen Sorgfaltsmaßsta19
So auch Cooter/Ulen, Law and Economics, 6. Aufl. 2016,
S. 199 ff.; Wagner, in: Münchener Kommentar zum BGB,
6. Aufl. 2013, Vorb. § 823 Rn. 47 f.; Esser/Weyers, Schuldrecht, Bd. 2, 8. Aufl. 2000, § 55 II 3 d, S. 171.
20
Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des
Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 53 f.
21
Calabresi, 70 YALE L.J. 1961, 499.
bes. Wendet man das oben erläuterte Kaldor-Hicks-Kriterium
in diesem Zusammenhang an, sind kostenverursachende
Präventivmaßnahmen so lange durchzuführen, wie ein Euro
an Verhütungsaufwand noch zu einer Schadensreduzierung
von mehr als einem Euro führt (Marginalbedingung der optimalen Sorgfalt).22
Zu unterscheiden sind unilaterale, bilaterale und multilaterale Situationen. Unilateral ist eine Situation, in der der
Geschädigte selbst sinnvollerweise keine Sorgfaltsmaßnahmen treffen kann. In bilaterale Situationen haben sowohl der
Schädiger als auch der Geschädigte Einfluss auf den Eintritt
des schädigenden Ereignisses. Multilateral ist eine Situation,
wenn mehrere Schädiger und/oder Geschädigten den Eintritt
des schädigenden Ereignisses beeinflussen können. Wer
Sorgfaltsmaßnahmen treffen kann und somit auch Sorgfaltsaufwand hat, der die Gesamtwohlfahrt vermindert, hat Auswirkungen auf die Marginalbedingung. Letztlich wird das
Ziel, die Summe von Schadensvermeidungskosten und Schadenskosten zu minimieren, genau dann erreicht, wenn der
zusätzliche Schadensaufwand aller Beteiligten, den erwarteten Schaden gerade um eine Einheit reduziert. Im Beispielsfall ist das schädigende Ereignis die Zerstörung des Motors.
Dieser Schaden hätte verhindert werden können, indem die
Gemeinde die Straße neu geteert hätte, aber auch indem der
A angesichts des schlechten Zustandes einen anderen, möglicherweise auch längeren Weg genommen hätte. Sowohl die
Gemeinde als auch der Geschädigte hätten also Einfluss
nehmen können.
Insofern sind also mögliche Sorgfaltsmaßnahmen des
Schädigers und des Geschädigten zu berücksichtigen. Die
Sorgfalt des potenziellen Schädigers ist dann optimal, wenn
der Schädiger einen wirtschaftlichen Anreiz hat, Schäden zu
vermeiden, deren Kosten höher sind als die Kosten möglicher
Sorgfaltsmaßnahmen, durch deren Einsatz sie verhindert
worden wären.23 Jede Abweichung von diesem Ideal vermindert die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt: Liegen die Sorgfaltsmaßnahmen des potenziellen Schädigers unter dem Idealstandard, treten Schäden ein, die mit geringeren Kosten
hätten verhindert werden können; intensiviert der Schädiger
die Sorgfaltsmaßnahmen über das Idealmaß hinaus, werden
Ressourcen verschwendet, denn ihr Einsatz kostet in diesem
Fall mehr als er nutzt. Entsprechend dieser Gegenüberstellung von Sorgfaltskosten und Wahrscheinlichkeit und Höhe
des potenziellen Schadenseintritts wird der Sorgfaltsmaßstab,
an den sich der Schädiger zu halten hat, bestimmt. Der
amerikanische Richter Learned Hand führte schon 1947 aus:
„Possibly it serves to bring this notion into relief the state in
algebraic terms: if the probability be called P; the injury, L;
and the burden, B; liability depends upon whether B is less
than L multiplied by P: i.e., whether B < PL.”24 Im Ausgangsfall sind hier also die hypothetischen Kosten der Gemeinde zu berücksichtigen, die die Zerstörung des Motors
22
Brown, Journal of Legal Studies, 1973, S. 323.
Wagner (Fn. 19), Vorb. § 823 Rn. 45 ff.
24
United States v Caroll Towing Co. 159 F. 2 d 169 (2 d Cir.
1947) – tatsächlich hätte Hand allerdings die Marginalbedingungen und nicht die absoluten Kosten vergleichen müssen.
23
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12
Schadenersatz im Deliktsrecht aus Rechtsökonomischer Perspektive
verhindert hätten. Eine Verschwendung von Ressourcen läge
beispielsweise dann vor, wenn von einer Gemeinde erwartet
würde, jeden Tag alle Straßen in ihrem Gemeindegebiet zu
kontrollieren und entsprechend viele Arbeitnehmer angestellt
und Maschinen angeschafft werden müssten.
Hinzu treten in einem bilateralen Fall typischerweise
mögliche Sorgfaltsmaßnahmen des Geschädigten. Auch diese
Kosten müssen, um die Gesamtwohlfahrt zu steigern, minimiert werden. Allerdings wird ein potenziell Geschädigter
ohne Anreize kaum seine Ressourcen für Sorgfaltsmaßnahmen einsetzen. Ein solcher Anreiz kann und sollte aber insbesondere bei der Gefährdungshaftung durch die Verankerung
einer Mitverschuldensklausel geschaffen werden. Hier sind
solche Maßnahmen zu berücksichtigen, die der A hätte vornehmen können, um den Schaden zu verhindern und die
damit verbundenen Kosten. Neben der Möglichkeit, sein
Auto höher legen zu lassen, wäre auch schlicht in Betracht
gekommen, einfach eine andere Straße zu nehmen, die in
einem besseren Zustand ist. Dabei wären nur, wenn überhaupt, geringe Kosten durch Benzinverbrauch, Abnutzung
und ggf. Zeitverlust eingetreten. Es wäre auch keine Nachforschung notwendig gewesen, schließlich deutete der Sperrpfosten durchaus offensichtlich auf eine eingeschränkte Befahrbarkeit hin. Sich auf ein Navigationsgerät zu verlassen,
kann an dieser Stelle auch nicht überzeugen. Dessen Nutzung
kann nicht dazu führen, dass ein Autofahrer seine Umgebung
nicht mehr beobachten und einschätzen muss. In diesem
Zusammenhang spricht also schon vieles gegen eine Pflichtverletzung auf Seite der Gemeinde.
Es kommen typischerweise zwei verschiedene Haftungsmodelle in Frage, nämlich Verschuldens- und Gefährdungshaftung. Setzt man voraus, dass der potenzielle Schädiger
selbst die notwendigen Kosten/Nutzen-Abwägungen vornimmt, kommt man zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass es
irrelevant ist, ob eine Verschuldens- und Gefährdungshaftung
besteht.25 Wird vom Schädiger ein bestimmter Sorgfaltsmaßstab erwartet, wird er versuchen, diesen einzuhalten, denn
dann hat er nicht für etwaige Schäden zu haften. Der Umfang
der Sorgfaltspflicht ergibt sich aus einer Kosten/NutzenAbwägung, insbesondere der Kosten potenzieller Sorgfaltsmaßnahmen, der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts
und des Umfangs eines dann entstehenden Schadens. Auch
bei der Gefährdungshaftung wird der Schädiger nur so lange
Maßnahmen treffen, wie sie geringer sind als der zu erwartende Schaden. In beiden Fällen muss durch die Gerichte eine
Kontrolle des Verhaltens des Schädigers (bei Verschuldenshaftung) und zusätzlich des Opfers (Gefährdungshaftung)
durchgeführt werden, um die Einhaltung des effizientesten
Maßstabes zu gewährleisten. Das deutsche Deliktsrecht sieht
im Zusammenhang des § 823 BGB eine Verschuldenshaftung
kombiniert mit der Mitverschuldensklausel des § 254 BGB
vor.
ZIVILRECHT
b) Das Ziel des optimalen Aktivitätsniveaus
Zu berücksichtigen ist neben dem Sorgfaltsmaßstab auch das
Aktivitätsniveau. Selbst wenn beispielsweise ein LKWFahrer immer die bestmögliche Sorgfalt anwendet, steigt mit
jedem gefahrenen Kilometer die Wahrscheinlichkeit eines
Unfalls an. Bei allen Wohlfahrtsüberlegungen muss daher
auch das optimale Aktivitätsniveau berücksichtigt werden.
Da auch das Aktivitätsniveau dem Kaldor-HicksKriterium genügen soll, ist das optimale Aktivitätsniveau
dann erreicht, wenn die Tätigkeit möglichst viel Nutzen im
Verhältnis zu ihren potenziellen Kosten bringt. Das heißt, das
Aktivitätsniveau einer schädigenden Aktivität soll – optimale
Sorgfalt unterstellt – nur so lange ausgedehnt werden, wie der
dadurch verursachte zusätzliche Nutzen gerade gleich dem
zusätzlich zu erwartenden Schaden ist (Marginalbedingung
für das optimale Aktivitätsniveau).26
Zu berücksichtigen sind bei dieser Überlegung und vor allem bei ihren Auswirkungen hinsichtlich der Gestaltung der
Rechtsordnung zwei Punkte: Erstens kann nicht in jedem Fall
das Aktivitätsniveau in seinem Umfang beeinflusst werden
und zweitens gibt es wiederum Fälle, in denen sowohl der
Schädiger als auch der Geschädigte Einfluss auf das Aktivitätsniveau haben.
An dieser Stelle stößt man allerdings im Ausgangsfall auf
ein Problem: Die schädigende Aktivität müsste nach dem
Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit das Unterlassen der Gemeinde sein, die Straße in einem befahrbaren Zustand zu
erhalten. Bei Unterlassen kann man aber schon rein logisch
kein Aktivitätsniveau einhalten. Bezieht man sich auf das
eigentlich notwendige Sorgfaltsniveau, nähert man sich zu
stark dem verlangten Sorgfaltsniveau an, sodass eine Unterscheidung zwischen Sorgfalts- und Aktivitätsniveau nicht
sinnvoll wäre. Alternativ wäre es möglich, das Autofahren
des A als schädigende Handlung einzuordnen. Dies führte
dann aber dazu, dass folgerichtig lediglich ein Mitverschulden der Gemeinde zu prüfen wäre. Hier überzeugt der Maßstab des optimalen Aktivitätsniveaus nicht.
c) Das Ziel der Gewährleistung des positiven Nettonutzens
Neben der Gewährleistung des optimalen Sorgfalts- und
Aktivitätsniveaus soll das Schadensrecht auch so gestaltet
sein, dass in jedem Fall ein positiver Nettonutzen verbleibt.27
Dies ist dann der Fall, wenn der Nutzen der gefährlichen
Aktivität abzüglich der vom Schädiger (und ggf. vom Geschädigten) aufgewandten Sorgfaltsmaßnahmen und des noch
entstehenden erwarteten Schadens größer als Null bleibt. Ist
dies nicht der Fall, kann die Aktivität nicht effizient sein,
denn sie kostet in jedem Fall mehr als sie nutzt und verringert
damit die Wohlfahrt.
Im Ausgangsfall ist davon auszugehen, dass grundsätzlich
die Fortbewegung mit einem Auto erhebliche Vorteile mit
sich bringt und entsprechend auch ein positiver Nettonutzen,
25
Adams, Ökonomische Analyse der Gefährdungs- und Verschuldenshaftung, 1985, S. 77; Cooter/Ulen (Fn. 19),
S. 211 f.; Shavell, The Journal of Legal Studies 1980, 2
(6 ff.).
26
Schäfer/Ott (Fn. 20), S. 156 ff.
Finsinger/Randow, in: Ökonomische Probleme des Zivilrechts, 1991, S. 87.
27
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13
AUFSÄTZE
Lea Larissa Faltmann
auch gemessen an der Wahrscheinlichkeit eines Schadens
und des Umfangs desselben, verbleibt.
2. Sekundäre Kosten – Effiziente Risikoverteilung und Versicherungsschutz
Versicherungen dienen der Streuung von Schäden, denn jeder
Versicherungsnehmer trägt nur einen kleinen Betrag, die
Versicherungsprämie, der demjenigen ausgezahlt wird, bei
dem ein Schaden tatsächlich entsteht.
Auch Versicherungslösungen können zur Steigerung der
gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrt beitragen, sofern sie effizient sind. Versicherungen sind aber nur effizient, wenn die
Marktteilnehmer bereit sind, bei voller Kenntnis aller Risiken
zur Versicherung eines nur wahrscheinlichen, nicht aber
sicheren in der Zukunft eintretenden Schadens, Versicherungsprämien zu bezahlen, die den später eintretenden Schaden mindestens decken können (inkl. der Verwaltungskosten
der Versicherung).28 Wenn die Schäden nicht gedeckt werden
können, laufen Versicherungen ins Leere und erhöhen letztlich die Kosten, was zu einer Verringerung der Wohlfahrt
führt. Zudem kann eine Versicherung nur dann effizient sein,
wenn, neben der Deckung des zu erwartenden Schadens,
auch die Prämie, die ja eine Bindung des Einkommens des
Versicherungsnehmers bedeutet und ihm die Summe daher
nicht mehr zur Verfügung steht, für ihn mehr Nutzen bedeutet, als wenn er selbst die durch erwartete Schäden einstehenden Einbußen selbst zu tragen hat. Liegen diese beiden Voraussetzungen nicht vor, wird auch die Versicherung nicht
über den Markt zustande kommen. Dies muss, um das Ziel
der Wohlfahrtssteigerung zu erreichen, sowohl bei freiwilligen Versicherungen als auch bei verpflichtenden Versicherungen gewährleistet sein.29 Teilweise wird allerdings von
einer Problemlösung über den Markt, also mittels einer Verschuldens- oder Gefährdungshaftung auch ganz abgewichen
und stattdessen mit einer verwaltungsrechtlichen Lösung
substituiert. Dies ist insbesondere bei der Sozialversicherung
der Fall, wird hier aber nicht weiter ausgeführt.30
Vorliegend werden die versicherungsbezogenen Fragen
mangels ausreichender Informationen nicht beleuchtet.
3. Tertiäre Kosten
Bei jedem Ausgleichsvorgang, bei dem der Geschädigte
einen Ausgleichsanspruch gegen den Schädiger erhält, entstehen Kosten z.B. zum Zwecke der Rechtsdurchsetzung und
aufgrund anderer, administrativer Begleiterscheinungen.
28
M.w.N. Arrow, American Economic Revue 1963, 941;
Becker/Ehrlich, Journal of Political Economy 1972, 623.
29
Siehe u.a. gesetzlicher Versicherungszwang für Kernkraftwerksbetreiber (§ 19 UmwelthaftungsG), Rechtsanwälte
(§ 51 BRAO), Wirtschaftsprüfer (§ 54 WirtschaftsprüferO).
30
Es handelt sich vor allem um eine Reaktion auf den im
Rahmen der Sozialen Frage entscheidenden, in den 1880er
Jahren aber noch nicht zur Verfügung stehenden funktionierenden Haftpflichtversicherungsmarkt, der den Arbeitgebern
die Versicherbarkeit möglicher Betriebsunfälle etc. erlaubt
hätte.
Diese Ressourcen gehen dann im Ergebnis für alternative
Zwecke verloren, die sozial günstiger gewesen wären. Solche
Kosten begründen, dass es für eine Schadensverlagerung vom
Geschädigten auf dem Schädiger, also eine Abweichung vom
Grundsatz, dass der Geschädigte seinen Schaden selbst zu
tragen hat, eines „besonderen Grundes“ bedarf. Völlig eliminieren könnte man diese Kosten nur, indem jeder Geschädigte den ihm entstandenen Schaden selbst tragen muss.
4. Schadenszurechnung
Haftungsregeln bestimmen, wann ein Schädiger für von ihm
verursachte Schäden haften muss. Daher bedarf es in jedem
Fall der genauen Ausgestaltung des Schutzbereiches, sowie
der Feststellung der haftungsbegründenden Kausalität. Im
Fall der Verschuldenshaftung tritt noch das Erfordernis einer
Pflichtverletzung hinzu, während die Gefährdungshaftung an
die Realisierung eines dem Schädiger zugewiesenen Risikos
anknüpft. Zusätzlich ist noch die schadensausfüllende Kausalität zu beachten. Die Ausgestaltung der Zurechenbarkeitskriterien bzw. ihre Anwendung im Einzelfall sollte ebenfalls
dem Effizienzkriterium entsprechen.
Hier ist also hinsichtlich des Ausgangsfalls die Frage, wer
den entstandenen Schaden zu tragen hat. Das kann entweder
das Land NRW sein oder der A. Die Rechtsordnung hat
grundsätzlich die Pflicht zur Instandhaltung der Straßen dem
Land NRW zugewiesen. Es kann allerdings, unter Berücksichtigung der vorhergehenden Ausführungen, nicht effizient
sein, alle irgendwie zugänglichen Straßen und Wege in NRW
täglich zu überprüfen und unmittelbar kleinere Unebenheiten
im Asphalt zu beseitigen. Damit würden extrem hohe Kosten
einhergehen und es bestünde dennoch weiterhin die Möglichkeit, dass ein Schaden durch noch nicht entdeckte Beschädigungen der Straßendecke entstünde. Zwar ist die beschädigte
Straße ein Grund für den Schaden und damit kausal nach der
conditio sine qua non Formel, aber der A scheint sich nach
den Gesamtumständen in einer deutlich besseren Position
befunden zu haben, den Schaden durch die Wahl einer anderen Route zu verhindern. Insofern ist der Schaden der Gemeinde nicht zurechenbar, sofern man nicht schon eine Haftung in Ermangelung einer Pflichtverletzung ablehnt.
5. Zusammenfassung der Erkenntnisse
Im Ergebnis soll eine effiziente Ausgestaltung der Haftungsregeln eine Verringerung der primären, sekundären und tertiären Kosten erreichen. Dabei dürfen die Kostenfaktoren nicht
einzeln betrachtet werden, sondern ihr Zusammenhang muss
berücksichtigt werden. So müsste bei einem idealen Niveau
der tertiären Kosten, der Geschädigte ineffizient hohe Summen für Sorgfaltsmaßnahmen aufwenden, was auch zu einem
nicht effizienten Gesamtergebnis führte. Sekundäre Kosten
könnten durch eine allgemeine Volksversicherung ausgeschlossen werden; dies führte aber zu einem Wegfall von
Sorgfaltsanreizen und kann schon deshalb nicht effizient sein.
Zuletzt könnte die Reduktion primärer Schäden durch den
Ersatz aller Schäden, unabhängig von Zurechnungsfragen
erreicht werden. Folge wäre eine ausufernde und völlig ungleiche potenzielle Haftbarkeit, was auch dazu führte, dass
Private gar nicht mehr für die von ihnen im weitesten Sinne
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14
Schadenersatz im Deliktsrecht aus Rechtsökonomischer Perspektive
verursachten Schäden aufkommen könnten und die Versicherbarkeit mit sehr hohen Kosten verbunden wäre. Daher
muss gewährleistet sein, dass Sorgfaltsniveaus der Beteiligten, Aktivitätsniveau, der positive Nettonutzen, Zurechenbarkeitskriterien, Risikostreuungsmechanismen und administrative Kosten bei der Normgestaltung und im konkreten Fall
Berücksichtigung finden.
Ergebnis wäre in Anwendung dieser Grundsätze auf den
Ausgangsfall, dass die Gemeinde X, wie erläutert, nicht für
den Schaden des A haften muss.
IV. Kritik
Zwar wird kaum ein Absolutheitsanspruch der rechtsökonomischen Erkenntnisse geltend gemacht, aber dennoch wurde
und wird der Ansatz der ökonomischen Analyse stark kritisiert. Im Folgenden werden insbesondere die Präventivfunktion im Zivilrecht, Informationsprobleme, beschränkte Rationalität der Marktteilnehmer und am Rande verfassungsmäßige Einwände dargestellt und ausgewertet.
1. Präventivfunktion des Schadenersatzes
Die Rechtsökonomik geht davon aus, dass das Schadensrecht
vor allem der Prävention schädigenden Verhaltens dienen
soll. Es ist daher zu fragen, ob dieser Präventionsgedanke so
vom BGB auch vorgesehen ist und, falls nicht, ob dem Schadensrecht nicht eine Präventionsfunktion zukommen sollte.
a) Zugrundeliegende Präventionsfunktion der §§ 249 ff. BGB
Richtigerweise macht das BGB zum Zweck der Ziele, die mit
der Gewährung von Schadenersatzansprüchen verfolgt werden, keine ausdrücklichen Aussagen. Allerdings lässt sich an
einigen Stellen, wie schon in § 249 Abs. 1 BGB, erkennen,
dass der Schadenersatz grundsätzlich so weit reichen soll,
dass der Zustand hergestellt wird, der ohne das schädigende
Ereignis bestanden hätte (Restitution). Das Gesetz geht also
zumindest von einer Ausgleichsfunktion des Schadenersatzes
aus. Das Schadensrecht knüpft dort an, wo bereits ein Schaden entstanden ist, d.h. es zu einem entsprechenden Nutzenverlust gekommen ist. Da der Schaden nicht mehr rückgängig
gemacht werden kann, kommt allenfalls eine Verlagerung des
Schadens in Betracht. Der Nutzenverlust wird auf den Schadenersatzpflichtigen verlagert, sodass es nur zu einer Umverteilung von Schäden bzw. des Nutzenverlustes kommt.
Dass das Gesetz selbst positiv den Umfang des Schadenersatzes am Ausgleich des erlittenen Schadens bemisst, lässt
keine absoluten Aussagen über die Funktion des Schadenersatzes zu. Vor allem im Zusammenhang mit dem Deliktsrecht
bedarf es der Berücksichtigung weiterer Funktionen, denn die
entscheidende Frage ist, ob überhaupt ein entstandener Schaden ersetzt werden soll. Dies erfolgt durch die Bestimmung
der Voraussetzungen, unter denen Schadenersatz zu leisten
ist31. Daher sind auch die Abgrenzung von Handlungsspielräumen und Freiheitsbereichen, die Steuerung des Regresses
kollektiver Schadensträger und distributive Überlegungen zu
31
Kötz/Wagner, Deliktsrecht, 12. Aufl. 2013, S. 29.
ZIVILRECHT
berücksichtigen. Ob auch der Präventionsgedanke in diese
Aufzählung aufzunehmen ist, ist umstritten.
Einige Stimmen verweisen darauf, dass der Präventionsgedanke vielmehr dem Straf- als dem Zivilrecht zuzuordnen
sei und deshalb die Rechtsökonomik mit ihrer starken Ausrichtung an einer lenkenden Funktion von Normen nicht mit
den Grundsatzentscheidungen des BGB vereinbar sei. Andere
gestehen dem Präventionsgedanken zu, zumindest ein „erwünschtes Nebenprodukt“32 des Schadensrechts zu sein, nicht
aber eine seiner Hauptfunktionen.
Einigkeit besteht wohl dahingehend, dass Unfälle grundsätzlich von der Rechtsordnung unerwünscht sind. Allein das
deutet schon darauf hin, dass mit der Ausgestaltung von Haftungsregeln auch diesem Gedanken Rechnung getragen wird.
Sofern man aber trotzdem mit der Ansicht sympathisiert, der
Präventionsgedanke sei dem Strafrecht, nicht aber dem Zivilrecht zuzuordnen, muss man sich wohl vor allem eines fragen: Wieso wurde das Haftungsrecht (hinsichtlich Unfällen)
nicht längst durch ein Versicherungssystem ersetzt? Kommt
es nur auf eine Schadensverlagerung an, verursacht der Ausgleich durch den Schädiger vor allem Umverteilungskosten,
insbesondere auch aufgrund notwendiger Rechtsdurchsetzung
und der Anwendung komplexer Regeln, die unproblematisch
durch den Abschluss von Eigenversicherungen umgangen
werden könnten. Vor diesem Hintergrund hätte seit Einführung des BGB das Versicherungsrecht erstarken und das
Haftungsrecht zurückgedrängt werden müssen, was aber
bisher nicht zu erkennen ist. Dies ist nur zu erklären, wenn
man die Ausgleichsfunktion nicht zu einseitig betont. Daher
kann schon das BGB nicht nur die Ausgleichsfunktion bezwecken.
Zudem erklärt auch die Rechtsprechung vor allem im Zusammenhang mit dem Schutz des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts bereits jetzt verstärkt die Höhe des Schadenersatzes mit der Präventivfunktion, die damit einhergehe, weil
andere wirksame Sanktionen fehlten und geringere Summen
für große Verlagshäuser mit hohen Auflagen zu einem Inkaufnehmen der Prozesse führten.33
b) Einbeziehung des Präventionsgedankens in das Schadensrecht
Unabhängig davon, ob man die zentrale Rolle der Präventivfunktion bereits im Schadensrecht verankert sieht oder nicht,
geht es nach dem rechtsökonomischen Verständnis gerade
um die effiziente Ausgestaltung von Rechtsnormen, d.h. die
Beurteilung, wie eine wünschenswerte Entwicklung auszusehen hat, und nicht den Nachweis, dass sich die Rechtsordnung bereits an ihren Grundsätzen orientiert. Es stellt sich
daher die Frage, ob es nicht jedenfalls geboten ist, die Präventivfunktion stärker zu betonen.
32
Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. 1, 14. Aufl. 1987,
§ 27 I.
33
BGHZ 26, 349 (Herrenreiter); BGHZ 35, 363 (Ginseng);
BGH NJW 1995, 861; BGH NJW 1996, 984; BGH NJW
2005, 215; Hans. OLG Hamburg NJW 1996, 2870; OLG
Hamburg OLGR 2001, 139 (Caroline von Monaco).
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AUFSÄTZE
Lea Larissa Faltmann
Das ist insbesondere dann der Fall, wenn der Grundgedanke der Prävention, dass die Marktteilnehmer auf wirtschaftliche Anreize reagieren, belegt werden kann. Es erscheint wenig einleuchtend, wenn der Gesetzgeber, obwohl
Schadenseintritt und -umfang vermindert werden könnten,
sich dennoch aus dogmatischen Gesichtspunkten gegen eine
solche Möglichkeit der Wohlfahrtssteigerung entscheiden
würde. Dogmatische Überlegungen können einer real bestehenden Möglichkeit der Schadenseindämmung vernünftigerweise nicht vorgehen.
Dass die Rechtssubjekte auf vom Gesetz vorgegebene
Anreize reagieren, setzt die Rechtsordnung selbst voraus.
Viele, gerade als lenkend vorgesehene Maßnahmen z.B.
Subventionen, wären sinnlos, wenn der Gesetzgeber davon
ausginge, dass die Bevölkerung aufgrund solcher Anreize
nicht ihr Verhalten entsprechend anpasste. Insofern spricht
also schon das grundsätzliche Verständnis der Rechtsordnung
selbst von den Rechtssubjekten nicht gegen eine Präventivfunktion des Schadensrechts, die ja vor allem darin besteht,
dass das Individuum selbst Kosten und Nutzen abwägt und
der Abwägung entsprechend handelt.
Zudem zeigen Studien, die sich mit den Auswirkungen
der Änderung von Haftungsregimes beschäftigt haben, dass
Marktteilnehmer sehr wohl auf normative Anpassungen reagieren. So wurde gezeigt, dass die Einführung von hohen
Beitragszuschlägen und Rückerstattungen durch die Berufsgenossenschaft in der Zuckerindustrie zu einem Rückgang
der Unfälle von einem Drittel führte.34 Der Übergang von
Verschuldenshaftung zu einem no fault System, also einem
reinen Versicherungssystem für Autounfälle, führte in
Quebec zu einer erheblichen Zunahme von tödlichen Unfällen.35 Dies zeigt sehr deutlich, wie Änderungen des Haftungsregimes tatsächlich das Verhalten der Marktteilnehmer beeinflussen: Der Wegfall von Anreizen zur Vornahme von Vorsichtsmaßnahmen wurde durch die Einführung des verschuldensunabhängigen Versicherungssystems erzeugt, was zu
einer stärkeren Belastung der Allgemeinheit, also Wohlfahrtseinbußen führte.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht überzeugend, sich aus
dogmatischen Gründen gegen den Präventionsgedanken zu
stellen. Sofern man diesen nicht schon dem BGB inhärent
entnehmen kann, wäre es zumindest geboten, sich die bestehende lenkende Funktion von Rechtsnormen im Schadensrecht zu Nutzen zu machen. Insbesondere gilt dies in Fällen,
in denen Schutzlücken der §§ 249 ff. BGB bestehen, weil
bestimmte Schäden nicht erfasst sind, wodurch die Aus34
Vgl. Kötz/Schäfer, International Review of Law and Economics 1993, 19 (31).
35
Nach dieser Untersuchung führte der Übergang zum „no
fault system“ in Quebec zur Erhöhung tödlicher Unfälle um
9,62 %. Das entspricht jährlich 149 Toten. Die jährliche Zahl
der Verletzten nahm um 4.292 und die Zahl der Unfälle mit
Sachschaden um 7.456 als Folge der reinen Versicherungslösung zu, Devlin, International Review of Law and Economics
1990, 193 (201); umfassend McEwin, No-fault compensation
systems, abrufbar unter:
http://encyclo.findlaw.com/3600book.pdf (23.1.2017).
gleichsfunktion leerläuft. Hier sollte ein stärkerer Fokus auf
die Präventionsfunktion gelegt werden. Ein Beispiel dafür
sind Verletzungen des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts, so
man allein mit der Ausgleichsfunktion dem Schaden keine
Rechnung tragen kann.36
2. Informationsprobleme
Vor allem bei der Verschuldenshaftung müssen die Richter,
um die Einhaltung des vorgesehenen Verschuldensmaßstabes
zu überprüfen, in der Lage sein, die Höhe der Kosten der
notwendigen Sorgfaltsmaßnahmen sowie die Wahrscheinlichkeit und den genauen Umfang des eingetretenen Schadens
zu bestimmen. Das setzt die Kenntnis der Gerichte voraus.
Deshalb wird kritisiert, die benötigten „harten Zahlen“ seien
von den Gerichten nicht bestimmbar.
Zwar gibt es solche Informationsprobleme unstrittigerweise. Allerdings bestehen Probleme der Schadensberechnung auch unabhängig von der rechtsökonomischen Analyse,
insbesondere im Bereich immaterieller Schäden oder bei
Schattenpreisen, wenn entstandene Schäden nicht geltend
gemacht und dann auch nicht berücksichtigt werden. Zudem
kommt es, wie schon Learned Hand festgestellt hat, gar nicht
auf quantitative Exaktheit an, sondern vielmehr darauf, ob im
konkreten Fall das schadensträchtige Verhalten das erforderliche Sorgfaltsniveau unter- oder überschritten hat, also auf
ein qualitatives Urteil. Das heißt, in der Praxis wird zunächst
bestimmt, welche Sorgfaltsmaßnahmen den eingetretenen
Schaden hätte verhindern und anschließend überprüft, ob
diese dem Schädiger unter Kosten/Nutzen-Gesichtspunkten
zumutbar gewesen wären. Insofern unterscheidet sich auch
die gängige Rechtspraxis mit ihren Interessenabwägungen
gar nicht vom vorgeschlagenen Modell der Rechtsökonomik,
sondern ist in ihrem Kern faktisch eine reichtumsmaximierende Effizienzethik.37
3. Beschränkte Rationalität
Grundvoraussetzung der Rechtsökonomik ist die Annahme
eines homo oeconomicus, als einem rationalen und egoistischen Nutzenmaximierer.
Diese Modellannahme wird stark kritisiert, stimmt sie
doch offensichtlich nicht umfassend mit der Realität überein.
Allerdings ist es inhärent in einer Modellannahme, dass sie
nicht die Realität in ihren Einzelheiten spiegelt. Viele Individuen werden auch nicht bewusst innehalten und eine Kosten/Nutzen-Rechnung durchführen, aber wissen intuitiv, wie
sie sich zu verhalten haben.38 Die Kritik, dass nicht jedem
Marktteilnehmer alle für ihn relevanten Information zur Verfügung stehen, ist zwar berechtigt, aber für ein Modell muss
36
Wagner, AcP 206 (2006), 352.
Ott, Allokationseffizienz in der Rechtsordnung, 1989,
S. 25 ff.; Kübler, in: Festschrift für Ernst Steindorff zum 70.
Geburtstag am 13. März 1990, 1990, S. 687.
38
„Rationality does not, however, imply that the agent is
conscious of the choices“, Schäfer/Ott, The Economic Analysis of Civil Law, 2005, S. 52.
37
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Schadenersatz im Deliktsrecht aus Rechtsökonomischer Perspektive
eine Annäherung an die Realität ausreichen, also dass sie im
„Großen und Ganzen“ stimmt.39
Allerdings haben zahlreiche Experimente Ungereimtheiten aufgezeigt. Beispielsweise wurden sogenannte Heuristiken festgestellt, wonach das Subjekt sich unter Zeitdruck an
ihm leicht zugänglichen Informationen und stark vereinfachten Entscheidungsregeln orientiert, was dazu führen kann,
dass ein Individuum sich irrt. Insbesondere relevant für das
Deliktsrecht ist der systematische Überoptimismus des Einzelnen, d.h. Individuen überschätzen ihre eigenen Fähigkeiten
und ihr Gefahrensteuerungspotenzial, während sie den Eintritt relativ unwahrscheinlicher Szenarien unterschätzen.
Nachteile werden immer im Zusammenhang des status quo
bewertet (framing). Diese Probleme legen nahe, dass es die
rechtsökonomischen Überlegungen zwar nicht systemfremd
sind, aber ihre grundsätzliche Voraussetzung, das Verständnis der rationalen Marktteilnehmer, nicht mit der Realität
übereinstimmt, und das sogar außerhalb des Informationsdefizits des Einzelnen.40
Allerdings sollten diese Überlegungen nicht zu einer Ablehnung der rechtsökonomischen Sichtweise führen. Eine
Rechtsordnung muss zwangsläufig davon ausgehen, dass sich
Individuen rational verhalten.41 Wäre dies nicht der Fall und
würden sich Individuen systematisch irrational verhalten,
wäre schon der Versuch, überhaupt Verhalten mit Rechtsnormen zu beeinflussen, verfehlt. Nur weil eine Modellannahme nicht ideal erfüllt ist, bedeutet dies nicht, dass sie
nicht dennoch gegenüber anderen Ansichten die vorzugswürdige ist, weil sie trotz gewisser Einschränkungen letztlich zu
besseren Ergebnissen führt. Deshalb sollte langfristig versucht werden, die Ungereimtheiten in das Modell einzuflechten, aber es auf dem derzeitigen Stand dennoch zu übernehmen und den Effizienzgedanken bei der Rechtsnormgestaltung und der gerichtlichen Beurteilung im Einzelfall aufzunehmen.
4. Verfassungsrechtliche Einwände
Teilweise wird kritisiert, dass der homo oeconomicus mit
seinem rein rationalen und nach Kosten-Nutzen-Rechnungen
ausgerichteten Verhalten „nicht der Mensch eines verfassungsgestalteten Privatrechts in einer Gesellschaft der Grundrechtsdemokratie“42 sei. Dies spielt darauf an, dass eine
Sanktion lediglich als Erhöhung der Kosten einer Handlungsalternative erkannt wird, es aber sein kann, dass ein verbotenes Verhalten sich als die günstigste Alternative erweist und
sich als mit den größeren Vorteilen verbunden herausstellt als
ein Festhalten an der Rechtsordnung. Eine solche Analyse
mit einer Missachtung der Rechtsordnung als effizienteste
39
Vgl. Tietzel, in: Jahrbuch für Sozialwissenschaft, Bd. 32,
1989, S. 115.
40
Im Einzelnen Faure, Behavioural Accident Law and Economics, 2009, abrufbar unter:
https://www.researchgate.net/publication/43439118_Behavio
ural_Accident_Law_and_Economics (23.1.2017).
41
So beispielsweise im Fall von Subventionen, im Steuerrecht oder im Strafrecht.
42
Fezer, JZ 1986, 817 (822).
ZIVILRECHT
Lösung, könne nicht in Einklang mit dem Grundgesetz gebracht werden.
Bei dieser Kritik wird allerdings übersehen, dass sich der
Modellmensch keineswegs so verhalten soll, dass er gegen
die geltenden Normen verstößt. Es handelt sich bei der Analyse um eine reine positive Bestimmung des tatsächlichen
Verhaltens der Menschen, nicht jedoch des „Sollens“. Ein
solches Verständnis beruht insbesondere auch auf der Vorstellung, dass die ökonomische Analyse des Rechts immaterielle Güter nicht ernst genug nähme. Tatsächlich ist das
Gegenteil der Fall: Es müssen nämlich auch immaterielle
Güter in eine umfassende Kosten/Nutzen-Überlegung eingeschlossen werden. Dies führt, abgesehen vom Problem der
Bemessung, die in jedem Fall bestünden, dazu, dass immaterielle Güter viel stärker berücksichtigt werden und es beispielsweise auch zu höheren Schmerzensgeldbeträgen
kommt. Daher kommt es, entgegen der Behauptung der Kritiker, eher zu einer Stärkung dieser Rechtsgüter, nicht zu
deren Vernachlässigung.
Zudem sind auch im ökonomischen Verständnis Abwägungsverbote akzeptiert. Dies betrifft vor allem Freiheitsrechte, unter denen auch unveräußerliche Rechte sind. Sie sind
nicht mit den Grundrechten des GG identisch, aber greifen
die darin garantierten Rechte auf. Es erfolgt eine Abstufung
zwischen Rechten, in die eingegriffen werden kann, ohne
andere zu schädigen, bis hin zu solchen wie der Menschenwürde, die unveräußerlich sind und auf die entsprechend auch
das Kaldor-Hicks-Kriterium nicht anwendbar ist.43 Insofern
kann die plakative Kritik der Unvereinbarkeit mit den Werten
des GG nicht überzeugen.
Ein durchaus valides Argument ist allerdings ein mit der
Rechtsökonomik grundsätzlich einhergehendes Gewaltenteilungsproblem. Letztlich ist die Idee am common law und viel
weiteren Befugnissen der Richter orientiert. Dieses Problem
ist aber im Deliktsrecht beispielsweise hinsichtlich des Sorgfaltsmaßstabes, nicht sehr relevant, da die Beurteilungen
sowieso stark einzelfallabhängigen erfolgen müssen und eher
fallbasiert erfolgen.
V. Ergebnis
Die ökonomische Analyse des Deliktsrechts fordert eine
Ausrichtung der Haftungsregeln sowie der Umverteilungskosten und administrativen Kosten am Kriterium der Effizienz. In den vergangenen Jahren hat sich immer mehr eine
Berücksichtigung ökonomischer Kriterien in den Entscheidungen sowie Gesetzesentwürfen gezeigt. Dennoch verdient
die Rechtsökonomik eine noch stärkere, auch methodische
Anerkennung, selbst wenn sie aufgrund gewisser Unsicherheiten des Modells durchaus kritisiert werden kann. Nicht
festhalten sollte man an der Ansicht, das Zivilrecht dürfe
keine Präventivfunktion verfolgen. Letztlich darf nicht eine
insgesamt vorteilhafte Überlegung an nicht nachweisbaren
dogmatischen Ansichten scheitern.
Im Ausgangsfall hat das LG Bonn eine Pflichtverletzung
des Landes NRW abgelehnt. Richtigerweise wurde ausge43
Vgl. Seidl, in: Effiziente Verhaltenssteuerung und Kooperation im Zivilrecht, 1997, S. 1.
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AUFSÄTZE
Lea Larissa Faltmann
führt: „Er [der Verkehrssicherungspflichtige] schuldet also
die Vorkehrungen, für die ein echtes Sicherungsbedürfnis
besteht und die im Rahmen der berechtigten Sicherheitserwartungen des in Betracht kommenden Verkehrs im Rahmen
des wirtschaftlich Zumutbaren geeignet sind, Gefahren von
Verkehrsteilnehmern abzuwehren.“ Bei der Frage, ob das
Land hätte die Fahrbahn kontrollieren und intakt halten müssen oder die Durchfahrt bereits in die Sphäre des achtlos
passierenden Autofahrers fällt, hat das Gericht richtigerweise
implizit genau nach den hier dargestellten ökonomischen
Überlegungen entschieden.
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Rechtsbehelfe von Umweltverbänden: Die Aufgabe des Individualrechtsschutzsystems in Deutschland?
Von stud. rer. oec./stud. iur. Marvin Pötsch, LL.B, Hamburg/Essen*
I. Einleitung
Die zunehmende Europäisierung1 des deutschen Verwaltungsrechts ist ein facettenreiches Phänomen, das bereits
mehrfach als unumstößlich geltende nationale Rechtsprinzipien aufgelöst hat.2 Das in dazu enger Konnexität stehende
Verwaltungsprozessrecht kann sich diesem Einfluss auch im
Rahmen der nachfolgenden Ausarbeitung nicht gänzlich
entziehen. Der deutsche Verwaltungsrechtsschutz wird maßgeblich durch die verfassungsrechtliche Verankerung des
Individualrechtsschutzes in Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG geprägt,
er wird als ihre „zentrale Funktion“3 gesehen. Die folgende
Ausarbeitung setzt das grundlegende Verständnis für das
Verhältnis von Individualrechtsschutz und überindividuellem
Rechtsschutz, wie auch dem Modell der Interessenten- und
Verletztenklage, voraus. Gemäß § 42 Abs. 2 Hs. 2 VwGO
erhält nur derjenige Zugang zu Gericht, der substantiiert
geltend machen kann, durch den Verwaltungsakt oder seine
Ablehnung oder Unterlassung in seinen Rechten verletzt
(worden) zu sein.4 Die Subjektivierung des Verwaltungsrechtsschutzes richtet sich hierbei, der h.M. folgend, nach den
engen Voraussetzungen der Schutznormlehre5, die zentraler
Ausfluss und Ausdruck der deutschen Systementscheidung
für den subjektiv-rechtlichen Individualrechtsschutz ist. Man
hat sich in Deutschland demzufolge für das Modell der Verletztenklage entschieden. Eben diese Lehre zielt (auch) darauf ab, Klagen zu blockieren, die quivis ex populo erheben
kann. Daneben eröffnet das Gesetz durch § 42 Abs. 2 Hs. 1
VwGO die originär verfahrensrechtliche Potenzialität, dem
Einzelnen unter nachdrücklichem Verzicht auf ein möglicherweise verletztes subjektives öffentliches Recht Zugang zum
Rechtsschutz zu verschaffen und dient insofern als verwaltungsprozessualer Anknüpfungspunkt für eine Verbandsklage. Von einigen gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben abgesehen, besteht aber keinerlei Verpflichtung, derartige Ausnahmen zuzulassen.6 Gerade im Bereich des Umweltrechts wurden die Grenzen des Rechtsschutzes offenbar, hier stoßen die
unterschiedlichen Konzepte von verwaltungsgerichtlichem
* Der Autor studiert Wirtschaftsrecht an der Hochschule
Hamburg und Betriebswirtschaftslehre an der FOM Hochschule für Ökonomie und Management in Essen. Der Beitrag
geht im Wesentlichen auf eine Arbeit zurück, die im Rahmen
eines Seminars von Herrn Prof. Dr. Marc Röckinghausen
(FHöV NRW) angefertigt wurde.
1
Vgl. Hölscheidt, EuR 2001, 376 (377).
2
Vgl. EuGH NVwZ 1990, 647; EuGH NVwZ 1998, 45;
EuGH NuR 1998, 190.
3
Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, 72. Aufl.
2014, Art. 19 IV Rn. 8; Schenke, in: Bonner Kommentar zum
Grundgesetz, 151. Aufl. 2012, Art. 19 IV Rn. 25.
4
Wahl, DVBl 1996, 641 (642).
5
BVerwG NJW 1996, 1297; BVerwG NJW 1994, 1604;
BVerwG NVwZ 1989, 1157.
6
BVerwG NuR 1996, 523 (525).
Rechtsschutz der Europäischen Union aufeinander. Viele
Umweltschutznormen, die keine subjektiv öffentlichen Rechte enthielten, blieben in ihrer Durchsetzung der zu diesem
Zwecke berufenen hoheitlichen Exekutiven überlassen.7 Dies
führte zu der Annahme eines Vollzugsdefizits.8 Eine Verbandsklage ist geeignet, eine solche Lücke zu schließen,
wenn und weil durch sie Umweltverbänden die Möglichkeit
eröffnet wird, losgelöst von eigenen Rechten oder den Rechten von Verbandsmitgliedern, Verwaltungsentscheidungen
anzugreifen, die unter Verstoß gegen objektives Umweltrecht
ergangen sind.9 Umweltverbände haben im Verlaufe der
letzten 2 Jahrzehnte erhebliche Ausweitungen ihrer Rechtsbehelfsmöglichkeiten erfahren. Man betrachte nur exemplarisch die (defizitäre) Rechtssituation 1988.10
II. Die Aarhus-Konvention
Maßgeblichen Anteil11 an dieser Entwicklung hat die AarhusKonvention12, deren Unterzeichner neben der Europäischen
Union selbst auch alle EU-Mitgliedsstaaten waren, es handelt
sich wegen der inhaltlichen Berührung der Kompetenzbereiche sowohl von europäischer Union, als auch von Mitgliedsstaaten um ein gemischtes Übereinkommen. In Art. 9 Abs. 2
und Abs. 3 statuiert diese Konvention maßgebliche Anforderungen an den Zugang der Öffentlichkeit, einschließlich von
Umweltverbänden, zu den Gerichten. Die europäische Union
und all ihre Mitglieder hatten diese Konvention unterzeichnet. Die Richtlinien der EU zur Umsetzung dieser Konvention haben insbesondere den EuGH viele innerstaatliche
Rechtsbestimmungen als ungenügend beurteilen lassen. Dies
begründete vermehrte Gesetzesänderungen, um eine Adaption des deutschen Rechts an unionale und völkerrechtliche
Vorgaben zu erreichen. Die folgende Ausarbeitung erfordert
eine konzise Differenzierung des Abs. 2 und des Abs. 3 des
Artikels 9 der AK. Diese ist jedoch nur begrenzt möglich:
Auch wenn beide Absätze verschiedene Gegenstände behandeln und sowohl Unions- als auch Nationalebene unterschiedlich an die Absätze angepasst sind, ist es unstrittig, dass in
gewissen Teilbereichen Kongruenz besteht. Es genügt dem
Zwecke der weiteren Ausarbeitungen die allgemeine Aussage, dass sich Art. 9 Abs. 2 der AK den Rechtsbehelfen gegen
Verwaltungsentscheidungen widmet, für die ein Verfahren
7
Wegener, ZUR 2011, 363 (364).
Gellermann, DVBl 2013, 1341 (1342); Maske, NWVBl
2013, 232 (236).
9
Murswiek, JuS 2011, 1147 (1148).
10
VG Hamburg NVwZ 1988, 1058 – die auch als „Seehundein-der-Nordsee“ – Entscheidung bezeichnet wird.
11
Vgl. Maske, NWVBl 2013, 232 (233).
12
Übereinkommen über den Zugang zu Informationen, die
Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und
den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten, unter
http://www.unece.org/fileadmin/DAM/env/pp/documents/cep
43g.pdf (9.1.2017) abrufbar; im Folgenden kurz: AK.
8
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AUFSÄTZE
Marvin Pötsch
mit Öffentlichkeitsbeteiligung vorgeschrieben ist, wohingegen Art. 9 Abs. 3 AK Rechtsbehelfe zum Gegenstand hat, die
die Verletzung von innerstaatlichen Umweltvorschriften geltend machen. Art. 9 Abs. 3 AK zielt demnach gerade darauf,
den Zugang zu einer Überprüfung der nicht von Art. 9 Abs. 2
AK erfassten Entscheidungen zu gewährleisten, sofern Bestimmungen des Umweltrechts verletzt werden (könnten).13
1. Art. 9 Abs. 2 der Aarhus-Konvention – seine Umsetzung
durch das Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz
Art. 9 Abs. 2 der AK gehört der 3. Säule der Konvention an,
die den Zugang zu Rechtsschutzregelungen zur effektiven
Durchsetzung regelt, reicht jedoch auch partiell in die 2.
Säule hinein, die das Recht der Öffentlichkeit auf Beteiligung
an behördlichen Verfahren bestimmt, es besteht insofern ein
sachlicher Bezug. Vornehmlich geht es hierbei um Projekte,
die der Pflicht einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterliegen. Auf unionsrechtlicher Ebene sind zwei Bereiche zu
Umsetzung zu differenzieren. Zum einen die Seite der
Rechtsbehelfe in den Mitgliedsstaaten, zum anderen die Seite
der Rechtsbehelfe gegen Tätigkeiten von Organen der Europäischen Union, die aufgrund der Eigenschaft der AK als
gemischtes Übereinkommen notwendig wurden. Zur Umsetzung der AK in den Mitgliedstaaten der EU wurde die sogenannte Öffentlichkeitsbeteiligungs-Richtlinie14 erlassen.
Hierauf begründet wurden dann Vorschriften über den Zugang zu Gerichten in die IVU-Richtlinie15 und die UVPRichtlinie16 implementiert, deren Wortlaut dem der AarhusKonvention sehr ähnelt. Rechtsbehelfe gegen Handlungen der
Organe auf unionsrechtlicher Ebene wurden in Art. 10 ff. der
Verordnung (EG) Nr. 1367/2006 integriert. 2006 wurde in
Deutschland das neben die Verwaltungsgerichtsordnung
(VwGO) tretende Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz verabschiedet, damit sollte das deutsche Rechtssystem an die unionalen
13
Vgl. Schröer/Kullick, NZBau 2013, 690 (691).
Richtlinie 2003/35/EG des Europäischen Parlaments und
des Rates vom 26.5.2003 über die Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Ausarbeitung bestimmter umweltbezogener
Pläne und Programme und zur Änderung der Richtlinien
85/337/EWG und 96/61/EG des Rates in Bezug auf die Öffentlichkeitsbeteiligung und den Zugang zu Gerichten (ABl.
EG 2003 Nr. L 156, S. 17).
15
Richtlinie 96/61/EG des Rates vom 24.9.1996 über die
integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung (ABl. EG 1996 Nr. L 257, S. 26); heute als Industrieemmissionsrichtlinie bezeichnet und abgefasst in
Richtlinie 2010/75/EU des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 24.11.2010 über Industrieemissionen (integrierte
Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung –
Neufassung) = ABl. EU 2012 Nr. L 26, S. 1.
16
Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27.6.1985 über die
Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen
und privaten Projekten (ABl. EWG 1985 Nr. L 175, S. 4048); jetzt in: Richtlinie 2011/92/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABl. EU 2012 Nr. L 26, S. 1).
14
Vorgaben aus der IVU17- und UVP-Richtlinie angepasst
werden. Zum einen wurde die Zahl der Verbände, deren
Klagemöglichkeiten erweitert werden sollten, erhöht. Zum
anderen war eine viel größere Zahl von Behördenentscheidungen gerichtlich überprüfbar. Der Schwerpunkt dieses
neuen Gesetzes galt der Herausbildung von Rechtsbehelfen
für Umweltverbände. Die mit ähnlicher Intention und Wirkungsweise bereits 2002 geschaffene Norm des § 64
BNatSchG betraf aber nur sehr eng abgegrenzte Fälle, die
enumerativ aufgeführt sind und war zur Adaption des deutschen Rechts an unionale Vorgaben in dem Gesamtbild seiner Erscheinung ungeeignet18. Das Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz ist in seiner originären Fassung aber ebenfalls in ganz
grundlegenden Teilen unvereinbar mit unions- und völkerrechtlichen Vorgaben gewesen. Die chronologischen Anpassungen und deren Anlässe werden im Folgenden strukturiert
dargestellt, dabei wird im Sinne eines Rechtsbehelfes in Zulässigkeit und Begründetheit segmentiert.
a) Die Zulässigkeit von Umwelt-Rechtsbehelfen
§ 2 Abs. 1 UmwRG, der die Grundlage für die Zulässigkeit
von einzulegenden Rechtsbehelfen eines Umweltverbandes
bildet, knüpft an diverse Prämissen an. Nach der ursprünglichen Fassung des § 2 Abs. 1 UmwRG konnten Verbände nur
Rechtsbehelfe gegen Verletzungen von „[Rechtsvorschriften,
die] Rechte Einzelner begründen“ einlegen. Diese mit der
Formulierung einhergehende Kategorisierung der Vereine in
die Rolle eines „Prozessstandschafters“ für Privatpersonen
wurde zunächst durch die Literatur scharf kritisiert.19 In einem gemäß Art. 267 AEUV vom OVG Münster dem EuGH
vorgelegten Streitfall kam es zur entscheidenden Wendung:
In seinem „Trianel-Urteil“20 sah der EuGH diese Formulierung21 als unionsrechtswidrig an.22 Diese Einengung in Form
einer „Schutznormakzessorietät“23 verstößt nach seiner Auffassung gegen Unionsrecht, das auf das allgemeine, vom
Individualrechtsgüterschutz gerade losgelöste Interesse am
Umweltschutz zielt (indem eben eine Forderung auf weiten
Gerichtszugang formuliert wird) und unter diesem Gesichtspunkt Umweltschutzvereinigungen unmittelbar24 eine rügefähige Rechtsposition vermittelt. Die deutsche Ausgestaltung
war demzufolge mit dem „effet utile“25 Grundsatz unvereinbar.26 Durch das Gesetz zur Änderung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes wurde das Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz am
17
Vgl. Wahl, NVwZ 2000, 502 (508) – der im Übrigen eine
systematische Erläuterung bietet.
18
Kment, NVwZ 2007, 274 (275).
19
Vgl. Ziekow, NVwZ 2007, 259 (260); Guckelberger, NuR
2008, 78; Kment, NVwZ 2007, 274 (277); Koch, NVwZ
2007, 380.
20
EuGH NJW 2011, 2779.
21
„[Rechtsvorschriften, die] Rechte Einzelner begründen“.
22
Meitz, NuR 2011, 420; Bunge, NuR 2011, 420.
23
Lau, NVwZ 2014, 637 (638).
24
Maske, NWVBl 2013, 232 (234).
25
Vgl. etwa Potacs, EuR 2009, 465 (466).
26
EuGH NJW 2011, 2779 (2781); BVerwG NVwZ 2012,
176 (177); Maske, NWVBl 2013, 232 (234).
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20
Rechtsbehelfe von Umweltverbänden
21.1.2013 novelliert. Dabei entfiel die beanstandete Wendung.27 Simultan wurde dann aber ein neuer § 4a UmwRG
eingefügt, der prozessuale Restriktionen, vornehmlich in
Form von Begründungsdruck28, festlegte. Darüber hinaus
wurden auch Normen des rein nationalen Ursprungs für klagefähig erklärt.29 Dies war in der Literatur, nicht zuletzt aufgrund einer Urteilsformulierung des EuGH, strittig.30 Zentraler Inhalt ist die 6 Wochen-Frist bei der Klagebegründung.
Dies ist in der Literatur umstritten.31 Kritisiert wird auch die
insofern trotz Novellierung beibehaltene Formulierung des
§ 2 Abs. 1 Nr. 1 UmwRG, der eine Begrenzung der Rügemöglichkeiten auf Normen, „die dem Umweltschutz dienen“,
vornimmt.32 Sowohl in EU-Richtlinien, als auch in der AK
findet sich keine derartige Formulierung. Insbesondere das
BVerwG sieht diese Regelung aber im Einklang mit Unionsund völkerrechtlichen Vorgaben, da sowohl die AK als auch
die Richtlinien das Ziel des Umweltschutzes haben und nicht
eine Vollüberprüfung angefochtener Verwaltungsentscheidungen verlangen.33 Die Literatur sieht dies kritisch: Schon
durch die Norm über den Anwendungsbereich des UmwRG
in § 1 Abs. 1 UmwRG sei sichergestellt, dass Verbandsrechtsbehelfe nur gegen die dort aufgeführten Entscheidungen richten könne.34 Darüber hinaus sei die Begrenzung der
Klagebefugnis in § 3 UmwRG als ausreichende Beschneidung anzusehen. Auch über die reine Zuständigkeitsregelung
hinaus ist diese Formulierung zu kritisieren: Ein Verstoß
gegen eine – jedenfalls primär – nicht umweltschützende
Norm, kann ebenso die Umwelt beeinträchtigen wie ein anderer Verstoß gegen Umweltschutzvorschriften. Diese Diskussion ist aber von dem zeitlich nachgelagerten, jetzigen Zeitpunkt aus gesehen, nicht mehr notwendig. Die 5. Tagung der
Aarhus Vertragsparteien hat 2014 bereits einstimmig festgestellt, dass die Vorgabe des § 2 Abs. 1 Nr. 1 UmwRG der
Regelung des Art. 9 Abs. 2 AK widerspreche.35 Zwar wurde
dies nur in Form einer Änderungsempfehlung geäußert, die
Einstimmigkeit bedeutet aber eine unwiderlegbare Auslegung
der AK, der sich die Bundesrepublik Deutschland als Vertragspartei nicht – ohne dem Vorwurf einer Vertragsverletzung ausgesetzt zu sein – widersetzen kann.36 De lege ferenda wäre daher eine Einbeziehung dieser Empfehlung im Bereich des Notwendigen. Die – für deutsche Rechtsverhältnis27
Vgl. Seibert, NVwZ 2013, 1040.
Vgl. Schlacke, ZUR 2013, 195 (200).
29
Vgl. Schlacke, ZUR 2013, 195.
30
Wegener, ZUR 2011, 363 (365).
31
Schlacke, ZUR 2013, 195 (200).
32
Ziekow, NVwZ 2007, 259 (262) – der trotz zeitlicher Vorlagerung immer noch gültige Kritik äußert.
33
BVerwG NVwZ 2014, 515 (516); a.A. Berkemann, DVBl
2015, 389.
34
Bunge, NuR 2011, 611; Berkemann, NuR 2011, 785; a.A.
Schink, DVBl 2012, 198.
35
Sauer, ZUR 2014, 195 (198) – der den vorhergehenden
Ablauf schildert.
36
Vgl. BVerwG NVwZ 2014, 64 (66); Sauer, ZUR 2014,
195 (197) – die Ausführungen des BVerwG als ungewöhnlich herausstellend.
ÖFFENTLICHES RECHT
se – übliche37 Präklusionsvorschrift des § 2 Abs. 3 UmwRG
war seit ihrer Einführung ebenfalls Ziel von Kritik, hier geht
es vor allem um die Präklusionsfrist und die im Gegensatz zu
Privaten hohen Substantiierungsanforderungen38 an Umweltverbände.39 Besonders deutlich wird die Existenzberechtigung dieser Kritik in einem Urteil vom 15.10.2009 des
EuGH40, demnach Mitglieder der betroffenen Öffentlichkeit
die Möglichkeit der Anfechtung einer staatlicherseits getroffenen Entscheidung haben müssen, unabhängig davon
„welche Rolle sie in dem Verfahren über den Genehmigungsantrag vor dieser Stelle durch ihre Beteiligung an und
ihre Äußerung in diesem Verfahren spielen konnten“. Teile
der Literatur41 beschieden eine potenzielle Nutzung dieses
Urteils des EuGH als Vehikel gegen die deutschen Präklusionsvorschriften mit nur geringen Erfolgsaussichten. Nach
Urteilen des Bundesverwaltungsgerichtes ist die Präklusionsnorm § 2 Abs. 3 UmwRG aber unionsrechtskonform42,
und dient auch der Herstellung von Rechtssicherheit43. Zwischenzeitlich hat sich jedenfalls in faktischer Hinsicht etwas
getan: Durch ein von der europäischen Kommission eingeleitetes Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland –
neben weiteren Normen wurde § 2 Abs. 3 UmwRG beanstandet – hat der EuGH diese Norm im Sinne der Kommission als unionsrechtswidrig betrachtet und insofern die Regelungen im Bereich der materiellen Präklusion im Anwendungsbereich der UVP- und IE-Richtlinie eindeutig verworfen.44 Im Vorfeld des Urteils war schon von einer möglichen
Revolution die Rede.45 Eine solche ist aber – insbesondere
mit Blick auf andere prozessrechtliche Normen – insgesamt
ausgeblieben. Das Bundesverwaltungsgericht hielt der Europäischen Kommission ein falsches Verständnis der deutschen
Rechtsregelungen vor.46 Der EuGH beanstandet, dass die
Gründe, auf die ein Umweltverband seinen Rechtsbehelf
stützen könne, durch die Präklusionsvorschrift beschränkt
werde, was weder unionsrechtlich noch völkerrechtlich haltbar sei. Hier wird das deutsche System in einer Art Treppenaufbau betrachtet: Dem Erfordernis der Rechtssicherheit und
der Effizienz von verwaltungsbehördlichen und gerichtlichen
Verfahren seien die Klagefristen dienlich genug, eine weitere
Stufe, wie sie die Präklusionsvorschrift darstellt, sei nicht
erforderlich und wirke unnötig belastend. Insbesondere der
Grundsatz der Rechtssicherheit könne zur Rechtfertigung
nicht herangezogen werden, da „keineswegs erwiesen (sei),
28
37
Sauer, ZUR 2014, 195 (198).
BVerwG NVwZ 2004, 861 (863).
39
BVerwG NVwZ 2012, 176 – in dem klar differenzierte
Substantiierungsanforderungen herausgearbeitet werden.
40
EuGH NVwZ 2009, 1553 (1554).
41
Gatz, jurisPR 2010, Rn. D.
42
BVerwG NVwZ 2010, 1225; BVerwG NVwZ 2011, 364;
BVerwG ZNER 2011, 460; BVerwG NVwZ 2012, 180.
43
BVerwG NVwZ 1997, 489; BVerfG NJW 1982, 2173 –
mit für diese Arbeit unbeachtlichen Äußerungen zu der inzwischen außer Kraft getretenen Atomanlagen-Verordnung.
44
EuGH NVwZ 2015, 1665 (1671).
45
Fellenberg, NVwZ 2015, 1721.
46
BVerwG NuR 2014, 633 (638).
38
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21
AUFSÄTZE
Marvin Pötsch
dass eine umfassende gerichtliche Kontrolle […] abträglich
sein könnte“. Präklusionsregelungen als essentieller Bestandteil eines funktionsfähigen Rechtsschutzsystems sind nicht
denkbar, andere EU-Mitgliedsstaaten kommen jedenfalls
ohne eine materielle Präklusion aus.47 Als unmittelbare Folge
des Urteils sind die Präklusionsvorschriften zunächst auf
Anforderungen des unionsrechtlich determinierten Umweltrechts unanwendbar. De lege ferenda muss die Präklusionsvorschrift daher im Anwendungsbereich der UVP- und IERichtlinie entfallen, da sich deren Ziel, einen weitreichenden
Gerichtszugang zu gewähren, ansonsten nicht erreichen lässt.
Unbestreitbar besteht hier eine enge Konnexität zum § 2 Abs.
1 Nr. 3 UmwRG, der, auf der Zulässigkeitsseite eines möglichen Rechtsbehelfs wirkend, ebenfalls geändert werden
müsste. Die Schlacht um die Präklusion ist jedenfalls verloren.48
b) Die Begründetheit von Umwelt-Rechtsbehelfen
Die Rahmenbedingungen für die Begründetheit, wie sie sich
aus § 2 Abs. 5 ergeben, weisen einen engen Zusammenhang
mit denen der Zulässigkeit aus §§ 2 Abs. 1 Nr. 1, 2 UmwRG
auf. Eindrucksvoll belegt das schon das „Trianel Urteil“,
dessen Konsequenzen der deutsche Gesetzgeber, im Urteil
zunächst nur bezogen auf die Zulässigkeit, dann auch sachlogisch auf die Begründetheit ausgedehnt hat. Eine ähnliche
Wechselwirkung wird auch durch die bereits angesprochene
Kritik an § 2 Abs. 1 Nr. 1 UmwRG deutlich: Wird die Passage der dem Umweltschutz dienenden Vorschriften wie von
verschiedenen Seiten gefordert49 ersatzlos gestrichen, muss
dies auch zugleich auf dieselbe Formulierung in § 2 Abs. 5
UmwRG wirken. Umstritten sind – und bleiben – darüber
hinaus die Mängel bei Umweltverträglichkeitsprüfungen50.
UVP-Recht galt lange Zeit als reines Verfahrensrecht und
besaß dieserhalb ebenso lange keine maßgebliche Relevanz.
Gemäß ständiger Rechtsprechung war die Umweltverträglichkeitsprüfung nur von Relevanz, wenn das Defizit bei der
UVP zu einer anderen Behördenentscheidung geführt hat, als
es bei korrekter Durchführung der Fall gewesen wäre. Insofern wurde eine Kausalität zwischen dem Verfahrensfehler
und der Entscheidung hergestellt, die nicht rein abstrakttheoretischer Natur war: Es ging stets um die Betrachtung des
Einzelfalles. Diese auf § 46 VwVfG basierende Argumentation konnte nach Inkrafttreten der unionsrechtlichen UVPRichtlinie nicht weiter aufrechterhalten werden. Die Anpassung des deutschen Rechtssystems und die zugleich erforderliche Implementation war maßgebliche Grundlage für § 4
UmwRG. Die zunächst beschlossene Form des § 4 UmwRG
sollte einen Anspruch nur begründen, wenn wesentliche Verfahrensvorschriften verletzt sind und der Verfahrensfehler
nicht geheilt werden kann. Die Position und die Bedeutung
dieser Norm ist in der Literatur sehr umstritten51, bis heute
47
Die im frz. Rechtsgebiet anzutreffende „forclusion“ ist
beispielsweise kein Äquivalent.
48
Otto, NVwZ 2016, 292.
49
Sauer, ZUR 2014, 195 (198).
50
Im folgenden kurz UVP.
51
Kment, NVwZ 2007, 274 (276).
gibt es keinen Abschluss. Mit der bereits angesprochenen
Novelle vom 21.1.2013 wurde ebendiese Norm ausgedehnt,
sodass die Aufhebung der Entscheidung dann verlangt werden kann, wenn die Vorprüfung darüber hinaus nicht den
Anforderungen des § 3a UVPG genügt. Insofern begründet
§ 4 Abs. 1 S. 1 UmwRG einen absoluten Verfahrensfehler.52
Der Umgang mit Verfahrensfehlern im Umweltrecht allgemein ist nicht unproblematisch53. Grundsätzlich kann nämlich
im nationalen Rechtsgefüge – im Gegensatz zum Unionsrecht
– kein subjektives (öffentliches) Recht aus einer Verfahrensvorschrift abgeleitet werden, was für Individualklagen essentiell ist.54 Es kann jedoch § 4 UmwRG mittlerweile auch für
Individualklagen eine eigene Rechtsbehelfsbefugnis entnommen werden.55 Dies wirft abschließend die Frage auf,
wie UVP-Fehler zu behandeln sind, die nicht explizit in § 4
Abs. 1 UmwRG genannt sind. Bis 2011 wurde nach Rechtsprechung des BVerwG der § 4 Abs. 1 UmwRG als abschließende Aufzählung gesehen, alle anderen Fehler wurden über
§ 46 VwVfG behandelt.56 In der Literatur wurden hier defizitäre57 Tendenzen gesehen. An diesem Punkt setzt das „Altrip“- Urteil58 an. Der Gerichtshof der EU sollte auf Bitte des
BVerwG klarstellen, ob die gerade geschilderte Systematik
aus Perspektive des Bundesverwaltungsgerichtes mit Unionsrecht, insbesondere mit dem Artikel 11 der UVP-Richtlinie
vereinbar sei. Der Gerichtshof nahm dabei segmentiert Stellung, wobei nur ein Segment betrachtet wird, da die Rechtsnorm des § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO keinerlei Relevanz für
den Bereich der Rechtsbehelfe von Umweltverbänden besitzt,
die sich auf § 2 UmwRG stützen können (zumal die Unionsrechtswidrigkeit, wie sie der Generalanwalt sah, nicht gegeben sein kann: Art. 9 Abs. 2 AK lässt den Unterzeichnern die
Wahl zwischen Interessentenklage- und Verletztenklagemodell59). Der EuGH judizierte, dass die Kausalität zwischen
Fehler und abschließender Entscheidung in seinem Wesensgehalt nicht zu beanstanden sei.60 Zum einen solle aber § 4
Abs. 1 UmwRG nicht als abschließende Aufzählung betrachtet werden, dies gebiete schon die UVP-Richtlinie. Auch soll
eine Form der Nachweislastumkehr stattfinden: Es sei nicht
Aufgabe des Klägers, die Kausalität nachzuweisen, dies sei
von Seiten des Gerichtes zu prüfen. Auch müsse das Gericht
bei seiner Kausalitätsbeurteilung den Grad der Schwere des
geltend gemachten Fehlers berücksichtigen. Diese Überlegung vermag indes nicht zu überzeugen. Die europäische
52
Held, NVwZ 2012, 465; Haug/Schadtle, NVwZ 2014, 275.
Appel/Singer, JuS 2007, 913 (915).
54
Schmidt-Preuß, NVwZ 2005, 489 (494); Fellenberg,
NVwZ 2015, 1721 (1723).
55
OVG Münster NuR 2015, 493 m.w.N; BT-Drs. 17/10957,
S. 17; a.A. BVerwG NVwZ 2012, 573; Maske, NWVBl
2013, 232 (235); Schlacke, Überindividueller Rechtsschutz,
2008, S. 299 m.w.N.
56
VGH Mannheim NuR 2014, 875.
57
Kment, NVwZ 2007, 274 (277).
58
EuGH NJW 2014, 991.
59
EuGH (Generalanwalt), Schlussanträge v. 16.12.2010 – C196/09 = ZUR 2011, 79; Maske, NWVBl 2013, 232 (233).
60
Siegel, NJW 2014, 973 (975).
53
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ZJS 1/2017
22
Rechtsbehelfe von Umweltverbänden
Kommission hatte jedoch mittlerweile ein Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH angestrengt, um die Anwendung des § 46 VwVfG, wie im Übrigen auch des hier nicht zu
beachtenden § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO, zu beanstanden. Der
Generalanwalt folgte der Kommission: Es gehe vor dem
Hintergrund des Art. 11 der UVP-Richtlinie bei der Prüfung
von Zulässigkeit und Begründetheit einer Klage eines Umweltverbandes nicht um die Kausalität von Verfahrensfehler
und Verwaltungsentscheidung. Ausnahmsweise könne dies
nur bei marginalen Fehlern angenommen werden, die das
Recht auf Information und Beteiligung der Öffentlichkeit im
Sinne der Richtlinie nicht beeinträchtigen. In seinem Urteil61
hat der EuGH dann dieser Ansicht folgend ausgeführt, dass
die in § 4 Abs. 1 UmwRG konstruierte Beschränkung der
Nichtanwendung von § 46 VwVfG auf das völlige Fehlen
einer Umweltverträglichkeitsprüfung unionsrechtswidrig
sei.62 § 46 VwVfG könne im Übrigen nur unionsrechtskonform ausgelegt werden, wenn der Kläger nicht beweisbelastet
sei.
ÖFFENTLICHES RECHT
2. Art. 9 Abs. 3 der Aarhus-Konvention
Art. 9 Abs. 3 AK stellt ein Instrument mit weitem Anwendungsbereich dar: Jegliche Handlungen, Duldungen oder
Unterlassungen von Privaten und Behörden, die eventuell
umweltbezogene Bestimmungen beschneiden oder verletzen,
können angefochten werden. Diese Norm dient maßgeblich
dem Abbau des bereits genannten Vollzugdefizits63. Der
gerichtlichen Kontrolle sollen hierbei auch Normen des rein
objektiven Rechts unterliegen. Bislang ist Artikel 9 Abs. 3
AK weder auf nationaler noch auf unionaler64 Ebene umgesetzt worden. Es finden sich lediglich partielle Implementationen auf unionaler Ebene. Im nationalen Recht ist ein
Ansatz lediglich in § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 UmwRG zu finden,
der aus dem Umweltschadensgesetz gründet und der Umsetzung des Art. 13 der Richtlinie 2004/35/EG diente.65 Im
strengen Gegensatz dazu hat der Gesetzgeber schon 2006
geäußert, dass die Vorgaben des Art. 9 Abs. 3 AK sowohl auf
unionaler als auch auf nationaler Ebene hinreichend umgesetzt worden seien.66 Sowohl Bundesverwaltungsgericht67 als
auch Literatur68 sind dieser Auffassung aber spätestens69 seit
dem Urteil des EuGH im Fall des slowakischen Braunbären
entgegengetreten. Der EuGH hat in seinem Braunbären Urteil
judiziert, dass Art. 9 Abs. 3 der AK aufgrund des dort enthaltenen Ausgestaltungsvorbehaltes nicht unmittelbar wirke.70
Innerstaatliches Prozessrecht müsse aber rechtsschutzfreundlich ausgelegt werden (und zwar ausdrücklich mit Hinblick
auf die Position des Art. 9 Abs. 3 AK)71, um den Umweltschutzorganisationen die Möglichkeit zu bieten, Entscheidungen am Ende eines Verwaltungsverfahrens, die möglicherweise im Widerspruch zum unionalen Umweltrecht stehen,
anzufechten.72 Basierend auf diesem Urteil hat das Bundesverwaltungsgericht 2013 einem Umweltverband „prokuratorische Rechtsstellung“73 attestiert und eine Klagebefugnis auf
Basis des § 42 Abs. 2 Hs. 2 VwGO (i.V.m. § 47 Abs. 1 BImSchG und § 27 der 39. Verordnung zur Durchführung des
BImSchG) gestützt, dabei wurde § 3 UmwRG als „Transmissionsriemen“74 herangezogen.75 Eine Klagebefugnis ließ sich
weder auf § 42 Abs. 2 Hs. 1 VwGO noch auf § 64 BNatSchG
oder gar auf analoge Anwendung des UmwRG stützen, hierzu mangele es schon an einer Regelungslücke.76 Wird behördlicherseits eine auf unionales Recht zurückgehende Umweltschutzvorschrift nicht oder falsch angewendet, so könne
sich eine Verbandsklage eben auf § 42 Abs. 2 Hs. 2 VwGO
stützen.77 Problematisch ist, dass sich der Umweltverband auf
das sog. Feinstaub-Urteil78 bezog und damit ein subjektives
Recht auf Aufstellung oder Änderung eines Luftreinhalteplanes in der Rechtsposition des Umweltverbandes strahlte. Der
Umweltverband, der die Aufnahme einer Umweltzone in den
Luftreinhalteplan begehrte, stützte sich aber schwerpunktmäßig auf die objektive, gemeinwohlorientierte Schutzrichtung
der Norm des § 47 Abs. 1 BImSchG. Dies lässt die Interpretation des § 42 Abs. 2 Hs. 2 VwGO durch das Bundesverwaltungsgericht verschwimmen, denn es wird nicht deutlich, ob
generell die Stützung auf § 42 Abs. 2 Hs. 2 VwGO für eine
gerichtliche Überprüfung rein objektiv-rechtlicher Umweltvorschriften ermöglicht werden soll.79 Ein anderer Senat des
BVerwG ist der Ansicht, dass auch unter dem Gesichtspunkt
des soeben angesprochenen Urteils nur drittschützende Normen beanstandet werden können, vollzieht insofern aber die
Etappen des 7. Senates des Bundesverwaltungsgerichtes
61
70
EuGH NJW 2015, 3495.
Fellenberg, NVwZ 2015, 1721 (1723).
63
Schrader/Hellenbroich, ZUR (2007), 294; Maske, NWVBl
2013, 232 (236).
64
Bunge, ZUR 2014, 3.
65
Schröer/Kullick, NZBau 2013, 690.
66
BT-Drs. 16/2497, S. 46.
67
Vgl. BVerwG NVwZ 2014, 64.
68
Sauer, ZUR 2014, 195 (201); Gärditz, NVwZ 2014, 6;
Berkemann, DVBl, 2013, 1137 (1144); Gellermann, DVBl
2013, 1341 (1342); Schlacke, ZUR 2011, 312; a.A. mit Blick
auf eine unzulässige richterliche Rechtsfortbildung Schink,
DÖV 2012, 622 (627).
69
Eine mangelnde Umsetzungsverpflichtung vor dem „slowakischen Braunbären“ attestierend etwa: v. Danwitz, NVwZ
2004, 272 (276); Epiney, ZUR 2003, 176 (180); Seelig/
Gündling, NVwZ 2002, 1033 (1040).
62
EuGH ZUR 2011, 317; a.A.: VGH Kassel NVwZ 2012,
1056; VG München ZUR 2012, 699 – die eine direkte Anwendung des Art. 9 Abs. 3 AK befürworten.
71
Vgl. BVerwG NVwZ 2014, 64 (67).
72
Sauer, ZUR 2014, 195 (196).
73
Vgl. BVerwG NVwZ 2014, 64 (68); Schlacke, DVBl 2015,
929 (934); Lau, NVwZ 2014, 637 (638).
74
Vgl. Schlacke, DVBl 2015, 929 (932); Lau, NVwZ 2014,
637 (639).
75
BVerwG NVwZ 2014, 64 (67 m.w.N.).
76
Bunge, ZUR 2014, 3 (5).
77
Sauer, ZUR 2014, 195 (197).
78
EuGH ZUR 2008, 418.
79
Dies vor dem Hintergrund des „slowakischen Braunbären“
bejahend: OVG Rheinland-Pfalz AbfallR 2013, 148; a.A.:
OVG Niedersachsen NVwZ-RR 2013, 917; OVG RheinlandPfalz NVwZ 2013, 881; Lau, NVwZ 2014, 637 (639).
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23
AUFSÄTZE
Marvin Pötsch
vollständig nach.80 Jedoch bezieht er sich nur auf prokuratorische subjektive Rechte, die sich zumindest mittelbar auf
personelle Rechtsgüter im engeren Sinne beziehen, was vor
allem mit Blick auf die Trianel Entscheidung und die Entscheidung zum slowakischen Braunbären sehr kritisch zu
hinterfragen ist.81 Art. 9 Abs. 3 der AK hat sich demzufolge
bisher vornehmlich durch Richterrecht auf unionaler und
nationaler Ebene entwickelt.82
III. Fazit
Der deutsche Gesetzgeber hat die völkerrechtlichen und
unionalen Vorgaben für Rechtsbehelfe von Umweltverbänden nur sehr zögerlich umgesetzt, es besteht weiterhin ein
hoher Entwicklungsbedarf der deutschen Normen, um eine
Angleichung an europa- und völkerrechtliche Vorgaben zu
erreichen. Die durchaus auch als Appell zu verstehende Formulierung der Generalanwältin Sharpston für den Anwendungsbereich des Art. 9 Abs. 2 AK: „Fish cannot walk into
Court“83, sollte ebenso für die Frage einer innerstaatlichen
und auch unionalen Umsetzung des Art. 9 Abs. 3 der AK
gelten: Die – gerade innerstaatliche – Tendenz zur beschneidenden und einhegenden Auslegung von Vorgaben im Bereich der Verbandsrechtsbehelfe aus (offensichtlichen – und
bisher unbegründeten) Sorgen heraus, das Modell der Verletztenklage aufgeben zu müssen und einer erheblichen Zahl
neuer Umweltverbandsklagen entgegenzusehen, trägt nicht
zur Rechtssicherheit bei und wird letztlich auch durch die
Rechtsprechung immer wieder abgelehnt oder in großen
Teilen modifiziert. Das Ergebnis sind immer neue Novellierungen des UmwRG (und auch weiterer Normen) die durch
einmalige enge Anlegung unionaler und völkerrechtlicher
Maßstäbe eher unwahrscheinlich84 geworden wären. Die
bisher aber starre Geisteshaltung führt zu dem Schluss, dass
die Novellierung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes im Jahre
2015 nicht die Letzte sein wird. Den schon in Art. 3 Abs. 1
AK formulierten Anforderungen eines „transparenten und
einheitlichen Rahmens“ zur Durchführung „dieses Übereinkommens“ wurde bisher zumindest innerstaatlich nicht ansatzweise Rechnung getragen. Weitere Entwicklungen, wie
ein aktueller85 Gesetzesentwurf zur Anpassung des UmweltRechts-behelfsgesetzes, bleiben abzuwarten.
80
BVerwG ZUR 2015, 233; BVerwG NVwZ 2015, 656.
Schlacke, DVBl 2015, 929 (933).
82
Schlacke, DVBl 2015, 929 (933).
83
EuGH (Generalanwalt), Schlussanträge v. 16.12.2010 – C196/09 = ZUR 2011, 79.
84
Schlacke, ZUR 2013, 195 (202).
85
BT-Drs. 18/9526.
81
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ZJS 1/2017
24
Sonstige häufig wiederkehrende Tathandlungen im Medienstrafrecht
Beiträge zum Medienstrafrecht – Teil 7*
Von Prof. Dr. Manfred Heinrich, Kiel
Neben den schon dargestellten, medienstrafrechtlich besonders bedeutsamen Tathandlungen des „Verbreitens“ (vgl.
ZJS 2016, 569), des „Zugänglichmachens“ (ZJS 2016, 698)
und des „öffentlich“ Begehens (ZJS 2016, 698 [707 ff.])
finden sich im Rahmen des Medienstrafrechts noch verschiedene andere in jeweils mehreren Delikten in gleicher Bedeutung1 wiederkehrende Verhaltensbeschreibungen, die nachfolgend kurz vorgestellt werden sollen:
§
§
§
§
§
§
§
§
§
§
das (öffentliche) Ausstellen, Anschlagen und Vorführen
(unten I.),
das (individuelle) Anbieten und Überlassen (unten II.),
das Herstellen, Beziehen, Liefern und Vorrätighalten
(unten III.),
das (feilbietende) Anbieten, Ankündigen, Anpreisen und
Bewerben (unten IV.),
das Einführen und Ausführen (unten V.),
das Sich-Verschaffen (unten VI.),
das Mitteilen bzw. die Mitteilung (unten VII. 1.),
das Offenbaren (unten VII. 2.),
das Gelangenlassen (unten VII. 3.) sowie
das Öffentlich-Bekanntmachen (unten VII. 4.).
Wie schon bei den im Rahmen der beiden vorherigen Beiträge besprochenen Tathandlungen erscheint es auch bei den
hier zur Sprache gebrachten nutzbringend, zunächst noch
unabhängig von der Betrachtung der einschlägigen Delikte
auch diese Begehensformen in tatbestandsübergreifender
Weise bereits vorab zu behandeln, um die daraus zu erlangenden Erkenntnisse bei der Betrachtung jener Delikte dann
als ohne Weiteres abrufbar zugrunde legen zu können.
* Dieser Beitrag ist der siebente einer Reihe von Beiträgen
des Autors zum Medienstrafrecht, die sukzessive in der ZJS
erscheinen. Die vorhergehenden Beiträge waren den Besonderheiten der Verjährung im Presse-, Rundfunk- und Telemedienstrafrecht (ZJS 2016, 17, 414), der Verbreitung von
Pornografie gem. § 184 StGB (ZJS 2016, 132, 197) sowie
den medienstrafrechtlich besonders relevanten Tathandlungen des „Verbreitens“ (ZJS 2016, 569), des „Zugänglichmachens“ (ZJS 2016, 698) und des „öffentlich“ Begehens (ZJS
2016, 698 [707 ff.]) gewidmet. Hieran schließt sich nunmehr
die Darstellung weiterer im Rahmen medienstrafrechtlich
relevanter Tatbestände immer wiederkehrender Tathandlungen in tatbestandsübergreifender Weise an. Auf dieser
Grundlage soll dann in weiteren Beiträgen die Behandlung
einzelner medienstrafrechtlich relevanter Tatbestände (zunächst aus dem Bereich der Staats- und Friedensschutzdelikte) angeschlossen werden.
1
Vgl. nur Schäfer, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener
Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 3, 2 Aufl. 2012, § 130
Rn. 74: „Die Tathandlungen […] entsprechen denjenigen
etwa des […]“.
I. Das (öffentliche) Ausstellen, Anschlagen und Vorführen
Bis zur Verkürzung auf das nunmehr für sich allein stehende
Merkmal „(der Öffentlichkeit) zugänglich macht“ durch das
49. StÄG2 wurde in einer ganzen Reihe wichtiger Verbreitungsdelikte (§§ 130 Abs. 2 Nr. 1 lit. b, 130a Abs. 1, Abs. 2
Nr. 1, 131 Abs. 1 Nr. 2, 184 Abs. 1 Nr. 2, 184a Nr. 2, 184b
Abs. 1 Nr. 2, 184c Abs. 1 Nr. 2 StGB a.F.) bestraft, wer
Schriften im Sinne des § 11 Abs. 3 StGB „(öffentlich) ausstellt, anschlägt, vorführt oder sonst zugänglich macht“. Doch
dies ist mittlerweile Geschichte, der Gesetzgeber befand das
Merkmal des „Zugänglichmachens“ hier für ausreichend und
hat die beispielhafte Nennung des „Ausstellens, Anschlagens,
Vorführens“ gestrichen.
Noch immer aber findet sich jene Formulierung in § 74d
Abs. 4 StGB sowie (freilich nur in Form von Bußgeldtatbeständen) in §§ 119 Abs. 3, 120 Abs. 1 Nr. 2 OWiG, noch
immer regelt § 27 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 15 Abs. 1 Nr. 2,
Abs. 2 JuSchG Entsprechendes für Trägermedien und noch
immer sind Einzelnennungen von „Ausstellen“, „Anschlagen“ und „Vorführen“ auch in anderen Zusammenhängen
anzutreffen (wie etwa in § 134 StGB)3.
Nach wie vor erscheint es also sinnvoll, sich an dieser
Stelle (zumindest kurz) mit dem Ausstellen, Anschlagen und
Vorführen zu beschäftigen.
Mit diesen drei Begehensbeschreibungen sind – und darin
ist dem Gesetzgeber des 49. StÄG auch gar nicht zu widersprechen – Sonderfälle des oberbegrifflichen (öffentlich)
Zugänglichmachens bezeichnet4. Sie handeln allesamt davon,
dass ohne Weitergabe der Sache selbst (der Schrift, des Trägermediums etc.) deren geistiger Inhalt sinnlich wahrnehmbar der vor Ort erfolgenden5 Kenntnisnahme anderer zugänglich gemacht wird6, wobei es – wie auch sonst beim „Zugänglichmachen“7 – nur auf die Ermöglichung der Kenntnisnahme, nicht aber auf die Kenntnisnahme selbst ankommt.
2
BGBl. I 2015, S. 10, in Kraft seit 27.1.2015.
Vgl. im Einzelnen die Nennungen in Fn. 8, 17, 23.
4
Eisele, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar,
29. Aufl. 2014, § 184 Rn. 26 („Modalitäten“); B. Heinrich,
in: Wandtke/Ohst (Hrsg.), Medienrecht, Bd. 4, 3. Aufl. 2014,
Rn. 178, 179, 180; Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 64. Aufl. 2017, § 74d Rn. 6. – Näher zum
„(öffentlich) Zugänglichmachen“ M. Heinrich, ZJS 2016, 698
(699 ff.: öffentliches Zugänglichmachen, 702 ff.: einfaches
Zugänglichmachen, 707: sonstige Fälle).
5
Dies Merkmal erscheint zwar nirgendwo im Schrifttum,
sein Vorliegen erscheint mir aber evident.
6
In diesem Sinne wohl auch Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 15;
B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 178, 179, 180.
7
Vgl. M. Heinrich, ZJS 2016, 698 (700).
3
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25
AUFSÄTZE
Manfred Heinrich
1. Das (öffentliche) Ausstellen8
Beim Ausstellen geht es um die optische Wahrnehmbarkeit9
gerade der inkriminierten Inhalte10, so dass die freie Präsentation eines Pornohefts am Kiosk, im Verkaufsregal der Tankstelle oder im Schaufenster des Sex-Shops11, wie auch das
offene Auslegen eines Buchs mit volksverhetzendem Inhalt
in der Buchhandlung12 oder die zur ungehinderten Betrachtung vorgenommene Platzierung einer Plastik13 im Museum
erfasst sind, nicht aber das diskrete Vorhalten in einem
Schaufenster oder einer verschlossenen Vitrine, bei dem die
betreffenden Inhalte angesichts von vornherein unbedenklicher äußerer Gestaltung (neutraler Buchdeckel)14 oder aufgrund gezielt angebrachter Abdeckung15 nicht den Blicken
preisgegeben sind. Ebenso wenig tatbestandsrelevant ist etwa
auch das Einstellen von in teilverdeckende Plastikfolie eingeschweißten Pornografika in das Verkaufsregal einer Tankstelle16.
2. Das (öffentliche) Anschlagen17
Auch hier geht es um die optische Wahrnehmbarkeit der
betreffenden Inhalte18. Sie wird in dieser Begehensvariante
erzielt durch das Versetzen der Schrift in eine mehr oder
minder feste Verbindung mit einem anderen Gegenstand, um
sie auf diese Weise den Blicken zugänglich zu machen19 –
8
Von „öffentlich ausgestellt“ spricht auch § 243 Abs. 1 Nr. 5
StGB. Gemeint ist damit „eine Sache, die gerade um ihrer
Besichtigung willen allg. zugänglich gemacht ist“ (Kindhäuser, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen [Hrsg.], Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 3, 4. Aufl. 2013, § 243 Rn. 34).
§ 134 StGB erwähnt den Fall, dass „ein amtliches Schriftstück […] öffentlich […] ausgelegt“ ist.
9
Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 26; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 178;
siehe auch Wolters, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 2, 9. Aufl. 2016, § 74d
Rn. 5, der das „Ausstellen“ (ganz richtig) gleichsetzt mit „den
Blicken zugänglich machen“.
10
RGSt 14, 397 (399); OLG Karlsruhe NJW 1984, 1975
(1976); Heger, in: Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, Kommentar, 28. Aufl. 2014, § 184 Rn. 6.
11
Hörnle, in: Joecks/Miebach (Fn. 1), § 184 Rn. 37.
12
Vgl. (wenn auch zu pornografischen Inhalten) Eisele
(Fn. 4), § 184 Rn. 26.
13
Vgl. Wolters (Fn. 9), § 74d Rn. 5.
14
Heger (Fn. 10), § 184 Rn. 6; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 26;
Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 37.
15
RGSt 14, 397 (399); Fischer (Fn. 4), § 74d Rn. 6; siehe
auch Laufhütte/Roggenbuck, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/
Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar,
Bd. 6, 12. Aufl. 2009, § 184 Rn. 21.
16
OLG Karlsruhe NJW 1984, 1975 (1976); Schreibauer, Das
Pornographieverbot des § 184 StGB, 1999, S. 210.
17
Von „öffentlich anschlagen“ (eines „dienstlichen Schriftstücks“) ist auch die Rede in § 134 StGB.
18
Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 26; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 179.
19
Vgl. Schreibauer (Fn. 16), S. 211.
man denke an das Aufhängen eines Plakats20 oder das Anbringen eines Aufklebers21.
Nicht kommt es dabei darauf an, ob der betreffende Gegenstand mobil (z.B. ein Kraftfahrzeug) oder immobil (ein
Baum, eine Litfaßsäule, eine Hauswand) ist22 – so dass Aufkleber am Auto oder Abziehbilder am Fenster ebenso erfasst
sind wie Filmplakate auf einer Werbefläche oder an einen
Baum genagelte Handzettel.
3. Das (öffentliche) Vorführen23
Das „Vorführen“ betrifft nicht allein das optische, sondern
auch das akustische Wahrnehmbarmachen24, wobei dies beim
Vorführen eines Films – dessen insoweit dualer Natur nach
zu verstehen als „die Ermöglichung, […] die auf einem Bildund Tonträger gespeicherten Töne optisch und akustisch
wahrzunehmen“25 – in aller Regel (d.h. außer im Falle eines
Stummfilms) sogar zusammenfällt. Aber nicht nur Filme,
sondern auch reine Tonaufzeichnungen26 sowie Abbildungen27 jeglicher Art können Gegenstand eines „Vorführens“
sein (Beispiele: Dia-Vortrag28, Hochhalten eines Transparents, Vorzeigen eines Bildes).
Nicht erfasst werden jedoch – da es eben um das Vorführen von Schriften (bzw. bei § 27 Abs. 1 Nr. 1 JuSchG von
Trägermedien) geht – vor Ort stattfindende Live-Darbietungen29.
II. Das (individuelle) Anbieten und Überlassen
Verschiedentlich wird mit Strafe bedroht, wer eine Schrift im
Sinne des § 11 Abs. 3 StGB einer anderen Person „anbietet,
überlässt oder zugänglich macht“ – so in §§ 130 Abs. 2 Nr. 1,
131 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 lit. b (siehe auch Abs. 4), 184 Abs. 1
Nr. 1 (siehe auch Abs. 2) StGB – bzw. sie diesem „anbietet
oder überlässt“ – wie in § 184 Abs. 1 Nrn. 3 und 3a StGB.
Vgl. aber auch (für Trägermedien) § 27 Abs. 1 Nr. 1 (siehe
auch Abs. 4) i.V.m. § 15 Abs. 1 Nrn. 3 und 4, Abs. 2 JuSchG
20
BGHSt 19, 308 (310); Fischer (Fn. 4), § 74d Rn. 6;
Wolters (Fn. 9), § 74d Rn. 5; Schreibauer (Fn. 16), S. 211.
21
Fischer (Fn. 4), § 74d Rn. 6.
22
Schreibauer (Fn. 16), S. 211.
23
Von „öffentlicher Filmvorführung“ spricht § 184 Abs. 1
Nr. 7 StGB, vom „Vorführen eines Werbefilms oder eines
Werbeprogramms“ der Bußgeldtatbestand des § 28 Abs. 1
Nr. 14a JuSchG.
24
B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 180; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 26;
Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184 Rn. 21.
25
Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184 Rn. 36; dem folgend
KG NStZ 1985, 220.
26
Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 26; Fischer (Fn. 4), § 184 Rn. 6.
27
Fischer (Fn. 4), § 184 Rn. 6.
28
Das Dia erwähnt Wolters (Fn. 9), § 74d Rn. 5.
29
Wolters, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar
zum Strafgesetzbuch, Bd. 3, 136. Lfg., Stand: Oktober 2012
§ 184 Rn. 30; ebenso Hörnle ([Fn. 11], § 184 Rn. 37), die (zu
Recht) eine „merkwürdige Inkonsistenz“ rügt, da Live-Shows
damit selbst bei fehlenden Eingangskontrollen nicht erfasst
sind.
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ZJS 1/2017
26
Sonstige häufig wiederkehrende Tathandlungen im Medienstrafrecht
sowie (als Bußgeldtatbestand und in Bezug auf Bildträger)
§ 28 Abs. 1 Nr. 16 JuSchG; weitere (Einzel-)Nennungen
finden sich noch in anderen – meist medienfernen – Tatbeständen30.
1. Das (individuelle) Anbieten31
Das „Anbieten“ in dem hier zu besprechenden Zusammenhang ist strikt von dem – zumeist durch die Handlungsweise
des „Bewerbens“ flankierten – feilbietenden „Anbieten“ etwa
im Sinne des § 184 Abs. 1 Nr. 5 StGB zu trennen32. Während
jenes nur überindividuelle Angebote an mehrere Personen,
also eben die an einen unbestimmten Personenkreis gerichtete
Werbung meint (vgl. unten IV. 1. a), geht es hier – letztlich ja
als unmittelbare Vorstufe eines höchst zielgerichteten „Überlassens“ – ausschließlich um das individuelle Anbieten33, ist
also ein konkretes Angebot gegenüber einem bzw. mehreren
bestimmten Adressaten erforderlich34. Nicht genügen damit
etwa ein Zeitungsinserat35 oder das bloße Auslegen an einem
Verkaufsstand, im Schaufenster oder im Verkaufsregal36
(ggf. aber § 184 Abs. 1 Nr. 5 StGB).
Das Angebot muss dabei nach herrschender und richtiger
Auffassung37 auf das körperliche Überlassen des betreffenden
Gegenstandes (Schrift, Trägermedium, Bildträger) im Sinne
einer Gewahrsamsübertragung38 gerichtet sein, während mit-
30
Vgl. hierzu die Auflistung der entsprechenden Vorschriften
in Fn. 31, 55.
31
Von „Anbieten“ in diesem Sinne sprechen auch §§ 108b
Abs. 1, 176 Abs. 5, 287 Abs. 1, 299 Abs. 2, 333 Abs. 1,
Abs. 2, 334 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3, 337 StGB, § 28 Abs. 1
Nrn. 11 und 13 JuSchG, § 96 Nr. 18 AMG, § 69 Abs. 3
Nr. 21, Abs. 4 Nr. 3 BNatSchG.
32
BGHSt 34, 94 (98); Schreibauer (Fn. 16), S. 188, 247;
Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 27.
33
Schreibauer (Fn. 16), S. 247; siehe auch Hörnle (Fn. 11),
§ 184 Rn. 27; Hilgendorf, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier
(Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar, 3. Aufl. 2017, § 184
Rn. 14.
34
BGHSt 34, 94 (98); OLG Düsseldorf MDR 1987, 604;
Laubenthal, Handbuch Sexualstrafrecht, Die Delikte gegen
die sexuelle Selbstbestimmung, 2012, Rn. 937; Eisele (Fn. 4),
§ 184 Rn. 14; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 185; Hörnle (Fn. 11),
§ 184 Rn. 27 zu § 184 Abs. 1 Nr. 1 StGB (anders aber zu
Unrecht Rn. 64 zu § 184 Abs. 1 Nr. 3a StGB); siehe auch
Eckstein, wistra 1997, 47 (51) zu § 184 Abs. 1 Nr. 3 StGB.
35
OLG Düsseldorf MDR 1987, 604; Eckstein, wistra 1997,
47 (51); Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 14.
36
Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 14; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 27;
Laubenthal (Fn. 34), Rn. 937; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 185.
37
Vgl. Krauß, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann
(Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 5,
12. Aufl. 2009, § 130 Rn. 92; Heger (Fn. 10), § 184 Rn. 5;
Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 18; Fischer (Fn. 4), § 184 Rn. 10;
Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184 Rn. 17; Hilgendorf
(Fn. 33), § 184 Rn. 14.
38
Von „Besitzübertragung“ sprechen u.a. Krauß (Fn. 37),
§ 130 Rn. 92; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 14, und B. Heinrich
STRAFRECHT
unter – aufgrund teleologischer Überlegungen, sprich: angesichts in diesen Fällen nicht minder bestehender „konkreter
Kontaktgefahr“39 – dafür plädiert wird, auch das In-AussichtStellen bloß unkörperlichen Zugänglichmachens des geistigen Inhalts (der Schrift etc.) genügen zu lassen40.
Der Anbietende muss (explizit oder konkludent) seine Bereitschaft zum (entgeltlichen oder unentgeltlichen) Überlassen (bzw. – soweit man dies genügen lässt – zum Zugänglichmachen) bekunden41, ohne dass darin aber ein zivilrechtliches
Vertragsangebot zu liegen braucht42 – so dass das Fehlen
eines Rechtsbindungswillens beim Anbietenden nicht schadet43.
Der Angesprochene muss das Angebot als solches verstehen44 (nicht jedoch dessen spezifischen, z.B. pornografischen, Inhalt45), braucht aber nicht darauf zu reagieren, und
auf eine Annahme oder gar Umsetzung kommt es erst recht
nicht an46.
Strittig ist, ob das angebotene Überlassen (bzw. – soweit
man dies genügen lässt – das angebotene Zugänglichmachen)
gleich und ohne Weiteres an Ort und Stelle möglich sein
muss. Während einige Autoren dies verlangen47, begnügen
sich andere damit, dass der betreffende Gegenstand „tatsächlich verfügbar“ ist48, auch wenn der (ggf. abwesende) Täter
ihn erst heranschaffen muss49 (so dass telefonische Angebote
eines nicht vor Ort befindlichen Anbieters genügen50) und
halten wiederum andere es sogar für ausreichend, wenn der
Täter von vornherein nur anbietet, den Gegenstand zu be(Fn. 4), Rn. 185, was jedoch aus den unten im Text unter 2.
(bei Fn. 62) genannten Gründen nicht ganz korrekt ist.
39
Schreibauer (Fn. 16), S. 187 f.
40
So mit ausführlicher Begründung Schreibauer (Fn. 16),
S. 187 f.; ohne Weiteres ebenso Hörnle (Fn. 11), § 184
Rn. 27.
41
Vgl. nur Krauß (Fn. 37), § 130 Rn. 92; Heger (Fn. 10),
§ 184 Rn. 5; siehe auch Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 27.
42
Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 14; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 185;
Laubenthal (Fn. 34), Rn. 936; Schreibauer (Fn. 16), S. 188
Fn. 674.
43
Schreibauer (Fn. 16), S. 188 Fn. 674.
44
Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 18; Hörnle (Fn. 11), § 184
Rn. 27; Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184 Rn. 17.
45
Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 14; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 27;
Heger (Fn. 10), § 184 Rn. 5; Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 18;
so auch Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184 Rn. 17; Laubenthal (Fn. 34), Rn. 937, die aber (anders als die Vorgenannten) zumindest Erkennbarkeit fordern (dagegen ausführlich und richtig Schreibauer [Fn. 16], S. 189 f.).
46
Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 18; Krauß (Fn. 37), § 130
Rn. 92; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 27; Laubenthal (Fn. 34),
Rn. 936.
47
So Schreibauer (Fn. 16), S. 190.
48
Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 14; siehe auch Eckstein, wistra
1997, 47 (51); Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 18.
49
Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 27; zum „Angebot an einen
Abwesenden“ Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 14.
50
Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 27; a.A. mangels „unmittelbarer
Kontaktgefahr“ Schreibauer (Fn. 16), S. 190.
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27
AUFSÄTZE
Manfred Heinrich
schaffen51. Ersteres (an Ort und Stelle) greift jedoch zu kurz –
schon deswegen, weil damit der vom Gesetz gesehenen Möglichkeit des „Anbietens“ im Versandhandel (§ 184 Abs. 1
Nr. 3 StGB) von vornherein der Boden entzogen wäre52 –,
und Letzteres geht zu weit, da damit die Grenze zur Werbung
verschwimmt (vgl. zum „feilbietenden“ Anbieten unten IV.
1. a). So ist mit der mittleren Auffassung zu verlangen, dass
der Gegenstand mit dem Anbieten bereits „in tatsächliche
Abgabebeziehung [zu dem Angesprochenen] […] gebracht
wird“53, was zumindest erfordert, dass er sich schon „in der
Verfügungsgewalt des Täters befindet“54.
2. Das Überlassen55
Erfasst das „Anbieten“ schon das Bereiterklären zur Überlassung (vgl. oben 1., bei Fn. 41), geht es beim „Überlassen“
selbst um den Übertragungsakt als solchen56. Gemeint ist die
(entgeltliche oder unentgeltliche57) Übertragung eigenen Gewahrsams an dem Gegenstand auf einen anderen zu eigener
Verfügung oder zumindest eigenem Gebrauch58, ohne dass es
auf Kenntnis oder Erkennbarkeit des Inhalts ankäme59.
Wenn dabei mitunter von „Verschaffung“ des Gewahrsams die Rede ist60, so greift dies insofern zu weit, als „Überlassen“ nur das Verschaffen zuvor eigenen Gewahrsams
meint61. Ebenso ist es insofern nicht korrekt, von Übertragung/Verschaffung „des Besitzes“ zu sprechen62, als es beim
körperlichen Überlassen „nicht auf den zivilrechtlichen Besitz mit seinen Fiktionsmöglichkeiten, sondern nur auf die
tatsächliche Möglichkeit des Zugriffs auf die Sache ankommen kann“63; entscheidend ist die Übertragung tatsächlicher
51
Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 27; a.A. Eisele (Fn. 4), § 184
Rn. 14; Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 18.
52
Vgl. hierzu ganz richtig Eckstein, wistra 1997, 47 (51); vgl.
aber auch Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 61.
53
Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 18.
54
Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 18.
55
Von „Überlassen“ sprechen auch §§ 87 Abs. 1 Nr. 3, 149
Abs. 1, 202c Abs. 1, 263a Abs. 3, 275 Abs. 1, 276 Abs. 1
Nr. 2, 281 Abs. 1 StGB, §§ 127 Abs. 1, 128 Abs. 1 Nr. 2
OWiG; zu weiteren (medienfernen) Normen vgl. B. Heinrich
(Fn. 4), Rn. 181 Fn. 492.
56
Schreibauer (Fn. 16), S. 190 f.
57
Schreibauer (Fn. 16), S. 191; Hilgendorf (Fn. 33), § 184
Rn. 14.
58
In dieser Vollständigkeit letztlich nur Schreibauer (Fn. 16),
S. 191; siehe auch Eisele, Computer- und Medienstrafrecht,
2013, 6/10.
59
Schreibauer (Fn. 16), S. 191 f.; Eisele (Fn. 4), § 184
Rn. 15; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 31.
60
So bei Hilgendorf (Fn. 33), § 184 Rn. 14; Hörnle (Fn. 11),
§ 184 Rn. 31; siehe auch Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 15, und
B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 181 („Verschaffung des Besitzes“).
61
So explizit BGHSt 28, 294: „Das folgt schon aus dem
Wortlaut dieser Tätigkeitsbeschreibung“.
62
So Krauß (Fn. 37), § 130 Rn. 92; Eisele (Fn. 4), § 184
Rn. 15; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 181.
63
Schreibauer (Fn. 16), S. 191 Fn. 688; siehe auch Hilgendorf (Fn. 33), § 184 Rn. 14 („tatsächliche Sachherrschaft“)
Gewalt64. Zu kurz greift es schließlich, wenn bloß die „eigene
Verfügung“, nicht aber der „eigene Gebrauch“ erwähnt
wird65, da mit Letzterem (zu Recht) auch der Fall erfasst ist,
dass der Gegenstand nur zur vorübergehenden Nutzung überlassen (z.B. verliehen, vermietet) wird66.
Nicht genügt es, wenn der andere den Gegenstand weder
„zu eigener Verfügung“ (z.B. als Käufer) noch „zu eigenem
Gebrauch“ (etwa leih- oder mietweise) ausgehändigt bekommt, sondern nur als Überbringer (d.h. als Bote) für einen
Dritten67 – man denke an die Abholung eines neutral verpackten Pornoheftes für den Vater68 –, da ihm hier der Gegenstand zwar übergeben, nicht aber überlassen wird69. Insofern ist es zumindest irreführend, wenn mitunter „Überlassen“ in abschließender Kürze nur mit Übertragung bzw. Verschaffung von Gewahrsam umschrieben wird70.
III. Das Herstellen, Beziehen, Liefern und Vorrätighalten
Vielfach macht sich auch strafbar, wer eine Schrift im Sinne
des § 11 Abs. 3 StGB „herstellt, bezieht, liefert, vorrätig hält“
– so in §§ 130 Abs. 2 Nr. 3, 131 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 184 Abs. 1
Nr. 8, 184a S. 1 Nr. 2, 184b Abs. 1 Nr. 4, 184c Abs. 1 Nr. 4
StGB. Eine ebensolche Regelung trifft § 27 Abs. 1 Nr. 2
JuSchG in Bezug auf Trägermedien. Weitere Nennungen
dieser Tathandlungen (einzeln oder in verschiedenen Kombinationen) finden sich noch in zahlreichen anderen (meist
medienfernen) Tatbeständen71.
In den eben explizit genannten Tatbeständen bewegen
sich diese Tathandlungen im Vorfeld der im jeweiligen Delikt benannten „eigentlichen“ Verbreitensstrafbarkeit (Verbreiten, Zugänglichmachen etc.), womit denn auch das jeweils im Tatbestand vermerkte Erfordernis einer entsprechenden Verwendungsabsicht korrespondiert – die freilich
nicht auf die den Gegenstand der Vorfeldhandlung bildenden
Schriften bezogen sein muss, sich vielmehr auch auf „aus
ihnen gewonnene Stücke“ beziehen kann (vgl. die oben genannten Vorschriften). Daraus ergibt sich, dass auch das Herstellen etc. von Drucksätzen, Negativen und anderen „Mutterstücken“72 sowie insbesondere auch von Manuskripten73 er64
Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184 Rn. 18.
So bei Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 31; Wolters (Fn. 29),
§ 184 Rn. 18.
66
So denn auch Krauß (Fn. 37), § 130 Rn. 92; Eisele (Fn. 4),
§ 184 Rn. 15; i.E. auch Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 31.
67
RG GA 59 (1912), 314; Schreibauer (Fn. 16), S. 191;
Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 15; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 181.
68
Ähnlich gelagert war der Fall RG GA 59 (1912), 314 (Abholung durch 16-Jährigen für den Käufer).
69
So ganz richtig Schreibauer (Fn. 16), S. 191; in der Sache
ebenso bereits RG GA 59 (1912), 314.
70
So Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184 Rn. 18; Heger
(Fn. 10), § 184 Rn. 5; dazu Schreibauer (Fn. 16), S. 191.
71
Vgl. hierzu die Auflistung der entsprechenden Vorschriften
in Fn. 74, 87, 97 und 107.
72
Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 60; Eschelbach, in: Matt/Renzikoswki (Hrsg.), Strafgesetzbuch Kommentar, 2013, § 184
Rn. 68; Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1042; Schreibauer (Fn. 16),
S. 277.
65
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ZJS 1/2017
28
Sonstige häufig wiederkehrende Tathandlungen im Medienstrafrecht
fasst ist, die ja nicht selbst verbreitet, sondern nur als Quelle
aus ihnen zu „gewinnender“ Stücke dienen sollen.
1. Das Herstellen74
Die Tathandlungsbezeichnung des „Herstellens“ bezieht sich
häufig auf Schriften, so neben den gerade zuvor erfolgten
Nennungen auch in §§ 74d Abs. 1 S. 2, 86 Abs. 1 (i.V.m.
Abs. 2), 184c Abs. 4 StGB, aber bisweilen auch auf Tonaufnahmen (§ 201 Abs. 1 Nr. 2 StGB) oder Bildaufnahmen
(§ 201a Abs. 1 Nrn. 1-4, Abs. 3 Nr. 1 StGB), auf Computerprogramme (§§ 202c Abs. 1 Nr. 2, 263a Abs. 3 StGB), auf
Trägermedien (§ 27 Abs. 1 Nr. 2 JuSchG) sowie auf andere –
in aller Regel medienferne – Gegenstände75.
Dabei umfasst „Herstellen“ (wie das RG schon im Jahre
1908 dargelegt hat) „alles von Menschen unmittelbar oder
mittelbar bewirkte Geschehen, das ohne weiteres oder in
fortschreitender Entwicklung ein bestimmtes körperliches
Ergebnis zustande bringt“76. Aufgrund dessen ist jeder am
Herstellen beteiligt, „der in irgendeiner Phase der Entwicklung bewusst zur Fertigstellung beigetragen hat“77, wie der
Verfasser des Manuskripts bzw. Drehbuchs, der Fotograf, der
Verleger, der Drucker etc.78, ebenso ein (Porno-)Darsteller.
Auch das Anfertigen eines Vervielfältigungsstücks (Kopie)
ist stets ein „Herstellen“79.
Andererseits aber wird – obwohl dies vom Wortlaut nicht
zwingend vorgegeben ist80 – das „Herstellen“ nicht tätig-
73
So speziell zum Herstellen (in § 131 Abs. 1 Nr. 4 StGB
a.F.) BGHSt 32, 1 (2 f.); Eschelbach (Fn. 72), § 184 Rn. 68;
dem zustimmend und dabei den Gedanken – richtigerweise –
auch auf die übrigen Vorfeldhandlungen erweiternd Eisele
(Fn. 4), § 184 Rn. 60; Schreibauer (Fn. 16), S. 278; Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1040 f.
74
Von „Herstellen“/„Herstellung“ sprechen auch §§ 86
Abs. 1, 184c Abs. 4, 201 Abs. 1 Nr. 2, 201a Abs. 1, Abs. 3
Nr. 1, 202c Abs. 1, 206 Abs. 3 Nr. 3, 263a Abs. 3 StGB, § 4
i.V.m. § 3 Nr. 1 ZKDSG, §§ 127 Abs. 1, 128 Abs. 1, Abs. 2
OWiG, aber auch § 74d Abs. 1 S. 2 StGB (kein Tatbestand);
zu weiteren (medienfernen) Normen vgl. B. Heinrich (Fn. 4),
Rn. 182 Fn. 495.
75
Vgl. die entsprechenden Nennungen in Fn. 74 sowie bei
B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 182 Fn. 495.
76
RGSt 41, 205 (207); Heger (Fn. 10), § 184 Rn. 5; Güntge,
in: Schönke/Schröder (Fn. 4), § 86 Rn. 11; B. Heinrich
(Fn. 4), Rn. 182.
77
Heger (Fn. 10), § 184 Rn. 5; Laufhütte/Kuschel, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch,
Leipziger Kommentar, Bd. 4, 12. Aufl. 2007, § 86 Rn. 30;
Steinmetz, in: Joecks/Miebach (Fn. 1), § 86 Rn. 32.
78
Vgl. Laufhütte/Kuschel (Fn. 77), § 86 Rn. 30; Fischer
(Fn. 4), § 184 Rn. 21; siehe auch Hörnle (Fn. 11), § 184
Rn. 92.
79
Laufhütte/Kuschel (Fn. 77), § 86 Rn. 30; Fischer (Fn. 4),
§ 184 Rn. 21; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 61.
80
So ganz richtig Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 92; Schreibauer
(Fn. 16), S. 278.
STRAFRECHT
keits-, sondern erfolgsbezogen verstanden81, um den Anwendungsbereich der in aller Regel sowieso als Vorfeldtatbestand
(etwa eines „Verbreitens“) fungierenden Begehensweise nicht
ausufern zu lassen82. Damit ist das „Herstellen“ erst mit Vorliegen des im Tatbestand beschriebenen Endprodukts vollendet83, ein ergebnisloses Produktionsgeschehen nur (strafloser)
Versuch84.
Ein bloßes Manuskript, aus dem gemäß den zuvor (oben
vor 1.) genannten Tatbeständen etwaige später zu verbreitende bzw. sonst tatbestandsgemäß zu verwendende Stücke erst
noch (durch Drucklegung) „gewonnen“ werden müssen (vgl.
schon oben vor 1.), ist – um nicht in einer der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 GG widerstreitenden Weise bereits
das noch intern bleibende Verfertigen eines Manuskripts zu
erfassen85 – „erst dann hergestellt […], wenn die Gefahr
jederzeit möglicher Verbreitung bereits ganz nahe gerückt
ist“, wenn also „der zu veröffentlichende Inhalt feststeht und
der Weg zur technischen Vervielfältigung freigegeben ist“,
d.h. – wenn das Manuskript an einen Verlag gegeben ist –,
„der für die Schriftleitung Zuständige der Veröffentlichung
[…] zugestimmt hat“86.
2. Das Beziehen87
Das „Beziehen“ (einer Schrift oder eines Trägermediums,
vgl. oben vor 1.) wird mitunter umschrieben als „das Erlangen tatsächlicher eigener Verfügungsgewalt durch abgeleiteten Erwerb […] von einem anderen“88. Zu bevorzugen ist
aber die Formel, es „beziehe“ (z.B. eine Schrift), „wer durch
einverständliches Zusammenwirken mit dem früheren Gewahrsamsinhaber […] eigenen Gewahrsam erlangt“89; denn
damit ist – nachdem der Gewahrsamswechsel nicht auf Dauer
angelegt sein muss90 – klargestellt, dass auch die Fälle des
Anmietens bzw. Entleihens erfasst sind91.
81
Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 92; Güntge (Fn. 76), § 86
Rn. 11; Steinmetz (Fn. 77), § 86 Rn. 32.
82
Näher hierzu Schreibauer (Fn. 16), S. 278 f.
83
Güntge (Fn. 76), § 86 Rn. 11; Heger (Fn. 10), § 184 Rn. 5;
Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (Fn. 4), § 86a
Rn. 9b.
84
Laufhütte/Kuschel (Fn. 77), § 86 Rn. 30; Hörnle (Fn. 11),
§ 184 Rn. 92; Steinmetz (Fn. 77), § 86 Rn. 32.
85
Ausführlich und lesenswert hierzu BGHSt 32, 1 (7); siehe
auch Schreibauer (Fn. 16), S. 278 f.
86
Alle drei vorstehenden Zitate BGHSt 32, 1 (S. 8/Leitsatz/
S. 8), Hervorhebung von mir; siehe auch Hörnle (Fn. 11),
§ 184 Rn. 92.
87
Das „Beziehen“ (von Arzneimitteln) findet sich auch in
§§ 95 Abs. 1 Nr. 5, 97 Abs. 2 Nr. 12 AMG.
88
Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 62 (Hervorhebung von mir);
Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1043; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 194.
89
Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 93 (Hervorhebung von mir);
siehe auch Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184 Rn. 42;
Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 69.
90
So ganz richtig Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 93, sowie
(wenngleich zum „Liefern“) B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 183.
91
So explizit zur Vermietung Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 93.
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29
AUFSÄTZE
Manfred Heinrich
Mangels abgeleiteten Erwerbs bzw. einverständlichen Zusammenwirkens nicht erfasst ist der Fall eigenmächtigen
Sich-Verschaffens92, etwa durch Diebstahl93. Ob das Erlangen entgeltlich oder unentgeltlich erfolgt, ist hingegen gleichgültig94, nicht aber genügt der bloße Abschluss eines (Kauf-)
Vertrags ohne gleichzeitige tatsächliche Verschaffung von
tatsächlicher Verfügungsgewalt bzw. Gewahrsam95. Auch die
bloße Entgegennahme unverlangt zugesendeter Waren genügt
nicht96.
3. Das Liefern97
Das dem „Überlassen“ (oben II. 2.) ähnliche98 „Liefern“ ist
gewissermaßen das Spiegelbild zum „Beziehen“ (soeben
2.)99. Wie dort wird es denn auch als „Übergabe der Sache
zur eigenen Verfügungsgewalt des Bestellers“ beschrieben100
bzw., was vorzuziehen ist – um wieder (vgl. schon soeben
unter 2. zur nur vorübergehenden Einräumung von Gewahrsam101) der Einbeziehung von Miete und Leihe102 eine sichere
Grundlage zu geben –, mit den Worten, es „liefere“ (die
Schrift, das Trägermedium etc.), „wer durch beiderseitiges
Zusammenwirken dem anderen den Gewahrsam verschafft“103.
Auch beim „Liefern“ bedarf es also beiderseitigen Einvernehmens104, so dass es nicht vorliegt, wenn jemand dafür
sorgt, dass der Gegenstand unaufgefordert an den anderen
92
Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 62; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 93;
Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 69.
93
RGSt 77, 113 (118); Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 93;
Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 69; Fischer (Fn. 4), § 184 Rn. 21.
94
Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 62; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 93;
Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1043.
95
B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 194; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 62.
96
Vgl. Fischer (Fn. 4), § 184 Rn. 21, der von „unverlangter
Entgegennahme“ spricht.
97
Von „Liefern“ ist neben den Nennungen oben im Text vor
1. die Rede in §§ 99 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, 109e Abs. 2, 312
Abs. 1 StGB.
98
Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 69, der allerdings zu weitgehend von „gleichem Inhalt“ spricht.
99
Vgl. B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 183 („Gegenstück“); Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1043; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 63.
100
Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1043 (Hervorhebung von mir);
Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 63; ähnlich B. Heinrich (Fn. 4),
Rn. 183.
101
Dass sie genügt, erklären Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 93,
und B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 183.
102
Eine solche ohne Weiteres bejahend BGHSt 29, 68 (69);
ebenso Schreibauer (Fn. 16), S. 279; Hörnle (Fn. 11), § 184
Rn. 93; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 183; a.A. aber Eisele (Fn. 4),
§ 184 Rn. 63.
103
Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 93 (Hervorhebung von mir);
entsprechend Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184 Rn. 42;
Schreibauer (Fn. 16), S. 279; siehe auch Wolters (Fn. 29),
§ 184 Rn. 69; Fischer (Fn. 4), § 184 Rn. 21.
104
So explizit B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 183; siehe auch
Schreibauer (Fn. 16), S. 279; Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 69.
gelangt105. Auf eine Entgeltlichkeit kommt es hingegen nicht
an106 – so dass eine Schenkung ebenso genügt, wie eine unentgeltliche Leihe.
Nicht ausreichend ist wieder (siehe bereits soeben unter
2.) der Abschluss eines zur Verschaffung verpflichtenden
Vertrags, entscheidend ist allein das Verschaffen selbst.
4. Das Vorrätighalten
Im medialen Kontext107 bezieht sich das Merkmal „Vorrätighalten“ auf Schriften (so neben den oben vor 1. genannten
Tatbeständen108 auch in § 86 Abs. 1 – i.V.m. Abs. 2 – StGB),
auf Trägermedien (§ 27 Abs. 1 Nr. 2 JuSchG) und auf Gegenstände gem. § 86a Abs. 1 Nr. 2 StGB.
Oft einem zuvor geschehenen „Herstellen“ oder „Beziehen“ nachfolgend109 meint das „Vorrätighalten“ den Besitz
oder Gewahrsam110 (bzw. das Bereithalten111) zu einem bestimmten Verwendungszweck112, nicht selten dem des „Verbreitens“ (vgl. insbesondere §§ 86 Abs. 1, 86a Abs. 1 Nr. 2
StGB).
Ob der Zweck immer in einer körperlichen „Abgabe“ des
Gegenstandes bestehen muss113 (etwa im Sinne eines Verkaufens, Vermietens oder Verschenkens), erscheint zweifelhaft;
sinnvoll ist es, die Formen unkörperlichen „Zugänglichmachens“ mit einzubeziehen114. Nicht jedoch genügt der
Besitz als solcher bzw. der Besitz in der Absicht, den Gegenstand zu vernichten, den Behörden auszuhändigen oder dem
Hersteller zurückzugeben (etwa im Zuge einer Reklamation)
oder auch der Besitz in Unschlüssigkeit über die weitere
Verwendung115.
Eines Vorrats bedarf es nicht, bereits das Vorhalten nur
eines Stücks reicht aus116; insbesondere genügt das Speichern
105
Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 63; Wolters (Fn. 29), § 184
Rn. 69; Fischer (Fn. 4), § 184 Rn. 21.
106
Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 69.
107
§ 69 Abs. 3 Nr. 21, Abs. 4 Nr. 3 BNatSchG sanktionieren
das „Vorrätighalten“ u.a. von Tieren und Pflanzen.
108
§§ 130 Abs. 2 Nr. 3, 131 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 184 Abs. 1
Nr 8, 184a S. 1 Nr. 2, 184b/c Abs. 1 Nr. 4 StGB.
109
Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 64.
110
So ganz richtig Horn, NJW 1977, 2329 (2331); nur von
Besitz sprechen die in Fn. 112 Genannten.
111
So, das finale Element klarer aufzeigend, Heger (Fn. 10),
§ 184 Rn. 5.
112
RGSt 42, 209 (210); Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 64;
B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 184; Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1044.
113
So offenbar Horn, NJW 1977, 2329 (2331); Heger
(Fn. 10), § 184 Rn. 5; Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1044.
114
So i.E. auch RGSt 47, 223 (226 f.): Vorrätighalten einer
Schallplatte zum Zwecke des Vorspielens.
115
So ganz richtig Horn, NJW 1977, 2329 (2331); Wolters
(Fn. 29), § 184 Rn. 69.
116
RGSt 42, 209 (210); 47, 223 (227); 62, 396 ff.; Laufhütte/
Kuschel (Fn. 77), § 86 Rn. 31; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 64;
Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 93; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 184;
siehe auch Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1044.
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ZJS 1/2017
30
Sonstige häufig wiederkehrende Tathandlungen im Medienstrafrecht
auch nur einer Datei auf einer Festplatte, wenn dabei an ein
Verbreiten117 bzw. Zugänglichmachen gedacht ist118.
Auch mittelbarer Besitz kommt in Betracht119, unverzichtbar ist aber die eigene Verfügungsgewalt des Besitzenden im Sinne zumindest einer Mitbestimmungsmacht120 – so
dass wiederum das bloße Verwahren für einen anderen nicht
hinreicht121.
IV. Das (feilbietende) Anbieten, Ankündigen, Anpreisen
und Bewerben
Bis zum Eingreifen des 49. StÄG (vgl. oben I., bei und in
Fn. 2) war in zahlreichen Verbreitungsdelikten auch für denjenigen Strafe angedroht, der – im Sinne des Betreibens von
Werbung122 – eine Schrift im Sinne des § 11 Abs. 3 StGB
„anbietet, ankündigt, anpreist“ (so in §§ 130 Abs. 2 Nr. 1
lit. d, 131 Abs. 1 Nr. 4, 184 Abs. 1 Nr. 5, 184a Nr. 3, 184b
Abs. 1 Nr. 3, 184c Abs. 1 Nr. 3 StGB a.F.).
Dies hat der Gesetzgeber – ohne damit aber sachlich etwas ändern zu wollen123 – im Zuge seiner Bemühungen um
„vorsichtige Neuordnung und redaktionelle Bereinigung der
§§ 130, 131, 184 bis 184c StGB“124 dahingehend umgeformt,
dass sich strafbar macht, wer eine Schrift „anbietet oder bewirbt“ (vgl. §§ 130 Abs. 2 Nr. 3, 131 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 184
Abs. 1 Nr. 5, 184a S. 1 Nr. 2, 184b Abs. 1 Nr. 4, 184c Abs. 1
Nr. 4 StGB, wobei in § 184 Abs. 1 Nr. 5 die Strafbarkeit auf
bestimmte Vorgehensweisen beschränkt ist).
Von „anbietet, ankündigt, anpreist“ ist jedoch noch immer
die Rede in § 27 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 15 Abs. 1 Nr. 6, Abs. 2
JuSchG, wenn auch nur in Bezug auf Trägermedien125; und
117
Zur Problematik des Übermittelns von Dateien über das
Internet als „Verbreiten von Schriften“ ausführlich M. Heinrich, ZJS 2016, 569 (578 ff.); ders., in: Hefendehl (Hrsg.),
Streitbare Strafrechtswissenschaft, Festschrift für Bernd
Schünemann zum 70. Geburtstag am 1. November 2014,
2014, S. 597.
118
Schreibauer (Fn. 16), S. 280 f.; B. Heinrich (Fn. 4),
Rn. 184; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 93; Fischer (Fn. 4),
§ 184 Rn. 21.
119
Laufhütte/Kuschel (Fn. 77), § 86 Rn. 31; Heger (Fn. 10),
§ 184 Rn. 5; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 93.
120
Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 64; Schreibauer (Fn. 16), S. 279;
B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 184; Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1044.
121
Wie Fn. 120; siehe auch Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 93;
Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 69; a.A. Fischer (Fn. 4), § 184
Rn. 21.
122
Vgl. Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184 Rn. 31; Hörnle
(Fn. 11), § 184 Rn. 70; Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1004.
123
BT-Drs. 18/2601, S. 24: „Ohne inhaltliche Bedeutung und
lediglich eine redaktionelle Änderung ist die Ersetzung der
Wörter ‚ankündigen und anpreisen‘ durch das Wort ‚bewerben‘.“
124
BT-Drs. 18/2601, S. 3 (siehe auch S. 2, 16, 23).
125
Dabei ist aus der Zusammenschau „anbietet, überlässt,
zugänglich macht“ in § 27 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 JuSchG nicht
etwa zu schließen, dass nur das individuelle Anbieten (vgl.
oben im Text Abschnitt II.) gemeint wäre; durch die Inbezug-
STRAFRECHT
auch in § 219a Abs. 1 StGB sowie den Bußgeldtatbeständen
der §§ 119 Abs. 1, 2, 120 Abs. 1 Nr. 2 OWiG wird dieser
Begehenstrias noch Erwähnung getan – hier nun zwar im
Zusammenhang u.a. mit öffentlichem Begehen bzw. dem
Verbreiten oder Zugänglichmachen von Schriften, gerichtet
aber jeweils auf andere Bezugsgegenstände – wie z.B. auf
zum Schwangerschaftsabbruch geeignete Mittel bzw. auf
Gegenstände (§ 219a Abs. 1 Nr. 2 StGB) oder auf die Gelegenheit zu sexuellen Handlungen (§§ 119 Abs. 1, 120 Abs. 1
Nr. 2 OWiG).
1. Die einzelnen Werbeverbote126
a) Das (feilbietende) Anbieten
Das Anbieten im hier verstandenen Sinn meint nicht den Fall
des – schon zuvor (oben in Abschnitt II. 1.) besprochenen –
individuellen Anbietens im Sinne eines konkreten Angebots
auf Überlassen bzw. Zugänglichmachen des betreffenden
Gegenstands gegenüber einem bzw. mehreren bestimmten
Adressaten127. Es erfasst vielmehr (nur) das überindividuelle
Angebot an eine Personenmehrheit, also das (nicht unbedingt
öffentliche128) an einen unbestimmten Personenkreis gerichtete Feilbieten129 – z.B. durch Plakate, Lautsprecher- oder
Rundfunkwerbung, Werbebroschüren, Aufstellen eines Automaten, Ausstellen im Schaufenster bzw. im frei zugänglichen
Verkaufsraum oder aber auch durch Auflistung eines entsprechenden Sortiments im Internet130.
Letztlich geht es um die Aufforderung an eine Mehrzahl
noch nicht individualisierter potentieller Kunden, von sich
aus ein Kauf- oder Mietangebot zu machen131, stellt es mithin
– zivilrechtlich gesprochen – eine invitatio ad offerendum
dar.
b) Das Ankündigen132
„Ankündigen“ ist nach gängiger Formulierung jede Kundgabe, durch die auf eine – in jedenfalls nicht allzu ferner Zu-
nahme von § 15 Abs. 1 Nr. 6 JuSchG ist ersichtlich auch das
feilbietende Anbieten erfasst.
126
Zu dieser Bezeichnung (noch zur damaligen Begriffstrias
„anbietet, ankündigt, anpreist“) BVerwG NJW 1977, 1411;
BGHSt 34, 94 (98); Heger (Fn. 10), § 184 Rn. 6b.
127
Zur Notwendigkeit des Unterscheidens vgl. bereits die
Nachweise oben in Fn. 32.
128
Vgl. Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 47 (geschlossener Jugendclub); siehe auch § 184 Abs. 1 Nr. 5 StGB, der das Zusatzerfordernis des „öffentlich“ Anbietens denn auch explizit
nennt.
129
Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 71; Wolters (Fn. 29), § 184
Rn. 47; siehe auch Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 47.
130
Vgl. diese und weitere Beispiele bei den soeben in Fn. 129
Genannten.
131
So hier und nachfolgend Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 71;
siehe auch Meier, NStZ 1985, 341 (342): „Vorschlag“.
132
Von „Ankündigen“ spricht neben den oben im Text vor 1.
genannten Normen auch § 28 Abs. 1 Nr. 4 JuSchG.
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31
AUFSÄTZE
Manfred Heinrich
kunft liegende133 – Gelegenheit zum Bezug (wenn ein Überlassen des Gegenstands angestrebt ist) oder (wenn es nur um
das Zugänglichmachen, etwa eines Films, geht) zur Besichtigung aufmerksam gemacht wird134. Essentiell ist also, dass –
in werbender Form – über Bezugsquellen bzw. Betrachtungsmöglichkeiten informiert wird135, wobei die rein sachliche Darbietung der Informationen, frei von Befürwortung
oder Lob, bereits genügt136. Anders verhält es sich freilich,
mangels werbenden Charakters, bei erkennbar kritischer, gar
ablehnender Positionierung137 (näher hierzu noch nachfolgend unter 2.).
Gerade im Hinblick auf das Aufzeigen von Möglichkeiten
zum Bezug eines Gegenstandes (anders als bei der ja per se
zukunftsorientierten Ankündigung einer Filmvorführung138)
wird jedoch unterschiedlich beurteilt, ob von „Ankündigen“
nur bei erst künftiger, derzeit noch nicht bestehender Greifbarkeit des beworbenen Gegenstands zu sprechen ist139 (wie
in Fall 1: „In Kürze ist bei uns das neue Porno-Magazin X
erhältlich!“140), oder auch dann, wenn der Gegenstand bereits
jetzt zu bekommen ist141 (wie in Fall 2: „Das neue PornoMagazin X ist hier erhältlich! Jetzt zugreifen!“). Schon angesichts des natürlichen Wortsinnes von „Ankündigen“ im
Sinne des Hinweisens auf ein in der Zukunft liegendes Ereignis142, nicht zuletzt aber auch, um eine sachgerechte Abgrenzung zum Merkmal „Anbieten“ zu ermöglichen, das in Fällen
bereits bestehender Verschaffbarkeit sowieso gegeben ist und
das bei entsprechend weiter Auslegung von „Ankündigen“
ohne eigenständige Bedeutung bliebe143, erscheint die engere
133
Üblicherweise ist denn auch von „naher Zukunft“ die
Rede, vgl. nur Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 47. – Zur Frage
einer Beschränkung überhaupt auf die erst künftige Gelegenheit vgl. gleich nachfolgend oben im Text.
134
RGSt 37, 142 (143); Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15),
§ 184 Rn. 32; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 45; Laubenthal
(Fn. 34), Rn. 1006; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 186; Hilgendorf
(Fn. 33), § 184 Rn. 39.
135
B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 186; Hörnle (Fn. 11), § 184
Rn. 72.
136
So explizit Hilgendorf (Fn. 33), § 184 Rn. 39.
137
Siehe noch Fn. 159 sowie Hilgendorf (Fn. 33), § 184
Rn. 39; Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184 Rn. 32.
138
Bei der die Kundgabe eines Vorführtermins allemal genügt, vgl. Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 72.
139
So Meier, NStZ 1985, 341 (342); Schreibauer (Fn. 16),
S. 247 f.; in diesem Sinne auch Wolters (Fn. 29), § 184
Rn. 47, sowie Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 72 („erst zu einem
späteren Zeitpunkt überlassen werden können“).
140
Beispiele (Fall 1 und Fall 2) von Schreibauer (Fn. 16),
S. 248.
141
So, wie aus den von ihnen gewählten Formulierungen
ersichtlich wird, die in Fn. 134 Genannten.
142
So (unter Hinweis auf den Duden) zu Recht Meier, NStZ
1985, 341 (342); siehe auch Schreibauer (Fn. 16), S. 248.
143
So überzeugend Meier, NStZ 1985, 341 (342): „Unterfall
des Ankündigens“; Schreibauer (Fn. 16), S. 247 f.
Sichtweise überzeugend, in Fall 1 (nur) ein „Ankündigen“
und in Fall 2 (nur) ein „Anbieten“ zu bejahen144.
c) Das Anpreisen145
Unter „Anpreisen“ ist die lobende oder empfehlende Erwähnung bzw. Beschreibung entsprechender Schriften, Trägermedien, Mittel etc. (vgl. oben vor 1.) zu verstehen146, die
Hervorhebung von Vorzügen, die Anerkennung günstiger
Wirkungen, die rühmende Darstellung sowie die Beimessung
hohen Wertes147. Weder kommt es dabei darauf an, ob der
Anpreisende vor hat, etwaigen Interessenten den Gegenstand
später dann zu verschaffen oder zugänglich zu machen148 (da
es dem Gesetz ja nur darum geht, ein positives Interesse an
dem Gegenstand zu verhindern149), noch ist es nötig, dass ein
Hinweis auf mögliche Bezugsquellen gegeben wird150.
Erst in Fällen fehlender Angabe einer Bezugsquelle erlangt das „Anpreisen“ einen gegenüber dem „Anbieten“ und
dem „Ankündigen“ eigenständigen Anwendungsbereich151.
d) Das Bewerben
Wie sich aus den Gesetzesmaterialien ergibt, ist mit „Bewerben“ in den durch das 49. StÄG neu gestalteten §§ 130
Abs. 2 Nr. 3, 131 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 184 Abs. 1 Nr. 5, 184a
S. 1 Nr. 2, 184b Abs. 1 Nr. 4, 184c Abs. 1 Nr. 4 StGB (siehe
schon oben vor 1.) erklärtermaßen nichts anderes gemeint, als
zuvor in diesen Vorschriften durch die Begriffe „Ankündigen“ und „Anpreisen“ zum Ausdruck gebracht war: „Ohne
inhaltliche Bedeutung und lediglich eine redaktionelle Änderung ist die Ersetzung der Wörter ‚ankündigen und anpreisen‘
durch das Wort ‚bewerben‘“152.
Ging es dem Gesetzgeber (wie bei anderen Maßnahmen,
etwa der Streichung des „Ausstellens, Anschlagens, Vorführens“, vgl. oben I.) auch bei dieser Ersetzung lediglich um
eine „vorsichtige Neuordnung und redaktionelle Bereinigung
144
Vgl. auch die Überlegungen von Meier, NStZ 1985, 341
(342) zur geänderten Gesetzeslage.
145
Vom „Anpreisen“ einer Schrift im Sinne des § 11 Abs. 3
StGB spricht auch § 91 Abs. 1 Nr. 1 StGB.
146
Vgl. RGSt 37, 142 (143); OLG Hamburg NStZ 2007, 487;
Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 73; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 45;
Hilgendorf (Fn. 33), § 184 Rn. 39; Laubenthal (Fn. 34),
Rn. 1006; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 187.
147
So die weiteren von RGSt 37, 142 (143); OLG Hamburg
NStZ 2007, 487 genannten Kriterien.
148
OLG Hamburg NStZ 2007, 487; Hörnle (Fn. 11), § 184
Rn. 73; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 45; B. Heinrich (Fn. 4),
Rn. 187; a.A. Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 47; Laufhütte/
Roggenbuck (Fn. 15), § 184 Rn. 32.
149
So zum Normzweck ganz richtig Hörnle (Fn. 11), § 184
Rn. 73; siehe auch OLG Hamburg NStZ 2007, 487.
150
OLG Hamburg NStZ 2007, 487; Eisele (Fn. 4), § 184
Rn. 45; Fischer (Fn. 4), § 184 Rn. 16.
151
Näher OLG Hamburg NStZ 2007, 487; siehe auch Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1006.
152
BT-Drs. 18/2601, S. 24.
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ZJS 1/2017
32
Sonstige häufig wiederkehrende Tathandlungen im Medienstrafrecht
der §§ 130, 131, 184 bis 184c StGB“153, gibt es keinen
Grund, in dem neu geschaffenen „Bewerben“ etwas anderes
zu sehen, als eben eine Zusammenfassung von „Ankündigen“
und „Anpreisen“ in einem Wort.
2. Gemeinsame Erfordernisse
Die soeben benannten Werbeverbote – unter Einschluss auch
des (feilbietenden) „Anbietens“ (vgl. soeben 1. a) – bestehen
unabhängig vom Vorliegen einer Gewinnerzielungsabsicht154.
Sie setzen aber nicht nur voraus, dass der betreffende Gegenstand auch tatsächlich pornografisch, jugendgefährdend etc.
ist155, sondern auch, dass mit dem Anbieten, Ankündigen,
Anpreisen, Bewerben „das wohlwollende Interesse des Publikums am Gegenstand der Werbung geweckt oder gefördert
werden soll“156. Entscheidend ist also, dass „der angesprochene Gegenstand nicht in einer Weise dargestellt und erörtert wird, die gegenläufige Ziele erkennen lässt“157 – so dass
Beiträge, die sich erkennbar (und nicht nur im Sinne eines
Deckmantels158) kritisch mit dem Gegenstand befassen, auch
dann kein Anbieten, Ankündigen, Anpreisen oder Bewerben
darstellen, wenn sie objektiv geeignet sind, Interesse an ihm
zu wecken159.
Fraglos muss der beworbene Gegenstand (z.B. die Schrift,
das Trägermedium oder das Mittel im Sinne des § 219a
Abs. 1 Nr. 2 StGB) als solcher hinreichend konkretisiert
sein160 – sei es nun durch Nennung des Titels von Schrift
oder Trägermedium bzw. der Bezeichnung des Mittels, sei es
(ohne Titelnennung) nur durch Angabe von Ort und Zeit
einer Filmvorführung bzw. durch (ggf. neutral verpacktes)
Ausstellen im Verkaufsregal.
Diskutiert wird aber, ob unter dieser Voraussetzung auch
eine ihrem Inhalte nach bloß neutrale Werbung genügt161,
d.h. eine Werbung ohne aus sich selbst heraus gegebene
Erkennbarkeit des pornografischen, gewaltverherrlichenden,
volksverhetzenden oder jugendgefährdenden Charakters der
153
BT-Drs. 18/2601, S. 3.
Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 46; Hörnle (Fn. 11), § 184
Rn. 73 a.E.; siehe auch BGHSt 34, 218 (219 f.).
155
OLG Hamburg MDR 1978, 506; Laubenthal (Fn. 34),
Rn. 1007; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 46.
156
BGHSt 34, 218 (220); siehe auch Eisele (Fn. 4), § 184
Rn. 46; Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 45; Laubenthal (Fn. 34),
Rn. 1007; speziell zum „Ankündigen“ ebenso Krauß
(Fn. 37), § 131 Rn. 39 a.E.
157
BGHSt 34, 218 (220); ebenso Laubenthal, Sexualstraftaten, 2000, Rn. 811 mit anschaulichem Beispiel.
158
Näher hierzu BGHSt 34, 218 (220).
159
BGHSt 34, 218 (220); OLG Hamburg NStZ 2007, 487;
Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 46; Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1007;
speziell zum „Ankündigen“ ebenso Krauß (Fn. 37), § 131
Rn. 39; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 186.
160
In diesem Sinne auch BGHSt 34, 94 (98): „Das Objekt,
für das geworben wird, muss in Erscheinung treten“; OLG
München NJW 1987, 453 (454): „genügend individualisiert“;
siehe auch Meier, NStZ 1985, 341 (342).
161
So noch RGSt 57, 359 (360); OLG München NJW 1987,
453; Schreibauer (Fn. 16), S. 243 ff.
154
STRAFRECHT
Schrift bzw. des Trägermediums – oder der abortiven Wirkung des zum Schwangerschaftsabbruch geeigneten Mittels.
In der Regel wird dies verneint162: Es müsse vielmehr jener Charakter „aus der Formulierung oder der Gestaltung von
Angebot, Ankündigung oder Anpreisung erkennbar sein“163;
erforderlich sei, dass er „für den durchschnittlich interessierten und informierten Betrachter aus der Schrift selbst heraus
erkennbar gemacht wird und von diesem deshalb auch so
verstanden werden muss“164. Nicht also genüge es, wenn sich
– wie bei der Erwähnung lediglich des per se unverfänglichen
Titels einer Schrift – jener Charakter „nur für denjenigen
erschließt, der mit dem Inhalt bereits vertraut ist“165, oder
wenn auf ihn nur aufgrund zusätzlichen Wissens zu schließen
ist166 – etwa bei der Werbung für einen Film mit unverfänglichem Titel aufgrund der Kenntnis, dass in dem betreffenden
Kino regelmäßig Pornofilme gespielt werden167.
Dem ist in der Sache prinzipiell zuzustimmen. Bei genauerem Hinsehen stellt sich die Frage nach der Strafbarkeit
auch neutraler Werbung jedoch nicht bereits im Hinblick auf
die Merkmale „Anbieten, Ankündigen, Anpreisen, Bewerben“, sondern handelt es sich bei ihr (erst) um das darüber
hinausgehende, weitere Problem der intendierten Reichweite
des jeweiligen Tatbestandes: Wird eine Film-DVD mit neutralem Titel in unverfänglicher Weise in Zeitungsanzeigen als
Objekt möglichen Erwerbs präsentiert, gar mit Worten wie
„Gelegenheit! unbedingt kaufen!“ (zweifellos) beworben, so
ist dies, auch ohne dass es auf die Frage der Erkennbarkeit
des jeweiligen (etwa jugendgefährdenden) Inhalts der DVD
nur irgend ankäme, so oder so ein „Anbieten, Ankündigen,
Anpreisen, Bewerben“168. Ob dann freilich ein solches in
neutraler Form erfolgendes „Anbieten, Ankündigen, Anpreisen, Bewerben“ auch zur Verwirklichung des jeweiligen
Tatbestandes genügt, ist eine andere Frage und hängt von
dessen jeweiliger Zielsetzung ab.
Deutlich tritt diese „Zweistufigkeit“ in § 219a Abs. 1
Nr. 2 StGB vor Augen, ist es dort doch die eine Voraussetzung, dass jemand „Mittel, Gegenstände oder Verfahren, die
zum Abbruch der Schwangerschaft geeignet sind, […] anbietet, ankündigt, anpreist“ (etwa durch mediale Präsentation des
162
BGHSt 34, 94 (98 f.); BGH NJW 1977, 1695 (1696);
1989, 409; ausführlich Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1007 f.;
Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 46; siehe auch Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184 Rn. 17, 32; Heger (Fn. 10), § 184 Rn. 5;
Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 74; Hilgendorf (Fn. 33), § 184
Rn. 39; Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 48.
163
Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 74, mit näheren Ausführungen
in Rn. 75; siehe auch Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 46.
164
Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 46; vgl. bereits BGHSt 34, 94
(97, 99 f.); BGH NJW 1989, 409.
165
Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 74.
166
Vgl. Fn. 167 sowie Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 74; Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184 Rn. 32.
167
BGH NJW 1989, 409; Perron/Eisele, in: Schönke/
Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 28. Aufl. 2010;
§ 184 Rn. 31; siehe auch Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1008 f.
168
In diesem Sinne – speziell zum „Anbieten“ – auch Meier,
NStZ 1985, 341 (342).
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33
AUFSÄTZE
Manfred Heinrich
Präparats xy zum Erwerb), und eine davon zu trennende
zweite, dass dies geschieht „unter Hinweis auf diese Eignung“. Ein Fehlen des Hinweises (und damit der unvermittelten Erkennbarkeit abortiver Wirkung) invalidiert nicht das
„Anbieten, Ankündigen, Anpreisen“ des – anhand der neutralen Bezeichnung „xy“ hinreichend konkretisierten (vgl. oben
bei Fn. 160) und damit für Eingeweihte als Abortivum identifizierbaren – Präparats im Sinne eines den Tatbestand verwirklichenden feilbietenden Bewerbens.
In diesem Lichte betrachtet ist auch die vielfach kritisierte169 Rechtsprechung des BGH zu nach § 18 JuSchG indizierten Trägermedien, nach welcher in Bezug auf diese auch
neutrale Werbung gem. § 27 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. 15 Abs. 1
Nr. 6 JuSchG strafbar sein soll170 – während im Rahmen der
in §§ 130, 131, 184, 184a, 184b/c, 219a StGB enthaltenen
Werbeverbote eine Strafbarkeit neutraler Werbung nicht
bestehe –, jedenfalls hinsichtlich der Ausfüllung der Merkmale „Anbieten, Ankündigen, Anpreisen, Bewerben“ nicht
widersprüchlich: Hier wie dort spricht nichts dagegen, auch
neutrale Werbung unter diese Merkmale zu subsumieren. Die
inhaltliche Ungleichbehandlung neutraler Werbung hier als
strafbar und dort als straflos171, mag in der Sache fragwürdig
erscheinen172, vor allem auch im Hinblick darauf, mit ihr
zwar bei den unter § 15 Abs. 1 JuSchG fallenden indizierten
einfach jugendgefährdenden Trägermedien die Strafbarkeit
auch neutraler Werbung anzunehmen, nicht aber bei den über
§ 15 Abs. 2 JuSchG auch ohne Indizierung erfassten (und
deshalb nicht indizierungsbedürftigen) schwer jugendgefährdenden173; sie ist aber allein den Überlegungen notwendigen
Rechtsgüterschutzes geschuldet und ändert nichts am Vorliegen eines „Anbietens, Ankündigens, Anpreisens, Bewerbens“
in allen Fällen.
V. Einführen und Ausführen
In einigen Tatbeständen wird sanktioniert, wer eine Schrift
im Sinne des § 11 Abs. 3 StGB „einführt oder ausführt“ bzw.
„einzuführen oder auszuführen unternimmt“ – so in §§ 86
Abs. 1 (i.V.m. Abs. 2) bzw. 130 Abs. 2 Nr. 3, 131 Abs. 1 S. 1
Nr. 3, 184a S. 1 Nr. 2, 184b/c Abs. 1 Nr. 4 StGB.
Entsprechende Regelungen finden sich bezüglich anderer
Objekte auch in §§ 86a Abs. 1 Nr. 2, 328 Abs. 1 StGB, 127
Abs. 1, 128 Abs. 1 Nr. 2 OWiG bzw. in §§ 275 Abs. 1, 276
Abs. 1 Nr. 1 StGB. Bezogen auf Schriften sprechen auch
§ 184 Abs. 1 Nrn. 4 und 8 StGB von „einzuführen unternimmt“ bzw. § 184 Abs. 1 Nr. 9 StGB von „auszuführen
169
Vgl. nur Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 46; Fischer (Fn. 4),
§ 184 Rn. 16; siehe auch Schreibauer (Fn. 16), S. 244 f.
170
BGHSt 33, 1 (zu § 5 Abs. 2 GjS a.F.); 34, 94 (99); ebenso
bereits BVerwG NJW 1977, 1411.
171
Zur Verfassungsgemäßheit trotz bestehender „Ungereimtheit“ vgl. BVerfG NJW 1986, 1241 (1243).
172
So die überwiegende Auffassung im Schrifttum, vgl.
Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 46 („wenig einleuchtende Differenzierung“); Fischer (Fn. 4), § 184 Rn. 16; kritisch auch
Schreibauer (Fn. 16), S. 245 f.
173
Vgl. Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 74; kritisch dazu insbesondere Schreibauer (Fn. 16), S. 244 f.
unternimmt“, und im Hinblick auf Trägermedien ist in § 27
Abs. 1 Nr. 1, 2 JuSchG von „einführen“ die Rede.
Weitere Nennungen dieser Tathandlungen (sei es nun
gemeinsam oder einzeln) sind noch in zahlreichen anderen –
meist freilich medienfernen174 – Tatbeständen zu verzeichnen175.
1. Das Einführen
„Einführen“ meint in den soeben vor 1. genannten Normen
das Verbringen des betreffenden Gegenstands in das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland176. Da es diesen Vorschriften nicht um den Schutz wirtschaftlicher Interessen zu
tun ist, geht es bei ihnen auch nicht (anders als in § 4 Abs. 2
Nr. 6 AWG) um das Verbringen in das Wirtschaftsgebiet der
BRD, das (gem. § 4 Abs. 1 Nr. 1, 2 AWG) einen anderen
räumlichen Zuschnitt aufweist177, sondern um den räumlichen
Geltungsbereich deutschen Strafrechts im Sinne des § 3 StGB
(„Inland“)178.
„Verbringen“ meint „die von menschlichem Willen gesteuerte tatsächliche Beförderung […] über die Grenze“179; es
genügt, wenn jemand bewirkt, dass der Gegenstand die Grenze überschreitet180. Ein „Einführen“ kann also bei dem gegeben sein, der den Gegenstand selbst über die Grenze bringt
oder von einem anderen bringen lässt, bei dem, der ihn vom
Ausland ins Inland versandt hat, sowie bei dem, der durch
Bestellung das Bringen bzw. das Versenden ins Inland initiiert hat181.
Nicht per se am Merkmal „Einführen“ liegt es, wenn in
§ 184 Abs. 1 StGB beim Versandhandel Nr. 4 nur (als Versender) den an den Endverbraucher liefernden ausländischen
Versandhändler erfassen soll, Nr. 8 dagegen nur (als Besteller) den inländischen Zwischenhändler bzw. (als Versender)
den ihn beliefernden Versandhändler, keine der beiden Nor-
174
Medienrelevant sind aber §§ 4 i.V.m. 3 Nr. 1 ZKDSG, die
von „einführen“ handeln; siehe auch § 372 Abs. 1 AO.
175
Vgl. hierzu die einschlägigen Nennungen bei B. Heinrich
(Fn. 4), Rn. 188 Fn. 513 und Rn. 189 Fn. 515.
176
Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 69; Hilgendorf (Fn. 33), § 184
Rn. 37; siehe auch BGHSt 34, 252 (254); OLG Schleswig
NJW 1971, 2319; Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184
Rn. 30; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 188.
177
Durch Einbeziehung auch zweier österreichischer Gebiete
(siehe § 4 Abs. 1 Nr. 1 AWG) bzw. Ausschluss des Gebiets
der deutschen Gemeinde Büsingen (§ 4 Abs. 1 Nr. 2 AWG).
– In diesem Sinne auch B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 188.
178
Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184 Rn. 30; Wolters
(Fn. 29), § 184 Rn. 41; siehe auch BGHSt 34, 252 (254).
179
Diemer, in: Erbs/Kohlhaas (Hrsg.), Strafrechtliche Nebengesetze, Kommentar, 210. Lfg, Stand: September 2016, § 4
AWG Rn. 10 (siehe auch Rn. 14: durch menschliches Zutun);
Schreibauer (Fn. 16), S. 237.
180
Steinmetz (Fn. 77), § 86 Rn. 34.
181
Eben diese drei Varianten nennen auch Laufhütte/Kuschel
(Fn. 77), § 86 Rn. 33; siehe auch Laubenthal (Fn. 34),
Rn. 1045.
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ZJS 1/2017
34
Sonstige häufig wiederkehrende Tathandlungen im Medienstrafrecht
STRAFRECHT
men aber auch den jeweiligen Endverbraucher182. Dies beruht
vielmehr darauf, dass aufgrund der jeweiligen Zielsetzung
der beiden Normen jeweils nur bestimmte Fälle des „Einführens“ als für sie relevant erachtet werden183.
Das „Einführen“ ist vollendet, wenn der Gegenstand die
Grenze überschreitet184, und zwar schon beim Erreichen einer
vorgeschobenen Grenzstelle185. Beendigung tritt hingegen
erst ein mit seiner Ankunft am Bestimmungsort bzw. beim
Adressaten186. Bei der Durchfuhr durch das Bundesgebiet ist
– schon im Sinne begrifflicher Voraussetzung187 – auch eine
Einfuhr (ein „Einführen“) gegeben188.
Ob auch der ins Inland gerichtete Datentransfer per Internet als „Einführen“ begreifbar ist, mag mangels körperlichen
Verbringens zweifelhaft erscheinen189. Zu bejahen190 ist es
aber nicht zuletzt angesichts der – auch auf § 184 Abs. 1
Nr. 4 StGB übertragbaren191 – Entscheidung des Gesetzgebers, zum einen in § 1 Abs. 4 JuSchG den Begriff des „Versandhandels“ auch auf die Fälle des „elektronischen Versands“ zu erweitern und zum anderen dann in § 15 Abs. 1
Nr. 5 JuSchG vom „Einführen im Wege des Versandhandels“
zu sprechen192. Aufgrund der Ähnlichkeit mit dem „Verbreiten“ von Schriften lässt sich dabei aber beim „Einführen“
(wie auch beim „Ausführen“, vgl. nachfolgend 2.) die Erstreckung auf bloße Datenübertragung m.E. nur dann schlüssig
begründen, wenn man – wie ich andernorts bereits für das
„Verbreiten“ von Schriften dargelegt habe193 – maßgeblich
auf den Aspekt des „Erzeugens eines Duplikats beim Empfänger“ abstellt.
Anders verhält es sich aber jedenfalls hinsichtlich der
grenzüberschreitenden Ausstrahlung einschlägigen Materials
über Rundfunk oder Fernsehen: Hierin liegt kein „Einführen“194, da hier eben von vornherein kein körperliches Duplikat beim Empfänger erzeugt wird.
Soweit bereits das „Unternehmen“ des Einführens unter
Strafe gestellt ist195 (wie dies in §§ 130 Abs. 2 Nr. 3, 131
Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 184 Abs. 1 Nrn. 4 und 8, 184a S. 1 Nr. 2,
184b Abs. 1 Nr. 4, 184c Abs. 1 Nr. 4, 275 Abs. 1, 276 Abs. 1
Nr. 1 StGB der Fall ist), genügt – wie bei jedem Unternehmensdelikt (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 6 StGB) – bereits der Versuch der Einfuhr zur Tatbestandsverwirklichung und damit
zur Vollendungsstrafbarkeit196, so dass z.B. ein Abfangen
beim Zoll die Strafbarkeit nicht hindert197. Bereits das Aufgeben im Ausland zur Versandstelle (Post) genügt198, ebenso
das In-Bewegung-Setzen des Gegenstands von einem grenznahen Ort aus in Richtung Grenze199.
182
195
Vgl. OLG Hamm NJW 2000, 1965 f.; Hilgendorf (Fn. 33),
§ 184 Rn. 38; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 68, 94.
183
Näher hierzu bereits M. Heinrich, ZJS 2016, 297 (301,
312).
184
BGHSt 31, 252 (254); 34, 180 (181); Steinmetz (Fn. 77),
§ 86 Rn. 34; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 42.
185
König, NStZ 1995, 1 (2); Steinmetz (Fn. 77), § 86 Rn. 34.
186
Laufhütte/Kuschel (Fn. 77), § 86 Rn. 33; Steinmetz
(Fn. 77), § 86 Rn. 34.
187
OLG Schleswig NJW 1971, 2319; Steinmetz (Fn. 77), § 86
Rn. 34.
188
Vgl. Fn. 187 sowie Heger (Fn. 10), § 184 Rn. 5; a.A.
Laufhütte/Kuschel (Fn. 77), § 86 Rn. 33.
189
Abl. daher (wenn auch inkonsequent mit Versandhandel
argumentierend) Schreibauer (Fn. 16), S. 239 f.
190
So auch Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 67.
191
Vgl. (zu § 184 Abs. 1 Nr. 3 StGB) OLG München NJW
2004, 3344 (3346); Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 56.
192
Vgl. hierzu bereits bereits M. Heinrich, ZJS 2016, 297
(301).
193
M. Heinrich, ZJS 2016, 569 (583).
194
Insoweit i.E. richtig Schreibauer (Fn. 16), S. 239 f.
2. Das Ausführen
„Ausführen“ – als Gegenstück zum „Einführen“ (soeben 1.) –
meint das „Verbringen aus dem Hoheitsgebiet der Bundesrepublik über die Grenze in ein fremdes Hoheitsgebiet“200, sei
es nun im Zuge persönlichen Außer-Landes-Bringens oder
durch Versenden ins Ausland201. Vollendung tritt ein mit dem
Grenzübertritt in ein Nachbarland der Bundesrepublik202,
auch wenn dies noch nicht das Bestimmungsland ist203. Bei
sog. Durchfuhr durch das Bundesgebiet ist immer auch eine
Ausfuhr gegeben204. Steht bereits das „Unternehmen“ des
Ausführens unter Strafe (wie in §§ 130 Abs. 2 Nr. 3, 131
Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 184 Abs. 1 Nr. 9, 184a S. 1 Nr. 2, 184b
Abs. 1 Nr. 4, 184c Abs. 1 Nr. 4, 275 Abs. 1, 276 Abs. 1 Nr. 1
StGB), genügen – als Versuch des „Ausführens“ (siehe § 11
Abs. 1 Nr. 6 StGB) – schon alle Handlungen, „die bei ungestörtem Fortgang unmittelbar zur Ausfuhr führen sollen oder
die in unmittelbarem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang zu ihr stehen“205, wie insbesondere die Aufgabe zum
Versand bzw. Übergabe an das Beförderungsunternehmen206.
Im Anschluss an die entsprechende Erweiterung des Verständnisses von „Einführen“ aufgrund der Erstreckung des
Begriffs „Versandhandel“ auch auf den „elektronischen VerZu Recht kritisch hierzu Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 43.
Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 41; Hilgendorf (Fn. 33), § 184
Rn. 37; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 69.
197
Hilgendorf (Fn. 33), § 184 Rn. 37.
198
Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 42; Hörnle (Fn. 11), § 184
Rn. 69; Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 41.
199
BGHSt 36, 249 (250); Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15),
§ 184 Rn. 30; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 69.
200
B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 189; Steinmetz (Fn. 77), § 86
Rn. 35; Laufhütte/Kuschel (Fn. 77), § 86 Rn. 34; Fischer
(Fn. 4), § 184 Rn. 22; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 67; Hörnle
(Fn. 11), § 184 Rn. 97; Hilgendorf (Fn. 33), § 184 Rn. 45.
201
Fischer (Fn. 4), § 184 Rn. 22.
202
Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184 Rn. 45; Schreibauer
(Fn. 16), S. 283.
203
Sondern nur Durchfuhr-Land; vgl. Laufhütte/Roggenbuck
(Fn. 15), § 184 Rn. 45; Fischer (Fn. 4), § 184 Rn. 22.
204
OLG Schleswig NJW 1971, 2319; Eisele (Fn. 4), § 184
Rn. 67; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 189.
205
Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184 Rn. 45; siehe auch
Schreibauer (Fn. 16), S. 283; Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1049.
206
Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 97.
196
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35
AUFSÄTZE
Manfred Heinrich
sand“ (§ 1 Abs. 4 JuSchG, vgl. soeben unter 1.), wird man
konsequenterweise auch beim „Ausführen“ die Fälle der
Datenübermittlung per Internet mit einbeziehen müssen207,
wobei das fehlende „körperliche Verbringen“ durch das „Erzeugen eines Duplikats beim Empfänger“ kompensiert wird
(vgl. auch hierzu bereits soeben unter 1.). Nicht erfasst wird
(mangels jenes Duplizierens) wiederum die Ausstrahlung einschlägigen Materials über Rundfunk oder Fernsehen.
VI. Das Sich-Verschaffen
In einer Reihe von Tatbeständen ist das „Sich-Verschaffen“
unter Strafe gestellt, in vielen Fällen das „Sich-Verschaffen“
von (ganz unterschiedlichen) Gegenständen (in §§ 87 Abs. 1
Nr. 3, 89a Abs. 2 Nrn. 2 und 3, 91 Abs. 1 Nr. 2, 96 Abs. 1,
Abs. 2, 100a Abs. 2, 146 Abs. 1 Nrn. 2 und 3, 148 Abs. 1
Nr. 2, 149 Abs. 1, 152a Abs. 1 Nr. 2, 184b/c Abs. 3, 201a
Abs. 3 Nr. 2, 259 Abs. 1, 261 Abs. 2 Nr. 1, 275 Abs. 1, 276
Abs. 1 Nr. 2, 310 Abs. 1, 316c Abs. 4 StGB, § 29 Abs. 1
Nr. 1 BtMG, § 374 Abs. 1 Nr. 1 AO, §§ 127 Abs. 1, 128
Abs. 1 Nr. 2 OWiG), in anderen Fällen von Kenntnis bzw.
Kenntnissen (so in §§ 96 Abs. 1, 2, 107c, 202 Abs. 1 Nr. 2,
Abs. 2, 206 Abs. 2 Nr. 1 StGB) und in wieder anderen Fällen
von Daten (§ 202b StGB) bzw. dem Zugang zu Daten
(§ 202a Abs. 1 StGB), von Computerprogrammen (§§ 202c
Abs. 1 Nr. 2, 263a Abs. 3 StGB), von Passwörtern oder sonstigen Sicherheitscodes (§ 202c Abs. 1 Nr. 1 StGB) sowie von
Vermögensvorteilen (§§ 263 Abs. 1, 263a Abs. 1 StGB) und
von Versicherungsleistungen (§ 265 Abs. 1 StGB).
Was speziell das „Sich-Verschaffen“ von Gegenständen
betrifft, ist darunter die Herbeiführung eines tatsächlichen
Herrschaftsverhältnisses zu verstehen208. Wenn in diesem
Zusammenhang gelegentlich von „Inbesitznahme“ die Rede
ist209 (gar im Gesetzestext der §§ 184b Abs. 3, 184c Abs. 3
StGB von „Verschaffen des Besitzes“), so ist damit letztlich
nichts anderes gemeint, wenn man sich nur dessen bewusst
ist, dass damit nicht auf den zivilrechtlichen Besitzbegriff210,
sondern auf die Erlangung tatsächlicher Sachherrschaft (d.h.
Gewahrsam) abgestellt sein soll211. Die Erlangung von unmittelbarem Besitz (und von Besitzdienerschaft im Sinne des
§ 855 BGB212) ist stets erfasst, der Erwerb mittelbaren Besitzes jedoch nur, wenn man ungehinderten Zugang zu dem
207
So i.E. auch Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 97; Laue, in:
Dölling/Duttge/Rössner (Hrsg.), Handkommentar, Gesamtes
Strafrecht, 3. Aufl. 2013, § 184 Rn. 15; a.A. Schreibauer
(Fn. 16), S. 285.
208
B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 194; siehe auch Eisele (Fn. 4),
§ 184b Rn. 15; Hörnle (Fn. 11), § 184b Rn. 34, 28.
209
Sternberg-Lieben (Fn. 83), § 96 Rn. 4.
210
Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184b Rn. 7; Hilgendorf
(Fn. 33), § 184b Rn. 17
211
Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1097; siehe auch Hilgendorf
(Fn. 33), § 184b Rn. 17; Lampe/Hegmann, in: Joecks/Miebach
(Fn. 1), § 96 Rn. 3.
212
So die in Fn. 213 Genannten und Hilgendorf (Fn. 33),
§ 184b Rn. 18; a.A. Wolters (Fn. 29), § 184b Fn. 44.
Gegenstand erlangt und ohne Weiteres über ihn verfügen
kann213.
Auf die Entgeltlichkeit kommt es nicht an214, und auch
nicht-rechtsgeschäftliches Erlangen (etwa durch Diebstahl,
Unterschlagung, Erpressung) kommt als sog. einseitiges Verschaffen in Betracht215. Ebenso ist das Herstellen des betreffenden Gegenstandes (etwa die Aufnahme eines kinderpornografischen Fotos) als „Verschaffen durch Anfertigen“
relevant216.
„Sich-Verschaffen“ bedeutet mehr als bloß das vorsätzliche Herbeiführen eines tatsächlichen Herrschaftsverhältnisses. Ihm ist vielmehr ein finales Moment zu eigen: Der Täter
muss es gerade auf die Erlangung des betreffenden Gegenstandes (etwa in § 184b Abs. 3 StGB der kinderpornografischen Schrift) abgesehen haben217.
VII. Auf Wissensvermittlung gerichtete Tathandlungen
Neben den bisher besprochenen finden sich noch eine Reihe
anderer im Gesetz mehrfach wiederkehrender mediendeliktisch konnotierter Tathandlungen, bei denen es nun aber von
vornherein nicht um den Umgang mit per se bemakelten
Inhalten geht – seien diese nun pornografisch, hetzerisch,
jugendgefährdend oder ähnliches –, sondern um die Vermittlung von (zumeist218 nicht für jedermanns Ohren bestimmtem) Wissen im Rahmen von Mitteilungs-, Offenbarungsoder sonstigen Preisgabedelikten.
1. Das Mitteilen, bzw. die Mitteilung
In einigen Vorschriften des StGB ist die Rede von „mitteilen“
(§§ 94 Abs. 1 Nr. 1, 97a S. 1, 99 Abs. 2 S. 2, 265b Abs. 1
Nr. 2 StGB) bzw. „Mitteilung“ (§§ 98 Abs. 1 Nr. 1, 99 Abs. 1
Nr. 1, 206 Abs. 1, 4, 241a Abs. 2, Abs. 4 StGB) oder von
„öffentlich mitteilen“ (§§ 201 Abs. 2 S. 1 Nr. 2, 353d Nr. 3
StGB) bzw. „öffentlicher Mitteilung“ (§§ 201 Abs. 2 S. 2 und
3, 353d Nr. 1 StGB).
Erfolgt die Mitteilung auf medialem Wege – was freilich
nicht notwendig der Fall sein muss (man denke an die Übergabe einer als „Staatsgeheimnis“ im Sinne des § 93 Abs. 1
213
Eisele (Fn. 4), § 184b Rn. 15; Laubenthal (Fn. 34),
Rn. 1097; Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184b Rn. 7.
214
Eisele (Fn. 4), § 184b Rn. 14; Laubenthal (Fn. 34),
Rn. 1094; siehe auch Fischer (Fn. 4), § 184b Rn. 22 (zum
Besitz).
215
Eisele (Fn. 4), § 184b Rn. 14; Lampe/Hegmann (Fn. 211),
§ 96 Rn. 4; Hörnle (Fn. 11), § 184b Rn. 34.
216
BGHSt 43, 366 (368); Eisele (Fn. 4), § 184b Rn. 14;
Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184b Rn. 11.
217
Grundlegend hierzu M. Heinrich, NStZ 2005, 361 (365 f.);
siehe auch Hörnle (Fn. 11), § 184b Rn. 34; Schmidt, in:
Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Fn. 77), § 96 Rn. 3,
§ 100a Rn. 8; Paeffgen, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen
(Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 2, 4. Aufl.
2013, § 96 Rn. 5, § 100a Rn. 12; B. Heinrich (Fn. 4),
Rn. 194.
218
Keine Rolle spielt der Geheimhaltungsaspekt beim Mitteilen in §§ 241a Abs. 2, Abs. 4, 265b Abs. 1 Nr. 2 StGB.
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ZJS 1/2017
36
Sonstige häufig wiederkehrende Tathandlungen im Medienstrafrecht
StGB anzusehenden neuartigen Waffe, das Nicht-Mitteilen
von „Verschlechterungen“ gem. § 265b Abs. 1 Nr. 2 StGB
oder die Mitteilung im Rahmen eines persönlichen Gesprächs, einer öffentlichen Rede oder einer Versammlung) –,
so ist mit „mitteilen“ bzw. „Mitteilung“ letztlich nichts anderes gemeint, als dass dem Adressaten Kenntnis über den
Inhalt vermittelt wird219 – etwa des (Staats-)Geheimnisses in
§§ 94 Abs. 1 Nr. 1, 97a S. 1, 98 Abs. 1 Nr. 1 StGB, der Tatsache in §§ 99 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 S. 2, 206 Abs. 1, Abs. 4
StGB, des nichtöffentlich gesprochenen Wortes in § 201
Abs. 2 StGB oder des Schriftstückes in § 353d Nrn. 1 und 3
StGB.
Ob die Mitteilung mündlich oder schriftlich erfolgt oder
auf sonstige Weise – etwa mittels Übergabe, Vorzeigens oder
auch bloßen (Kenntnisnahme ermöglichenden) Liegenlassens220 des betreffenden Gegenstands, z.B. des Schriftstücks
–, ist letztlich egal221; der Begriff des „Mitteilens“ ist insofern
weit zu verstehen222.
Wenn freilich „öffentliches Mitteilen“ verlangt wird, ist –
wie beim Öffentlich-zugänglich-Machen223 und beim öffentlich Begehen224 – zur Bejahung des Merkmals „öffentlich“
erforderlich, dass die Mitteilung „von einem größeren, individuell nicht feststehenden oder jedenfalls durch persönliche
Beziehungen nicht verbundenen Personenkreis wahrgenommen werden kann“225. In Frage kommt hier, neben der Mitteilung im Rahmen einer Menschenansammlung226, vor allem
ein „Veröffentlichen“227 in Presse, Rundfunk oder Fernsehen
bzw. im Internet.
2. Das Offenbaren
Wenn in einigen Vorschriften des StGB von „offenbaren“ die
Rede ist (so in der Überschrift des § 95 StGB sowie in §§ 96
Abs. 2, 203 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 2a, 205 Abs. 2 S. 3, 353b
Abs. 1, 353d Nr. 2, 355 Abs. 1 StGB), so ist dies durchweg
219
Vgl. nur Sternberg-Lieben (Fn. 83), § 94 Rn. 6; Altvater,
in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Fn. 15), § 206
Rn. 27; Perron, in: Schönke/Schröder (Fn. 4), § 353d Rn. 9.
220
Fischer (Fn. 4), § 94 Rn. 3; siehe auch Vogler, in: Satzger/
Schluckebier/Widmaier (Fn. 33), § 94 Rn. 3 („durch garantenpflichtwidriges Unterlassen“).
221
Vgl. Sternberg-Lieben (Fn. 83), § 94 Rn. 6; Lampe/Hegmann (Fn. 211), § 94 Rn. 5; Vogler (Fn. 220), § 94 Rn. 3;
Altvater (Fn. 219), § 206 Rn. 27; Lenckner/Eisele, in:
Schönke/Schröder (Fn. 4), § 206 Rn. 10.
222
Vogler (Fn. 220), § 94 Rn. 3; siehe auch Fischer (Fn. 4),
§ 94 Rn. 3: „durch Tun oder Unterlassen“ (siehe schon
Fn. 220).
223
Vgl. M. Heinrich, ZJS 2016, 698 (700 f.).
224
Vgl. M. Heinrich, ZJS 2016, 698 (707 f.).
225
Perron (Fn. 219), § 353d Rn. 46; Graf, in: Joecks/Miebach
(Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 4,
2 Aufl. 2012, § 201 Rn. 36; Schünemann, in: Laufhütte/
Rissing-van Saan/Tiedemann (Fn. 15),§ 201 Rn. 26.
226
Vgl. Lenckner/Eisele (Fn. 221), § 201 Rn. 26: „Eine Veröffentlichung ist […] nicht erforderlich“.
227
Perron (Fn. 219), § 353d Rn. 9; B. Heinrich (Fn. 4),
Rn. 190.
STRAFRECHT
im Sinne der Preisgabe eines Geheimnisses zu verstehen – sei
es nun eines Staatsgeheimnisses (§§ 95, 96 Abs. 2 StGB), nur
einfach eines Geheimnisses (§§ 203 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 2a,
205 Abs. 2 S. 3, 353b Abs. 1 StGB), eines Steuergeheimnisses (§ 355 Abs. 1 StGB) oder auch von im Sinne des Bestehens einer Schweigepflicht geheimzuhaltender Tatsachen
(§ 353d Nr. 2 StGB).
Was letztlich damit gemeint ist, ergibt sich im Grunde
unmittelbar aus § 95 Abs. 1 StGB, der das in der Überschrift
der Norm genannte „Offenbaren“ umschreibt mit228: „an
einen Unbefugten gelangen läßt oder öffentlich bekanntmacht“229 (siehe nachfolgend 3. und 4.). Wenn dies nicht
selten verkannt bzw. verkürzt wird auf Formulierungen wie:
„Ein Geheimnis offenbart, wer einem anderen Kenntnis davon verschafft“230, oder: „Offenbaren ist jede Mitteilung über
die geheimzuhaltende Tatsache […] an einen Dritten“231,
oder in geradezu poetischer Weise überhöht wird zu: „Offenbaren ist jede Hinausgabe von Tatsachen aus dem Kreis der
Wissenden oder der zum Wissen Berufenen“232, so liegt das
(mit) auch am Fehlen entsprechend normübergreifenden
Betrachtens233.
Ein Wesensmerkmal des „Offenbarens“ ist, dass das Geheimnis dem (ggf. einzigen234) Empfänger noch unbekannt
ist235, wobei bereits gehegte Vermutungen oder im Umlauf
befindliche Gerüchte des nämlichen Inhalts nicht schaden236
228
In diesem Sinne ist auch in § 96 Abs. 2 StGB von „[…]
offenbaren (§ 95) […]“ die Rede.
229
In diesem Sinne denn auch Sternberg-Lieben (Fn. 83),
§ 96 Rn. 6 („Offenbarung i.S.v. § 94 Abs. 1 Nr. 2“); Fischer
(Fn. 4), § 353b Rn. 15; Bosch, in: Schönke/Schröder (Fn. 4),
§ 353b Rn. 6 sowie insb. 7 a.E.; siehe auch Vormbaum, in:
Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 13, 12. Aufl. 2009 § 353b
Rn. 17.
230
Kuhlen, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Fn. 8), § 353b
Rn. 19; Hoyer, in: Wolter (Fn. 9), § 353b Rn. 7.
231
Heger (Fn. 10), § 203 Rn. 17; ähnlich Fischer (Fn. 4),
§ 203 Rn. 30; Bosch (Fn. 229), § 203 Rn. 31; Hoyer
(Fn. 230), § 353d Rn. 19; Eisele (Fn. 58), 5/6; siehe auch
B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 191 („an einen Dritten gelangen
lässt“).
232
Schünemann (Fn. 225), § 203 Rn. 41.
233
Gelegentlich finden sich aber immerhin einzelne Bezugnahmen auf andere Normen; so etwa bei Heger (Fn. 10),
§ 353b Rn. 8, § 353d Rn. 3, § 355 Rn. 5 auf die Kommentierung in § 203 Rn. 17.
234
Hoyer (Fn. 230), § 353d Rn. 19, § 355 Rn. 11.
235
Lenckner/Eisele (Fn. 221), § 203 Rn. 19a; Hoyer, in:
Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, 56. Lfg, Stand: Mai 2003, § 203 Rn. 3; ders. (Fn. 230),
§ 353b Rn. 7, § 353d Rn. 19, § 355 Rn. 11; ebenso mit
ausführlicher und überzeugender Begründung Vormbaum
(Fn. 229), § 353b Rn. 21.
236
Lenckner/Eisele (Fn. 221), § 203 Rn. 19a; Hoyer
(Fn. 235), § 203 Rn. 31; ders. (Fn. 230), § 353b Rn. 7.
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37
AUFSÄTZE
Manfred Heinrich
– so dass ein „Offenbaren“ nur bei schon bestehender sicherer Kenntnis scheitert237.
Bei mündlichen Mitteilungen ist die tatsächliche Kenntnisnahme erforderlich238, wobei die bloße Wahrnehmung,
auch ohne intellektuelles Verstehen, ausreicht239, bei verkörperten Erklärungen (insbesondere Schriftstücken) genügt
schon die Erlangung bzw. das Verschaffen des Gewahrsams240 und bei Dateien die Gewährung des Zugangs241 mit
jeweils der damit verbundenen Möglichkeit zur Kenntnisnahme242. Auf das Bestehen einer Schweigepflicht des Empfängers kommt es nicht an243.
Fraglich ist aber, ob auch Mitteilungen erfasst sind, die
letztlich „im Innenbereich“ – man denke an die internen
Arbeitsabläufe im Rahmen einer Arztpraxis bzw. einer Anwaltskanzlei (zu § 203 Abs. 1 Nr. 1, 3 StGB) oder einer Behörde (zu § 353b Abs. 1 StGB) – verbleiben und nicht „nach
außen getragen“ werden244. Gerade angesichts des für den
Begriff des „Offenbarens“ relevanten, insoweit einschränkenden Gesetzestextes des § 95 Abs. 1 StGB („an einen
Unbefugten gelangen läßt“) ist dies zu verneinen245 – und
im Zuge eines dergestalt „institutionellen Offenbarensbegriffs“246 das „Offenbaren“ also als abhängig von der
„Hinausgabe von Tatsachen aus dem Kreis der Wissenden
oder der zum Wissen Berufenen“ zu begreifen247, wobei zu
diesem Kreis insbesondere auch derjenige zählt, der „in bestimmten Funktionen (Kanzlei, Praxis, Behörde) als Bediensteter Zugang [zu dem Geheimnis] hat“248.
237
Schünemann (Fn. 225), § 203 Rn. 41; Hoyer (Fn. 235),
§ 203 Rn. 31, ders. (Fn. 230), § 353b Rn. 7; Fischer (Fn. 4),
§ 203 Rn. 30.
238
Lenckner/Eisele (Fn. 221), § 203 Rn. 19; Hoyer (Fn. 235),
§ 203 Rn. 31; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 191.
239
Heger (Fn. 10), § 203 Rn. 17; in diesem Sinne bereits
RGSt 51, 184 (189).
240
Schünemann (Fn. 225), § 203 Rn. 41; Lenckner/Eisele
(Fn. 221), § 203 Rn. 19; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 191.
241
Bosch (Fn. 229), § 203 Rn. 31; ausführlich zu ggf. nötigen
Einschränkungen Schünemann (Fn. 225), § 203 Rn. 41.
242
RGSt 51, 184 (189); Lenckner/Eisele (Fn. 221), § 203
Rn. 19; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 191.
243
Schünemann (Fn. 225), § 203 Rn. 41, 42, 43; Fischer
(Fn. 4), § 203 Rn. 30b; Kuhlen (Fn. 230), § 353b Rn. 19.
244
Dies bejahend etwa – mit guter Begründung – Hoyer
(Fn. 235), § 203 Rn. 33 ff.
245
So auch die h.M., vgl. nur Schünemann (Fn. 225), § 203
Rn. 41, 43; Heger (Fn. 10), § 203 Rn. 17; Bosch (Fn. 229),
§ 353b Rn. 6; ausführlich hierzu auch Vormbaum (Fn. 229),
§ 353b Rn. 22.
246
So (in Abgrenzung zu einem nicht auf funktionelle Zusammenhänge abstellenden „rein personalen Offenbarensbegriff“) die treffende Bezeichnung bei Hoyer (Fn. 235),
§ 203 Rn. 34 f.
247
Eben so umschreibt Schünemann (Fn. 225), § 203 Rn. 41
das „Offenbaren“; siehe auch Fischer (Fn. 4), § 203 Rn. 30b.
248
Schünemann (Fn. 225), § 203 Rn. 41; siehe auch Heger
(Fn. 10), § 203 Rn. 17 (bestimmte Funktionseinheiten).
3. Das Gelangenlassen
Das in §§ 94 Abs. 1 Nr. 2, 95 Abs. 1, 97 Abs. 1, Abs. 2, 100a
Abs. 1, Abs. 2, 109g Abs. 1, Abs. 2, Abs. 4, 184 Abs. 1 Nr. 6,
353b Abs. 2 StGB explizit genannte und in jenen Tatbeständen, die ein „Offenbaren“ verlangen (d.h. in §§ 95 – Überschrift –, 96 Abs. 2, 203 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 2a, 205 Abs. 2
S. 3, 353b Abs. 1, 353d Nr. 2, 355 Abs. 1 StGB), in Ausfüllung eben dieses Merkmals der Sache nach mit enthaltene
(vgl. oben 2.) „Gelangenlassen“ (das sich übrigens einzig in
§ 184 Abs. 1 Nr. 6 StGB auf Schriften im Sinne des § 11
Abs. 3 StGB bezieht) bedeutet bei körperlichen Gegenständen (in Form von Staatsgeheimnissen in §§ 94 Abs. 1 Nr. 2,
95 Abs. 1, 97 Abs. 1, Abs. 2, Abbildungen in § 109 Abs. 1,
Abs. 2, 4, Schriften in § 184 Abs. 1 Nr. 6 oder Gegenständen
in §§ 100a Abs. 1, Abs. 2 bzw. 353b Abs. 2 StGB) entsprechend dem „Zugehen“ im Sinne des BGB249 das „Überführen
[…] in den Verfügungsbereich eines anderen, sodass dieser
davon Kenntnis nehmen kann“250 – wobei es nicht darauf
ankommt, dass eine Kenntnisnahme auch tatsächlich erfolgt251. Das „Gelangenlassen“ erfordert letztlich also, dass
der Empfänger Gewahrsam am Gegenstand erlangt252 (sodass
bloßes Vorlesen, Vorlegen, Vorzeigen oder Vorführen nicht
genügt253) – was auch durch Unterlassen (unbeaufsichtigtes
Liegenlassen) geschehen kann254.
Demgegenüber ist in allen anderen Konstellationen des
„Gelangenlassens“, d.h. bei körperlosen Staatsgeheimnissen
(sprich: geheimzuhaltenden Tatsachen und Erkenntnissen,
vgl. § 93 Abs. 1 StGB) in §§ 94 Abs. 1 Nr. 2, 95 Abs. 1, 97
Abs. 1, Abs. 2 StGB, bei Behauptungen und Nachrichten in
§ 101a Abs. 1 StGB oder bei Nachrichten in § 353b Abs. 2
StGB, jedes Tun oder Unterlassen einschlägig, durch das ein
anderer denn auch tatsächlich die entsprechende Kenntnis
erlangt255 (ebenso zum „Offenbaren“ bereits oben 2.).
249
Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 52; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 192;
Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1017.
250
B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 192; siehe auch BGH NStZ 2005,
688; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 52; Laubenthal (Fn. 34),
Rn. 1017; siehe auch Paeffgen (Fn. 217), § 100a Rn. 6;
Wohlers/Kargl, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Fn. 217),
§ 109g Rn. 3; Perron (Fn. 219), § 353b Rn. 17.
251
Rudolphi/Pasedach/Wolter, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, 145. Lfg, Stand: Mai
2014, § 94 Rn. 11; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 82; Perron
(Fn. 219), § 353b Rn. 17.
252
Rudolphi/Pasedach/Wolter (Fn. 251), § 94 Rn. 11; Schroeder, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Fn. 77),
§ 109g Rn. 7; Vormbaum (Fn. 229), § 353b Rn. 19.
253
Müller, in: Joecks/Miebach (Fn. 1), § 109g Rn. 15; Hörnle
(Fn. 11), § 184 Rn. 81; Hilgendorf (Fn. 33), § 184 Rn. 41.
254
Sternberg-Lieben (Fn. 83), § 94 Rn. 9; Lohse, in: Satzger/
Schluckebier/Widmaier (Fn. 33), § 109g Rn. 5.
255
Vgl. Sternberg-Lieben (Fn. 83), § 94 Rn. 9; Schmidt
(Fn. 217), § 100a Rn. 4; Perron (Fn. 219), § 353b Rn. 17.
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Sonstige häufig wiederkehrende Tathandlungen im Medienstrafrecht
4. Das Öffentlich-Bekanntmachen
Dem „Gelangenlassen“ (soeben 3.) ist nicht selten das „Öffentlich-Bekanntmachen“ zur Seite gestellt – wie jenes letztlich ein Aspekt des in weiteren Delikten (vgl. die Aufzählung
oben unter 2.) mitunter genannten „Offenbarens“. Zu nennen
sind hier §§ 94 Abs. 1 Nr. 2, 95 Abs. 1, 97 Abs. 1 (nicht aber
Abs. 2), 100a Abs. 1, Abs. 2, 353b Abs. 2 StGB. Dabei ist
das „Öffentlich-Bekanntmachen“ nichts anderes als ein Sonderfall des „Gelangenlassens an Unbefugte“256 bzw. überhaupt des „Gelangenlassens“257.
Das „Öffentlich-Bekanntmachen“ umfasst jedes Verhalten, das „einer unbestimmten Vielzahl von Personen die
Kenntnisnahme ermöglicht“258, wobei es – nicht anders als
beim Öffentlich-zugänglich-Machen259, beim öffentlichen
Begehen260 oder beim öffentlichen Mitteilen (oben 1.) – bei
einem größeren, aber zahlenmäßig begrenzten Personenkreis
darauf ankommt, dass „dieser Kreis nicht durch besondere
persönliche oder sonst eine gewisse Vertrautheit begründende
wechselseitige Beziehungen zusammengehalten wird“261.
Die Bekanntgabe an einzelne genügt auch dann nicht,
wenn mit der Weitergabe an eine Personenvielzahl gerechnet
wird bzw. zu rechnen ist262. Hinreichend sind aber für Dritte
wahrnehmbare Äußerungen (z.B. am Handy) in vollbesetzten
öffentlichen Verkehrsmitteln263.
Egal ist, in welcher Weise das „Öffentlich-Bekanntmachen“ erfolgt, ob mündlich, schriftlich oder in sonstiger
Weise264 (bspw. durch öffentliches Ausstellen265) – wobei
zwar auch die Präsentation unter körperlich Anwesenden in
Betracht kommt266, gerade aber die „unverschlüsselte Mitteilung in Massenkommunikationsmitteln“267, die Veröffentli-
STRAFRECHT
chung in den Medien268, insbesondere in Presse269 und Internet270, von Bedeutung ist.
Es kommt auch nicht darauf an, ob tatsächlich jemand
Kenntnis nimmt bzw. gar den Inhalt des Offenbarten geistig
erfasst271.
256
Vormbaum (Fn. 229), § 353b Rn. 20; Paeffgen (Fn. 217),
§ 94 Rn. 18; Schmidt (Fn. 217), § 100a Rn. 4.
257
Paeffgen (Fn. 217), § 100a Rn. 7.
258
Schmidt (Fn. 217), § 94 Rn. 6, § 100a Rn. 4; siehe auch
Vogler (Fn. 220), § 94 Rn. 8; Paeffgen (Fn. 217), § 94
Rn. 18, § 100a Rn. 7; Hoyer (Fn. 230), § 353b Rn. 12; Vormbaum (Fn. 229), § 353b Rn. 20; Kuhlen (Fn. 230), § 353b
Rn. 47.
259
Vgl. M. Heinrich, ZJS 2016, 698 (700 f.).
260
Vgl. M. Heinrich, ZJS 2016, 698 (707 f.).
261
Schmidt (Fn. 217), § 94 Rn. 6; ebenso Lampe/Hegmann
(Fn. 211), § 94 Rn. 11.
262
Schmidt (Fn. 217), § 94 Rn. 6; Paeffgen (Fn. 217), § 94
Rn. 18 (mit Hinweis auf ggf. ein „Gelangenlassen“).
263
Arndt, ZStW 66 (1954), 41 (62); Schmidt (Fn. 217), § 94
Rn. 6; Paeffgen (Fn. 217), § 94 Rn. 18.
264
Vogler (Fn. 220), § 94 Rn. 8; Schmidt (Fn. 217), § 94
Rn. 6; Lampe/Hegmann (Fn. 211), § 94 Rn. 11.
265
Perron (Fn. 219), § 353b Rn. 17; Schmidt (Fn. 217), § 94
Rn. 6 („körperliche Zurschaustellung“).
266
Vgl. Sternberg-Lieben (Fn. 83), § 94 Rn. 11; Lampe/Hegmann (Fn. 211), § 94 Rn. 11 (öffentliche Vorführungen).
267
Fischer (Fn. 4), § 94 Rn. 4; nicht hingegen die verschlüsselte, vgl. Lampe/Hegmann (Fn. 211), § 94 Rn. 11.
268
Vgl. Paeffgen (Fn. 217), § 94 Rn. 18, § 101a Rn. 7; Vormbaum (Fn. 229), § 353b Rn. 20.
269
Lampe/Hegmann (Fn. 211), § 94 Rn. 11; Schmidt
(Fn. 217), § 94 Rn. 6, § 100a Rn. 4.
270
Lampe/Hegmann (Fn. 211), § 101a Rn. 6 (mit Blick auf
„öffentlich“ unscharf: „Verbreiten im Internet“).
271
Schmidt (Fn. 217), § 94 Rn. 6, § 100a Rn. 4; Perron
(Fn. 219), § 353b Rn. 17; siehe aber: Hoyer (Fn. 230), § 353b
Rn. 12.
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39
Bericht über einen Moribunden: Das Privatklageverfahren
Rechtliches, Rechtstatsächliches, Reform- und Zukunftsperspektiven – Teil 1*
Von Jun.-Prof. Dr. Tillmann Bartsch, Tübingen
Dieser Beitrag soll über das Privatklageverfahren informieren, das – je nach Prüfungsordnung – im Staatsexamen,
jedenfalls aber in kriminalwissenschaftlichen/straf(prozess-)
rechtlichen Schwerpunktbereichen Gegenstand von Prüfungen sein kann. Bei dem Privatklageverfahren handelt es sich
um eine spezielle Art des Strafverfahrens, das eine besonders
intensive Beteiligung des Verletzten ermöglicht und bereits in
der 1879 in Kraft getretenen Reichsstrafprozessordnung
(RStPO) enthalten war.
Zu Beginn wird – nach kurzen Ausführungen zur Entstehungsgeschichte (I.) – ein Überblick zu Ziel, Eigenart, rechtlichen Voraussetzungen und Ablauf des Privatklageverfahrens gegeben (II.). Daran schließt sich im zweiten Teil ein
empirischer Abschnitt, der einen Einblick in die Rechtswirklichkeit dieses Verfahrens geben soll, an (I. im zweiten Teil).
Dieser offenbart einen stetig zunehmenden Bedeutungsverlust
in der gerichtlichen Praxis, der vornehmlich auf die gesetzliche Ausgestaltung des Privatklageverfahrens zurückzuführen
sein dürfte. Vor diesem Hintergrund wird im abschließenden
Ausblick (II. im zweiten Teil) nach Reform- und Zukunftsperspektiven für diese besondere Verfahrensart gefragt.
I. Entstehungsgeschichte
Vor Einführung der RStPO wurde lange Zeit darüber diskutiert, in welcher Form die Privatklage Eingang in dieses Gesetzeswerk finden sollte. Erörtert wurden im Wesentlichen
zwei Modelle:
Zum einen zog man die Einführung einer sog. subsidiären
Privatklage in Betracht. Sie sollte es dem Verletzten oder – in
Form einer sog. Popularklage1 – sogar der Allgemeinheit
erlauben, immer dann Anklage zu erheben, wenn die Staatsanwaltschaft von der Erhebung einer öffentlichen Klage
abgesehen hatte.2 Dahinter standen eine gewisse Skepsis
gegenüber dem Anklagemonopol einer weisungsgebundenen
Staatsanwaltschaft3 und konkret der Gedanke, dass die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft überwacht und den Bürgern ein
* Für wertvolle Unterstützung bei der Zusammenstellung
statistischer Daten danke ich Frau Ref. iur. Isabell Härer.
1
Ein prominenter Anhänger dieser Idee war Franz v. Liszt;
siehe ders., in: v. Liszt (Hrsg.), Strafrechtliche Aufsätze und
Vorträge, Bd. 1, 1871-1891, S. 29 ff.
2
Ausführlich hierzu Kircher, Die Privatklage. Eine strafprozessuale und kriminalpolitische Studie zur Möglichkeit einer
Begrenzung des Strafrechts auf prozessualem Weg, 1971,
S. 86 ff.; Koewius, Die Rechtswirklichkeit der Privatklage,
1974, S. 19 ff.; Lütz-Binder, Rechtswirklichkeit der Privatklage und Umgestaltung zu einem Aussöhnungsverfahren,
2010, S. 33; Muttelsee, Die Sicherung des Rechtsfriedens im
Bereich der Privatklagedelikte, 1991, S. 11 ff.; Weigend,
Deliktsopfer und Strafverfahren, 1989, S. 118 ff.
3
Grebing, GA 1984, 1 (3 f.); Velten, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung, GVG und
EMRK, Bd. 8, 4. Aufl. 2013, vor § 374 Rn. 3.
wirksames Mittel zum Schutz vor Justizverweigerung an die
Hand gegeben werden müsse.4
Zum anderen wurde über die Einführung der sog. prinzipalen Privatklage diskutiert. Im Unterschied zur subsidiären
Privatklage sollten Privatpersonen hier bei bestimmten (Bagatell-)Delikten ohne vorherige Anrufung der Staatsanwaltschaft selbständig bei Gericht Klage erheben können.5 Die
Staatsanwaltschaft sollte zur Verfolgung dieser Delikte
grundsätzlich nicht verpflichtet sein. Die prinzipale Privatklage basierte mithin vor allem auf der Idee, das ansonsten
damals noch strikt geltende Legalitätsprinzip (Vorschriften
im Sinne der heutigen §§ 153 ff. StPO existierten damals
noch nicht; § 153 StPO wurde 1924 durch die sog. „Emminger-Verordnung“6 eingeführt, § 153a StPO erst 19747) in Bagatellfällen einzuschränken,8 um die Staatsanwaltschaften zu
entlasten. Diese sollten sich um Quisquilien nicht kümmern
müssen;9 die Entscheidung über die Strafverfolgung sollte in
solchen Fällen dem Verletzten überantwortet werden.
Der Entwurf über die Einführung der RStPO beinhaltete
zunächst sowohl einen Abschnitt über die prinzipale als auch
über die subsidiäre Privatklage.10 Im Rahmen der Beratungen
der Reichstagskommission entschied man sich jedoch dafür,
die Kontrolle der Staatsanwaltschaften nicht durch die subsidiäre Privatklage, sondern durch das Klageerzwingungsverfahren zu gewährleisten.11 Eingeführt wurde daher lediglich
die prinzipale Privatklage – und dies auch nur für Fälle der
Beleidigung und der einfachen Körperverletzung. Dass gerade bei diesen beiden Delikten das Legalitätsprinzip durchbrochen wurde, begründete man damit, dass Beleidigungen und
4
Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 28. Aufl. 2014,
§ 63 Rn. 1.
5
Ausführlich Koewius (Fn. 2), S. 26 ff.; Muttelsee (Fn. 2),
S. 13; Weigend (Fn. 2), S. 122 ff.
6
Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege
v. 4.1.1924, RGBl. I 1924, S. 23.
7
Eingeführt durch das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch v. 9.3.1975, BGBl. I 1974, S. 508 f.
8
Koewius (Fn. 2), S. 27.
9
Siehe dazu die Motive des Entwurfs einer RStPO bei Hahn
(Hrsg.), Die gesammten Materialien zur Strafprozeßordnung
und dem Einführungsgesetz zu derselben vom 1. Februar
1977, 1. Abt., 1880, S. 277. Vgl. auch Velten (Fn. 3), vor
§ 374 Rn. 3.
10
Siehe den dritten Entwurf der RStPO von 1874, der in den
§§ 335 ff. Regelungen zur subsidiären Privatklage vorsah und
in den §§ 356 ff. Normen über die prinzipale Privatklage.
Siehe dazu auch Hilger, in: Erb u.a. (Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 8, 26. Aufl. 2009, vor § 374 Rn. 1, und Weigend
(Fn. 2), S. 141 f.
11
Dazu ausführlich Maiwald, GA 1970, 33 (46 f.) und Muttelsee (Fn. 2), S. 15. Siehe auch Grebing, GA 1984, 1 (4);
Lütz-Binder (Fn. 2), S. 35.
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ZJS 1/2017
40
Bericht über einen Moribunden: Das Privatklageverfahren
leichte Misshandlungen „alltägliche Vorkommnisse [sind],
die das allgemeine Wohl der bürgerlichen Gesellschaft meistens wenig oder gar nicht [berühren] und selbst für die Beteiligten […] in der Regel eine viel zu geringe Bedeutung [haben], als daß ein rechtliches oder sittliches Bedürfnis vorläge,
stets eine Bestrafung herbeizuführen“.12
In den nachfolgenden Jahren wurde der Anwendungsbereich der Privatklage deutlich erweitert. Zahlreiche Delikte
aus dem Kern- und Nebenstrafrecht kamen hinzu.13 Dabei
erstreckte sich der Anwendungsbereich der Privatklage vorübergehend sogar auf die gefährliche Körperverletzung
(vormals: § 223a StGB, heute: § 224 StGB).14 Jedoch entschied sich der Gesetzgeber im Rahmen des 6. Strafrechtsreformgesetzes15 im Jahr 1998 dazu, diesen qualifizierten
Körperverletzungstatbestand wieder den Offizialdelikten zuzuordnen, um den Unrechtsgehalt solcher Taten klarer herauszustellen.16 Zuletzt wurde der Katalog der Privatklagedelikte wieder erweitert, und zwar um bestimmte Fälle des
§ 323a StGB, um den Grundtatbestand der Nachstellung
(§ 238 Abs. 1 StGB) sowie um § 201a Abs. 1 und 2 StGB. 17
Hinweis 1: Aller Voraussicht nach wird die Nachstellung
sehr bald kein Privatklagedelikt mehr sein. Am 15.12.
2016 hat der Bundestag das „Gesetz zur Verbesserung des
Schutzes gegen Nachstellung“, dessen Art. 2 die Streichung des § 238 Abs. 1 StGB aus dem Katalog der Privatklage beinhaltet, verabschiedet (zum Hintergrund dieser
Reform siehe II. im zweiten Teil).18 Zum Zeitpunkt der
12
Motive des Entwurfs einer RStPO bei Hahn (Fn. 9), S. 277.
Einen ausführlichen Überblick geben Hilger (Fn. 10),
§ 374, S. 19 f. (Entstehungsgeschichte) und Koewius (Fn. 2),
S. 44.
14
Auf die gefährliche Körperverletzung wurde der Anwendungsbereich erstreckt durch das Gesetz zur Entlastung der
Gerichte v. 11.3.1921, RGBl. I 1921, S. 231.
15
Sechstes Gesetz zur Reform des Strafrechts v. 26.1.1998,
BGBl. I 1998, S. 164.
16
Siehe dazu auch BT-Drs. 13/8587, S. 54.
17
Die Erweiterung des Katalogs der Privatklagedelikte um
bestimmte Fälle des § 323a StGB geschah durch das das
Erste Gesetz zur Modernisierung der Justiz v. 24.8.2004,
BGBl. I 2004, S. 2203. Der Grundtatbestand der Nachstellung (§ 238 Abs. 1 StGB) wurde in den Katalog der Privatklagedelikte durch das Gesetz zur Strafbarkeit beharrlicher
Nachstellungen v. 22.3.2007, BGBl. I 2007, S. 354 f., eingefügt. § 201a Abs. 1 und 2 StGB kam als Privatklagedelikt
hinzu aufgrund des Neunundvierzigsten Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Umsetzung europäischer Vorgaben zum Sexualstrafrecht v. 21.1.2015, BGBl. I 2015,
S. 10 ff.
18
Siehe dazu den von der Bundesregierung vorgelegten Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes gegen
Nachstellungen v. 12.10.2016, BT-Drs. 18/9946. Der Gesetzentwurf wurde vom Bundestag in einer vom Ausschuss für
Recht und Verbraucherschutz noch geänderten Fassung (BTDrs. 18/10654) angenommen (vgl. den Stenografischen Bericht der 209. Sitzung des Deutschen Bundestages, Plenar13
STRAFRECHT
Fertigstellung dieses Beitrags war dieses Gesetz jedoch
noch nicht in Kraft getreten.
II. Das Privatklageverfahren: Ziel und Eigenart, Voraussetzungen, Ablauf
1. Ziel und Eigenart
Das Privatklageverfahren ist im fünften Buch der StPO (Beteiligung des Verletzten am Verfahren) in den §§ 374-394
StPO geregelt. Es handelt sich um ein Strafverfahren, das
darauf abzielt, gegen den Beschuldigten eine echte Kriminalstrafe zu verhängen.19 Allerdings zeigen mehrere der in den
§§ 374 ff. StPO enthaltenen Regelungen (etwa die Vorschaltung eines Sühneverfahrens oder die gegenüber dem Offizialverfahren erweiterten Möglichkeiten der Klagerücknahme)20,
dass vor Verhängung einer Strafe zunächst versucht werden
soll, den Konflikt zwischen den Verfahrensbeteiligten gütlich
beizulegen.21
Mit dem Privatklageverfahren wird nicht nur das Legalitätsprinzip (s.o.), sondern auch das Offizialprinzip durchbrochen22, da es sich um ein Strafverfahren handelt, das nicht
von Amts wegen, sondern aufgrund der Klage einer Privatperson erfolgt.23 Im Privatklageverfahren stehen sich also
zwei Privatpersonen gegenüber: die eine als Privatkläger, die
andere als Beschuldigter/Angeklagter (siehe Hinweis 2).
Gleichwohl stellt das Privatklageverfahren kein echtes Parteiverfahren dar,24 weil auch hier der Ermittlungsgrundsatz25
gilt: So ergibt sich aus § 384 Abs. 3 StPO, dass das Gericht
auch in nämlichem Verfahren den Tatsachenstoff in eigener
Verantwortung zusammentragen muss. Es ist jedoch nicht zu
verkennen, dass das Privatklageverfahren zumindest Züge
eines Parteiverfahrens trägt,26 weil der Privatkläger im Geprotokoll 18/209, 20976 (C) und (D). Die von vorstehendem
Ausschuss vorgenommenen Änderungen betrafen allerdings
nicht die beabsichtigte Streichung des § 238 Abs. 1 StGB aus
dem Katalog der Privatklagedelikte.
19
Hilger (Fn. 10), § 374 Rn. 5; Schorn, Das Recht der Privatklage, 1967, S. 19.
20
Siehe dazu unten II. 2. e) und II. 3. d) aa).
21
Kühne, Strafprozessrecht. Eine systematische Darstellung
des deutschen und europäischen Strafverfahrensrechts,
9. Aufl. 2015, § 11 Rn. 253; siehe auch Rössner, in:
Wassermann (Hrsg.), Alternativkommentare, Kommentar zur
Strafprozeßordnung, Bd. 3, 1996, vor § 374 Rn. 7 und § 380
Rn. 1.
22
Grebing, GA 1984, 1 (4); Heger, Strafprozessrecht, 2013,
Rn. 163, 216; Kindhäuser, Strafprozessrecht, 4. Aufl. 2016,
§ 26 Rn. 61; Kramer, Grundlagen des Strafverfahrensrechts.
Ermittlung und Verfahren, 8. Aufl. 2014, Rn. 271.
23
Peters, Strafprozeß, 4. Aufl. 1985, S. 573.
24
Roxin/Schünemann (Fn. 4), § 63 Rn. 2; Volk/Engländer,
Grundkurs StPO, 8. Aufl. 2013, § 39 Rn. 4. A.A. wohl
Kühne (Fn. 21), § 11 Rn. 253, der meint, man könne von
einem Parteiprozess sprechen.
25
Siehe zum Ermittlungsgrundsatz etwa Beulke, Strafprozessrecht, 13. Aufl. 2016, Rn. 21.
26
Roxin/Schünemann (Fn. 4), § 63 Rn. 2.
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41
AUFSÄTZE
Tillmann Bartsch
gensatz zur Staatsanwaltschaft nicht zur Objektivität verpflichtet ist27 und er nach § 391 Abs. 1 S. 1 StPO die Privatklage grundsätzlich28 in jeder Lage des Verfahrens, d.h. von
der Zeit der Klageerhebung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens,29 zurücknehmen kann.
Hinweis 2: Das Gesetz bezeichnet denjenigen, der die
Privatklage erhebt, als „Privatkläger“ oder auch nur als
„Kläger“ und denjenigen, gegen den sich die Privatklage
richtet, bis zum Beschluss über die Eröffnung des Hauptverfahrens als „Beschuldigten“ und ab ergangenem Eröffnungsbeschluss als „Angeklagten“. Einen „Angeschuldigten“ kennt das Privatklageverfahren hingegen nicht, da
diese Bezeichnung nach § 157 StPO nur auf Beschuldigte
Anwendung findet, gegen die die öffentliche Klage erhoben ist.
2. Voraussetzungen
a) Privatklagefähiges Delikt
Voraussetzung eines Privatklageverfahrens ist, dass es sich
bei der in Rede stehenden Straftat um ein Privatklagedelikt
handelt. Die hierzu zählenden Straftatbestände werden in
§ 374 Abs. 1 Nr. 1 bis 8 StPO abschließend aufgezählt. Dabei
enthalten die Nrn. 1 bis 6 verschiedene Delikte aus dem
Kernstrafrecht. Im Einzelnen handelt es sich um den Hausfriedensbruch (§ 123 StGB), die Beleidigung (§§ 185-189
StGB), wenn sie nicht gegen eine der in § 194 Abs. 4 StGB
genannten politischen Körperschaften gerichtet ist, die Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen (201a Abs. 1 und 2 StGB), die Verletzung des
Briefgeheimnisses (§ 202 StGB), die einfache vorsätzliche
sowie die fahrlässige Körperverletzung (§§ 223, 229 StGB),
die Nachstellung (§ 238 Abs. 1 StGB; siehe dazu oben Hinweis 1), die Bedrohung (§ 241 StGB), die Bestechlichkeit
sowie die Bestechung im geschäftlichen Verkehr (§ 299
StGB), die Sachbeschädigung (§ 303 StGB) und den Vollrausch (§ 323a StGB), sofern die im Rausch begangene Tat
eines der vorgenannten Vergehen ist. Zudem kann die Privatklage nach den Nrn. 7 und 8 des § 374 Abs. 1 StPO im Fall
bestimmter nebenstrafrechtlicher Straftatbestände erhoben
werden. Konkret werden darin bestimmte Wettbewerbsvergehen sowie patent-, urheber-, warenzeichen-, gebrauchsund geschmacksmusterrechtliche Vergehen aufgeführt.30
Gemeinsam haben die in § 374 Abs. 1 Nr. 1 bis 8 StPO
genannten Straftatbestände, dass es sich jeweils um Vergehen
im Sinne des § 12 Abs. 2 StGB handelt. Darüber hinaus sind
Merkmale, die all diese Privatklagedelikte kennzeichnen,
kaum zu finden. So werden hierdurch zwar häufig, aber nicht
ausschließlich Individualrechtsgüter geschützt. Eine Aus27
Kindhäuser (Fn. 22), § 26 Rn. 62.
Siehe allerdings zur Zustimmungspflicht des Angeklagten
nach Vernehmung des Angeklagten in der Hauptverhandlung
unten II. 3. d) aa).
29
Meyer-Großner, in: Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, Kommentar, 59. Aufl. 2016, § 391 Rn. 5.
30
Vgl. Roxin/Schünemann (Fn. 4), § 63 Rn. 5.
28
nahme bildet etwa § 299 StGB, der zwar auch dem Schutz
von Individualinteressen dient, nach ganz h.M. jedoch in
erster Linie den Schutz eines Kollektivrechtsguts31, namentlich den Schutz des freien und fairen Wettbewerbs, bezweckt.32 Darüber hinaus handelt es sich bei den in § 374
Abs. 1 StPO genannten Tatbeständen zwar jeweils zumeist,
aber eben nicht durchgängig
§ um Vorsatztaten (Ausnahme: § 229 StGB),
§ um Vergehen, bei denen eine Strafandrohung ohne erhöhtes Mindestmaß vorliegt (Ausnahme: § 188 Abs. 1 und 2
StGB),
§ und um Delikte, deren Verfolgung (grundsätzlich) nur auf
Antrag (§§ 77 ff. StGB) zulässig ist (Ausnahmen: § 241
StGB, § 16 Abs. 1 UWG, § 144 Abs. 1 und 2 Markengesetz, § 323a StGB, wenn die im Rausch begangene Tat
eine Bedrohung war).
Auch die in der Literatur geäußerten Auffassungen, dass die
Privatklagedelikte sämtlich „klassische leichte Vergehen“ des
Strafrechts darstellten,33 es sich um Straftatbestände handele,
deren Begehung die Allgemeinheit typischerweise wenig berühre,34 und/oder es Delikte seien, denen häufig persönliche
Konflikte zwischen Personen in enger z.B. nachbarschaftlicher, beruflicher oder geschäftlicher Beziehung zugrunde
lägen,35 wissen nicht vollends zu überzeugen. So ist es erstens fraglich, ob man etwa Taten nach § 188 StGB, für deren
Begehung der Gesetzgeber eine Mindestfreiheitsstrafe von
drei (§ 188 Abs. 1 StGB) bzw. sogar sechs Monaten (§ 188
Abs. 2 StGB) vorgesehen hat, tatsächlich als „leichte Verge-
31
Heine/Eisele, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch,
Kommentar, 29. Aufl. 2014, § 299 Rn. 2; Rogall, in: Wolter
(Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch,
131. Lfg., Stand: März 2012, § 299 Rn. 7. Darüber hinaus
bezweckt auch § 323a StGB in erster Linie den Schutz eines
Kollektivrechtsguts, nämlich den Schutz der Allgemeinheit
vor den von berauschten Personen erfahrungsgemäß ausgehenden Gefahren. Der Gesetzgeber meinte jedoch, dass die
Strafverfolgung im Einzelfall nicht zwingend im öffentlichen
Interesse liegen müsse, wenn im Rauschzustand ein Privatklagedelikt nach § 374 Abs. 1 Nrn. 1 bis 6 begangen worden
sei. Daher sei die (teilweise) Einordnung des § 323a StGB in
den Katalog der Privatklagedelikte gerechtfertigt (vgl. BTDrs. 15/1508, S. 27).
32
BGHSt 49, 214 (229); Heine/Eisele (Fn. 31), § 299 Rn. 2;
Heinrich, in: Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht,
Besonderer Teil, 3. Aufl. 2015, § 49 Rn. 51; Rosenau, in:
Satzger/Schluckebier/Widmaier (Hrsg.), Strafprozeßordnung,
Kommentar, 2. Aufl. 2015, § 299 Rn. 4; Rogall (Fn. 31),
§ 299 Rn. 7.
33
Rössner (Fn. 21), vor § 374 Rn. 2.
34
Grebing, GA 1984, 1 (2).
35
Hirsch, in: Warda/Waider/v. Hippel/Meurer (Hrsg.), Festschrift für Richard Lange zum 70. Geburtstag, 1976, S. 815
(832).
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ZJS 1/2017
42
Bericht über einen Moribunden: Das Privatklageverfahren
hen“ einstufen kann.36 Zweitens lässt sich zumindest heutzutage für Fälle der vorsätzlichen Körperverletzung nach § 223
StGB bezweifeln, dass solche Taten die Allgemeinheit nur
wenig berühren. Denn mittlerweile ist eine erhöhte Sensibilität gegenüber jedweder Form von körperlicher Gewalt in
unserer Gesellschaft zu beobachten,37 die sich in gesetzlichen
Neuerungen zur Verhinderung nämlicher Gewalt (siehe etwa
das Gewaltschutzgesetz oder § 1631 Abs. 2 BGB) ebenso
widerspiegelt wie in zahlreichen Präventionsmaßnahmen und
-programmen, die in den verschiedensten gesellschaftlichen
Bereichen jegliche Form von körperlicher Gewalt zurückdrängen sollen.38 Schließlich ist auch kaum anzunehmen,
dass die Privatklagedelikte allesamt dadurch gekennzeichnet
wären, dass ihr Ursprung häufig in persönlichen Konflikten
von Personen in engen Beziehungen zu suchen sei. Zumindest auf fahrlässige Körperverletzungen dürfte dies nicht
zutreffen, da solche Taten naturgemäß lediglich auf Sorgfaltspflichtverletzungen beruhen, die sich im alltäglichen
Umgang miteinander regelhaft ohne vorhergehenden Konflikt
ereignen dürften. Im Ergebnis ist daher festzustellen, dass
sich zwar viele Kriterien finden lassen, die „zumeist“ auf die
Privatklagedelikte zutreffen, aber fast keine (Ausnahme:
Vergehen), die für alle gelten. Ein klares, fest umrissenes
Schema, in das die Privatklagedelikte sich allesamt einfügen,
ist mithin nicht zu erkennen.39 Darüber hinaus wird in der
Literatur durchaus zu Recht danach gefragt, warum gerade
die in § 374 Abs. 1 StPO genannten Vergehen – und nicht
(auch) andere, die ebenfalls eines oder mehrere der „zumeist“-Kriterien erfüllen – als Privatklagedelikte ausgestaltet
wurden.40
STRAFRECHT
einschlägigen Privatklagedelikts richtet.42 Dementsprechend
ist etwa beim Hausfriedensbruch der Inhaber des Hausrechts
als Verletzter anzusehen,43 und bei der Sachbeschädigung
sind der Eigentümer der Sache sowie deren unmittelbare oder
mittelbare Besitzer verletzt.44
bb) Sonstige Berechtigte
Nach § 374 Abs. 2 S. 1 StPO sind im Falle der Verwirklichung einer Tat, die nur auf Antrag verfolgt wird, auch diejenigen Personen zur Erhebung der Privatklage befugt, die
neben dem Verletzten oder an seiner Stelle berechtigt sind,
Strafantrag zu stellen. Neben dem Verletzten zur Stellung
eines Strafantrags befugt ist bspw. der Dienstvorgesetzte im
Falle einer Beleidigung oder einer Körperverletzung nach
§ 223 oder § 229 StGB, die gegen einen Amtsträger während
der Ausübung seines Dienstes begangen wurde (vgl. §§ 194
Abs. 3 S. 1, 230 Abs. 2 S. 1 StGB).45 Anstelle des Verletzten
sind nach dessen Tod in bestimmten Fällen die in § 77 Abs. 2
S. 1 und 2 StGB genannten Personen (in erster Linie: Ehegatten, Lebenspartner und Kinder; danach: Eltern, Geschwister
und Enkel) strafantragsberechtigt.
cc) Mehrere Berechtigte
Steht wegen derselben Straftat, d.h. derselben Tat im prozessualen Sinne (§ 264 StPO)46, mehreren Personen das
Recht zur Privatklage zu, ist nach § 375 Abs. 1 StPO jeder
einzelne zur Erhebung der Privatklage befugt. Ein solcher
Fall einer mehrfachen Klageberechtigung kann zum einen
eintreten, wenn durch dieselbe Straftat mehrere Personen
verletzt wurden.
b) Privatklageberechtigung
aa) Verletzter
Zur Erhebung der Privatklage ist nach § 374 Abs. 1 StPO
grundsätzlich der Verletzte berechtigt. Hierunter versteht man
denjenigen, der durch die behauptete Tat, ihre tatsächliche
Begehung unterstellt, unmittelbar in seinen rechtlich geschützten Interessen beeinträchtigt ist,41 wobei sich die konkrete Beurteilung jeweils nach dem Rechtsgut des jeweils
Beispiel 1: A wirft nach einem Streit mit B und C in einer
Gaststätte wütend den Tisch um, an dem die drei gesessen
haben. Wie von A gewollt, werden hierdurch nicht nur
der Tisch des Gastwirts G, sondern auch die darauf liegenden Smartphones von B und C beschädigt. Zur Privatklage berechtigt sind in diesem Fall B, C und G.
42
36
Freilich wird die Staatsanwaltschaft in den Fällen des
§ 188 StGB zumeist das öffentliche Interesse bejahen, die
Durchführung eines Privatklageverfahrens dürfte bei solchen
Taten also die Ausnahme sein, vgl. hierzu auch Nr. 229
Abs. 1 S. 2 RiStBV.
37
Brettel, in: Göppinger/Bock, Kriminologie, 6. Aufl. 2008,
§ 28 Rn. 20.
38
Schwind, Kriminologie und Kriminalpolitik. Eine praxisorientierte Einführung mit Beispielen, 23. Aufl. 2016, § 2
Rn. 28.
39
Koewius (Fn. 2), S. 55.
40
So etwa Rössner (Fn. 21), § 374 Rn. 3. Siehe auch Jung,
ZStW 93 (1981), 1147 (1168 f.).
41
Kindhäuser (Fn. 22), § 26 Rn. 66; Rössner, in: Dölling/
Duttge/Rössner (Hrsg.), Handkommentar, Gesamtes Strafrecht, 3. Aufl. 2013, § 374 Rn. 7.
Jofer, in Satzger/Schluckebier/Widmaier (Fn. 32), § 374
Rn. 5; Rössner (Fn. 41), § 374 Rn. 7.
43
Hilger (Fn. 10), § 374 Rn. 4; Kurth/Weißer, in: Julius u.a.
(Hrsg.), Heidelberger Kommentar zur Strafprozessordnung,
5. Aufl. 2012, § 374 Rn. 2.
44
Kurth/Weißer (Fn. 43), § 374 Rn. 3.
45
Darüber hinaus besitzen im Fall von Taten nach § 299
Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Nr. 1 StGB bestimmte Verbände und
Kammern – neben dem unmittelbar Verletzten – ein selbständiges Strafantragsrecht (vgl. § 301 Abs. 2 StGB i.V.m.
§ 8 Abs. 3 Nrn. 2 und 4 UWG).
46
Unter der Tat im prozessualen Sinne versteht die Rechtsprechung einen einheitlichen geschichtlichen Vorgang, der
sich von anderen ähnlichen oder gleichgelagerten unterscheidet und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll; siehe nur BGH StV 1991, 245;
BGH StV 2015, 675.
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43
AUFSÄTZE
Tillmann Bartsch
Zum anderen ergibt sich eine Klageberechtigung mehrerer
Personen dann, wenn zwar nur ein Verletzter existiert, daneben jedoch noch eine weitere Person nach § 374 Abs. 2 S. 1
Alt. 1 StPO privatklageberechtigt ist.
zur Erhebung der Privatklage durch den gesetzlichen Vertreter wahrgenommen (§ 374 Abs. 3 StPO)51. Dieser wird dadurch allerdings nicht selbst zum Privatkläger, sondern er
erhebt diese nur im Namen des Verletzten.52
Beispiel 2: Autofahrer Z beleidigt den Polizisten P im
Rahmen einer Verkehrskontrolle mit den Worten „Du
Scheißbulle“47. Zur Erhebung der Privatklage ist in diesem Fall der Verletzte, also P, nach § 374 Abs. 1 StPO
berechtigt. Daneben ist gemäß § 374 Abs. 2 S. 1 Alt. 1
StPO aber auch dessen Dienstvorgesetzter zur Erhebung
der Privatklage befugt, weil dieser nach § 194 Abs. 3 S. 1
StGB neben P berechtigt ist, Strafantrag zu stellen.
c) Kein Ausschluss der Privatklage
In manchen Fällen ist die Erhebung der Privatklage – trotz
Verwirklichung eines Privatklagedelikts – ausgeschlossen.
Da bei der Ausübung des Rechts zur Privatklage jeder Privatklageberechtigte von dem anderen unabhängig ist (vgl. § 375
Abs. 1 StPO), muss diese Klage von den Berechtigten nicht
gemeinsam erhoben werden. Haben im obigen Beispiel 1 also
B und C kein Interesse an einer Privatklage, kann G diese
auch allein erheben. Hat aber einer der Berechtigten Privatklage erhoben, können die übrigen kein weiteres Privatklageverfahren mehr einleiten, sondern sich nur noch an dem bereits eingeleiteten Verfahren im Wege des Beitritts beteiligen;
dabei treten sie dem Verfahren in der Lage bei, in dem es sich
zur Zeit der Beitrittserklärung befindet (§ 375 Abs. 2 StPO).
Schließlich bestimmt § 375 Abs. 3 StPO, dass jede in der
Privatklagesache selbst ergangene Entscheidung ihre Wirkung zugunsten des Beschuldigten auch gegenüber denjenigen Berechtigten äußert, die keine Privatklage erhoben haben. Hat etwa im obigen Beispiel 1 nur G Privatklage erhoben und ist A rechtskräftig freigesprochen worden, weil er
nach § 20 StGB schuldunfähig war, wirkt dieses rechtskräftige Urteil nicht nur gegenüber G, sondern auch gegenüber B
und C dergestalt, dass die Erhebung einer erneuten Privatklage wegen derselben Tat ein Verfahrenshindernis (Verbrauch
der Strafklage) entgegensteht.
Hinweis 3: Sowohl § 375 Abs. 2 StPO als auch § 375
Abs. 3 StPO sind Ausprägungen des Grundsatzes ne bis
in idem, weil beide Regelungen darauf abzielen, mehrere
Verfahren und Verurteilungen wegen derselben Straftat
zu verhindern.
dd) Vertretung durch gesetzlichen Vertreter
Der Privatkläger muss außerdem prozessfähig sein, was sich
implizit aus § 374 Abs. 3 StPO ergibt.48 Ob die Prozessfähigkeit gegeben ist, beurteilt sich nach den §§ 51, 52 ZPO.49
Fehlt sie, weil es sich bei dem Verletzten bspw. um einen
Minderjährigen oder um eine juristische Person (denkbar
etwa im Fall der Beleidigung) handelt,50 wird die Befugnis
47
Zum beleidigenden Charakter des gegenüber einem im
Dienst befindlichen Polizisten verwendeten Ausdrucks
„Scheißbulle“ OLG Oldenburg JR 1990, S. 127 f. m. Anm.
Otto, JR 1990, 128 f.
48
Vgl. Rössner (Fn. 21), § 374 Rn. 11.
49
Meyer-Großner (Fn. 29), § 374 Rn. 8.
50
Roxin/Schünemann (Fn. 4), § 63 Rn. 13.
aa) Vorliegen des öffentlichen Interesses
Die Erhebung einer Anklage im Fall eines Privatklagedelikts
ist kein exklusives Recht der im Gesetz genannten Privatklageberechtigten.53 Vielmehr bleibt der Staat neben dem
Privatkläger zur Erhebung der öffentlichen Klage befugt.
Macht die Staatsanwaltschaft von dieser Befugnis Gebrauch,
ist die Privatklage ausgeschlossen.54 Allerdings erhebt die
Staatsanwaltschaft die öffentliche Klage bei Privatklagedelikten gemäß § 376 StPO nur, wenn ein „öffentliches Interesse“
gegeben ist. Das ist der Fall, wenn aus spezial- und/oder
generalpräventiven Gründen die Durchsetzung des materiellen Strafrechts geboten ist.55
Zur (weiteren) Auslegung des Begriffs „öffentliches Interesse“ muss die Staatsanwaltschaft einige Vorschriften der
Richtlinien über das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV) heranziehen. Insoweit bestimmt Nr. 86 Abs. 2
S. 1 RiStBV, dass bei Privatklagesachen ein öffentliches
Interesse „in der Regel“ vorliegen wird, „wenn der Rechtsfrieden über den Lebenskreis des Verletzten hinaus gestört
und die Strafverfolgung ein gegenwärtiges Anliegen der
Allgemeinheit ist“. Aber auch wenn der Rechtsfrieden des
Verletzten über den Lebenskreis des Verletzten hinaus nicht
gestört worden ist, kann nach Nr. 86 Abs. 2 S. 2 RiStBV ein
öffentliches Interesse zu bejahen sein, „wenn dem Verletzten
wegen seiner persönlichen Beziehung zu dem Täter nicht
zugemutet werden kann, die Privatklage zu erheben, und die
Strafverfolgung ein gegenwärtiges Anliegen der Allgemeinheit ist“. Zusätzlich zu diesen allgemein geltenden Formeln
enthält die RiStBV für einzelne Privatklagedelikte spezielle
Richtlinien zur Bestimmung des öffentlichen Interesses. So
legt etwa Nr. 233 S. 1 RiStBV für die Verfolgung von Körperverletzungen fest, dass das öffentliche Interesse „vor allem dann zu bejahen [ist], wenn eine rohe Tat, eine erhebliche Misshandlung oder eine erhebliche Verletzung vorliegt“.56
51
Zur teils zu eng, teils zu weit geratenen Formulierung des
§ 374 Abs. 3 StPO Hilger (Fn. 10), § 374 Rn. 35.
52
Jofer (Fn. 42), § 374 Rn. 7.
53
Peters (Fn. 23), S. 573; Roxin/Schünemann (Fn. 4), § 63
Rn. 7; Volk/Engländer (Fn. 24), § 39 Rn. 8.
54
Roxin/Schünemann (Fn. 4), § 63 Rn. 7.
55
Jofer (Fn. 42), § 376 Rn. 1 i.V.m. § 153 Rn. 10; Hilger
(Fn. 10), § 376 Rn. 2; Meyer-Großner (Fn. 29), § 376 Rn. 1
i.V.m. § 153 Rn. 7.
56
Weitere „Hilfen“ zur Auslegung des Begriffes „öffentliches Interesse“ sind bspw. enthalten in Nr. 229 Abs. 1
RiStBV für die Beleidigung, in Nr. 232 RiStBV für die Be-
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ZJS 1/2017
44
Bericht über einen Moribunden: Das Privatklageverfahren
bb) Zusammentreffen mit einem Offizialdelikt
Ausgeschlossen ist die Privatklage überdies, wenn ein Privatklagedelikt mit einem Offizialdelikt im Rahmen einer prozessualen Tat (§ 264 StPO)57 zusammentrifft, wobei es unerheblich ist, ob die Delikte in Ideal- oder Realkonkurrenz
stehen. In diesen Fällen hat die Staatsanwaltschaft das Privatklagedelikt stets gemeinsam mit dem Offizialdelikt zu verfolgen; auf die Frage, ob ein öffentliches Interesse an der Verfolgung des Privatklagedelikts besteht, kommt es dann nicht
an.58
Beispiel 3: A hat eine Auseinandersetzung mit dem Gastwirt G, weil ihm (A) das Bier, das G ihm in einem Glas
serviert hat, zu warm ist. Im Verlauf des Streits nimmt A
das Bierglas und schlägt damit ohne Tötungsvorsatz auf
den Kopf des G. Das Glas zerspringt, G erleidet eine
Schnittwunde. In diesem Fall ist eine Privatklage des G
ausgeschlossen, da das Privatklagedelikt Sachbeschädigung im Rahmen derselben prozessualen Tat mit einem
Offizialdelikt – gefährliche Körperverletzung nach § 224
Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 und u.U. auch Nr. 5 StGB – (tateinheitlich) zusammentrifft und daher auch offiziell, d.h.
durch die Staatsanwaltschaft, verfolgt werden muss.
Der Grundsatz, dass beim Zusammentreffen eines Offizialund eines Privatklagedelikts im Rahmen derselben strafprozessualen Tat das Privatklageverfahren ausgeschlossen ist,
gilt auch, wenn die Staatsanwaltschaft sich dazu entschließt,
das eingeleitete Offizialverfahren einzustellen. Stellt die
Staatsanwaltschaft also beispielsweise ein Offizialverfahren
wegen einer strafprozessualen Tat, innerhalb derer der Beschuldigte eine Nötigung (Offizialdelikt) und eine Bedrohung
(Privatklagedelikt) begangen haben soll, gemäß § 170 Abs. 2
StPO ein, kann der Verletzte keine Privatklage erheben, sondern lediglich im Wege des Klageerzwingungsverfahrens
(§ 172 StPO) gegen die Einstellung insgesamt vorgehen.59
Ebenso ist die Einleitung eines Privatklageverfahrens bei
einem Zusammentreffen von Offizial- und Privatklagedelikt
ausgeschlossen, wenn die Staatsanwaltschaft aus Opportunitätsgründen nach § 153 Abs. 1 oder § 153a Abs. 1 StPO von
der Verfolgung der Tat abgesehen hat.60
leidigung von Justizangehörigen, in Nr. 235 RiStBV für Körperverletzungen, die als Kindesmisshandlungen einzustufen
sind, in Nr. 260 RiStBV für Straftaten nach § 299 StGB und
für Taten nach dem UWG sowie in Nr. 261 RiStBV für in
§ 374 Abs. 1 Nr. 8 StPO genannte nebenstrafrechtliche Tatbestände.
57
Siehe zum Begriff der prozessualen Tat Fn. 46.
58
Kindhäuser (Fn. 22), § 26 Rn. 65; Meyer-Großner (Fn. 29),
§ 376 Rn. 9.
59
OLG Koblenz, Urt. v. 14.12.1988 – 1 Ws 676/88 (juris);
siehe auch Rössner (Fn. 41), § 376 Rn. 4.
60
Hilger (Fn. 10), § 374 Rn. 25; Meyer-Großner (Fn. 29),
§ 376 Rn. 11; Rössner (Fn. 21), § 376 Rn. 9. Gegen eine
solche Einstellung aus Opportunitätsgründen kann sich der
STRAFRECHT
cc) Begehung des Privatklagedelikts durch einen Jugendlichen
Nicht in Betracht kommt ein Privatklageverfahren auch,
wenn das Privatklagedelikt von einem Jugendlichen im Sinne
des § 1 Abs. 2 JGG begangen wurde (§ 80 Abs. 1 S. 1 JGG).
Das bedeutet freilich nicht, dass Jugendliche überhaupt nicht
strafrechtlich verfolgt werden könnten, wenn sie ein Privatklagedelikt verübt haben. Denn an die Stelle der strafrechtlichen Verfolgung durch den Privatklageberechtigten tritt bei
solchen Tätern eine erweiterte Befugnis zur Verfolgung von
Amts wegen: Nach § 80 Abs. 1 S. 2 JGG hat die Staatsanwaltschaft Privatklagedelikte bei Jugendlichen auch dann
von Amts wegen zu verfolgen, wenn entweder Gründe der
Erziehung oder ein berechtigtes Interesse des Verletzten, das
dem Erziehungszweck nicht entgegensteht, es erfordern.
Auf Heranwachsende findet § 80 JGG keine Anwendung
(vgl. §§ 109, 112 JGG). Für sie gelten daher die §§ 374 ff.
StPO uneingeschränkt (§ 2 Abs. 2 JGG).
d) Keine Fristbindung, aber ggf. Strafantragserfordernis
Die Erhebung der Privatklage ist grundsätzlich an keine Frist
gebunden. Sie kann also grundsätzlich noch Jahre nach der
Tat eingeleitet werden, sofern die Tat nicht mittlerweile verjährt ist.61 Handelt es sich aber um ein Delikt, dessen Verfolgung einen Strafantrag voraussetzt, muss dieser rechtzeitig
(vgl. § 77b StGB) gestellt worden sein.62
e) Teilweise: Erfolglose Durchführung eines Sühneverfahrens
Bei bestimmten Taten aus dem Katalog des § 374 Abs. 1
StPO besteht eine besondere Voraussetzung für die Erhebung
der Privatklage gemäß § 380 Abs. 1 StPO darin, dass der
Kläger zuvor einen sog. Sühneversuch vor einer Vergleichsbehörde erfolglos (!) unternommen und dies dem Gericht
durch eine sog. Sühnebescheinigung nachgewiesen hat. Ein
solcher Versuch einer Aussöhnung mit dem Beschuldigten ist
in § 380 Abs. 1 StPO für die meisten kernstrafrechtlichen
Privatklagedelikte vorgeschrieben.
Der Sinn und Zweck dieses Sühneverfahrens besteht darin, übereilte Privatklagen zu verhindern, um die Gerichte zu
entlasten. Außerdem dient dieses Verfahren dazu, möglichst
einen gütlichen Ausgleich zwischen den Parteien herzustellen.63 Die zuständige Behörde, vor der der Sühneversuch
durchzuführen ist, ist landesrechtlich geregelt. Zumeist sind
hierfür die sog. Schiedsämter zuständig.64 Die Regelungen
Verletzte auch nicht mittels des Klageerzwingungsverfahrens
wehren, vgl. § 172 Abs. 2 S. 3 StPO.
61
Roxin/Schünemann (Fn. 4), § 63 Rn. 9 f.
62
Zum Streit darüber, ob der Privatkläger den Strafantrag
gestellt haben muss oder ob auch ein Strafantrag genügt, der
von einem Dritten innerhalb der Frist des § 77b StGB gestellt
wurde, Rieß, NStZ 1989, 103 ff.
63
Rössner (Fn. 21), § 380 Rn. 1.
64
Siehe dazu die Überblicke bei Hilger (Fn. 10), § 380 Rn. 622 und Meyer-Großner (Fn. 29), § 380 Rn. 3.
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45
AUFSÄTZE
Tillmann Bartsch
über die Durchführung des Sühneverfahrens finden sich
ebenfalls in speziellen Landesgesetzen. Sie sind in den einzelnen Bundesländern zwar teils unterschiedlich, im Kern
jedoch ähnlich ausgestaltet. Der Ablauf eines solchen Sühneverfahrens soll nachfolgend grob am Beispiel des einschlägigen Hessischen Schiedsamtsgesetzes dargestellt werden:
Für das Sühneverfahren sind in Hessen die Schiedsämter,
die von jeder Gemeinde einzurichten sind, zuständig.65 Die
Schiedspersonen sind ehrenamtlich tätig.66 Eingeleitet wird
das Sühneverfahren auf Antrag des Verletzten.67 Daraufhin
bestimmt das Schiedsamt Ort und Zeit der Verhandlung und
lädt die beiden Parteien (nachfolgend auch: Antragsteller und
Gegenpartei) zu einem Sühneversuch im Rahmen eines
Schlichtungsverfahrens.68 Die beiden Parteien sind verpflichtet, in dem anberaumten Termin zu erscheinen.69 Kommt der
Antragsteller dieser Pflicht ohne ausreichende Entschuldigung nicht nach, gilt der Antrag auf Einleitung des Sühneverfahrens als zurückgenommen.70 Erscheint hingegen die Gegenpartei ohne ausreichende Entschuldigung nicht, wird
gegen sie ein Ordnungsgeld verhängt.71 Außerdem trifft die
Schiedsperson (u.U. auch erst nach erneutem Ausbleiben in
einem weiteren Termin)72 die in diesem Zusammenhang
wichtige Feststellung, dass sich die Gegenpartei auf die
Schlichtungsverhandlung nicht einlassen will.73 In der Folge
bescheinigt das Schiedsamt dem Antragsteller nach Ablauf
einer bestimmten Frist die Erfolglosigkeit des Sühneversuchs
und erteilt (nach einem weiteren Antrag) die sog. Sühnebescheinigung,74 womit die Voraussetzung für die Einreichung der Privatklage geschaffen wird.
Erscheinen beide Parteien (ggf. in Begleitung eines
Rechtsanwalts oder eines sonstigen Beistands)75 im Termin,
findet eine mündliche, nicht öffentliche Verhandlung statt.76
In dieser erörtert die Schiedsperson die Streitsache mit den
Parteien und wirkt auf eine einvernehmliche Beilegung des
Konflikts, sprich: einen Vergleich, hin.77 Schließen die Parteien einen Vergleich oder erzielen sie eine sonstige Einigung, wird diese in das Protokoll über die mündliche Ver-
65
§§ 1 und 30 des Hessischen Schiedsamtsgesetzes
(HSchAG).
66
§ 2 S. 2 HSchAG.
67
§ 31 Abs. 1 i.V.m. § 14 Abs. 1 S. 1 HSchAG.
68
§ 31 Abs. 1 i.V.m. § 17 Abs. 1 HSchAG.
69
§ 31 Abs. 1 i.V.m. § 18 Abs. 1 S. 1 HSchAG.
70
§ 31 Abs. 1 i.V.m. § 18 Abs. 10 HSchAG.
71
§ 31 Abs. 1 i.V.m. § 18 Abs. 4 HSchAG.
72
Bei Parteien, die in derselben Gemeinde wohnen, muss vor
der hier maßgeblichen Feststellung zunächst ein weiterer
Termin anberaumt werden. Erst wenn die Gegenpartei auch
in diesem weiteren Termin ausbleibt, darf die Feststellung
getroffen werden, dass diese sich nicht auf die Schlichtungsverhandlung einlassen will (§ 35 S. 2 HSchAG).
73
§ 35 i.V.m. § 18 Abs. 11 HSchAG.
74
§ 36 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. §§ 35, 18 Abs. 11 HSchAG.
75
§ 31 Abs. 1 i.V.m. § 21 HSchAG.
76
§ 31 Abs. 1 i.V.m. § 22 Abs. 1 S. 1 HSchAG.
77
§ 31 Abs. 1 i.V.m. § 22 Abs. 2 HSchAG.
handlung aufgenommen.78 Zu einem Privatklageverfahren
kommt es in diesem Fall nicht mehr, da der Sühneversuch
erfolgreich war. Können sich die Parteien hingegen nicht
einigen, wird im Protokoll festgehalten, dass eine Vereinbarung zwischen den Parteien nicht zustande gekommen ist.79
Auch in diesem Fall wird dem Antragsteller die sog. Sühnebescheinigung, die ihm die Erhebung der Privatklage ermöglicht, auf seinen (weiteren) Antrag hin erteilt.80
Die Kosten des Sühneverfahrens hat grundsätzlich der
Antragsteller zu tragen.81 Im Falle eines Vergleichs werden
die Kosten jedoch von jeder Partei zur Hälfte übernommen,
sofern im Rahmen der Einigung nicht eine andere Vereinbarung über die Kosten getroffen wurde.82
Die erfolglose Durchführung des Sühneversuchs ist in den
in § 380 Abs. 1 StPO genannten Fällen eine Klagevoraussetzung.83 Die Sühnebescheinigung ist daher gemeinsam mit der
Privatklage beim zuständigen Gericht einzureichen (§ 380
Abs. 1 S. 3 StPO). Geschieht dies nicht, ist die Privatklage
durch Beschluss zurückzuweisen.84 Da mit der Zurückweisung nach h.M. jedoch kein Verbrauch der Strafklage einritt,
kann der Sühneversuch nachgeholt und die Privatklage erneut
erhoben werden.85
3. Ablauf des Verfahrens
a) Einleitung des Privatklageverfahrens
Im Fall eines Privatklagedelikts bestehen für den Privatklageberechtigten zwei mögliche Vorgehensweisen:86 Zum einen
kann er wegen dieses Delikts Anzeige erstatten sowie den
ggf. erforderlichen Strafantrag stellen und sodann abwarten,
ob die Staatsanwaltschaft das öffentliche Interesse bejaht und
die öffentliche Klage erhebt. Wird das öffentliche Interesse
verneint, stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren nach
§ 170 Abs. 2 StPO wegen Vorliegens eines Verfahrenshindernisses für das Offizialverfahren ein87 und verweist den
Antragsteller auf den Privatklageweg, den dieser dann (erforderlichenfalls nach Durchführung eines vorhergehenden
Sühneverfahrens) beschreiten kann.
Zum anderen kann der Privatklageberechtigte auch sofort
selbst tätig werden und das Verfahren – ggf. wiederum nach
vorhergehendem Sühneverfahren – von sich aus durch Ein78
§ 31 Abs. 1 i.V.m. § 24 Abs. 2 Nr. 4 HSchAG.
§ 31 Abs. 1 i.V.m. § 24 Abs. 2 Nr. 4 HSchAG.
80
§ 36 Abs. 1 Nr. 1 HSchAG.
81
§ 38 Abs. 1 HSchAG.
82
§ 38 Abs. 4 HSchAG.
83
OLG Hamburg NJW 1956, 522; LG Aachen NJW 1956,
1611; Heinrich, NJW 1964, 1087; Hilger (Fn. 10), § 380
Rn. 32; Roxin/Schünemann (Fn. 4), § 63 Rn. 17. A.A.
Schröder/Verrel, Strafprozessrecht, 6. Aufl. 2014, § 42
Rn. 245: „Eröffnungsvoraussetzung“.
84
LG Neubrandenburg NStZ 1995, 149.
85
OLG Hamm NJW 1984, 249; LG Neubrandenburg NStZ
1995, 149; Hilger (Fn. 10), § 380 Rn. 28; Roxin/Schünemann
(Fn. 4), § 63 Rn. 17; a.A. LG Bonn NJW 1964, 417.
86
Beulke (Fn. 25), Rn. 591.
87
Beulke (Fn. 25), Rn. 591.
79
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ZJS 1/2017
46
Bericht über einen Moribunden: Das Privatklageverfahren
reichung einer Privatklage beim zuständigen (siehe Hinweis 4) Gericht in Gang bringen. Da die Staatsanwaltschaft
von solchen Privatklagen regelmäßig keine Kenntnis erhält88
– sie ist auch zur Mitwirkung am Privatklageverfahren nicht
verpflichtet (§ 377 Abs. 1 S. 1 StPO) –, besteht in diesem
Fall allerdings folgende Gefahr: Der Privatkläger könnte eine
Tat zur Anklage bringen, deren Verfolgung an sich der
Staatsanwaltschaft obliegt, weil bspw. ein öffentliches Interesse an der Verfolgung besteht oder es sich tatsächlich nicht
um ein Privatklage-, sondern um ein Offizialdelikt handelt.
Auch um dies zu verhindern, bestimmt § 377 Abs. 1 S. 2
StPO, dass das Gericht verpflichtet ist, dem Staatsanwalt die
Akten vorzulegen, wenn es die Übernahme der Verfolgung
durch ihn für geboten hält. Zugleich ist die Staatsanwaltschaft
nach § 377 Abs. 2 S. 1 StPO berechtigt, die Strafverfolgung
in jeder Lage des Verfahrens bis zum Eintritt der Rechtskraft
des Urteils durch ausdrückliche Erklärung – auch gegen den
Willen des Privatklägers89 – zu übernehmen.90 Macht die
Staatsanwaltschaft von diesem Recht Gebrauch, wird das
Privatklageverfahren in der Lage, in der es sich befindet, als
Offizialverfahren weitergeführt.91
Hinweis 4: Sachlich zuständig ist für das Privatklageverfahren gegen Erwachsene in erster Instanz stets das
Amtsgericht und dort der Strafrichter (§ 25 Nr. 1 GVG).
Die örtliche Zuständigkeit richtet sich nach den §§ 7 ff.
StPO. Bei Privatklagen, die gegen Heranwachsende erhoben werden, ist nach § 108 Abs. 2 JGG i.V.m. § 25 Nr. 1
GVG der Jugendrichter sachlich zuständig, wenn die Anwendung des allgemeinen Strafrechts zu erwarten ist.
Eingeleitet wird das Privatklageverfahren durch Erhebung
der Klage. Dies kann nach § 381 S. 1, 3 StPO mündlich zu
Protokoll der Geschäftsstelle oder schriftlich durch Einreichung einer Anklageschrift samt zweier Abschriften geschehen. Inhaltlich muss die Privatklage den (hohen) Anforderungen des § 200 Abs. 1 StPO entsprechen (§ 381 S. 2 StPO).
Dem Privatklageberechtigten, bei dem es sich in aller Regel
um einen Rechtsunkundigen handelt, legt das Gesetz also die
Pflicht auf, einen Anklagesatz zu formulieren.92 Darüber
hinaus muss er die Beweismittel und das Gericht, vor dem
88
Hilger (Fn. 10), § 377 Rn. 1; Meyer-Großner (Fn. 29),
§ 377 Rn. 1.
89
Meyer-Großner (Fn. 29), § 377 Rn. 5.
90
Eine Pflicht zur Vorlage an die Staatsanwaltschaft gemäß
§ 377 Abs. 1 S. 2 StPO besteht für das Gericht indes nicht
nur, wenn der Privatklageberechtigte die Privatklage unmittelbar selbst erhoben hat, sondern auch dann, wenn die
Staatsanwaltschaft diesen zunächst auf den Privatklageweg
verwiesen hatte und das Gericht zu der Einschätzung gelangt,
dass die Übernahme des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft gleichwohl geboten ist.
91
Meyer-Großner (Fn. 29), § 377 Rn. 11.
92
Genannt werden müssen darin der Beschuldigte, die Tat,
die ihm zur Last gelegt wird, Zeit und Ort ihrer Begehung,
die gesetzlichen Merkmale der Straftat und die anzuwendenden Strafvorschriften, vgl. § 200 Abs. 1 S. 1 StPO.
STRAFRECHT
die Hauptverhandlung stattfinden soll, angeben. Damit wird
ihm eine Leistung abverlangt, deren Erbringung angehenden
Juristen in aller Regel erst nach Absolvierung des Studiums
und einer gewissen Zeit im Referendariat möglich ist.93 Zwar
wird in der Literatur94 und vereinzelt auch in der Rechtsprechung95 darauf hingewiesen, dass man die durch § 381 S. 2
i.V.m § 200 Abs. 1 StPO begründeten Anforderungen an die
Anklageschrift bei juristisch nicht vorgebildeten Privatklageberechtigten nicht zu streng handhaben dürfe.96 In der Praxis
zeigt sich aber, dass diese Anforderungen eine hohe Hürde
errichten, die von einem nicht anwaltlich vertretenen Privatklageberechtigten kaum zu überwinden ist.97
b) Zwischenverfahren
Nach Erhebung der Privatklage folgt das Zwischenverfahren.98 Hier teilt das Gericht zunächst dem Beschuldigten die
vorschriftsmäßig erhobene Privatklage unter Bestimmung
einer Frist zur Erklärung mit (§ 382 StPO). Nach deren Eingang bzw. nach Ablauf der Frist wird über die Eröffnung des
Hauptverfahrens nach Maßgabe der für das Offizialverfahren
geltenden Vorschriften, also der §§ 199 ff. StPO, entschieden
(§ 383 Abs. 1 S. 1 StPO). Das Gericht muss in diesem Verfahrensstadium prüfen, ob die allgemeinen Verfahrensvoraussetzungen (z.B. Gerichtsbarkeit, Zuständigkeit, Strafantrag,
Verjährung, Prozessfähigkeit des Beschuldigten), die besonderen Privatklagevoraussetzungen (privatklagefähiges Delikt,
Klageberechtigung, Sühnebescheinigung) und der hinreichende Tatverdacht (§ 383 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 203 StPO)
eines Privatklagedelikts gegeben sind.99 Um Letztgenanntes
zu beurteilen, muss das Gericht die Privatklage einer Schlüssigkeits- und Wahrscheinlichkeitsprüfung unterziehen.100
Liegen diese Voraussetzungen vor, wird das Hauptverfahren mittels eines Beschlusses eröffnet, in dem das Gericht
den Angeklagten und die ihm zur Last gelegte Tat bezeichnet
(§ 383 Abs. 1 S. 2 StPO). Andernfalls weist es die Privatklage durch Beschluss zurück (§ 383 Abs. 1 S. 1 StPO). Daneben eröffnet § 383 Abs. 2 S. 1 StPO dem Gericht die Möglichkeit, das Verfahren bei geringer Schuld des Täters einzustellen. Diese spezielle Norm verdrängt die Regelungen über
die gerichtliche Einstellung des Verfahrens nach §§ 153
Abs. 2, 153a Abs. 2 StPO.101
c) Besonderheiten der Hauptverhandlung
Die Hauptverhandlung in einem Privatklageverfahren entspricht im Grundsatz derjenigen eines Offizialverfahrens
93
In diesem Sinne auch Bohlander, NStZ 1994, 420.
Bohlander, NStZ 1994, 420; Hilger (Fn. 10), § 382 Rn. 4.
95
LG Krefeld NJW 2005, 3438 f.
96
Bohlander, NStZ 1994, 420; Hilger (Fn. 10), § 382 Rn. 4.
97
Siehe dazu im zweiten Teil I. 1.
98
Kindhäuser (Fn. 22), § 26 Rn. 70. Ausführlich dazu
Nierwetberg, NStZ 1989, 212 ff.
99
Rössner (Fn. 21), § 383 Rn. 1.
100
Jofer (Fn. 42), § 383 Rn. 4; Peters (Rn. 23), S. 575.
101
Hilger (Fn. 10), § 383 Rn. 20.
94
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AUFSÄTZE
Tillmann Bartsch
(§ 384 Abs. 1 S. 1 StPO).102 Jedoch sind einige gewichtige
Besonderheiten zu beachten,103 die sich aus den §§ 384 ff.
StPO und aus der Mitwirkung des Privatklägers anstelle der
Staatsanwaltschaft ergeben:104
§ Die Stellung des Staatsanwalts wird weitgehend durch
den Privatkläger übernommen (§ 385 Abs. 1 StPO). Allerdings kann dieser nicht selbst Akteneinsicht nehmen,
sondern dieses Recht nur durch einen Rechtsanwalt ausüben lassen (§ 385 Abs. 3 S. 1 StPO).
§ Zu Beginn des Verfahrens wird nicht der Anklagesatz
(vgl. für das Offizialverfahren § 243 Abs. 3 S. 1 StPO),
sondern der Eröffnungsbeschluss verlesen. Obwohl der
Privatkläger weitgehend die Position der Staatsanwaltschaft einnimmt, obliegt die Verlesung nicht ihm, sondern
dem Gericht (§ 384 Abs. 2 StPO).
§ Sowohl der Privatkläger als auch der Angeklagte können
im Beistand eines Rechtsanwalts erscheinen oder sich
durch einen solchen vertreten lassen (§§ 387 S. 1, 387
Abs. 1 StPO).105 Das Gesetz lässt beiden Beteiligten also
grundsätzlich die Wahl, ob sie in der Hauptverhandlung
anwesend sein oder sich vertreten lassen wollen. Da jedoch das Gericht nach § 387 Abs. 3 StPO befugt ist, das
persönliche Erscheinen beider Beteiligter anzuordnen,
und die Gerichte hiervon in der Praxis zumeist Gebrauch
machen,106 bleibt von dieser Wahlfreiheit tatsächlich nicht
viel übrig. Um die Erscheinenspflicht durchzusetzen,
kann das Gericht den Angeklagten nach vorgenannter
Norm auch vorführen lassen.
§ Die Beweisaufnahme erfolgt hinsichtlich der Schuld- und
Straffrage wie im Offizialverfahren nach den Regeln des
Strengbeweises.107 Auch gilt der Ermittlungsgrundsatz
(s.o.). Allerdings wird der Umfang der Beweisaufnahme
im Privatklageverfahren im besonderen Maße durch das
Gericht bestimmt, da dieses nach der Spezialregelung des
§ 384 Abs. 3 StPO nicht an die strengen Regeln über die
Ablehnung von Beweisanträgen (§ 244 Abs. 3 bis 5
StPO) gebunden ist. Daher können Privatkläger und Angeklagter zwar „Beweisanträge“ stellen. Tatsächlich handelt es sich dabei aber nur um Beweisanregungen, denen
das Gericht nur folgen muss, wenn dies zur Aufklärung
des Sachverhalts nach § 244 Abs. 2 StPO erforderlich
ist.108
102
Vgl. Hellmann, Strafprozessrecht, 2. Aufl. 2005, § 23
Rn. 984; Roxin/Schünemann (Fn. 4), § 63 Rn. 20.
103
Hellmann (Fn. 102), § 23 Rn. 984.
104
Meyer-Großner (Fn. 29), § 384 Rn. 1.
105
Nach § 387 Abs. 2 StPO kann unter den Voraussetzungen
des § 139 StPO sowohl die Vertretung des Privatklägers als
auch die des Angeklagten auf einen Rechtsreferendar übertragen werden.
106
Koewius (Fn. 2), S. 162; Lütz-Binder (Fn. 2), S. 92.
107
Meyer-Großner (Fn 29), § 384 Rn. 13.
108
Meyer-Großner (Fn. 29), § 384 Rn. 14.
108
BayObLGSt 1953, 27.
§ Der Privatkläger kann nach ganz h.M. kein Zeuge in seinem eigenen Verfahren sein.109 Das bedeutet freilich
nicht, dass die Ausführungen des Privatklägers zum Verfahrensgegenstand unbeachtlich wären: Denn auch wenn
der Privatkläger nicht als Zeuge einzustufen ist, kann das
Gericht dessen Erklärungen – ebenso wie die des Angeklagten – entgegennehmen und sie der Entscheidung über
das Ergebnis der Beweisaufnahme nach § 261 StPO zugrunde legen.110
§ Auch im Privatklageverfahren muss der Angeklagte auf
eine Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes hingewiesen und ihm Gelegenheit zur Verteidigung gegeben
werden (§ 265 Abs. 1 StPO). Jedoch steht ihm nicht das
Recht zu, die Aussetzung der Hauptverhandlung gemäß
§ 265 Abs. 3 StPO zu verlangen (§ 384 Abs. 4 StPO).
§ Da dem Geschehen, das den Gegenstand des Privatklageverfahrens bildet, verschiedentlich wechselseitig begangene Straftaten zugrunde liegen,111 sieht § 388 StPO die
Möglichkeit zur Erhebung einer Widerklage vor. Hiernach kann der Beschuldigte bis zur Beendigung des letzten Wortes im ersten Rechtszug (vgl. § 258 Abs. 2 HS 2
StPO) mittels einer Widerklage die Bestrafung des Privatklägers112 beantragen, wenn er von diesem gleichfalls
durch eine Straftat verletzt worden ist. Voraussetzung ist
allerdings, dass es sich auch bei dieser Straftat um ein
Privatklagedelikt handelt. Außerdem muss sie mit der
Straftat, die bislang den einzigen Gegenstand der Privatklage bildete, in Zusammenhang stehen (§ 388 Abs. 1
StPO). Da § 388 StPO dazu dienen soll, die Durchführung
weiterer, separater Privatklageverfahren zwischen den
beiden Parteien zu verhindern, ist dieses Zusammenhangerfordernis weit auszulegen.113 Es genügt daher bereits,
dass die gemeinsame Verhandlung der Taten zweckmäßig
erscheint.114 Handelt es sich bei dem Privatkläger um einen Jugendlichen im Sinne des § 1 Abs. 2 JGG, kann – in
Abweichung von dem Grundsatz, dass Privatklagen gegen
Jugendliche unzulässig sind (s.o.) – auch gegen diesen die
Widerklage erhoben werden (§ 80 Abs. 2 S. 1 JGG). Jedoch darf der Richter in diesem Fall nur auf Erziehungsmaßregeln sowie Zuchtmittel und nicht auf Jugendstrafe
erkennen (§ 80 Abs. 2 S. 2 JGG).
109
Hilger (Fn. 10), § 384 Rn. 13; Lütz-Binder (Fn. 2), S. 245;
Meyer-Großner (Fn. 29), vor § 374 Rn. 6; Peters (Fn. 23),
S. 577; a.A. Lorenz, JR 1950, 105 (109).
110
Meyer-Großner (Fn. 29), vor § 374 Rn. 6.
111
Kindhäuser (Fn. 22), § 26 Rn. 73; Schröder/Verrel
(Fn. 83), § 42 Rn. 346.
112
Beachte: Ausnahmsweise kann sich die Widerklage auch
gegen eine Person richten, die bislang am Privatklageverfahren noch nicht beteiligt war. Das ist dann möglich, wenn der
Privatkläger nicht zugleich der Verletzte im Sinne des § 374
Abs. 1 StPO ist, die Privatklage also von einer Person erhoben wurde, die neben dem Verletzten zur Erhebung der Privatklage befugt ist (§ 374 Abs. 2 S. 1 StPO).
113
Vgl. BGHSt 17, 194 (197), wonach ein „loser Zusammenhang“ genügt.
114
Jofer (Fn. 42), § 388 Rn. 6.
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Bericht über einen Moribunden: Das Privatklageverfahren
§ Endlich enthält § 384 Abs. 1 S. 2 StPO eine (weitere)
spezielle Bestimmung über die Verhängung von Rechtsfolgen im Privatklageverfahren. Hiernach dürfen Maßregeln der Besserung und Sicherung – gleich ob stationärer
oder ambulanter Art – nicht angeordnet werden.
d) Beendigung des Verfahrens
Wie das Offizialverfahren kann auch das Privatklageverfahren mit einer Verurteilung des Angeklagten oder einem Freispruch enden. Im Übrigen weisen die Regelungen über den
Verfahrensabschluss jedoch einige Besonderheiten auf:
aa) Rücknahme der Privatklage/Vergleich
Die Privatklage kann in jeder Lage des Verfahrens, also auch
noch nach Eröffnung des Hauptverfahrens,115 zurückgenommen werden (§ 391 Abs. 1 S. 1 StPO). Allerdings bedarf die
Rücknahme nach Beginn der Vernehmung des Angeklagten
zur Sache in der Hauptverhandlung des ersten Rechtszugs der
Zustimmung des Angeklagten (§ 391 Abs. 1 S. 2 StPO), weil
dieser bei so später Rücknahme ein gewichtiges Interesse
daran haben kann, dass die gegen ihn erhobenen Vorwürfe
auf- und rechtskräftig geklärt werden.116
Gesetzlich nicht geregelt, aber allgemein anerkannt ist,
dass ein Privatklageverfahren auch durch gerichtlichen Vergleich abgeschlossen werden kann.117 In diesem Fall wird das
Verfahren einvernehmlich, d.h. im Wege gegenseitigen
Nachgebens, im Wege der Einstellung beendet: So bittet
bspw. der Angeklagte um Entschuldigung oder verpflichtet
sich zur Leistung von Schadensersatz, während der Privatkläger im Gegenzug die Klage und ggf. zusätzlich den Strafantrag zurücknimmt.118 Zudem wird in dem Vergleich häufig
eine Regelung über die Kosten des Verfahrens getroffen.119
Darüber hinaus wird die Rücknahme der Privatklage in
den in § 391 Abs. 2 StPO genannten Fällen mit der Folge der
Einstellung des Verfahrens fingiert. Dies geschieht etwa
dann, wenn der Privatkläger in der Hauptverhandlung ausbleibt, obwohl das Gericht das persönliche Erscheinen gemäß
§ 387 Abs. 3 StPO angeordnet hatte, oder er eine Frist nicht
einhält, die ihm unter Androhung der Einstellung des Verfahrens gesetzt war.
Ist die Privatklage zurückgenommen oder deren Rücknahme fingiert worden, kann sie nicht von neuem erhoben
werden (§ 392 StPO).
115
Im Offizialverfahren darf die öffentliche Anklage nur bis
zur Eröffnung des Hauptverfahrens zurückgenommen werden, vgl. § 156 StPO.
116
Meyer-Großner (Fn. 29), § 391 Rn. 6.
117
Kühne (Fn. 21), § 11 Rn. 253; Schröder/Verrel (Fn. 83),
§ 42 Rn. 347; Volk/Engländer (Fn. 24), § 39 Rn. 12. Siehe
zum ebenfalls möglichen außergerichtlichen Vergleich Volk/
Engländer (Fn. 24), § 39 Rn. 12.
118
Kühne (Fn. 21), § 11 Rn. 253; Roxin/Schünemann (Fn. 4),
§ 63 Rn. 23.
119
Göbel, Strafprozess, 8. Aufl. 2013, S. 314; Roxin/
Schünemann (Fn. 4), § 63 Rn. 23.
STRAFRECHT
bb) Einstellung wegen Geringfügigkeit
§ 383 Abs. 2 StPO gibt dem Gericht die Möglichkeit, das
Privatklageverfahren in jeder Lage wegen Geringfügigkeit
durch Beschluss einzustellen. Einer Zustimmung des Privatklägers, der bis zur Einstellung möglicherweise schon ein
Sühneverfahren erfolglos durchlaufen und auch sonst Zeit
und Kosten investiert hat, bedarf es nicht. Er kann den Einstellungsbeschluss des Gerichts lediglich gemäß § 383 Abs. 2
S. 3 StPO mit der sofortigen Beschwerde anfechten, dies gilt
jedoch nicht bei einer Einstellung im Berufungsverfahren
(§ 390 Abs. 5 S. 2 StPO).
cc) Einstellung bei Tod des Privatklägers
Stirbt der Privatkläger, wird das Verfahren eingestellt (§ 393
Abs. 1 StPO), wenn nicht eine der Personen, die nach § 374
Abs. 2 StPO neben oder anstelle des Verletzten zur Erhebung
der Privatklage berechtigt ist (s.o.), das Verfahren fortsetzt
(§ 393 Abs. 2 StPO).
dd) Einstellung wegen Nichtanwendbarkeit des Privatklageverfahrens
Stellt sich nach Verhandlung der Sache heraus, dass diese
nicht privatklagefähig ist – etwa weil tatsächlich eine gefährliche und nicht nur eine einfache Körperverletzung begangen
wurde –, hat das Gericht das Verfahren durch Urteil einzustellen und die Akten an die Staatsanwaltschaft zu geben
(§ 389 StPO).120
Dass ein Privatklageverfahren auch dadurch enden (bzw.
sich in ein Offizialverfahren „verwandeln“) kann, dass die
Staatsanwaltschaft es gemäß § 377 Abs. 2 StPO übernimmt,
wurde bereits oben dargestellt.
e) Kosten
aa) Gebührenvorschuss/Sicherheitsleistung/Prozesskostenhilfe
Hinsichtlich der Kosten des Verfahrens ergibt sich zunächst
aus § 16 GKG, dass der Privatkläger verpflichtet ist, einen
Prozesskostenvorschuss zu leisten (vgl. auch § 379a StPO).
Vor Zahlung dieses Vorschusses soll das Gericht grundsätzlich keine Handlung vornehmen (§ 379a Abs. 2 StPO). Unter
den in § 379 StPO i.V.m. §§ 108 bis 113 ZPO beschriebenen
Voraussetzungen hat der Privatkläger überdies Sicherheit für
diejenigen Kosten zu leisten, die dem Beschuldigten voraussichtlich erwachsen werden.121 Prozesskostenhilfe kann dem
Privatkläger nach den Vorschriften, die in bürgerlichen
Rechtsstreitigkeiten gelten (§§ 114 ff. ZPO), bewilligt werden (§ 379 Abs. 3 StPO).
bb) Kostenentscheidung
Für die vom Gericht abschließend zu treffende Kostenentscheidung im Privatklageverfahren enthält § 471 StPO eine
besondere Vorschrift. Die allgemeinen Kostenbestimmungen
120
Siehe auch – mit weiterem Beispiel – Roxin/Schünemann
(Fn. 4), § 63 Rn. 24.
121
Ausführlich dazu Göbel (Fn. 119), S. 380.
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AUFSÄTZE
Tillmann Bartsch
(§§ 464 ff. StPO) gelten daher nur, wenn in § 471 StPO keine
spezielle Regelung getroffen ist.122 Im Zusammenspiel dieser
Regelungen ergibt sich für Kostenentscheidungen im Privatklageverfahren im Wesentlichen Folgendes:
Wird der Angeklagte verurteilt, hat er nicht nur die Kosten des Verfahrens zu tragen (§ 465 Abs. 1 StPO), sondern
auch die dem Privatkläger erwachsenen notwendigen Auslagen (§ 471 Abs. 1 StPO), worunter nach § 464a Abs. 2 StPO
u.a. die Entschädigung für eine notwendige Zeitversäumnis
sowie die Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts fallen.123
Erfolgt keine Verurteilung, fallen zumeist dem Privatkläger die Kosten des Verfahrens und überdies die notwendigen Auslagen des Beschuldigten zur Last. Dies gilt nach
§ 471 Abs. 2 StPO, wenn die Klage gegen den Beschuldigten
zurückgewiesen wird, wenn ein Freispruch ergeht oder wenn
das Verfahren endgültig eingestellt124 wird. Dabei hat der
Privatkläger die Kosten des Verfahrens selbst dann zu tragen,
wenn das Verfahren nach § 389 Abs. 1 StPO durch Urteil
eingestellt wird, weil sich im Lauf des Verfahrens herausgestellt hat, dass zum Nachteil des Privatklägers zwar kein
Privatklage-, aber ein von der Staatsanwaltschaft zu verfolgendes Offizialdelikt begangen wurde.125
In Abweichung von den vorgenannten Grundsätzen eröffnet die Ermessensregelung des § 471 Abs. 3 StPO dem Gericht die Möglichkeit, in bestimmten, abschließend aufgezählten Fällen (Nr. 1 bis 3) die Verfahrenskosten und die
notwendigen Auslagen der Beteiligten zwischen diesen angemessen zu verteilen oder sie einem Beteiligten aufzuerlegen. Dies gilt bspw. für Fälle, die wegen Geringfügigkeit
nach § 383 Abs. 2 StPO eingestellt wurden (Nr. 2).126 Der
Privatkläger trägt daher stets das vor Einleitung des Privatklageverfahrens kaum abschätzbare Risiko, dass das Gericht
die Schuld des Täters als gering einstuft, in der Folge das
Verfahren einstellt und ihm die Kosten ganz oder zum Teil
auferlegt.
f) Rechtsmittel
Der Privatkläger kann gemäß § 390 Abs. 1 S. 1 StPO auf
diejenigen Rechtsmittel zurückgreifen, die im Offizialverfahren der Staatsanwaltschaft zustehen. Anders als die Staats122
OLG Stuttgart NJW 1974, 512 (513).
Vgl. Meier, in: Dölling/Duttge/Rössner (Fn. 41), § 472
Rn. 1.
124
Beispiele: Klagerücknahme, § 391 Abs. 1 StPO; fingierte
Klagerücknahme, § 391 Abs. 2 StPO; Tod des Privatklägers
ohne Fortführung des Verfahrens, § 393 Abs. 1 StPO.
125
BayObLG NJW 1959, 2274; Meier (Fn. 123), § 471 Rn. 2;
krit. Traub, NJW 1960, 710 ff.
126
Zu der Frage, ob und inwieweit es mit der Unschuldsvermutung zu vereinbaren ist, wenn dem Angeklagten aus Anlass einer Einstellung wegen Geringfügigkeit nach § 383
Abs. 2 StPO in einem Privatklageverfahren Kosten auferlegt
werden, obwohl das Verfahren nicht bis zur Schuldspruchreife gediehen war BVerfG NJW 1991, 829 f.; BVerfG NJW
1992, 1611; Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin NStZRR 2001, 203 f.
123
anwaltschaft kann er von den Rechtsmitteln jedoch nicht
zugunsten des Beschuldigten Gebrauch machen.127 Ein vom
Privatkläger eigennützig eingelegtes Rechtsmittel hat aber
nach § 390 Abs. 1 S. 3 i.V.m. § 301 StPO trotzdem die Wirkung, dass die angefochtene Entscheidung zugunsten des
Beschuldigten abgeändert oder aufgehoben werden kann.
4. Zwischenfazit
Betrachtet man die Regelungen über das Privatklageverfahren in der Gesamtschau, muss man mit Roxin/Schünemann
feststellen, dass der Gesetzgeber „der Privatklage nicht
freundlich gegenüber [steht]“128. Um eine Verurteilung des
Beschuldigten zu erreichen, muss der Privatklagewillige
erhebliche Lasten tragen, hohe Hürden überwinden und nicht
unerhebliche (Kosten-)Risiken in Kauf nehmen. Knapp lassen sich diese Erschwernisse und Risiken wie folgt zusammenfassen:
§ Der Privatkläger muss die gesamte Arbeit leisten, die
ansonsten von der Staatsanwaltschaft erbracht wird.129 Er
verfügt allerdings weder über deren Machtstellung noch
über deren Hilfsapparat in Form der Polizei.130 Auch
muss er die Beweise zusammenstellen, damit die Klage
zum Hauptverfahren zugelassen wird, obwohl er in der
Regel gar nicht weiß, wie das geht.131 Akteneinsicht kann
er nur über einen Rechtsanwalt nehmen.
§ Der Privatkläger muss eine den Maßgaben des § 200
Abs. 1 StPO entsprechende Anklageschrift erstellen, obwohl ihm dazu regelhaft das juristische Rüstzeug fehlt.
§ Bei bestimmten Privatklagedelikten ist eine Privatklage
erst zulässig, nachdem vor einer Vergleichsbehörde ein
erfolgloser Sühneversuch stattgefunden hat. Die Kosten
sind, jedenfalls wenn der Sühneversuch erfolglos bleibt,
vom antragstellenden Privatklageberechtigten zu tragen.
§ Der Privatkläger muss in der Regel einen Prozesskostenvorschuss und außerdem u.U. für die dem Beschuldigten
voraussichtlich erwachsenden Kosten Sicherheit leisten,
wobei das Gericht die Höhe der Sicherheitsleistung nach
seinem freien Ermessen (§ 108 ZPO) bestimmen kann.
§ In der Hauptverhandlung übernimmt der Privatkläger die
Stellung des Staatsanwalts, steht aber deutlich schlechter
als dieser, weil Beweisanträge nur als Anregungen aufzufassen sind und das Gericht nicht an die Beweisablehnungsgründe gebunden ist.132 Auch kann er wegen seiner
Stellung als Ankläger nicht Zeuge sein.
127
OLG Hamburg NJW 1958, 1313; Beulke (Fn. 25),
Rn. 592; Kindhäuser (Fn. 22), § 26 Rn. 76; a.A. Kühne
(Fn. 21), § 11 Rn. 252.
128
Roxin/Schünemann (Fn. 4), § 63 Rn. 3.
129
Kindhäuser (Fn. 22), § 26 Rn. 61.
130
Kühne (Fn. 21), § 11 Rn. 251. Zur Anwendbarkeit von
strafprozessualen Zwangsmaßnahmen im Privatklageverfahren Hilger, in: Weßlau (Hrsg.), Festschrift für Gerhard Fezer
zum 70. Geburtstag am 29. Oktober 2008, 2008, S. 577 ff.
131
Koewius (Fn. 2), S. 116 f.
132
Schröder/Verrel (Fn. 83), § 42 Rn. 343.
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Bericht über einen Moribunden: Das Privatklageverfahren
STRAFRECHT
§ Weist das Gericht die Privatklage im Zwischenverfahren
zurück, stellt es das Verfahren ein oder spricht den Angeklagten frei, muss der Privatkläger in aller Regel nicht nur
die Kosten des Verfahrens, sondern auch die dem Beschuldigten erwachsenen notwendigen Auslagen tragen.
Ein besonderes Kostenrisiko besteht für den Privatkläger
überdies deshalb, weil das Gericht das Verfahren in jeder
Lage auch wegen Geringfügigkeit einstellen und dem Privatkläger die gesamten Kosten auferlegen kann.
§ Schließlich kann ein Rechtsmittel des Privatklägers, das
dieser eigennützig eingelegt hat, auch zu Gunsten des Beschuldigten wirksam werden.
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Fortgeschrittenenklausur: Der abgeschleppte Sattelauflieger – Folgen eines Notrufs
Von Rechtsanwältin Dr. Simona Liauw, Düsseldorf*
Die vorliegende Klausur richtet sich an fortgeschrittene
Studierende. Inhaltlich stehen die Geschäftsführung ohne
Auftrag und das – bei den meisten Studierenden eher unbeliebte – Eigentümer-Besitzer-Verhältnis im Vordergrund.
Daneben sind bereicherungsrechtliche Ansprüche zu prüfen.
Der Sachverhalt ist angelehnt an das Urteil des OLG Nürnberg vom 19.3.2013 – 14 U 613/12.1
Sachverhalt
E ist Eigentümer eines Sattelaufliegers. Im Jahr 2013 überlässt er diesen im Rahmen eines wirksam geschlossenen
Leasingvertrags dem L zur Nutzung. L verwendet das Fahrzeug im Rahmen seines Speditionsbetriebs. Gemäß den Bestimmungen des Leasingvertrags trägt er das Risiko für den
Erhalt des Fahrzeugs.
Am frühen Nachmittag des 1.9.2015 setzt der bei L angestellte Fahrer F einen polizeilichen Notruf ab, weil er mit dem
Sattelauflieger auf der Autobahn liegen geblieben ist. Daraufhin verbringt der von der Polizei hinzugezogene B, der
ein Bergungs- und Abschleppunternehmen betreibt, den Sattelauflieger von der Autobahn auf sein Betriebsgelände. Dort
ist das Fahrzeug seitdem abgestellt.
Anfang Oktober 2015 kündigt E den Leasingvertrag mit L
wegen ausstehender Leasingraten fristlos. Die Kündigung ist
wirksam. Weil L inzwischen insolvent ist, wendet E sich am
20.10.2015 selbst an B und verlangt die Herausgabe des
Sattelaufliegers.
B weigert sich, das Fahrzeug „einfach so“ an E herauszugeben. Er möchte von E zumindest die bisher angefallenen
Standkosten ersetzt haben. Diese beziffert er auf 20 € pro
Tag, insgesamt also auf 1.000 €. Den Betrag von 20 € pro
Tag stellt er nämlich üblicherweise in Rechnung, wenn er –
was häufiger vorkommt – auf seinem Betriebsgelände Stellplätze vermietet.
Aufgabenstellung
Kann E von B am 20.10.2015 die Herausgabe des Sattelaufliegers verlangen?
Lösungsvorschlag
I. Anspruch E gegen B aus §§ 681 S. 2, 667 BGB
E könnte gegen B ein Anspruch auf Herausgabe des Sattelaufliegers aus §§ 681 S. 2, 667 BGB zustehen. Es müssten
hierfür die Voraussetzungen der berechtigten Geschäftsführung ohne Auftrag im Verhältnis des E zu B gegeben sein.
Interessenkreis eines anderen gehört.2 Das Verbringen des
Sattelaufliegers von der Autobahn oblag an sich nicht der
Sorge des B. Zwar hatte er als Inhaber eines Bergungs- und
Abschleppunternehmens (auch) ein eigenes wirtschaftliches
Interesse an der vorgenommenen Handlung; er erhoffte sich
Einnahmen für seinen Betrieb. Jedoch erfüllt selbst ein sog.
„auch-fremdes Geschäft“ die Kriterien eines fremden Geschäfts, wenn – wie hier – das Handeln seiner äußeren Erscheinung nach nicht allein dem Handelnden, sondern auch
einem anderen zugutekommt.3
2. Geschäft des E
Fraglich ist jedoch, ob B ein Geschäft des E wahrgenommen
hat. Um eine berechtigte Geschäftsführung ohne Auftrag im
Verhältnis zweier Personen annehmen zu können, ist nämlich
nicht nur erforderlich, dass der Geschäftsführer überhaupt ein
fremdes Geschäft wahrgenommen hat. Vielmehr muss er
gerade ein Geschäft desjenigen wahrgenommen haben, den er
nach den §§ 683 S. 1, 677 BGB als Geschäftsherrn in Anspruch nehmen will. Wer als Geschäftsherr anzusehen ist,
bestimmt sich nicht (subjektiv) nach den Vorstellungen des
Geschäftsführers bei Vornahme der Handlung, sondern danach, wen das Geschäft objektiv angeht. Das folgt schon aus
§ 686 BGB.
Vorliegend kommen zwei Personen als Geschäftsherrn in
Betracht: E und L. Beide waren bei objektiver Betrachtung
daran interessiert, dass der Sattelauflieger unversehrt von der
Autobahn verbracht wird. E war als Eigentümer am Erhalt
seiner Sache gelegen; L nutzte das Fahrzeug im Rahmen
seines Speditionsbetriebs und war (insbesondere) deshalb
daran interessiert, es im einwandfreien und fahrtauglichen
Zustand zu erhalten. Allerdings ist regelmäßig, wenn zwei
Personen als Geschäftsherrn in Frage kommen, letztlich derjenige als Geschäftsherr anzusehen, der die Gefahr trägt.4 Das
ist hier L, dem vertraglich das Risiko für den Erhalt des Sattelaufliegers übertragen war. Damit ist die Bergung dem
Rechtskreis des L zuzurechnen.5 Die nur mittelbare Beziehung zu den Interessen des E als Leasinggeber reicht nicht
aus, um darin auch die Besorgung seines Geschäfts zu sehen.
Andernfalls würden die Regeln der Geschäftsführung ohne
Auftrag unangemessen ausgeweitet.6 Mithin ist E nicht als
Geschäftsherr anzusehen.
Hinweis: Hier ist eine andere Ansicht gut vertretbar.7
2
1. Fremdes Geschäft
B müsste zunächst ein fremdes Geschäft besorgt haben. Hierrunter versteht man eine Tätigkeit, die zum Rechts- oder
* Die Autorin ist Rechtsanwältin in Düsseldorf.
1
OLG Nürnberg NJW-RR 2013, 1325.
Sprau, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 75. Aufl. 2016,
§ 677 Rn. 4.
3
Sprau (Fn. 2), § 677 Rn. 6.
4
Dornis, in: Erman, Kommentar zum BGB, 14. Aufl. 2014,
§ 677 Rn. 5.
5
So auch OLG Nürnberg NJW-RR 2013, 1325.
6
Vgl. auch BGHZ 54, 157.
7
So sehen Seiler (in: Münchener Kommentar zum BGB,
Bd. 4, 6. Aufl. 2012, § 677 Rn. 36, 38) und Bergmann (in:
Staudinger, Kommentar zum BGB, 2006, § 686 Rn. 2) den
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ZJS 1/2017
52
Fortgeschrittenenklausur: Der abgeschleppte Sattelauflieger – Folgen eines Notrufs
3. Ergebnis
Die Voraussetzungen einer berechtigten Geschäftsführung
ohne Auftrag im Verhältnis des E zu B liegen also nicht vor.
II. Anspruch des E gegen B aus § 985 BGB
1. Vindikationslage
Es müsste eine Vindikationslage bestehen. Das erfordert, dass
E Eigentümer des Sattelaufliegers ist und B dessen Besitzer,
wobei B zum Besitz nicht berechtigt sein dürfte.
a) Eigentum des E
E ist Eigentümer des Sattelaufliegers.8
b) Besitz des B
Indem B den Sattelauflieger auf sein Betriebsgelände verbracht und ihn dort aufbewahrt hat, hat er die tatsächliche
Sachherrschaft über ihn erlangt und ist damit unmittelbarer
Besitzer im Sinne von § 854 Abs. 1 BGB geworden.
c) Kein Recht zum Besitz
B dürfte kein Recht zum Besitz gem. § 986 BGB zustehen.
aa) Eigenes Besitzrecht (§ 986 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB)
(1) Aus Geschäftsführung ohne Auftrag
Hinweis: Nur wer unter dem Prüfungspunkt I. die Geschäftsführung ohne Auftrag bejaht hat, muss sich an dieser Stelle dazu äußern, ob hieraus ein Recht zum Besitz
folgt.
Ihm könnte ein eigenes Recht zum Besitz aufgrund berechtigter Geschäftsführung ohne Auftrag nach §§ 677, 683 S. 1
BGB zustehen. Grundsätzlich kann eine berechtigte Geschäftsführung ohne Auftrag ein Recht zum Besitz geben.
Allerdings ist der Geschäftsführer verpflichtet, dem Eigentümer den Besitz zurückzugewähren (vgl. §§ 681 S. 2, 667
BGB). Das Besitzrecht kann also allenfalls bis zum berechtigten Herausgabeverlangen des Geschäftsherrn bestehen.
Eine Einrede gegenüber dem dinglichen Herausgabeanspruch
aus § 985 BGB kann es mithin nicht begründen.9
(2) Aufgrund eines Zurückbehaltungsrechts
B könnte ein Zurückbehaltungsrecht nach § 1000 S. 1 BGB
wegen der Standkosten zustehen. Fraglich ist jedoch, ob ein
solches Zurückbehaltungsrecht ein Besitzrecht im Sinne von
Eigentümer in der Regel als Geschäftsherrn an. Mansel (in:
Jauernig, Kommentar zum BGB, 16. Aufl. 2015, § 677 Rn. 3)
bezeichnet hier die Abgrenzung als „oft zweifelhaft“.
8
Dass E als Leasinggeber bei wirtschaftlicher Betrachtung
seine aus § 903 BGB folgende Herrschaftsmacht über den
Sattelauflieger weitgehend an L übertragen hat, ist unschädlich (vgl. Ebbing, in: Erman [Fn. 4], § 985 Rn. 6).
9
OLG Nürnberg NJW-RR 2013, 1325; Ehlers, in: juris
PraxisKommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 986 Rn. 6.
ZIVILRECHT
§ 986 BGB gewährt. Das ist umstritten: Nach einer Ansicht10
können Zurückbehaltungsrechte ein Recht zum Besitz begründen. Nach anderer Ansicht11 führen Zurückbehaltungsrechte allein zu einer (bloßen) Zug-um-Zug-Verurteilung,
geben aber kein Besitzrecht im Sinne von § 986 BGB. Bedenkt man, dass Zurückbehaltungsrechte regelmäßig keine
über die Zurückbehaltung hinausgehenden Rechte oder
Pflichten des Besitzers begründen,12 was sich etwa aus
§§ 274 Abs. 1, 322 Abs. 1 BGB ergibt, überzeugt allein die
zweite Ansicht. Das gilt insbesondere für das Zurückbehaltungsrecht aus § 1000 BGB: Die Vorschrift setzt das Fehlen
einer Besitzberechtigung gerade voraus.13 Zudem führte andernfalls die erstmalige Vornahme einer nach §§ 994 ff. BGB
erstattungsfähigen Verwendung durch den unrechtmäßigen
Besitzer zum Wegfall der Vindikationslage.14 Daher steht B
auch nicht aufgrund eines etwaig bestehenden Zurückbehaltungsrechts ein Recht zum Besitz zu.
bb) Abgeleitetes Besitzrecht (§ 986 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB)
Die Besitzberechtigung des B könnte sich aus dem zwischen
E und L bestehenden Leasingvertrag ergeben, der L gegenüber E zum Besitz berechtigt. Allerdings hat E den Vertrag
Anfang Oktober wirksam gekündigt. Im Zeitpunkt der Geltendmachung des Herausgabeverlangens – also am
20.10.2015 – kann sich aus dem Leasingvertrag damit weder
für L noch für B ein Besitzrecht herleiten.15
d) Zwischenergebnis
Es besteht eine Vindikationslage.
2. Zurückbehaltungsrecht des B
Möglicherweise kann E die Herausgabe nach § 274 Abs. 1
BGB nur Zug um Zug verlangen. B könnte wegen der Standkosten i.H.v. 1.000 € gem. § 1000 S. 1 BGB ein Zurückbehaltungsrecht zustehen. Voraussetzung dafür wäre ein Verwendungsersatzanspruch des B gegen E. Ein solcher könnte
sich aus § 994 Abs. 1 BGB ergeben.
a) Vindikationslage
Dafür müsste zunächst eine Vindikationslage im Verhältnis
zwischen B und E bestehen. Das wurde für den Zeitpunkt des
10
BGH NJW 1955, 340 (341); BGH NJW 1975, 1121; BGH
NJW 1998, 2045 (2046); OLG Celle OLGR 1995, 65 (66).
11
OLG Dresden DtZ 1994, 252; Baldus, in: Münchener
Kommentar zum BGB, Bd. 6, 6. Aufl. 2013, § 986 Rn. 32;
Gursky, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2012, § 986
Rn. 28 m.w.N. So wohl auch OLG Brandenburg, Urt. v.
11.6.2003 – 3 U 22/00.
12
Baldus (Fn. 11), § 986 Rn. 32.
13
Pikart, in: Reichsgerichtsräte-Kommentar zum BGB,
Bd. 3, 1. Teil, 12. Aufl. 1979, § 986 Rn. 16; Schreiber, Jura
2005, 30 (33).
14
Seidel, JZ 1993, 180 (182 m.w.N.).
15
Dass B im Zeitpunkt der Begründung seines Besitzes ein
von L abgeleitetes Recht zum Besitz zustand (siehe unten),
spielt keine Rolle (vgl. Ehlers [Fn. 9], § 986 Rn. 17).
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53
ÜBUNGSFÄLLE
Simona Liauw
Herausgabeverlangens des E bereits bejaht (siehe oben). B
hatte jedoch zumindest im September von L abgeleiteten,
berechtigten Fremdbesitz: Der Leasingvertrag berechtigte L
seinerzeit zum Besitz gegenüber E, B besaß für L16 und er
war aufgrund der berechtigten Geschäftsführung ohne Auftrag ihm gegenüber besitzberechtigt. Damit hatte er jedenfalls
während des ersten Monats der Standzeit ein Besitzrecht auch
gegenüber E, sodass es während dieses Zeitraums an einer
Vindikationslage fehlte.
Ob in einer Fallkonstellation, in welcher der Besitzer zunächst berechtigt war und später zum unberechtigten Besitzer
wird (sog. „nicht mehr berechtigter Besitzer“), §§ 987 ff.
BGB anzuwenden sind, ist umstritten.17 Nach einer Ansicht18
genügt es für die Anwendung der Vorschriften des Eigentümer-Besitzer-Verhältnisses (EBV), wenn die Vindikationslage erst später entsteht. Im Hinblick auf den Verwendungsersatzanspruch aus § 994 Abs. 1 BGB reicht es danach aus,
dass sie nach Vornahme der Verwendungen entsteht. Nach
anderer Ansicht19 sind die §§ 987 ff. BGB erst ab dem Zeitpunkt anwendbar, ab dem eine Vindikationslage besteht; der
„nicht mehr berechtigte Besitzer“ kann daher allenfalls für
die ab dem Zeitpunkt des Wegfalls des Besitzrechts gemachten Verwendungen Ersatz verlangen. Die Vertreter einer
dritten Ansicht20 verneinen die Anwendbarkeit der §§ 987 ff.
BGB auf ursprünglich rechtmäßige Besitzverhältnisse insgesamt. Folgte man der zuerst genannten Ansicht, wäre § 994
Abs. 1 BGB zugunsten des B für den gesamten Zeitraum, in
dem er den Sattelauflieger auf seinem Betriebsgelände geparkt hat, anwendbar. Hielte man die zweite Ansicht für
richtig, wäre die Vorschrift nur für einen Teil des Zeitraums
einschlägig. Bejahte man die zuletzt genannte Auffassung,
käme § 994 Abs. 1 BGB nicht zur Anwendung. Daher muss
der Meinungsstreit entschieden werden.
Zunächst sprechen der Wortlaut und die Systematik der
§§ 987 ff. BGB dafür, jedenfalls nicht auf die gesamte Besitzzeit die Vorschriften über das EBV anzuwenden.21 Durch
sie soll nämlich vor allem der gutgläubige unberechtigte
Besitzer geschützt werden. Wer jedoch zunächst berechtigterweise besitzt, wird nicht rückwirkend zum unberechtigten
Besitzer, nur weil zu einem späteren Zeitpunkt sein Besitzrecht ex nunc erlischt.22 Aus dem gerade genannten Zweck
der §§ 987 ff. BGB ergibt sich jedoch das letztlich überzeugende Argument für die erste Ansicht: Der vormals berechtigte Besitzer würde schlechter gestellt als ein von Anfang an
unberechtigter, verneinte man die Anwendung der Vorschriften des EBV. Er würde also gerade nicht privilegiert. Das
liefe dem Zweck der §§ 987 ff. BGB zuwider. Daher muss es
16
OLG Nürnberg NJW-RR 2013, 1325 (1326).
Vgl. zum Streit Medicus, Bürgerliches Recht, 22. Aufl.
2009, Rn. 587 ff.; Vierhuß, NJ 2003, 91.
18
BGHZ 34, 122 (129 ff.); BGH NJW 2002, 2875.
19
Baldus (Fn. 11), Vor §§ 987-1003 Rn. 13; Berg, JuS 1970,
12 (14 f.); Gursky (Fn. 11), Vor §§ 994-1003 Rn. 30 ff.
m.w.N.
20
Ebbing (Fn. 8), Vor §§ 987-993 Rn. 44.
21
Vierhuß, NJ 2003, 91.
22
Ebbing (Fn. 8), Vor §§ 987-993 Rn. 44.
17
auch unerheblich sein, wann die Verwendungen erfolgt sind,
ob also der Besitzer die Verwendungen bereits zu einem
Zeitpunkt vorgenommen hat, als er noch rechtmäßig besessen
hat, oder ob dies erst nach Eintritt der Vindikationslage geschehen ist. Wann die Verwendungen vorgenommen werden,
ist nämlich oftmals zufallsabhängig. Entscheidend ist mithin
im Ergebnis allein, dass Verwendungen vom Besitzer vorgenommen worden sind und er zur Zeit der Geltendmachung
des Verwendungsersatzanspruchs einem Herausgabeanspruch
des Eigentümers ausgesetzt ist.23 § 994 Abs. 1 BGB ist folglich anwendbar.
Hinweis: Eine andere Ansicht ist hier gut vertretbar.
b) Verwendungen im Sinne von § 994 Abs. 1 BGB
B müsste zunächst Verwendungen auf den Sattelauflieger
gemacht haben. Unter Verwendungen versteht man Vermögensaufwendungen, die zumindest auch der Sache selbst
zugutekommen, indem sie ihrer Wiederherstellung, ihrer
Erhaltung oder ihrer Verbesserung dienen.24 B hat das Fahrzeug auf seinem Betriebsgelände verwahrt. Das ordnungsgemäße Abstellen eines Fahrzeugs trägt dazu bei, es vor den
Zugriffen Dritter zu schützen, und beugt einem eventuell
drohenden Einschreiten der Ordnungsbehörden wegen verkehrswidrigen Dauerparkens vor. Damit dient es dem Erhalt
der Sache.25 Üblicherweise wird für die längerfristige Zurverfügungstellung eines Abstellplatzes ein Entgelt verlangt;
insbesondere pflegte B, Raum auf seinem Betriebsgelände
häufig derart zu vermieten. Deshalb liegt eine vermögenswerte Aufwendung vor.
c) Notwendigkeit der Verwendungen im Sinne von § 994
Abs. 1 BGB
Die Verwendungen müssten auch notwendig gewesen sein.
Das wäre der Fall, wenn sie zur Erhaltung oder zur ordnungsgemäßen Bewirtschaftung des Sattelaufliegers nach
objektiven Maßstäben zur Zeit ihrer Vornahme erforderlich
gewesen wären, der Eigentümer sie also – hätte der Besitzer
sie nicht gemacht – selbst hätte treffen müssen.26 Ob das
hinsichtlich des Abstellens des Sattelaufliegers auf einem
privaten Stellplatz zu bejahen ist, erscheint fraglich. Als Alternative wäre möglicherweise das Abstellen im öffentlichen
Verkehrsraum in Betracht gekommen. Allerdings ist der
Sattelauflieger sehr groß. Es wäre also bereits nicht einfach
gewesen, einen ausreichend großen Parkplatz zu finden.
Zudem ist es straßenverkehrsrechtlich nicht erlaubt, Fahrzeuge im öffentlichen Verkehrsraum dauerhaft an derselben
Stelle abzustellen; der öffentliche Verkehrsraum soll nicht als
Lager- und Abstellfläche missbraucht werden.27 Daher wäre
23
BGHZ 34, 122 (131 f.); BGH NJW 2002, 2875.
BGHZ 131, 220; OLG Brandenburg BeckRS 2007, 05063.
25
Vgl. hierzu auch AG Bremen BeckRS 2008, 22167.
26
Vgl. BGH NJW 1996, 921 (922); Bassenge, in: Palandt
(Fn. 2), § 994 Rn. 5.
27
Die Nutzung des öffentlichen Verkehrsraums als Lagerplatz bewegt sich regelmäßig außerhalb des straßenrechtli24
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ZJS 1/2017
54
Fortgeschrittenenklausur: Der abgeschleppte Sattelauflieger – Folgen eines Notrufs
– wenn E sich nicht in regelmäßigen, kurzen Abständen mit
einigem Aufwand um eine Umsetzung des Fahrzeugs hätte
bemühen wollen – mit einer ordnungsrechtlichen Sanktion zu
rechnen gewesen. Mithin war das Abstellen des Sattelaufliegers auf einer öffentlichen Verkehrsfläche wegen der Größe des Fahrzeugs keine Alternative.28 E hätte sich, bei Unterstellung rechtmäßigen Verhaltens, um die Anmietung eines
Stellplatzes auf einem Privatgelände bemühen müssen. Damit
waren die Verwendungen des B im Ergebnis notwendig.
Hinweis: Hier ist eine andere Ansicht mit entsprechender
Argumentation gut vertretbar.
3. Ergebnis
E steht ein Herausgabeanspruch aus § 985 BGB Zug um Zug
gegen Befriedigung des B wegen der Standkosten i.H.v.
1.000 € zu.
III. § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB
E könnte gegen B einen Anspruch auf Herausgabe aus § 812
Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB haben.
1. Etwas erlangt
B müsste etwas im Sinne von § 812 Abs. 1 S. 1 BGB erlangt
haben. Hierunter versteht man jeden Vermögensvorteil.29
Erfasst sind mithin der Erwerb von Rechten, die Erlangung
einer vorteilhaften Rechtsstellung, die Befreiung von einer
Verbindlichkeit sowie die Ersparung von Aufwendungen.30
Der Erwerb des Besitzes ist vorteilhaft; bereits die bloße
Innehabung des Besitzes gewährt dem Besitzer nach
§§ 859 ff. BGB besondere Rechte. B hat unmittelbaren Besitz
an dem Sattelauflieger erhalten. Mithin hat er etwas erlangt.
2. Durch Leistung
B müsste den Besitz von E durch eine Leistung des E im
Sinne von § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB erlangt haben. Unter
einer Leistung versteht man eine bewusste und zweckgerichtete Mehrung fremden Vermögens.31 Hier war E an der Besitzerlangung durch B nicht beteiligt: Weder hat er selbst an
B den Sattelauflieger übergeben noch hat er eine auch nur
mittelbare Rolle bei der Besitzerlangung gespielt. E wusste
vielmehr Anfang September überhaupt nicht, dass sein Fahrzeug in den Herrschaftsbereich des B gelangt war. Von einer
bewussten Vermögensmehrung kann daher keine Rede sein.
Es fehlt mithin an einer Leistung vonseiten des E.
3. Ergebnis
E hat gegen B keinen Herausgabeanspruch aus § 812 Abs. 1
S. 1 Alt. 1 BGB.
chen Widmungszwecks und stellt damit keinen Gemeingebrauch mehr, sondern eine Sondernutzung dar.
28
So auch OLG Nürnberg NJW-RR 2013, 1325 (1326).
29
BGH NJW 1995, 53.
30
Vgl. Sprau (Fn. 2), § 812 Rn. 8 ff.
31
BGH NJW 2013, 2519 (2520).
ZIVILRECHT
IV. § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB
E könnte gegen B jedoch einen Herausgabeanspruch aus
§ 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB haben.
1. Etwas erlangt
B hat mit dem Besitz am Sattelauflieger etwas erlangt (siehe
oben).
2. In sonstiger Weise
Der Bereicherungsvorgang müsste sich in sonstiger Weise
vollzogen haben. Das ist der Fall, wenn der Bereicherungsgegenstand dem Empfänger von niemandem geleistet wurde.32 Vonseiten des E liegt – wie bereits erörtert – keine Leistung an B vor.
L könnte eine Leistung an B vorgenommen haben. Jedoch
wäre auch hier nach den soeben genannten Anforderungen an
eine Leistung im Sinne von § 812 Abs. 1 BGB erforderlich,
dass L dem B den Besitz an dem Sattelauflieger bewusst
zugewandt hat. Insoweit gilt im Ergebnis das Gleiche wie in
Bezug auf E: L war als Speditionsunternehmer nicht Fahrer
des Sattelaufliegers. Er selbst hat B nicht zur Hilfe gerufen,
als das Fahrzeug von der Autobahn verbracht werden sollte;
den Notruf hat F abgesetzt. L wusste Anfang September nicht
einmal, dass B die Sachherrschaft erlangt hatte. An einer
bewussten Vermögensübertragung fehlt es mithin.
In Betracht kommt jedoch auch eine Leistung der Polizei
an B. Dem Abschleppvorgang und der anschließenden Gewahrsamsbegründung durch B ging ein polizeilicher Notruf
voraus. B nahm das Fahrzeug also nicht aus eigenem Antrieb
in Besitz, sondern allein aufgrund der polizeilichen Aufforderung hierzu. Die Polizei hat ihm mithin bewusst die aus ihren
gefahrenabwehrrechtlichen Befugnissen abgeleitete Erlaubnis
erteilt, sich die tatsächliche Sachherrschaft zu verschaffen.
Der Zweck der Erteilung dieser Erlaubnis bestand jedoch
darin, der polizeilichen Pflicht zur Gefahrenabwehr nachzukommen. Einen im Rahmen der §§ 812 ff. BGB anerkannten
Leistungszweck verfolgte die Polizei damit nicht: Weder
wollte sie – wie es für condictio indebiti und condictio ob
causam finitam erforderlich wäre – eine Verbindlichkeit
gegenüber B erfüllen. Noch bestand zwischen B und der
Polizei ein Rechtsgeschäft, das – wie bei der condictio ob
rem – seinem Inhalt nach einen bestimmten, im Ergebnis
verfehlten Zweck voraussetzte. Es liegt also auch keine Leistung der Polizei an B vor.
Damit hat B den Besitz durch seine eigene Handlung, also
in sonstiger Weise erlangt.
3. Ohne Rechtsgrund
Es dürfte kein Rechtsgrund zugunsten des B bestehen. Im
Rahmen der Nichtleistungskondiktion ist insoweit entscheidend, ob nach der Rechtsordnung für das Verhältnis zwischen
dem Bereicherten und dem Inhaber des beim Bereichungsvorgang berührten Vermögens – also den Parteien der Nichtleistungskondiktion – kein Grund dafür besteht, dass der
32
BGH NJW 2005, 60; Hüffer, JuS 1981, 263.
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55
ÜBUNGSFÄLLE
Simona Liauw
Bereicherte den Vorteil behalten darf.33 Es kommt also nicht
darauf an, ob der Bereicherte den Vorteil auf rechtswidrige
Weise erhalten hat; daher spielt auch insbesondere ein etwaiges Verschulden keine Rolle.34 Vielmehr ist entscheidend, ob
der Bereicherte ihn behalten darf.
Im vorliegenden Fall ist also zu klären, wem die Rechtsordnung den konkreten Vermögenswert „Besitz am Sattelauflieger“ zuweist. Das ist nach § 903 BGB in Verbindung mit §
985 BGB E. Ihm steht als Eigentümer die Sache in ihrer
Gesamtheit zu. Etwas anderes könnte allenfalls unter Berücksichtigung der Tatsache gelten, dass B Verwendungen auf das
Fahrzeug gemacht hat. Ein ihm deshalb (gegebenenfalls)
zustehendes Zurückbehaltungsrecht könnte derart verstanden
werden, dass ihm die Rechtsordnung – solange er wegen der
Verwendungen noch nicht befriedigt ist – ein Recht zum
Behalten zugesteht. Allerdings wird man dies aus den gleichen Erwägungen ablehnen müssen, die im Rahmen des
§ 986 BGB zur Frage nach dem Zurückbehaltungsrecht als
Recht zum Besitz angestellt wurden. Ein Zurückbehaltungsrecht gibt kein dauerhaftes Recht zum Haben, sondern nur
das Recht, die Herausgabe Zug-um-Zug gegen Befriedigung
der eigenen Ansprüche zu erreichen.
B ist mithin rechtsgrundlos bereichert.
4. Zwischenergebnis
E steht gegen B ein Herausgabeanspruch aus § 812 Abs. 1
S. 1 Alt. 2 BGB zu.
5. Zurückbehaltungsrecht
Möglicherweise kann E nach § 274 Abs. 1 BGB die Herausgabe nur Zug um Zug verlangen. B könnte ein Zurückbehaltungsrecht nach § 273 Abs. 2 BGB zustehen. Nach § 994
Abs. 1 BGB steht B ein fälliger Verwendungsanspruch gegen
E zu (siehe oben). Sein Zurückbehaltungsrecht wäre nach
§ 273 Abs. 2 Hs. 2 BGB jedoch ausgeschlossen, wenn er den
Besitz am Sattelauflieger durch eine vorsätzlich begangene
unerlaubte Handlung im Sinne des §§ 823 ff. BGB erlangt
hätte. Dafür wäre Voraussetzung, dass B rechtswidrig gehandelt hat, als er den Sattelauflieger in Besitz nahm. Rechtswidrig ist eine Handlung, wenn sie ein deliktisch geschütztes
Rechtsgut verletzt, sofern nicht ausnahmsweise ein Rechtfertigungsgrund eingreift. Letzteres ist angesichts des polizeilichen Notrufs, der B zum Abschleppen und der anschließenden Verwahrung des Fahrzeugs veranlasste, der Fall: Die
Polizei handelte aufgrund ihrer Befugnisse zur Gefahrenabwehr und bediente sich des B dazu in diesem Rahmen. Mithin fehlt es an der Widerrechtlichkeit und damit an einer
unerlaubten Handlung. § 273 Abs. 2 BGB ist also anwendbar.
6. Ergebnis
E kann Zug um Zug gegen Zahlung der Standkosten die Herausgabe des Sattelaufliegers von B verlangen.
33
OLG Rostock OLGR 2006, 945 (947); Buck-Heeb, in:
Erman (Fn. 4), § 812 Rn. 64.
34
Sprau (Fn. 2), § 812 Rn. 41; vgl. auch Hüffer, JuS 1981,
263.
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ZJS 1/2017
56
Schwerpunktbereichsklausur: Der kontrollfreudige Minderheitsaktionär
Von Oberregierungsrat Dr. Michael Hippeli, LL.M., MBA (MDX), Frankfurt a.M.*
Der dem Schwerpunktbereich Unternehmens- und Gesellschaftsrecht zuzuordnende Fall behandelt im Gewand einer
Beschlusskontrolle ein derzeit sehr aktuelles Thema, nämlich
die in den letzten Jahren verstärkt auftretende Einberufung
der Hauptversammlung der AG aufgrund Minderheitsverlangens im Sinne des § 122 AktG sowie in der Folge die Bestellung eines Sonderprüfers im Sinne des § 142 AktG und die
Geltendmachung von Ersatzansprüchen im Sinne des § 147
AktG durch einen besonderen Vertreter.1 Ebenso sind verstärkt dazu korrespondierende Versuche der betroffenen
Gesellschaftsorgane zu beobachten, die Geltendmachung
dieser Minderheitsrechte mit allerlei taktischem Vorgehen im
Umfeld der Hauptversammlung (rechtmäßig oder unrechtmäßig) zu verhindern.
Sachverhalt2
Die Climatic Seats AG (C-AG) ist als Automobilzulieferer
tätig, ihre 10.000.000 Aktien zu einem Nennwert von je 1,Euro sind als sog. MDax-Wert im Geregelten Markt mehrerer
deutscher Wertpapierbörsen gelistet. Mittlerweile gibt es
1.700 Mitarbeiter.
Ursprünglich wurde die C-AG 1995 von den drei Jungunternehmern Klaus Konrad (K), Bernd Bungert (B) und Ingo
Irrweg (I) in der Rechtsform einer GmbH gegründet. Der
Absatz eines bahnbrechenden neuen Produkts (schmutzabweisende und sich an die Jahreszeiten klimatisch anpassende
Sitzbezüge) verlief derart erfolgreich, dass bereits 2001 eine
Umwandlung in eine AG erfolgte, um als solche 2002 den
Börsengang (IPO) zu wagen.
Im Rahmen des IPO wurden allerdings nur 4.000.000 Aktien an Anleger ausgegeben. Die übrigen 6.000.000 Aktien
halten jeweils zu 1/3 K, B und I. Von den ausgegebenen
Aktien hält die Alpha-Invest Lux S.A. (A), ein Private-Equity
Fonds, durch einige börsliche Erwerbe seit Anfang 2011
insgesamt 2.000.000 Aktien. Die übrigen im Handel befindlichen 2.000.000 Aktien sind dem Streubesitz zuzuordnen.
* Der Autor ist Mitarbeiter der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) in Frankfurt am Main und
Lehrbeauftragter an zwei Hochschulen. Er gibt ausschließlich
seine persönlichen Auffassungen wieder.
1
Vgl. zur Aktualität und Brisanz des Gesamtthemas etwa die
zur Thematik passenden Aufsätze der letzten drei Jahre von
Bayer/Scholz/Weiß, ZIP 2014, 1; Habersack/Mülbert, ZGR
2014, 1; Grunewald, AG 2015, 689; Schatz, AG 2015, 696;
Lochner/Beneke, ZIP 2015, 2010; Schüppen/Tretter, ZIP
2015, 2097; Lieder, NZG 2016, 81; Cziupka/Kraack, DNotZ
2016, 15; Kocher/Lönner, ZIP 2016, 653; Hippeli, DZWIR
2016, 408; Bayer, AG 2016, 637.
2
Der Sachverhalt ist als Melange an mehrere gesellschaftsrechtliche Judikate der Jahre 2015 und 2016 angelehnt, insbesondere an BGH, Urt. v. 28.4.2015 – II ZR 63/14; BGH, Urt.
v. 30.6.2015 – II ZR 142/14 und OLG Hamburg, Urt. v.
22.1.2016 – 11 U 287/14.
K und B sind seit jeher die einzigen Vorstände der B-AG.
Ferner ist I seit jeher Vorsitzender des aus 15 Personen bestehenden Aufsichtsrats. Der Aufsichtsrat besteht mehrheitlich aus K, B und I nahestehenden Personen (Bekannte, Studienfreunde, beratende Rechtsanwälte) sowie darüber hinaus
aus vier entsendeten Vertretern der beiden die C-AG maßgeblich kreditierenden Banken, die ebenfalls Aktionäre sind.
Bei A herrscht Unmut über die Zustände in der C-AG, in
Tageszeitungen werden ihre Vertreter meist mit Aussagen
wie „Vetternwirtschaft bei der C-AG“ oder „intransparente
Geschäftspolitik des Vorstands der C-AG“ zitiert. A hat im
Nachgang zur ordentlichen Hauptversammlung 2016 folgende Erkenntnisse gewonnen, die Fundament ihres Unmuts
sind: Das Vergütungssystem sieht so aus, dass die C-AG den
Vorständen K und B seit 2003 stets Steigerungsraten von
20 % bis 25 % p.a. zugestanden hat, während seit 2011 das
Geschäft stagniert (Umsätze von Jahr zu Jahr rückläufig;
seither Abbau von 250 Arbeitsplätzen; Gewinnwarnungen;
2014 und 2015 negatives Betriebsergebnis). 2016 betrug die
Steigerungsrate für die Vorstandsvergütung nun 60 %.
Ferner hat die C-AG im Juni 2014 mit der Unternehmensberatungs-GmbH (U) einen mit insgesamt rd. 500.000,Euro dotierten Beratervertrag in Bezug auf eine geplante
operative Restrukturierung abgeschlossen. An der U ist B mit
75 % beteiligt, für die U handelt als Geschäftsführer der mit
25 % beteiligte zweite Gesellschafter der U. Als der Beratungsvertrag, dessen Abschluss die Organe der C-AG als in
die alleinige Kompetenz des Vorstands fallend halten, finalisiert wird, enthält sich B seiner Stimme im Vorstand der CAG.
Bei sämtlichen ordentlichen Hauptversammlungen der CAG 2011-2016 ist die A mit ihren Anträgen auf Wahl von ihr
benannter Aufsichtsratsmitglieder und Abschlussprüfer gescheitert. Auf der Hauptversammlung erbetene Auskünfte zur
laufenden und künftigen Geschäftspolitik des Vorstands (was
ist der Plan zur Änderung der miserablen Lage?) sowie zu
Eigengeschäften zwischen der C-AG und B wurden durch
den Vorstand wiederholt nicht erteilt (Auskunftsverweigerung). Auch sämtliche Aktionärsanträge von A wurden auf
den Hauptversammlungen mit der Mehrheit der Stimmen der
stets anwesenden K, B und I niedergestimmt. Gleiches gilt
auch in Bezug auf die Beschlüsse zur Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat der C-AG, bei der A stets mit „Nein“
gestimmt hat.
Nun soll der aus subjektiver Sicht bislang vorherrschende
„Schmusekurs“ von A ein Ende finden. A fordert den Vorstand schriftlich unter Angabe des Zwecks und der Gründe
auf, für den 16.12.2016 eine außerordentliche Hauptversammlung einzuberufen. Auf der Tagesordnung sollen die
Bestellung eines Sonderprüfers und eines besonderen Vertreters stehen, letztlich sollen Ersatzansprüche der C-AG gegen
die Vorstände K und B verfolgt werden. Zum schwerlich als
unabhängig zu bezeichnenden Aufsichtsrat besteht insoweit
kein Vertrauen.
Der Vorstand der C-AG verweigert (erwartungsgemäß)
die Einberufung, woraufhin auf Antrag des A eine gerichtli-
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57
ÜBUNGSFÄLLE
Michael Hippeli
che Ermächtigung zugunsten A ausgesprochen wird. Leider
hat es A versäumt, bei Gericht anzuregen, dass eine Drittperson besagte Hauptversammlung leitet. Demzufolge avanciert
der Aufsichtsratsvorsitzende I zum Versammlungsleiter. Er
bricht die außerordentliche Hauptversammlung am
16.12.2016 bereits nach 30 Minuten ab und begründet dies
mit „tumultartigen Zuständen“, die A zu verantworten habe.
Durch das Vorgehen von A und seiner Neigung, tendenziöse
Aussagen an die „Lügenpresse“ weiterzugeben, seien auch
die Kleinaktionäre verunsichert worden, was zu unhaltbaren
Situationen bei der Gebrauchmachung des Fragerechts der
Aktionäre geführt habe. In dieser Form und auch Lautstärke
könne eine Hauptversammlung nicht seriös durchgeführt
werden. Als A und die Kleinaktionäre sich nach Hause aufgemacht haben, beschließen die immer noch im Hinterzimmer am Versammlungsort befindlichen K, B und I, die
Hauptversammlung „fortzusetzen“, schließlich sei es jetzt
wieder ruhig. Die von A vorgelegten Beschlussentwürfe der
Tagesordnung werden allesamt verworfen.
A begehrt nun im Klagewege, die Nichtigkeit der Beschlüsse festzustellen, hilfsweise, die Beschlüsse für nichtig
zu erklären.
Fallfrage
Wird die Klage des A Erfolg haben?
Bearbeitervermerk
Nehmen Sie zu sich aufdrängenden Problemkreisen, die nicht
unmittelbar in die Falllösung integriert werden können, bitte
hilfsgutachterlich Stellung.
Lösungsvorschlag
Die Klage des A wird Erfolg haben, sofern sie zulässig und
begründet ist.
I. Zulässigkeit
Die Klage des A müsste zunächst zulässig sein.
Typischerweise ist vorrangig über einen „Hauptantrag“ zu
entscheiden. Der ausdrücklich so bezeichnete „Hilfsantrag“
ist bei Antragsverfahren regelmäßig nur dann weiter zu verfolgen, wenn der Hauptantrag keine Aussicht auf Erfolg hat.3
Hinweis: Die vorliegende Form der Antragstellung ist typisch für die aktienrechtliche Beschlusskontrolle. Der
Hauptantrag zielt auf die Feststellung, dass die angegriffenen Beschlüsse von vornherein nichtig waren (Nichtigkeitsklage), der Hilfsantrag zielt dagegen auf lediglich anfechtbare Beschlüsse, die zunächst schwebend wirksam
sind (Anfechtungsklage). Bisweilen wird in der Praxis aus
Gründen anwaltlicher Vorsicht zudem noch der Antrag
3
Musielak, in: Musielak/Voit, Kommentar zur ZPO,
13. Aufl. 2016, § 308 Rn. 18; ders., in: Münchener Kommentar zur ZPO, Bd. 1, 5. Aufl. 2016, § 308 Rn. 17.
gestellt, „höchst hilfsweise“ zumindest die Unwirksamkeit der maßgeblichen Beschlüsse festzustellen.4
Die Bezeichnung „hilfsweise“ ist bei der Beschlusskontrolle
somit untechnisch zu verstehen. Tatsächlich ist der Streitgegenstand von Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage identisch.
Es besteht ein einheitliches Rechtsinstitut mit dem identischen Rechtsschutzziel der festgestellten Nichtigkeit der
Beschlüsse und kein Alternativverhältnis.5
1. Statthafte Klageart
Damit die im „Hauptantrag“ bezeichnete Nichtigkeitsklage
die statthafte Klageart wäre, müssten die auf der Hauptversammlung am 16.12.2016 gefassten Beschlüsse derart
schwerwiegende Mängel aufweisen, dass sie ipso iure als
nichtig anzusehen sind. Diese Art von Beschlussmängeln ist
abschließend in § 241 AktG angelegt. Dann müsste ein Nichtigkeitsgrund aus dem dort angelegten Regelkatalog einschlägig sein.
Zunächst ist kein Einberufungsmangel im Sinne des § 241
Nr. 1 AktG erkennbar. Denn ausweislich des Wortlauts sind
nur Fehler bei „regulären“ Einberufungen im Sinne des § 121
AktG teilweise erfasst, nicht jedoch schlechterdings Einberufungen auf Verlangen einer Minderheit im Sinne des § 122
AktG. Allerdings kann mittelbar dennoch der Anwendungsfall von § 241 Nr. 1 AktG i.V.m. § 121 Abs. 2 S. 3 AktG
vorliegen, wenn die gerichtliche Ermächtigung nicht erteilt
oder von der Hauptversammlung wieder aufgehoben wurde.6
Vorliegend ist ein solches aber nicht ersichtlich.
Auch verstößt der Inhalt der durch K, B und I bei „Fortsetzung“ der außerordentlichen Hauptversammlung gefassten
ablehnenden Beschlüsse nicht gegen die guten Sitten (§ 241
Nr. 4 AktG), allenfalls die Art und Weise des Zustandekommens ist bedenklich. Ein sittenwidriges Zustandekommen
eines Beschlusses etwa durch Stimmrechtsmissbrauch, Treuepflichtverletzung o.ä. genügt aber nicht, um von einer Nichtigkeit des Beschlusses im Sinne des § 241 Nr. 4 AktG ausgehen zu können.7 Eine Nichtigkeitsklage kommt daher von
vornherein nicht als statthafte Klageart in Betracht, der
„Hauptantrag“ scheitert.
Daher läuft der Fall auf die im „Hilfsantrag“ bezeichnete
Anfechtungsklage als statthafte Klageart zu. Die vorliegend
vor allem in Rede stehende Verletzung des Teilnahmerechts
4
Gärtner, in: Gärtner/Rose/Reul, Anfechtungs- und Nichtigkeitsgründe im Aktienrecht, 2014, S. 1.
5
BGH NJW 2002, 3465; BGH NJW-RR 2010, 1625 (1626);
OLG Hamm ZIP 2016, 1071 (1073).
6
Vgl. zum Verhältnis von § 241 Nr. 1 AktG und § 122 AktG
Drescher, in: Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 3. Aufl.
2016, § 122 AktG Rn. 24; Hüffer/Schäfer, in: Münchener
Kommentar zum AktG, Bd. 4, 4. Aufl. 2016, § 241 Rn. 29;
Würthwein, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum AktG, Bd. 2,
3. Aufl. 2015, § 241 Rn. 35 ff.
7
BGH NJW 1987, 2514; BGH NJW 1988, 1579 (1581);
OLG Karlsruhe NJW-RR 2001, 1326; OLG München NZG
2001, 616.
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58
Schwerpunktbereichsklausur: Der kontrollfreudige Minderheitsaktionär
der A an der Hauptversammlung ist dabei ein typischer Gegenstand einer Anfechtungsklage.8
Statthaft ist somit insgesamt die Anfechtungsklage.
2. Zuständigkeit
Zuständig ist nach § 243 Abs. 3 AktG das Landgericht am
Sitz der betroffenen AG, vgl. § 246 Abs. 3 AktG. Dort wird
die Kammer für Handelssachen im Sinne des § 95 Abs. 2
GVG entscheiden.
3. Partei- und Prozessfähigkeit der C-AG
§ 246 Abs. 2 S. 1 AktG bestimmt die jeweils betroffene AG
zur Passivpartei der Beschlussanfechtung. Die Parteifähigkeit
der C-AG besteht demnach. Vertreten wird die C-AG dann
durch Vorstand und Aufsichtsrat, vgl. § 246 Abs. 2 S. 2
AktG.
4. Frist
Anfechtungsgründe müssen nach § 246 Abs. 1 BGB innerhalb eines Monats nach der Beschlussfassung im Wege einer
Anfechtungsklage geltend gemacht werden.
5. Rechtsschutzbedürfnis
Grundsätzlich weist jede Anfechtungsklage ein Rechtsschutzbedürfnis auf. Nur in besonderen, vorliegend nicht
erkennbaren Fällen, kann das Rechtsschutzbedürfnis ausnahmsweise fehlen.
6. Zwischenergebnis
Die von A erhobene Anfechtungsklage ist zulässig.
II. Begründetheit der Klage
Die Klage der A müsste ferner auch begründet sein.
1. Nichtigkeit der Beschlüsse im Sinne des § 241 AktG
Fraglich ist (erneut), ob die ablehnenden Beschlüsse9 schon
eo ipso nichtig sind, so dass die Nichtigkeit nicht erst gesondert gerichtlich ausjudiziert werden muss.
Hinweis: Ein beliebter Klausurfehler ist es, bei Anfechtungsklagen nur noch auf Anfechtungsgründe zu prüfen.
Vorliegend kann die Erörterung von Nichtigkeitsgründen
dahinstehen, da eine Befassung bereits beim Prüfungspunkt der statthaften Klageart erfolgt ist. Anders wäre
dies aber, wenn A ausdrücklich nur eine Anfechtungsklage erhoben hätte, dann müssten inzident auch Nichtigkeitsgründe geprüft werden.
ZIVILRECHT
Nichtigkeitsgründe im Sinne des § 241 AktG liegen jedenfalls nicht vor.
2. Anfechtbarkeit der Beschlüsse im Sinne des § 243 AktG
Anfechtungsklagen sind im Sinne des § 243 Abs. 1 AktG
begründet, wenn der jeweils angefochtene Beschluss das
Gesetz oder die Satzung verletzt.
Zu unterscheiden ist bei den Anfechtungsgründen stets
zwischen formellen Fehlern (Verfahren) und materiellen
Fehlern (Inhalt).
a) Formelle Rechtswidrigkeit
Die in Rede stehenden Beschlüsse der außerordentlichen
Hauptversammlung vom 16.12.2016 könnten zum einen
formell rechtswidrig sein. Formelle Rechtswidrigkeit ist
gegeben, wenn beim Zustandekommen des Beschlusses das
Gesetz oder die Satzung verletzt wurden, wobei der Beschlussinhalt als solcher rechtmäßig ist. Da der Beschluss
trotz des Verfahrensfehlers einen dann grundsätzlich rechtmäßigen Inhalt aufweist, ist an dieser Stelle weitere Voraussetzung, dass der Verstoß das Mitgliedschafts- und Mitwirkungsrecht der Aktionäre in relevanter Weise beeinträchtigt
hat (Relevanztheorie).10
aa) Richtiger Versammlungsleiter?
Ein Verfahrensfehler könnte etwa dann vorliegen, wenn mit I
ein nicht mit den aktienrechtlichen Vorgaben kompatibler
Versammlungsleiter gehandelt hätte.
Das AktG enthält zwar trotz Voraussetzens der Existenz
eines Versammlungsleiters keine Regelung dazu, wer die
Hauptversammlung zu leiten hat.11 Gleichwohl wird diese
Aufgabe typischerweise qua Satzungsregelung dem Aufsichtsratsvorsitzenden zugewiesen.12
Vorliegend handelt es sich indes um den Sonderfall, dass
die außerordentliche Hauptversammlung durch einen Minderheitsaktionär erzwungen wurde. In diesem Fall kann das
Gericht zusammen mit seiner Ermächtigungsentscheidung im
Sinne des § 122 Abs. 3 S. 2 AktG auf Antrag des Minderheitsaktionärs oder von Amts wegen auch die Person des
Versammlungsleiters bestimmen. Diesen Antrag hat A laut
Sachverhalt übersehen. Die dagegen von Amts wegen zu
besorgende Bestellung eines anderen Versammlungsleiters
als den Aufsichtsratsvorsitzenden verdichtet sich sogar zu
einer Ermessensreduzierung auf null, wenn in der Person des
regulär vorgesehenen Versammlungsleiters Gründe vorliegen, die Anlass zu der Sorge geben, dass die Rechte einzelner
Aktionäre missachtet werden könnten.13 Dieser Anlass zur
Sorge bestand vorliegend schon ex ante und nicht erst durch
10
BGH NJW 2005, 828 (830); Gärtner (Fn. 4), S. 10.
Fischer/Pickert, in: Semler/Volhard/Reichert, Arbeitshandbuch für die Hauptversammlung, 3. Aufl. 2011, § 9
Rn. 3; Rose, in: Gärtner/Rose/Reul (Fn. 4), S. 133.
12
Fischer/Pickert (Fn. 11), § 9 Rn. 4.
13
Kubis, in: Münchener Kommentar zum AktG, Bd. 4,
3. Aufl. 2013, § 122 Rn. 60; Hippeli, jurisPR-HaGesR 8/2015
Anm. 2.
11
8
Vgl. Langenbucher, Aktien- und Kapitalmarktrecht, 3. Aufl.
2015, S. 158.
9
In der Praxis muss die Nichtigkeit jedes einzelnen Beschlussgegenstands einzeln festgestellt werden. Dies unterbleibt vorliegend einzig aufgrund von Vereinfachungsgründen.
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59
ÜBUNGSFÄLLE
Michael Hippeli
die Manifestation der für A unschönen „Fortsetzung“ der
außerordentlichen Hauptversammlung vom 16.12.2016.
Schließlich kann I den Gesamtumständen nach als „Buddy“
von K und B bezeichnet werden, auch sein Stimmverhalten
über die Jahre hinweg spricht nicht unbedingt für eine Unabhängigkeit im Interessenkampf der Vorstände mit einem
Minderheitsaktionär. Das für die Maßnahmen nach § 122
Abs. 3 AktG zuständige Gericht hätte den I also als Versammlungsleiter nicht zulassen dürfen, tatsächlich ist dies
aber fälschlicherweise unterblieben.14
Im Ergebnis war I laut Satzung für die Versammlungsleitung gleichwohl zuständig und auch nicht durch eine gegenläufige gerichtliche Entscheidung hieran gehindert. Ein Verfahrensfehler liegt an dieser Stelle somit nicht vor.
bb) Verletzung des Teilnahmerechts der A?
Vorliegend könnte aber ein Verfahrensfehler darin liegen,
dass das Teilnahmerecht der A an der außerordentlichen
Hauptversammlung im Sinne des § 118 AktG beeinträchtigt
wurde. Schließlich wurde (auch) A bedeutet, dass jedenfalls
diese Hauptversammlung durch den „Abbruch“ umfassend
beendet war, während sie später dennoch „fortgesetzt“ wurde
und zu den angegriffenen Beschlüssen führte.
Da die Rechte der Aktionäre in Gesellschaftsangelegenheiten nach § 118 Abs. 1 S. 1 AktG grundsätzlich in der
Hauptversammlung auszuüben sind, ist das Teilnahmerecht
ein sehr hohes Gut der Aktionärsrechte. Es umfasst auch die
Möglichkeit der körperlichen Präsenz15 und ist bei Inanspruchnahme – abgesehen von gewissen Ausnahmen der
Online-Teilnahme im Sinne des § 118 Abs. 1 S. 2 AktG und
der Stimmrechtsausübung ohne Teilnahme im Sinne des §
118 Abs. 2 AktG – insbesondere Voraussetzung dafür, über
Beschlussanträge mit abstimmen zu können.
Ein Eingriff in das Teilnahmerecht der A an der außerordentlichen Hauptversammlung am 16.12.2016 durch den
„Abbruch“ ist unstreitig gegeben.
Fraglich ist aber, ob dieser Eingriff gleichwohl durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt sein kann. Dabei muss
die Frage gestellt werden, ob die „tumultartigen Zustände“
auf der Hauptversammlung einen sachlichen Grund zur zulässigen Beschränkung des Teilnahmerechts auch der A darstellen können. Dabei ist wiederum daran zu denken, dass
Beschränkungen des Teilnahmerechts tief in die Mitgliedschaftsrechte der Aktionäre eingreifen, so dass an zulässige
Beschränkungen des Teilnahmerechts hohe Anforderungen
zu stellen sind.16 Zu konzedieren ist aber im Gegenzug, dass
der Versammlungsleiter zugleich einen ordnungsgemäßen
14
Eine fehlerhafte gerichtliche Ermächtigung hat auf die
Wirksamkeit der Hauptversammlungsbeschlüsse aber keine
Auswirkungen, wenn sie nicht rechtlich angegriffen wurde
und daher rechtskräftig ist, vgl. Rieckers, in: Spindler/Stilz,
Kommentar zum AktG, Bd. 1, 3. Aufl. 2015, § 122 Rn. 68;
Bayer/Scholz/Weiß, ZIP 2014, 1.
15
Liebscher, in: Henssler/Strohn (Fn. 6), § 118 AktG Rn. 10;
Kubis (Fn. 13), § 118 Rn. 65.
16
BGH WM 1965, 1207 (1209); BGH NZG 2015, 1227
(1231).
Ablauf der Hauptversammlung sicherzustellen hat.17 Der
ordnungsgemäße Ablauf kann bei tumultartigen Zuständen
auch beeinträchtigt sein. Allerdings ist vorliegend nicht erkennbar, dass Versammlungsleiter I – unterstellt, die Situation war tatsächlich derart schwierig – versucht hätte, ein milderes Mittel anzuwenden und damit eine verhältnismäßige
Lösung herbeizuführen. Da Versammlungsleiter I die tumultartigen Zustände insbesondere auf einen Missbrauch des
Rederechts einzelner Aktionäre bezog, wäre es ihm als gebotenes milderes Mittel18 möglich gewesen, (1.) einzelnen Rednern/Aktionären nach vorheriger Verwarnung das Wort zu
entziehen, und (2.) einzelne Aktionäre von der Hauptversammlung auszuschließen. Selbst wenn man also gewisse
Eingriffe in das Teilnahmerecht der Aktionäre für zulässig
hält, so sind die logischen Voraussetzungen für eine Verhältnismäßigkeit solcher Eingriffe im konkreten Fall nicht gewahrt. Der Eingriff in das Teilnahmerecht der A ist somit
nicht gerechtfertigt.
Unabhängig davon wäre auch die Frage zu stellen, ob der
Versammlungsleiter überhaupt die Kompetenz für einen
„Abbruch“ der Hauptversammlung besitzt. Vorliegend handelt es sich schließlich nicht um eine bloß kurzfristige Unterbrechung, wozu der Versammlungsleiter als Ausfluss der ihm
zukommenden sitzungspolizeilichen Aufgaben befugt ist.19
Auch geht es nicht um eine reguläre Schließung der Hauptversammlung, die unstreitig in die Kompetenz des Versammlungsleiters fällt. Denn Schließung bedeutet, dass zuvor die
Hauptversammlung ordnungsgemäß durchgeführt wurde.20
Vielmehr dürfte ein Abbruch jedenfalls wesensmäßig21
gleichbedeutend mit einer Vertagung sein, schließlich endet
die jeweilige Hauptversammlung zunächst in materiell unerledigter Art und Weise. Die Kompetenz für eine Vertagung
steht aber nur der Hauptversammlung zu.22
Fraglich könnte sein, ob sich daran etwas ändert, weil die
Einberufung der Hauptversammlung vorliegend durch eine
Aktionärsminderheit erzwungen wurde. In Anbetracht der
einschlägigen Rechtsprechung23 kommt es aber jedenfalls
nicht mehr auf das Minderheitsquorum an, sofern die Hauptversammlung erst einmal angelaufen ist. Demzufolge bleibt
es beim dann bestehenden Dualismus Versammlungsleiter vs.
Hauptversammlung, wobei dann für Abbruch/Vertagung
jedenfalls die Hauptversammlung zuständig ist. Sollte die
außerordentliche Hauptversammlung in irgendeiner Form –
jenseits einer anfechtbaren Beschlussfassung – enden, ohne
17
BGH WM 1965, 1207; OLG Frankfurt NZG 2010, 1426 f.
Vgl. LG Köln AG 2005, 696 (700); Reul, in: Gärtner/
Rose/Reul (Fn. 4), S. 130.
19
Rose (Fn. 11), S. 130.
20
Fischer/Pickert (Fn. 11), § 9 Rn. 382; Hoffmann-Becking,
in: Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Bd. 4,
4. Aufl. 2015, § 37 Rn. 97.
21
Vgl. BGH NZG 2015, 1227 (1230); OLG Hamburg ZIP
2016, 1630 (1632), dort aber zur GmbH.
22
BGH NJW 2010, 3027 (3029); Fischer/Pickert (Fn. 11),
§ 9 Rn. 84; Butzke, Die Hauptversammlung einer Aktiengesellschaft, 5. Aufl. 2011, S. 152.
23
BGH NZG 2015, 1227; OLG Hamburg ZIP 2016, 1630.
18
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ZJS 1/2017
60
Schwerpunktbereichsklausur: Der kontrollfreudige Minderheitsaktionär
dass die von der Aktionärsminderheit vorgelegten Tagesordnungspunkte materiell abgehandelt wurden, besteht eine
erneute Einberufungsmöglichkeit durch die Aktionärsminderheit.24 Deshalb begründet der Abbruch der Hauptversammlung eine Verletzung des Teilnahmerechts.
Fraglich ist sodann, ob die Verletzung des Teilnahmerechts im Sinne der Relevanztheorie Auswirkungen auf die
Beschlussfassung hätte haben können. Vorliegend könnte
daran zu denken sein, dass sich die A mit ihrer Stimmenmacht auch angesichts der tatsächlichen Hauptversammlungspräsenz wohl auch bei einem regulären Ablauf der
Hauptversammlung mit ihren Beschlussvorschlägen niemals
hätte durchsetzen können.
Allerdings gilt zum einen, dass eine AG völlig unabhängig von den bestehenden Mehrheitsverhältnissen der Vortrag
samt Nachweis abgeschnitten ist, die Teilnahme der Minderheitsaktionäre hätte keinen Einfluss auf die Beschlussfassung
gehabt, da das für den Minderheitsschutz wichtige Teilnahmerecht sonst allzu leicht ausgehöhlt werden könnte.25
Zum anderen sind Besonderheiten der §§ 142, 147 AktG
zu beachten.
Zwar bestellt etwa die Hauptversammlung mit einfacher
Stimmenmehrheit Sonderprüfer, vgl. § 142 Abs. 1 S. 1 AktG.
Jedoch dürfen Mitglieder des Vorstands oder des Aufsichtsrats an der Beschlussfassung nicht mitwirken, wenn die Prüfung sich auf Vorgänge erstrecken soll, die mit der Entlastung eines Mitglieds des Vorstands oder des Aufsichtsrats
oder der Einleitung eines Rechtsstreits zwischen der Gesellschaft und einem Mitglied des Vorstands oder des Aufsichtsrats zusammenhängen, vgl. § 142 Abs. 1 S. 2 AktG. Das
bedeutet, dass zunächst die Stimmabgabe von K und B an
dieser Stelle unzulässig war, denn insbesondere gegen K und
B sollten Ersatzansprüche geprüft und später wohl auch geltend gemacht werden. Außerdem wäre völlig unabhängig
vom geäußerten Begehr seitens der A wohl auch I von einem
Stimmverbot betroffen, denn es steht in Rede, dass der Aufsichtsrat die Vorstandsvergütung zumindest in 2016 zu hoch
bemessen und sich damit schadensersatzpflichtig gemacht
hat, vgl. § 116 S. 3 AktG.
Damit hätte die A sehr wohl eine einfache Mehrheit auf
der außerordentlichen Hauptversammlung in Bezug auf den
Beschluss zur Bestellung eines Sonderprüfers erzielen können. Dass K, B und I dennoch entgegen dem in Bezug auf sie
bestehenden Stimmverbot abgestimmt haben, dürfte im Übrigen auch als Verstoß gegen ihre organschaftliche Treuepflicht zu verstehen sein.26
Leicht modifiziert sieht das Szenario im Zusammenhang
mit § 147 AktG aus. Die Geltendmachung der Ersatzansprü24
Vgl. insbesondere OLG Hamburg ZIP 2016, 1630 (allerdings zur GmbH).
25
OLG Düsseldorf NJW-RR 1992, 100 (101); Reul (Fn. 18),
S. 102.
26
Vgl. Spindler, in: Schmidt/Lutter, Kommentar zum AktG,
Bd. 1, 3. Aufl. 2015, § 142 Rn. 28; Schürnbrand, ZIP 2013,
1301 (1302 f.); Verstöße gegen dieses Stimmverbot können
zudem einen gesonderten Anfechtungsgrund begründen, vgl.
AG Ingolstadt DB 2001, 1356 f.
ZIVILRECHT
che gegen die Mitglieder des Vorstands hätte zunächst einer
einfachen Stimmenmehrheit auf der Hauptversammlung
bedurft, vgl. § 147 Abs. 1 S. 1 AktG. Da sich die Ersatzansprüche explizit gegen die beiden Vorstände K und B richten
sollten, unterlagen diese dann im Sinne des § 136 Abs. 1 S. 3
Alt. 3 AktG (erneut) einem Stimmverbot. Dagegen ist I dem
im Vergleich zu § 142 Abs. 1 S. 2 AktG anders gearteten
Wortlaut nach wohl nicht von einem Stimmverbot betroffen.27 Denn die Gesellschaft sollte gegen ihn (noch) keinen
Anspruch geltend machen. Damit hätte A auf der außerordentlichen Hauptversammlung 2016 (vermutlich mit den
Stimmen von Kleinaktionären gegen die Stimmen des I) an
dieser Stelle eine einfache Mehrheit im Sinne des § 133
Abs. 1 AktG erreichen können.
Jenseits dessen – ohne größeren Aktienbesitz in den Händen von K und B und die sie dann treffenden Stimmverbote –
wäre es allerdings von vornherein schwierig geworden, die
Einsetzung eines besonderen Vertreters im Sinne des § 147
Abs. 2 AktG zu bewerkstelligen. Zwar kann die Bestellung
eines besonderen Vertreters im Sinne des § 147 Abs. 2 AktG
schon aufgrund von 10 % des Grundkapitals erfolgen. Dies
hätte somit A auch bei Gericht beantragen können, vgl. § 147
Abs. 2 S. 1 AktG. Allerdings kommt die gerichtliche Bestellung eines besonderen Vertreters losgelöst von einem vorherigen Hauptversammlungsbeschluss zur Geltendmachung von
Ersatzansprüchen im Sinne des § 147 Abs. 1 AktG nicht in
Betracht.28 Für diesen Fall muss ein Minderheitsaktionär,
welcher keine Hauptversammlungsmehrheit herbeiführen
kann, auf das Klagezulassungsverfahren nach § 148 AktG
ausweichen. Allerdings weist das Klagezulassungsverfahren
im Sinne des § 148 AktG für den Minderheitsaktionär hohe
und oftmals unüberwindbare Hürden vor allem mit Blick auf
den durch Tatsachen geltend zu machenden Verdacht eines
bei der Gesellschaft entstandenen Schadens auf.29
cc) Verletzung des Stimmrechts der A?
Zudem könnte ein weiterer Verfahrensfehler in der Verletzung des Stimmrechts der A zu sehen sein. Denn durch den
„Abbruch“ wurde A darin gehindert, seine Stimme abzugeben und damit seine Minderheitsrechte in Form der Bestellung eines Sonderprüfers im Sinne des § 142 AktG und der
Geltendmachung von Ersatzansprüchen durch einen besonderen Vertreter im Sinne des § 147 AktG wirksam geltend machen zu können.
Das Stimmrecht in der Hauptversammlung ist anders als
etwa das Rederecht und das Recht auf Antragsstellung nicht
27
Vgl. zu den Unterschieden zwischen § 142 Abs. 1 S. 2
AktG einerseits und §§ 136 Abs. 1 i.V.m. 147 Abs. 1 AktG
anderseits Spindler (Fn. 26), § 147 Rn. 7; Lochner/Beneke,
ZIP 2015, 2010 (2013). § 147 AktG gerät gerade aufgrund
des in diesem Zusammenhang in § 136 AktG angelegten
Stimmverbots typischerweise (entgegen dem gesetzgeberischen Willen) zu einem Minderheitsrecht, vgl. Bayer, AG
2016, 637.
28
Mock, in: Spindler/Stilz (Fn. 14), § 147 Rn. 49, 55; Bayer,
AG 2016, 637 (638).
29
Vgl. im Detail Bayer, AG 2016, 637 (640).
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61
ÜBUNGSFÄLLE
Michael Hippeli
zum Teilnahmerecht im Sinne des § 118 AktG gehörig30,
sondern stellt ein selbständiges Verwaltungsrecht dar31.
Allerdings ergibt sich, dass vorliegend keinerlei Gründe
erkennbar sind, das Stimmrecht und seine Verletzung anders
zu behandeln als das Teilnahmerecht im Sinne des § 118
AktG. Daher liegt auch insoweit ein Anfechtungsgrund vor.
b) Materielle Rechtswidrigkeit
Materiell könnte zudem von der Rechtswidrigkeit der gefassten Beschlüsse auszugehen sein, da die größeren Mitaktionäre der A, also K, B und I, durch die Fortsetzung der Hauptversammlung und ihr Abstimmverhalten gegen Treuepflichten gegenüber A verstießen.
Grundsätzlich müssen Gesellschafter bei ihrem Abstimmverhalten aus Treuepflichtgesichtspunkten heraus die Interessen ihrer Mitgesellschafter beachten.32 Dies gilt umso mehr,
wenn es sich um das Verhältnis Mehrheits- zu Minderheitsgesellschafter handelt.33 Faktisch handelten K, B und I im
Verbund auch als Mehrheitsgesellschafter (insgesamt 60 %
der Stimmrechte), auch wenn sie offenbar keinen Stimmbindungsvertrag vereinbart hatten.
Typischerweise ist der Missbrauch der Mehrheitsmacht
jedenfalls als Inhaltsfehler und damit als Anfechtungsgrund
anerkannt.34 Damit liegt also auch aus materiellen Gesichtspunkten heraus ein Anfechtungsgrund vor.
c) Anfechtungsbefugnis
Fraglich ist aber, ob A überhaupt noch im Sinne des § 245
AktG zur Anfechtung befugt war. § 245 AktG wird nämlich
immer dann verneint, wenn ein Missbrauch des Anfechtungsrechts vorliegt.35
Vorliegend könnte die Geltendmachung der einschlägigen
Anfechtungsgründe vor dem Hintergrund rechtsmissbräuchlich sein, dass A letztlich „freiwillig“ die Hauptversammlung
verlassen hat und nicht – ebenso wie K, B und I – am Hauptversammlungsort ausgeharrt hat. Schließlich hätte A ja wissen können, dass I mangels Kompetenz hierfür die Versammlung gar nicht wirksam hätte abbrechen können.36 Wäre A
aber geblieben, hätten K. B und I nicht die Hauptversammlung fortsetzen und die von A vorgelegten Beschlussvorlagen
30
Koch, in: Hüffer/Koch, Kommentar zum AktG, 12. Aufl.
2016, § 118 Rn. 20; Kubis (Fn. 13), § 118 Rn. 38.
31
Zöllner, in: Kölner Kommentar zum AktG, 3. Aufl. 2011,
§ 118 Rn. 18.
32
BGH ZIP 1992, 1464 (1470).
33
Vgl. BGHZ 103, 184 (195); Lettl, Gesellschaftsrecht, 2011,
S. 79; Hoffmann, Der Minderheitsschutz im Gesellschaftsrecht, 2011, S. 246.
34
Vgl. BGHZ 120, 141 (150 f.); BGH DB 2005, 1842
(1843); Butzke (Fn. 22), S. 517.
35
Vgl. etwa Koch (Fn. 30), § 245 Rn. 22 ff.; Butzke (Fn. 22),
S. 511 ff.
36
Vgl. die analoge Argumentation zur kompetenzwidrigen
Absage einer Hauptversammlung von Wackerbarth unter:
www.blog.handelsblatt.com/rechtsboard/2015/10/23/bgh-abs
age-der-hauptversammlung-nach-ihrem-beginn/ (24.1.2017).
niederstimmen können. Insoweit könnte der Einwand widersprüchlichen Verhaltens (§ 242 BGB) erhoben werden.
Allerdings wirkt diese Sichtweise doch sehr gekünstelt. A
ist sicherlich kein Rechtsexperte, der aus dem Stand heraus
den „Abbruch“ der Hauptversammlung richtig einordnen
kann. Würde man bloße Rechtsunsicherheit dafür gelten
lassen, dass Aktionären die Anfechtungsbefugnis abzusprechen ist, würden die Aktionärsrechte unbilligerweise erheblich geschmälert. Der Fall ist erkennbar nicht mit den eigentlichen Fällen rechtsmissbräuchlicher Anfechtungsklagen
vergleichbar.
III. Ergebnis
Die Klage der A ist zulässig und begründet, hat also Aussicht
auf Erfolg.
– Hilfsgutachten –
1. Vorstandsvergütung
Kritisch könnten die hohen per anno-Steigerungsraten in
Bezug auf die Vorstandsvergütung sein, zumal in für die CAG wirtschaftlich schwierigen Zeiten.
Auch wenn die Vorstandsvergütung in absoluten Zahlen
vorliegend nicht bekannt ist, so ist doch herauszustreichen,
dass § 87 Abs. 1 S. 1 AktG als eines der maßgeblichen Kriterien die positive Gesamtsituation der Gesellschaft benennt,
welche bei der Bemessung eines angemessenen Verhältnisses
der Vorstandsvergütung zu berücksichtigen sind.
Aus § 87 Abs. 2 AktG ergibt sich sogar, dass der Aufsichtsrat die Vorstandsbezüge herabsetzen soll, wenn sich die
Lage der Gesellschaft derart verschlechtert, dass die Weitergewährung der Bezüge unbillig wäre. Auch wenn bis heute
ungeklärt ist, welcher Grad an Verschlechterung unterhalb
der Insolvenzschwelle die Herabsetzung der Vorstandsbezüge
im Sinne des § 87 Abs. 2 AktG rechtfertigt37, so ist doch
festzustellen, dass eine massive Erhöhung der Vorstandsvergütung vor dem Hintergrund deutlich schlechterer Unternehmenskennzahlen bei der C-AG keinesfalls als gerechtfertigt
erscheint.
In Anbetracht dieser Umstände wäre darüber nachzudenken, ob sich der Aufsichtsrat der C-AG nicht im Sinne des
§ 116 S. 3 AktG schadensersatzpflichtig gemacht hat, weil er
– zumindest für 2016 – eine unangemessene Vorstandsvergütung bei der C-AG festgesetzt hat. § 116 S. 3 AktG hat jedoch nur unterstreichenden Charakter, die hier eigentliche
Haftungsgrundlage betrifft die Haftung für Sorgfaltspflichtverletzungen aus §§ 116 S. 1, 93 Abs. 2 AktG.38
Ein Vergütungsvotum der Hauptversammlung (Say on
pay) im Sinne des § 120 Abs. 4 AktG kann frei nach dem
Ermessen der Verwaltung auf die Tagesordnung gesetzt wer-
37
Vgl. Hippeli, jurisPR-HaGesR 3/2016 Anm. 6 m.w.N.
Habersack, in: Münchener Kommentar zum AktG, Bd. 2,
4. Aufl. 2014, § 116 Rn. 42a; Koch (Fn. 30), § 116 Rn. 118.
38
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Schwerpunktbereichsklausur: Der kontrollfreudige Minderheitsaktionär
ZIVILRECHT
den,39 jedoch über § 122 AktG seitens einer Gesellschafterminderheit (oder -mehrheit) erzwungen werden. Auch wenn
dieses Vergütungsvotum den Aufsichtsrat rechtlich nicht
bindet, so besteht doch ein faktischer Druck, bei der Festlegung der Vorstandsvergütung besonders sorgfältig zu agieren.40
2. Beratungsvertrag
Fraglich ist im Übrigen, ob der Berattungsvertrag zwischen
der C-AG und U rechtens ist. An der U ist schließlich B mit
75 % beteiligt.
Für Verträge einer AG mit ihren Vorstandsmitgliedern
ordnet § 112 AktG an, dass der Aufsichtsrat ausnahmsweise
die Vertretung der AG übernimmt. Dies ist vorliegend unterblieben, da die U ein eigener Rechtsträger und rechtlich nicht
mit dem Vorstand B identisch ist.
Fraglich ist aber, ob § 112 AktG nicht auch dann gilt,
wenn sich herausstellt, dass der Vertragspartner der AG mittelbar/wirtschaftlich (in weiten Teilen) ein Vorstandsmitglied
ist. Relativ leicht fällt jedenfalls dann die Antwort, wenn der
betreffende Vorstand zu 100 % am Vertragspartner beteiligt
ist, denn dann besteht eine wirtschaftliche Identität, der Vertragspartner ist gewissermaßen nur rechtlich als unselbständige Hülle dazwischengeschoben worden.41
Schwierig wird aber die Abgrenzung dann, wenn ein Vorstandsmitglied „nur“ am Vertragspartner beteiligt ist.42 Dann
stellt sich die Frage, welcher Art bzw. wie hoch die Beteiligung oder der Einflussfaktor sein sollte, um ggf. eine Gleichstellung zum unmittelbaren Anwendungsfall von § 112 AktG
oder der vom BGH judizierten erweiterten Auslegung der
Norm für Fälle der wirtschaftlichen Identität zu rechtfertigen.43 Nach hier vertretener Auffassung dürfte eine 75 %Beteiligung jedenfalls die Anwendung des § 112 AktG bedingen. Denn angesichts einer solchen Beteiligungshöhe kann
der jeweilige Vertragspartner als Vehikel angesehen werden,
welches den (dort auch valide durchsetzbaren) Interessen des
betroffenen Vorstands dient.
Vorliegend kam es in der Folge nicht darauf an, ob die insoweit umstrittene Rechtsfolge dann die Nichtigkeit44 oder
die schwebende Unwirksamkeit45 des Beratungsvertrags ist.
39
Dies könnte sich allerdings im Zuge der Umsetzung der
revidierten Aktionärsrechte-Richtlinie alsbald ändern, vgl.
dazu im Detail Hippeli, jurisPR-HaGesR 1/2017 Anm. 1.
40
BT-Drs. 16/13433, S. 12.
41
Vgl. BGH NZG 2015, 792 (794); OLG Saarbrücken NZG
2012, 1348 (1350), OLG München NZG 2012, 706 (707);
OLG Brandenburg AG 2015, 428 (429).
42
Drygala, in: Schmidt/Lutter (Fn. 26), § 112 Rn. 11;
Bürgers/Israel, in: Bürgers/Körber, Heidelberger Kommentar
zum AktG, 4. Aufl. 2017, § 112 Rn. 3.
43
Vgl. Hippeli, jurisPR-HaGesR 7/2015 Anm. 2 m.w.N.
44
OLG Brandenburg AG 2015, 428; OLG Stuttgart AG
1993, 85 (86).
45
OLG Celle AG 2003, 433; OLG München AG 2008, 423
(425); Spindler, in: Spindler/Stilz (Fn. 14), § 112 Rn. 49.
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63
Hausarbeit: Surfreviere
Von Wiss. Mitarbeiter Dr. Henry Hahn, Rostock
Die Hausarbeit ist im Sommersemester 2016 als Prüfung zu
den Grundrechten im Bachelorstudium „Good Governance“
mit drei Wochen Bearbeitungszeit (15 Seiten) angeboten
worden. Sie eignet sich jedoch gleichermaßen als Hausarbeit
im Rahmen der Anfängerübung oder ggf. als Referendarexamensklausur. Die Einkleidung arbeitet zwar mit landesbezogenen bzw. -rechtlichen Angaben, diese sind jedoch für die
Bearbeitung nicht von Belang. Der vorgeschlagene Lösungsweg geht über das in einer Anfängerhausarbeit Geforderte hinaus und dient zugleich der Vertiefung v.a. grundrechtlicher Kenntnisse.
Sachverhalt
In der an der Ostsee gelegenen mecklenburg-vorpommerschen Gemeinde R erfreut sich der Surfsport dank guter Bedingungen zunehmender Beliebtheit, was nicht zuletzt der
touristische Zulauf zeigt. Allerdings treten nunmehr vermehrt
Konflikte zwischen Schwimmern und Surfern bzw. Surfern
untereinander auf: Während die Wellenreiter andere „Spots“
bevorzugen bzw. nur bei Bedingungen kommen, in denen ein
geringer Betrieb zu verzeichnen ist, kann sich die Küste bei R
vor Wind- und Kitesurfern „kaum noch retten“. Immer öfter
kommt es dabei zu Unfällen, die z.T. erhebliche Verletzungen hervorrufen und die Sicherheit in den Gewässern erheblich beeinträchtigen. Das betrifft zum einen Kollisionen der
Surfer mit Badegästen, zum anderen Zusammenstöße insbesondere von Kitesurfern mit Windsurfern sowie umgekehrt
und (in geringerem Maße) auch untereinander (d.h. von
Windsurfern mit Windsurfern etc.). Zurückzuführen ist dies
zum Großteil auf die Anforderungen und Besonderheiten der
verschiedenen Freizeitaktivitäten: So sind Windsurfen und
Kitesurfen beide von einem relativ großen Platzbedarf gekennzeichnet, wohingegen das Schwimmen vergleichsweise
wenig Raum beansprucht, die Badenden aber mangels Flexibilität nur wenige Möglichkeiten zum Ausweichen haben und
daher besonders gefährdet sind. Wind- und Kitesurfer wiederum kommen sich häufig in die Quere, weil der Wind auf
Segel und Schirm unterschiedliche Auswirkungen hat.
Aus diesen Gründen entschließt sich die Gemeinde R, ein
wenig Ordnung in das Durcheinander der verschiedenen
Nutzungsarten zu bringen: Die hierfür zuständige Gemeindevertretung beschließt in einer Satzung unter Beachtung aller
Verfahrens- und Formvorgaben auf der Grundlage von § 5
der Kommunalverfassung (KV) M-V detaillierte Vorgaben
für die Nutzung der Wasserareale. Dazu weist R verschiedene
Zonen aus, in denen nur bestimmte Aktivitäten zulässig sind:
So gibt es künftig einen reinen Badebereich sowie links und
rechts davon je eine Zone, in der ausschließlich das Windsurfen bzw. das Kitesurfen erlaubt ist. Diese Zuordnung beruht
* Der Verf. ist Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Verfassungsgeschichte (Prof. Dr. Wolfgang
März) an der Juristischen Fakultät der Universität Rostock.
Er bedankt sich beim Lehrstuhlinhaber für Durchsicht und
wertvolle Anmerkungen.
auf einem seriösen Gutachten, welches anerkannte Sicherheitskonzepte, aber auch die durchschnittlichen Bedingungen
einschätzt und darauf basierend die Zuordnung zu den entsprechenden Nutzungsarten empfiehlt.
S, Einwohner von R und erfahrener Windsurfer, beklagt
sich nun über diese „Bevormundung“ durch die Gemeinde:
Ihn „nerven“ zwar mitunter die vielen Badegäste und vor
allem die zahlreichen Kitesurfer; die dabei auftretenden Unfälle seien aber in der Regel eher auf mangelnde Erfahrung
und Fehler der Surfer selbst zurückzuführen, auch wenn das
Gutachten vielleicht etwas anderes nahelegen mag. Die neue
Regelung sei zwar geeignet, den Betrieb in den jeweiligen
Gebieten generell zu reduzieren und außerdem die Sicherheit
vor allem der Schwimmerinnen und Schwimmer zu erhöhen,
doch sei die Anknüpfung an die verschiedenen Disziplinen
seines Erachtens ungeeignet. Wie sonst eine Regelung vorgenommen werden könne, weiß S freilich auch nicht: Insbesondere sei es untunlich und nicht praktikabel, eine zahlenmäßige Beschränkung der Sportler im jeweiligen Bereich vorzunehmen. Am besten man hebe die Regelung einfach wieder
auf und appelliere an die Vernunft der Nutzer des Gewässers:
Wem „zu viel los“ sei, der solle es eben lieber bleiben lassen.
Zumindest sollten die für Surfer vorgesehenen Zonen nicht
generell in eigene Reviere für Windsurfen einerseits und
Kitesurfen andererseits aufgeteilt werden; solche Regelungen
sollten allenfalls für Zeiten eines außergewöhnlich regen
Betriebs auf dem Wasser gelten.
Auch die U-GbR (U) ist mit der Regelung nicht einverstanden: Sie betreibt mit entsprechender Genehmigung ein
Unternehmen am Strand, an dem sie Material für Kitesurfer
und Windsurfer vermietet und Surfkurse anbietet. Dafür hat
sie mit entsprechender Erlaubnis ein in ihrem Eigentum stehendes Containerhaus aufgestellt, welches speziell für die
Unterbringung von Surfmaterialien angefertigt worden ist. U
beklagt, durch die neue „Zonen-Regelung“ werde sie eine
Vielzahl von Kunden verlieren, da ihr Unternehmen nunmehr
standortbedingt allein für Windsurfer attraktiv sei, was den
Betrieb zunehmend unrentabel mache. Überdies habe genau
dort, wo die Kitesurfer „unter sich“ seien, der X im Kiterevier einen neuen Stand eröffnet, der vor allem für diese
Surfer interessant sei, aber – warum auch immer – insgesamt
als „cooler“ empfunden werde und viel Zuspruch erfahre.
Wenn es so weitergehe, müsse U ihren Betrieb wohl drastisch
reduzieren oder gar ganz schließen. Was sie dann mit ihrem
Containerhaus machen solle, wisse sie nicht, da es eine Einzelanfertigung sei und letztlich nur für den Betrieb eines
solchen strandnahen Unternehmens genutzt werden könne.
R weist die gegen die Neuregelung erhobenen Vorwürfe
zurück: Die Zonen-Regelung diene dem Schutz der Bevölkerung und wolle weder Surfer noch Unternehmer „ärgern“. U
könne außerdem nach wie vor Material und Kurse für beide
Disziplinen anbieten. Aufgrund des von den Kitesurfern
nunmehr zurückzulegenden Weges vom U aus zur Kitezone
und zurück werde die Nachfrage wohl sinken, aber nicht
einbrechen. U habe jedoch ohnehin keinen Anspruch auf den
Schutz eines zuträglichen Einkommens; vielmehr müsse sie
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ZJS 1/2017
64
Hausarbeit: Surfreviere
dann eben durch Werbung etc. dafür sorgen, „im Wettbewerb“ bestehen zu können. Falls U ihr Unternehmen schließen müsse, sei das ihr Problem. Das Containerhaus müsse sie
dann unter Umständen woanders aufstellen oder eben verkaufen.
Aufgabe 1
Ist die „Zonen-Regelung“ der Gemeinde R mit den Grundrechten des S und der U vereinbar? Gehen Sie davon aus,
dass die einschlägigen Vorgaben der KV M-V verfassungsgemäß sind und vorliegend beachtet worden sind; unterstellen
Sie außerdem, dass § 5 KV M-V für die Einschränkung von
Grundrechten eine generell ausreichende Rechtsgrundlage
darstellt. Europarecht und Gleichheitsgrundrechte sowie
Art. 20a GG bleiben außer Betracht. (90 %)
Aufgabe 2
Nehmen Sie an, dass die Regelung in Kraft getreten ist und U
hiergegen Rechtsschutz in Anspruch genommen hat: Das
zuständige OVG hat die Klage aber abgewiesen und die Revision zum Bundesverwaltungsgericht nicht zugelassen
(§ 132 VwGO). U legt daher beim Bundesverfassungsgericht
fristgerecht Verfassungsbeschwerde ein. Ist diese zulässig?
(10 %)
Auszug aus der Kommunalverfassung MecklenburgVorpommern (KV M-V)
§ 5 Satzungsrecht, Hauptsatzung
(1) Die Gemeinden können die Angelegenheiten des eigenen
Wirkungskreises durch Satzung regeln, soweit die Gesetze
nichts anderes bestimmen. […]
Lösungsvorschlag
Aufgabe 1: Verletzung von Grundrechten
Die Zonen-Regelung könnte Grundrechte des S und/oder der
U-GbR verletzen.
A. Verletzung von Grundrechten des S
Mangels spezieller Grundrechte kommt ausschließlich die
Verletzung der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2
Abs. 1 GG in Betracht.1
I. Schutzbereich
1. Persönlicher Schutzbereich
Art. 2 Abs. 1 GG ist ein Jedermann-Grundrecht. S ist als
natürliche Person vom persönlichen Schutzbereich erfasst.2
2. Sachlicher Schutzbereich
Was von Art. 2 Abs. 1 GG geschützt wird, war insbesondere
früher etwas strittig: Während die heute ganz h.M. das
Grundrecht als sog. Auffanggrundrecht versteht und jegliche
1
Ähnlich für die Tätigkeit des Segelns VGH BadenWürttemberg, Urt. v. 29.11.2013 – 3 S 193/13, Rn. 46.
2
Allgemein Jarass, in: Jarass/Pieroth, Kommentar zum GG,
14. Aufl. 2016, Art. 2 Rn. 6.
ÖFFENTLICHES RECHT
Handlungsfreiheit erfasst sehen will, gab es seinerzeit Ansichten, die ein engeres Verständnis bevorzugen.
a) Beschränkungen des Schutzbereichs
Die Persönlichkeitskerntheorie beschränkt den sachlichen
Schutzbereich auf „den Kernbereich der Persönlichkeit“,3
also jene Handlungen, die für die Entfaltung der Persönlichkeit wirklich wichtig sind, sodass im Wesentlichen eine Beschränkung auf den Schutzbereich des heute aus Art. 2 Abs. 1
GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG hergeleiteten Allgemeinen Persönlichkeitsrechts gefordert wird.4 Nimmt man das zum
Maßstab, erscheint es zweifelhaft, ob die Freizeitbetätigung
des S, das Windsurfen ohne Einschränkungen, vom sachlichen Schutzbereich erfasst ist, zumal es sicherlich mit den
Schutzgehalten des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts wie
informationelle Selbstbestimmung, Schutz der Privatsphäre
etc.5 nicht vergleichbar ist.6
Eine weitere Auffassung nimmt eine etwas geringere Einschränkung vor: Sie verlangt keine Beschränkung auf das
Allgemeine Persönlichkeitsrecht, wohl aber, um eine Banalisierung des Grundrechtsschutzes zu verhindern,7 eine „Einengung […] auf Freiheitsbetätigungen […], die eine gesteigerte, dem Schutzgut der übrigen Grundrechte vergleichbare
Relevanz für die Persönlichkeitsentfaltung besitzen“.8 Ob das
Interesse des S an der ungestörten Ausübung des Windsurfens in seiner Relevanz mit den anderen Grundrechten wie
Religionsfreiheit, Meinungs- und Versammlungsfreiheit,
Berufs- und Eigentumsfreiheit etc. gleichkommt, erscheint
ebenfalls mehr als zweifelhaft.
b) Umfassendes Verständnis als „allgemeine Handlungsfreiheit“
Die heute ganz h.M. entnimmt dem sachlichen Schutzbereich
hingegen eine sehr umfassende Handlungsfreiheit, dies „ohne
Rücksicht darauf, welches Gewicht der Betätigung für die
Persönlichkeitsentfaltung zukommt“.9 Für ein solches, weites
Verständnis wird insbesondere die Entstehungsgeschichte
angeführt, wonach das Grundgesetz speziell mit dem Art. 2
Abs. 1 GG dem Menschen den Schutz einer größtmöglichen
Freiheit zugestehen will.10 Hinzu kommt, dass Beschränkungen stets Abgrenzungen zur Folge haben, die an Grenzen
stoßen müssen: Eine objektivierte Beurteilung der Relevanz
3
Vgl. m.N. Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum
GG, 77. Lfg., Stand: 2016, Art. 2 Rn. 12.
4
Vgl. Di Fabio (Fn. 3), Art. 2 Rn. 12.
5
Dazu Jarass (Fn. 2), Art. 2 Rn. 37.
6
So für die Tätigkeit des Segelns VGH Baden-Württemberg,
Urt. v. 29.11.2013 – 3 S 193/13, Rn. 46.
7
Vgl. Ipsen, Staatsrecht II, 17. Aufl. 2014, § 18 Rn. 770.
8
Vgl. Windthorst, in: Gröpl/Windthorst/von Coelln, Studienkommentar zum GG, 2. Aufl. 2015, Art. 2 Rn. 28, mit Verweis auf die abweichende Meinung des damaligen BVerfGRichters Grimm in BVerfGE 80, 137 (165).
9
BVerfGE 80, 137 (152), zitierend Jarass (Fn. 2), Art. 2
Rn. 5.
10
Di Fabio (Fn. 3), Art. 2 Rn. 13; Windthorst (Fn. 8), Art. 2
Rn. 29.
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65
ÜBUNGSFÄLLE
Henry Hahn
läuft Gefahr, den stark subjektiven Charakter der Persönlichkeitsentfaltung zu verkennen – als leidenschaftlicher Windsurfer könnte S für seine Persönlichkeitsentfaltung das Windsurfen deutlich wichtiger sein als etwa über die Preisgabe
seiner Daten selbst entscheiden oder an einer Versammlung
teilnehmen zu dürfen. Beschränkungen führen daher zu nahezu unmöglichen Abgrenzungsschwierigkeiten.11 Einzig sinnvoll erscheint es daher, den sachlichen Schutzbereich weit zu
verstehen, womit das Interesse des S am ungestörten Windsurfen jedenfalls erfasst ist. Der sachliche Schutzbereich ist
eröffnet.
2. Schranken-Schranken
Die Satzung und ihre Rechtsgrundlage müssten verfassungsgemäß sein.
3. Zwischenergebnis
Der Schutzbereich ist eröffnet.
II. Eingriff
In den Schutzbereich müsste eingegriffen worden sein. Nach
klassischem Verständnis muss die Grundrechtsverkürzung
final und unmittelbar mittels (mit Zwang durchsetzbaren)
Rechtsakts erfolgen.12 Vorliegend sieht eine Satzung vor,
dass z.B. das Windsurfen im Geltungsbereich der Satzung
nur in der dafür vorgesehenen Zone zulässig sein soll. In den
übrigen Bereichen wird das Windsurfen absichtlich und direkt verboten, sodass insoweit ein Eingriff nach klassischem
Verständnis von der Regelung ausgeht.
III. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Fraglich ist, ob der Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden kann.
1. Grundrechtsschranke
Art. 2 Abs. 1 GG enthält die sog. Schranken-Trias, bestehend
aus Rechten anderer, der verfassungsmäßigen Ordnung und
dem Sittengesetz. Die Rechte anderer erfassen auch die
Grundrechte,13 sodass sie angesichts der Tatsache, dass die
Gemeinde vorliegend Sicherheit und körperliche Unversehrtheit anderer Nutzer des Gewässers (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG)
schützen will, als Schranke naheliegend erscheint. Allerdings
verlangt der allgemeine Vorbehalt des Gesetzes stets, dass
Einschränkungen auf ein Gesetz zurückführbar sein müssen,
sodass der Schranke i.d.R. keine wesentliche, eigenständige
Bedeutung zugesprochen wird,14 wenn man die verfassungsmäßige Ordnung mit der ganz h.M. einschließlich des
BVerfG weit versteht: Danach ist die verfassungsmäßige
Ordnung im Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG gleichbedeutend mit
der Gesamtheit der verfassungsmäßigen Rechtsordnung,15
d.h. gemeint ist „die Summe aller formell und materiell verfassungsmäßigen Rechtsnormen.“16
11
Vorliegend hat R die Vorgaben in einer Satzung auf der
Grundlage des § 5 KV M-V beschlossen. Die Satzung stellt
ein materielles Gesetz dar und ist auf ein formelles Gesetz
zurückzuführen. Nach h.A. stellt die allgemeine Satzungsbefugnis des § 5 KV M-V freilich keine hinreichende Rechtsgrundlage für die Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen
dar.17 Laut Aufgabenstellung ist jedoch das Gegenteil zu
unterstellen. Die Verfassungsmäßigkeit der Rechtsgrundlage
und der Satzung wird im Folgenden als Schranken-Schranke
untersucht.
Zutreffend Windthorst (Fn. 8), Art. 2 Rn. 29.
Siehe nur Ipsen (Fn. 7), § 3 Rn. 143.
13
Ipsen (Fn.7), § 18 Rn. 779.
14
Windthorst (Fn. 8), Art. 2 Rn. 62.
15
Vgl. die zahlreichen Nachweise des BVerfG bei Ipsen
(Fn. 7), § 18 Rn. 781.
16
Ipsen (Fn. 7), § 18 Rn. 782 m.w.N.
a) Verfassungsmäßigkeit der Rechtsgrundlage
Die Rechtsgrundlage für die Satzung ist § 5 KV M-V, der
laut Aufgabenstellung verfassungsgemäß ist.
b) Verfassungsmäßigkeit der Satzung
aa) Formelle Verfassungsmäßigkeit
Laut Sachverhalt ist davon auszugehen, dass bei der Satzung
sämtliche Verfahrens- und Formvorgaben beachtet worden
sind.
bb) Materielle Verfassungsmäßigkeit
(1) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
Die Satzung müsste zur Förderung eines legitimen Zwecks
geeignet, erforderlich und angemessen sein.
Für die Legitimität des Zwecks erlangt die Verfassungsbindung der Gemeinde als Exekutive nach Art. 20 Abs. 3 GG
an Relevanz, wonach eine Bindung (auch) an das Gesetz
notwendig ist.18 § 5 KV M-V macht jedoch keine genaueren
Vorgaben für die Regelungen, außer dass es sich um Angelegenheiten im eigenen Wirkungskreis handeln muss. Ohnehin
ist laut Aufgabenstellung von der Wahrung der Vorgaben in
der KV M-V auszugehen. R verfolgt den Zweck, für mehr
Sicherheit der Badegäste und Sportler im Wasser zu sorgen.
Damit will sie v.a. deren körperliche Unversehrtheit schützen, die mit Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG sogar grundrechtlich verbürgt ist.
Fraglich ist die Eignung der Maßnahme, wobei eine Förderung des Zwecks genügt.19 R hat eine Zonen-Regelung
vorgenommen, die Bereiche eigens für Badegäste, Windsurfer und Kitesurfer vorsieht. Als Hintergrund wird angeführt,
dass die steigende Nutzung des Gewässers zunehmend und
teils erhebliche Unfälle mit sich bringt. Angesichts der unterschiedlichen Nutzungsansprüche von Badegästen, Windsurfern und Kitesurfern hat R auf der Basis eines Gutachtens
eine Festlegung der Zonen für sinnvoll erachtet. S trägt als
erfahrener Windsurfer dagegen vor, dass die Unfälle zwar
12
17
Dazu etwa Geis, Kommunalrecht, 3. Aufl. 2014, § 8
Rn. 28; Lange, Kommunalrecht, 2013, Kap. 12 Rn. 15 f.
18
Dazu Grzeszick, in: Maunz/Dürig (Fn. 3), Art. 20 VII
Rn. 111.
19
Grzeszick (Fn. 18), Art. 20 VII Rn. 112.
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66
Hausarbeit: Surfreviere
ÖFFENTLICHES RECHT
durchaus auf eine zu intensive Nutzung des Gewässers durch
zu viele Personen, nicht aber auf die Spezifika der Nutzungsformen, sondern auf mangelnde Erfahrungen v.a. der Surfer
zurückzuführen seien. Allerdings lässt der Sachverhalt erkennen, dass die Unfälle auf Kollisionen mit Badegästen und
Zusammenstößen insbesondere von Kitesurfern mit Windsurfern sowie umgekehrt beruhen, wohingegen Kollisionen von
Sportlern derselben Disziplin in geringerem Umfange erfolgen. Ferner stützt sie ihre Maßnahmen auf die Empfehlungen
eines seriösen Gutachtens, sodass die Vertretbarkeit ihrer
Überzeugung, nämlich die Ursächlichkeit der Mischnutzung,
keineswegs abwegig erscheint. Hinzu kommt, dass der Staat
stets bloß eine förderliche, nie aber die bestmögliche Lösung
schuldet,20 die denn objektiv auch kaum feststellbar wäre.
Sogar S räumt ein, dass die Zonen-Regelung eine Verringerung der Nutzeranzahl und eine erhöhte Sicherheit bewirkt
hat, sodass von der Eignung der Maßnahme auszugehen ist.
Die Zonen-Regelung müsste unter den gleich geeigneten
Mitteln das mildeste darstellen.21 S führt an, dass er selbst
keine wirkliche Alternative wisse und dass v.a. eine zahlenmäßige Beschränkung der Sportler im jeweiligen Bereich –
unabhängig von der Nutzungsform – untunlich und nicht
praktikabel sei. Stattdessen plädiert er für die Herstellung des
Status quo und für Appelle an die Vernunft der Surfer. Dass
dies angesichts der Erfahrungen der R mit dem Nutzerzuwachs nicht gleich geeignet ist, erscheint offensichtlich. Auch
der Vorschlag, die Surfbereiche nicht eigens für Windsurfer
oder Kitesurfer, sondern als gemeinsame Nutzungszone vorzusehen, ist mit Blick auf die erhöhte Anzahl von Unfällen
durch Kollisionen von Kite- und Windsurfern nicht gleichermaßen effektiv. Einzig überlegenswert erscheint der Vorschlag, die Geltung der Regelung auf Zeiten offensichtlich
regen Betriebs zu beschränken. Allerdings zieht auch das
praktische Probleme nach sich, zumal für die Rechtssicherheit eine klare Nutzeranzahl feststehen müsste. Stellt man
darauf ab, gleicht die Maßnahme dem von S selbst abgelehnten Ansatz einer zahlenmäßigen Beschränkung. Ferner müsste den bereits tätigen Sportlern, etwa Kitesurfern im Windsurfbereich, das vorübergehende Inkrafttreten der Regelung
deutlich signalisiert werden können, wobei außerdem nur
schwer ohne Sicherheitseinbußen sichergestellt werden kann,
dass diese Sportler dem Gebot, das Gebiet sofort zu verlassen, wirklich nachkommen. Dass die Maßnahme gleich geeignet ist, erscheint also ebenfalls äußerst zweifelhaft. Die
beschlossene Zonen-Regelung ist erforderlich.
Ferner muss die Maßnahme angemessen, also unter Abwägung des verfolgten Ziels (bzw. der damit geförderten
Belange) und der Eingriffsintensität für S zumutbar sein
(Zweck-Mittel-Relation).22 Besonders an dieser Stelle wirkt
sich die äußerst weite Schutzbereichsgewährleistung des
Art. 2 Abs. 1 GG aus, die zugleich umfassende Beschrän-
kungsmöglichkeiten erlauben muss.23 Ferner ist zu berücksichtigen, dass dem Verfassungsrang entgegenstehender
Belange sowie der Nähe etwa eines Grundrechts zum Menschenwürdekern stets besondere Bedeutung bei der Abwägung zukommen muss.24 Für den vorliegenden Fall muss es
daher relevant sein, dass die (nur) von Art. 2 Abs. 1 GG verbürgte Freiheit dem Schutz von Grundrechten aus Art. 2
Abs. 2 S. 1 GG entgegensteht. Der Sachverhalt sagt, dass die
hohe Nutzeranzahl zunehmend Unfälle nach sich zieht, woraus teils erhebliche Verletzungen hervorgehen. Wenn der
Staat Maßnahmen zur Einschränkung gefährlicher Verletzungen vornehmen will, muss er das grundsätzlich zulasten der
allgemeinen Handlungsfreiheit anderer Grundrechtsträger tun
können. Zu bedenken ist außerdem, dass S nach wie vor
durchaus dem Windsurfen in R nachgehen kann: Es gibt eine
eigene Zone, die er nutzen kann und die auf der Basis einer
Empfehlung eingerichtet worden ist, die nicht zuletzt auf die
Bedingungen Rücksicht nimmt, die für die Betätigung des
Sports notwendig bzw. gut geeignet sind. Der Eingriff wiegt
also nicht sonderlich schwer.25 Dies gilt v.a. im Vergleich
zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit, sodass der Eingriff für S insgesamt zumutbar und von diesem hinzunehmen
ist.
Die Zonen-Regelung ist verhältnismäßig.
20
23
Sachs, in: Sachs, Kommentar zum GG, 7. Aufl. 2014,
Art. 20 Rn. 150. Siehe auch Michael/Morlok, Grundrechte,
5. Aufl. 2016, § 23 Rn. 619: Nur Untauglichkeit führt zur
Ungeeignetheit.
21
Allgemein Grzeszick (Fn. 18), Art. 20 VII Rn. 113.
22
Etwa Hufen, Staatsrecht II, 5. Aufl. 2016, § 9 Rn. 23.
(2) Verletzung sonstigen Verfassungsrechts
Eine solche ist nicht ersichtlich. Die Satzung ist vorbehaltlich
der gesondert zu prüfenden Verletzung von Grundrechten
Dritter verfassungsgemäß.
c) Zwischenergebnis
Die Schranken-Schranken sind gewahrt.
3. Zwischenergebnis
Der Eingriff ist verfassungsrechtlich gerechtfertigt.
IV. Ergebnis
Die Zonen-Regelung greift in die allgemeine Handlungsfreiheit des S ein, ist aber verfassungsrechtlich gerechtfertigt.
B. Verletzung von Grundrechten der U-GbR
Die Zonen-Regelung könnte U in der Berufsfreiheit und/oder
in ihrer Eigentumsfreiheit bzw. in ihrer wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit verletzen.
I. Verletzung des Art. 12 Abs. 1 GG
Fraglich ist, ob U in ihrer Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1
GG verletzt ist. Da die Berufsfreiheit einhellig als einheitli-
Ähnlich Windthorst (Fn. 8), Art. 2 Rn. 60.
Etwa Sachs (Fn. 20), Art. 20 Rn. 156 f.
25
Ähnliche Argumentation zum Grundrechtsschutz eines
Seglers bei der Einrichtung einer Verbotszone im Bodensee
VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 29.11.2013 – 3 S 193/13,
Rn. 46.
24
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67
ÜBUNGSFÄLLE
Henry Hahn
ches Grundrecht betrachtet wird,26 erfolgt eine gemeinsame
Untersuchung.
1. Schutzbereich
a) Persönlicher Schutzbereich
Nach Art. 12 Abs. 1 GG haben alle Deutschen das Recht,
ihren Beruf frei zu wählen und auszuüben. Vorliegend sucht
die U-GbR als Gesellschaft Grundrechtsschutz, weshalb sich
der Schutz nach Art. 19 Abs. 3 GG richtet. Danach gelten
Grundrechte „auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind.“ Die
GbR ist eine Gesellschaftsform nach § 705 des deutschen
BGB (deutsche Rechtsform) und die U-GbR ist in der deutschen Gemeinde R tätig (Sitz in Deutschland), sodass sie
jedenfalls als inländisch27 einzustufen ist.
Problematisch könnte aber sein, dass eine (nur) über Teilrechtsfähigkeit verfügende GbR genau genommen dem Begriff der juristischen Person nicht gerecht wird, der vom
Verständnis einer Organisation mit Vollrechtsfähigkeit geprägt ist.28 Allerdings hat das BVerfG bereits frühzeitig zu
erkennen gegeben, dass nicht zuletzt aufgrund der sonst zu
großen Manipulationsmöglichkeiten des einfachen Gesetzgebers29 der Begriff sehr weit auszulegen bzw. gar „weit über
den Wortlaut hinaus“ auszudehnen ist,30 sodass auch teilrechtsfähige Personengemeinschaften vom Begriff im Sinne
des Art. 19 Abs. 3 GG erfasst werden, was mittlerweile die
nahezu einhellige Auffassung darstellt.31 U kann sich als GbR
also grundsätzlich auf Grundrechtsschutz berufen.
Dies gilt nach Art. 19 Abs. 3 GG aber nur, soweit das in
Betracht kommende Grundrecht seinem Wesen nach auf U
anwendbar ist. Ausgeschlossen werden damit höchstpersönliche Rechte wie das Allgemeine Persönlichkeitsrecht aus
Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG.32 Die Berufsfreiheit hingegen stellt ein klassisches Wirtschaftsgrundrecht dar,
welches wirtschaftlich tätigen Unternehmen wie U unproblematisch offensteht.33 Der persönliche Schutzbereich ist
eröffnet.
b) Sachlicher Schutzbereich
Der weit auszulegende34 Berufsbegriff wird überwiegend
definiert als „auf Dauer angelegte, der Schaffung und Erhaltung einer Lebensgrundlage dienende Tätigkeit“.35 Hier be26
Hufen (Fn. 22), § 35 Rn. 5; Scholz, in: Maunz/Dürig
(Fn. 3), Art. 12 Rn. 23 f.
27
Ausführlich dazu Remmert, in: Maunz/Dürig (Fn. 3),
Art. 19 III Rn. 76 ff.
28
Remmert (Fn. 27), Art. 19 III Rn. 37.
29
Remmert (Fn. 27), Art. 19 III Rn. 37.
30
Sachs (Fn. 20), Art. 19 Rn. 58.
31
Siehe m.w.N. Jarass (Fn. 2), Art. 19 Rn. 20; Ipsen (Fn. 7),
§ 2 Rn. 63a.
32
Hufen (Fn. 22), § 6 Rn. 36.
33
Siehe nur Ipsen (Fn. 7), § 15 Rn. 631.
34
Scholz (Fn. 26), Art. 12 Rn. 28.
35
Ipsen (Fn. 7), § 15 Rn. 635; Scholz (Fn. 26), Art. 12
Rn. 29.
treibt U ein Unternehmen, welches Surfmaterial vermietet
und Surfkurse anbietet. Aus dem Sachverhalt geht hervor,
dass U das dauerhaft praktiziert und damit (zumindest z.T.)
der Lebensunterhalt verdient wird. Das wird dem Berufsbegriff gerecht. Der sachliche Schutzbereich ist eröffnet.
2. Eingriff
a) Gezielte Regelung?
Ein Eingriff liegt jedenfalls dann vor, wenn eine Grundrechtsverkürzung final, unmittelbar und durchsetzbar mit
Rechtswirkung erfolgt. Offenkundig ist eine Beschränkung
der beruflichen Tätigkeit der U indes nicht die Intention von
R, die mit der Zonen-Regelung dem Schutz der Gewässernutzer gerecht werden will. Nach klassischem Verständnis läge
also kein Eingriff vor.
b) Objektiv berufsregelnde Tendenz?
Fraglich ist jedoch, wie weit der Begriff des Eingriffs zu
verstehen ist. Während im Grundsatz anerkannt ist, dass nach
modernem Verständnis jede grundrechtsverkürzende Maßnahme einen Eingriff darstellen kann,36 ist das bei der Berufsfreiheit nicht so eindeutig. Vielmehr wird nach h.A. grundsätzlich zumindest eine objektiv berufsregelnde Tendenz der
Maßnahme verlangt,37 weil der moderne Eingriffsbegriff
wegen der nur beiläufigen Auswirkungen unzähliger staatlicher Maßnahmen auch auf berufliche Betätigungen die Einbeziehung nahezu jeglichen Staatshandelns in den Schutz der
gewichtigen Berufsfreiheit zur Folge hätte, was zu weit ginge.38 Eine solche objektiv berufsregelnde Tendenz wird etwa
bejaht, wenn der Hoheitsakt Tätigkeiten betrifft, „die typischerweise beruflich ausgeübt werden“39 bzw. in engem
Zusammenhang zur Berufsausübung deren Rahmenbedingungen verändert werden.40
Vorliegend geht es R ausschließlich um die Sicherheit,
d.h. genauer den Schutz der körperlichen Unversehrtheit von
Badegästen und Surfern, deren Betätigungen typischerweise
nicht beruflich ausgeübt werden. Gar nicht im Fokus stehen
Aktivitäten am Strand einschließlich der unternehmerischen
Betätigung der U. Der Hintergrund der Maßnahme ähnelt den
Motiven im Sicherheits- und Ordnungsrecht, wobei anerkannt
ist, dass v.a. die polizeiliche Generalermächtigung keine
berufsregelnde Tendenz aufweist.41 Auch hier ist keine Tendenz erkennbar, nach der die Regelung der R Auswirkungen
auf berufliche Tätigkeiten mit sich bringen sollte.
36
Dazu m.w.N. Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte, 31. Aufl. 2015, § 6 Rn. 261.
37
Siehe nur Jarass (Fn. 2), Art. 12 Rn. 14 f.
38
Etwa Gröpl, in: Gröpl/Windthorst/von Coelln (Fn. 8),
Art. 12 Rn. 36 f.
39
BVerfGE 97, 228 (254), zitierend Jarass (Fn. 2), Art. 12
Rn. 15.
40
Jarass (Fn. 2), Art. 12 Rn. 15.
41
Etwa m.w.N. Mann, in: Sachs (Fn. 20), Art. 12 Rn. 96.
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ZJS 1/2017
68
Hausarbeit: Surfreviere
c) Faktische Beeinträchtigung
Vertreten wird, dass ein Eingriff auch in faktischer Form
vorliegen könne, wenn „die staatliche Maßnahme als nicht
bezweckte, aber doch vorhersehbare und letztlich auch in
Kauf genommene Nebenfolge eine schwerwiegende Beeinträchtigung der beruflichen Tätigkeit bewirkt.“42 Erkennbar
ist aber, dass auch hier ein gewisser Berufsbezug existieren
muss.43 Man könnte daran denken, dass ja v.a. die Surfer ggf.
Surfkurse oder eine Ausrüstung benötigen, die komfortabel
vor Ort gemietet werden könnte. Verbietet man ihnen das
Surfen in einem Bereich, sinkt die Nachfrage an solchen
Angeboten, was vorhersehbar ist. Anerkannt ist aber, dass
kein Eingriff in die Berufsfreiheit vorliegt, wenn mit einer
Regelung ohne berufsregelnde Tendenz „lediglich nachteilige
Veränderungen der wirtschaftlichen Verhältnisse betroffener
Personen einhergehen.“44 Ein Anspruch auf einen lukrativen
Standort gibt es nicht. Vorliegend stellen die beklagten Umsatzeinbußen eine bloße Folgewirkung des Ausbleibens von
(Kite-)Surfern dar. Solche mittelbar-faktischen Einschränkungen bei der Rentabilität eines Unternehmens stellen keinen Eingriff in die Berufsfreiheit, sondern allenfalls in die
allgemeine Handlungsfreiheit dar.45 Zielführend ist auch
nicht die Klage des U, dass nunmehr X von der ZonenRegelung profitiere, denn ein Schutz vor Wettbewerbern ist
einhellig nicht vom Grundrecht des Art. 12 Abs. 1 GG erfasst46 – im Gegenteil: Ein freier Wettbewerb ist vielmehr
gewollt und ein Eingriff kann allenfalls in einer Einschränkung des Wettbewerbs liegen. U kann ihr Unternehmen weiter betreiben und leidet (nur) unter Nachfragerückgang und
Konkurrenz. Das sind grundsätzliche Risiken der Unternehmensführung. Ein Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG liegt nicht
vor.
3. Ergebnis
Art. 12 Abs. 1 GG ist nicht verletzt.
II. Verletzung des Art. 14 GG
Fraglich ist, ob die Zonen-Regelung U in ihrer Eigentumsfreiheit verletzt.
1. Anwendbarkeit neben Art. 12 Abs. 1 GG
U macht eine Verletzung ihrer Berufsfreiheit geltend. Auch
wenn eine solche nicht vorliegt, ist zu beachten, dass das
Verhältnis von Art. 12 GG und Art. 14 GG nicht unproblematisch ist und Abgrenzungen nötig sind: Art. 14 GG erfährt
nämlich keine Anwendung, wenn Vermögenswerte zur Verwirklichung anderer Freiheitsrechte verwendet werden.47
ÖFFENTLICHES RECHT
Während Art. 12 GG den Erwerb schützen will, erfasst
Art. 14 GG den Schutz des bereits Erworbenen in Gestalt
bereits vorhandener Vermögenswerte.48 Je nachdem, was im
Vordergrund steht, ist (nur) eines der beiden Grundrechte
einschlägig.49 Überschneidungen und Idealkonkurrenz sind
jedoch nicht ausgeschlossen,50 v.a. wenn kein solcher
Schwerpunkt klar erkennbar ist.51
Der U geht es vordergründig um die Nutzung des Containerhauses für ihren beruflichen Betrieb, aber auch darum,
dass sie mit dem Vermögensgegenstand nach etwaiger
Schließung ihres Unternehmens nichts mehr anfangen könne.
Voraussetzung für den Ausschluss des Schutzes aus Art. 14
GG ist indessen ohnehin, dass in die Berufsfreiheit eingegriffen worden ist: Maßgeblich ist der Schwerpunkt des Eingriffs.52 Ein solcher Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG ist vorliegend nicht gegeben. Der Schutz aus Art. 14 GG ist also nicht
ausgeschlossen.
2. Schutzbereich
a) Persönlicher Schutzbereich
Die Eigentumsfreiheit im Sinne des Art. 14 GG ist ein Jedermann-Grundrecht, doch kann sich die U-GbR nur nach
Maßgabe des Art. 19 Abs. 3 GG auf den Schutz berufen. Sie
ist nach dem oben Gesagten eine inländische juristische Person im Sinne dieser Vorschrift und die Eigentumsfreiheit
kann als klassisches Wirtschaftsgrundrecht ihrem Wesen
nach jedenfalls auch Personenmehrheiten zustehen,53 sodass
U vom persönlichen Schutzbereich erfasst ist.
b) Sachlicher Schutzbereich
Art. 14 GG schützt über das Sacheigentum hinaus jedes „private Vermögensrecht“.54 Anerkannt ist, dass nicht nur das
Eigentum als solches, sondern auch die freie Nutzungsmöglichkeit geschützt ist.55 Hier moniert U, dass sie das in ihrem
Eigentum befindliche Containerhaus nur zum Betrieb ihres
Unternehmens nutzen könne. Das Interesse an der Nutzung
zu diesem Zweck (und zu keinem anderen) ist vom sachlichen Schutzbereich des Art. 14 GG erfasst. Die Beantwortung der Frage, ob (auch) die Genehmigung oder ggf. der
eingerichtete und ausgeübte Gewerbebetrieb der U geschützt
sind, bedarf daher keiner Beantwortung.56
3. Eingriff
Art. 14 GG kennt zwei Eingriffsformen: die Enteignung
(Abs. 3) sowie die Inhalts- und Schrankenbestimmung
48
Papier, in: Maunz/Dürig (Fn. 3), Art. 14 Rn. 222.
Jarass (Fn. 2), Art. 12 Rn. 3 m.N. des BVerfG.
50
Papier (Fn. 48), Art. 14 Rn. 222.
51
Jarass (Fn. 2), Art. 12 Rn. 3 m.N. des BVerfG.
52
BVerfGE 121, 317 (344 f.). Siehe auch die Formulierung
von Papier (Fn. 48), Art. 14 Rn. 222.
53
Siehe nur Gröpl (Fn. 38), Art. 14 Rn. 13.
54
Wendt, in: Sachs (Fn. 20), Art. 14 Rn. 36.
55
Siehe nur Wendt (Fn. 54), Art. 14 Rn. 41.
56
So allgemein Hufen (Fn. 22), § 38 Rn. 14; Wendt (Fn. 54),
Art. 14 Rn. 36.
49
42
M.w.N. Mann (Fn. 41), Art. 12 Rn. 95.
Mann (Fn. 41), Art. 12 Rn. 96.
44
M.w.N. Mann (Fn. 41), Art. 12 Rn. 97.
45
Jarass (Fn. 2), Art. 12 Rn. 15; Mann (Fn. 41), Art. 12
Rn. 97.
46
Dazu Hufen (Fn. 22), § 35 Rn. 25; Jarass (Fn. 2), Art. 12
Rn. 20 ff.
47
Vgl. m.w.N. (u.a. BVerfGE 121, 317 [345]) Jarass (Fn. 2),
Art. 14 Rn. 4.
43
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69
ÜBUNGSFÄLLE
Henry Hahn
(Abs. 1 S. 2). Erstere ist spezieller und daher zuerst zu prüfen.
a) Enteignung
Die Enteignung wird nicht von der Intensität des Eingriffs her
definiert,57 sondern vom BVerfG in ständiger Rechtsprechung verstanden als „die vollständige oder teilweise Entziehung konkreter subjektiver Eigentumspositionen im Sinne
des Art. 14 Abs. 1 S. 1 zur Erfüllung bestimmter öffentlicher
Aufgaben“,58 wobei zusätzlich ein sog. Güterbeschaffungsvorgang verlangt wird.59
Hier wird der U weder Eigentum als solches noch die
Nutzungsbefugnis entzogen und es mangelt ferner an einem
Güterbeschaffungsvorgang, sodass jedenfalls keine Enteignung vorliegt.
b) Inhalts- und Schrankenbestimmung
Nach Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG werden Inhalt und Schranken
„bestimmt“, weshalb das Eigentumsrecht als normgeprägtes
Grundrecht verstanden wird, dessen näherer Inhalt erst vom
Gesetzgeber festgelegt wird.60 Ein Eingriff kann deshalb nur
dann vorliegen, wenn eine bereits vorhandene Ausgestaltung
bzw. Gewährleistung des Grundrechts negativ verändert
wird.
Offensichtlich ist, dass eine Einschränkung der Vermögenswerte von U nicht beabsichtigt bzw. Sinn der Satzung
ist. U beklagt jedoch, dass sie aufgrund der Zonen-Regelung
ihren Betrieb einstellen müsse, weshalb eine Nutzung ihres
Containerhauses nicht mehr möglich sei. In Betracht kommt
deshalb allenfalls ein mittelbar-faktischer Eingriff, der jedoch
grundsätzlich durchaus als Eingriff im Sinne des Art. 14
Abs. 1 S. 2 GG genügen kann, wenn er erheblich genug ist.61
R weist indes darauf hin, dass es möglich sei, das Haus woanders aufzustellen oder zu verkaufen. In der Tat erscheint es
fraglich, ob mit der Zonen-Regelung wirklich ein Eingriff in
das Eigentumsgrundrecht verbunden ist: U kann nach wie vor
ihr Eigentum nutzen und darüber verfügen, nur rentiert sich
ihr Betrieb teilweise aufgrund der Zonen-Regelung, teilweise
aufgrund der Konkurrenz durch X nicht mehr, weshalb die
Nutzung am konkreten Standort in R keinen Sinn mehr
macht. Verlangt wird vielfach eine eigentumsregelnde Tendenz wie bei Art. 12 GG,62 die vorliegend gleichermaßen zu
verneinen wäre: Mit der Zonen-Regelung wird weder der
Inhalt noch eine Schranke im Sinne der Festlegung von Rechten und Pflichten63 der Nutzung des Containerhauses (bewusst) geregelt. Darüber hinaus muss relevant sein, dass das
Haus nur aufgestellt ist, also unproblematisch abgebaut und
57
Ipsen (Fn. 7), § 17 Rn. 755.
Die vielen Nachweise direkt zitierend Wendt (Fn. 54),
Art. 14 Rn. 148.
59
Siehe die Nachweise des BVerfG bei Jarass (Fn. 2),
Art. 14 Rn. 77; Kritisch Hufen (Fn. 22), § 38 Rn. 20.
60
Siehe nur Ipsen (Fn. 7), § 17 Rn. 740.
61
Jarass (Fn. 2), Art. 14 Rn. 25 m.w.N.
62
Jarass (Fn. 2), Art. 14 Rn. 4.
63
Dies fordernd BVerfGE 110, 1 (24 f.), zitierend Gröpl
(Fn. 38), Art. 14 Rn. 44.
58
woanders verwendet werden kann. Der Wert des Containerhauses als solchem wird durch die Zonen-Regelung nicht
beeinträchtigt und die Beeinträchtigung des Interesses, an
dem konkreten Ort in R das Haus zu nutzen, genügt jedenfalls nicht den Anforderungen an die für die Qualifizierung
als Eingriff notwendige Erheblichkeit.
4. Ergebnis
Art. 14 GG ist mangels eines Eingriffs nicht verletzt.
III. Verletzung des Art. 2 Abs. 1 GG
Zu untersuchen bleibt, ob die Interessen der U von Art. 2
Abs. 1 GG in Gestalt der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit64 verletzt ist.
1. Anwendbarkeit des Art. 2 Abs. 1 GG
Anerkannt ist bei einem umfassenden, generalklauselartigen
Verständnis des Art. 2 Abs. 1 GG, dass dieser als subsidiär
zurücktritt, wenn der Schutzbereich eines anderen Grundrechts beeinträchtigt ist.65 Hinsichtlich des Art. 12 Abs. 1 GG
und des Art. 14 GG ist der Schutzbereich eröffnet; es mangelt
jedoch an einem Eingriff. Bei der hier in Betracht kommenden wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit ist anerkannt, dass
der Schutz des Art. 2 Abs. 1 GG greift, wenn mangels berufsregelnder Tendenz kein Eingriff vorliegt.66 Das ist hier der
Fall.
2. Schutzbereich
a) Persönlicher Schutzbereich
Art. 2 Abs. 1 GG enthält ein Jedermann-Grundrecht, doch
kann U sich nur nach Maßgabe des Art. 19 Abs. 3 GG darauf
berufen. Sie ist als GbR in R – wie erinnerlich – eine inländische juristische Person im Sinne des Art. 19 Abs. 3 GG.
Fraglich ist aber die wesensgemäße Anwendbarkeit des Art. 2
Abs. 1 GG, der wortlautgemäß nur die freie Entfaltung der
Persönlichkeit erfasst. Allerdings ist bzgl. der Gewährleistungen des Art. 2 Abs. 1 GG bereits geklärt worden, dass
nach zutreffender Ansicht nicht nur die Persönlichkeit, sondern umfassend die allgemeine Handlungsfreiheit den Schutz
genießt, wozu auch die wirtschaftliche Handlungsfreiheit
gehört, deren Schutz dem Wesen nach auf juristische Personen anwendbar ist.67 U ist vom persönlichen Schutzbereich
erfasst.
b) Sachlicher Schutzbereich
Sachlich schützt Art. 2 Abs. 1 GG nach dem oben Gesagten
nicht bloß den Persönlichkeitskern oder wichtige Interessen,
sondern umfassend die allgemeine Handlungsfreiheit. Dazu
zählt auch die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit der U, sodass der sachliche Schutzbereich eröffnet ist.
64
Di Fabio (Fn. 3), Art. 2 Rn. 77 f.; Mann (Fn. 41), Art. 12
Rn. 97.
65
Jarass (Fn. 2), Art. 2 Rn. 3; Windthorst (Fn. 8), Art. 2
Rn. 44.
66
Jarass (Fn. 2), Art. 2 Rn. 3, Art. 12 Rn. 4.
67
Windthorst (Fn. 8), Art. 2 Rn. 16.
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ZJS 1/2017
70
Hausarbeit: Surfreviere
c) Zwischenergebnis
Der Schutzbereich ist eröffnet.
3. Eingriff
Wann ein Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG vorliegt, ist etwas
strittig: Im Gegensatz zur Dogmatik bei anderen, speziellen
Grundrechten, die grundsätzlich jede verkürzende Wirkung
staatlichen Handelns als Eingriff versteht, wird nahezu einhellig argumentiert, dass es zu weit führe, dieses Verständnis
auch bei dem jegliche Betätigungen schützenden Art. 2
Abs. 1 GG anzuwenden.68 Vorgeschlagen wird etwa die Beschränkung auf den klassischen Eingriffsbegriff, sodass die
Beeinträchtigung final, unmittelbar und durchsetzbar mit
Rechtswirkung erfolgen müsse.69 Dass die wirtschaftliche
Betätigung der U nicht absichtlich eingeschränkt wird, ist
bereits geklärt worden, sodass es nach dieser Auffassung
vorliegend an einem Eingriff mangelte. Das gilt auch für die
Anwendung des Maßstabs einer „milderen“ Ansicht, die zwar
keine Rechtswirkung, wohl aber die Finalität der Beeinträchtigung verlangt.70
Das BVerfG fordert für die hier einschlägige wirtschaftliche Betätigungsfreiheit, dass der Grundrechtsträger „durch
Maßnahmen betroffen [ist], die auf Beschränkung wirtschaftlicher Entfaltung sowie Gestaltung, Ordnung oder auch Lenkung des Wirtschaftslebens angelegt sind oder sich in diesem
Sinne auswirken“.71 Das Gewicht des Eingriffs soll dabei
keine Rolle spielen.72 Die Zonen-Regelung der R ist jedenfalls nicht auf wirtschaftliche Auswirkungen, sondern auf die
Sicherheit des Gewässers angelegt. Sie könnte sich aber auf
die Gestaltung oder als Lenkung des Wirtschaftslebens auswirken, indem der Standort des Unternehmens von U weniger
lukrativ wird, was die Erwerbschancen mindert. Unabhängig
von der Konkurrenz durch X hatte U Umsatzeinbußen bereits
aufgrund der Tatsache zu verzeichnen, dass die Kitesurfer
einen zu langen Weg zu seinem Stand haben und die Dienste
der U daher nicht (mehr) in Anspruch nehmen. Die Bedingungen des Wirtschaftsstandortes wurden also nicht unwesentlich verändert, sodass die Maßnahme dem Verständnis
des BVerfG nach als Eingriff in die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit einzuordnen sein dürfte.
Kommen die Ansichten also zu verschiedenen Ergebnissen, bedarf es des Streitentscheids. In der Tat erscheint es
aufgrund der ausufernden Weite der Schutzbereichsgewährleistung des Art. 2 Abs. 1 GG angebracht, einen eingeschränkten Eingriffsbegriff zu verwenden. Allerdings ist zu
bedenken, dass staatliche Maßnahmen regelmäßig bestimmte
Ziele verfolgen, deren Umsetzung Rechtsbeeinträchtigungen
lediglich zur Folge hat. All diese Fälle würden dem Schutz
durch Art. 2 Abs. 1 GG entzogen, wenn man die Finalität der
Grundrechtsverkürzung verlangte. Auch wenn das Grundrecht als Auffanggrundrecht fungiert, erlangt es große Bedeu68
Etwa Hufen (Fn. 22), § 14 Rn. 19.
Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher (Fn. 36), § 8 Rn. 422.
70
So Murswiek, in: Sachs (Fn. 20), Art. 2 Rn. 83.
71
BVerfGE 98, 218 (259), zitierend Jarass (Fn. 2), Art. 2
Rn. 9; Ferner Di Fabio (Fn. 3), Art. 2 Rn. 78.
72
M.w.N. Jarass (Fn. 2), Art. 2 Rn. 9.
69
ÖFFENTLICHES RECHT
tung für zahllose Betätigungen, die insoweit einen unzureichenden Schutz genössen. Die Forderung einer Finalität
des Eingriffs wird daher dem Sinn und Zweck des Art. 2 Abs.
1 GG, nämlich der Garantie einer umfassend grundrechtlich
geschützten Freiheit, auch der Entstehungsgeschichte nach
nicht gerecht. Dennoch erscheint es angebracht, nicht jede
Grundrechtsverkürzung zu erfassen, sodass die für die wirtschaftliche Betätigung erfolgte Konkretisierung des BVerfG
sinnvoll erscheint, zumindest eine Auswirkung auf die Gestaltung, Ordnung bzw. Lenkung des Wirtschaftslebens anzunehmen, eine solche bei mangelnder Finalität aber auch
ausreichen zu lassen. Hinzu kommt, dass Art. 2 Abs. 1 GG
eine weite Schrankenregelung kennt, sodass Korrekturen –
wie auch sonst – im Rahmen der verfassungsrechtlichen
Rechtfertigung möglich sind.
Die Zonen-Regelung stellt einen Eingriff in die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit der U dar.
4. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Fraglich ist, ob der Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden kann.
a) Grundrechtsschranke
Wie bereits geklärt, enthält Art. 2 Abs. 1 GG eine SchrankenTrias, wobei der verfassungsmäßigen Ordnung im Sinne der
Gesamtsumme aller verfassungsgemäßen Rechtsnormen
praktisch die größte Bedeutung zukommt. Die Satzung stellt
als materielles Gesetz eine taugliche Schranke dar.
b) Schranken-Schranken, insbesondere Verhältnismäßigkeit
Die Rechtsgrundlage und die Satzung müssen verfassungsgemäß sein. Es ist bereits geklärt worden, dass von der Verfassungsmäßigkeit der Rechtsgrundlage und der formellen
Verfassungsmäßigkeit der Satzung ausgegangen werden
kann. Fraglich ist nur die materielle Verfassungsmäßigkeit
der Satzung, insbesondere die Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit der U.
Erinnert sei, dass R mit dem Schutz der körperlichen Unversehrtheit der Gewässernutzer einen legitimen Zweck verfolgt und die Zonen-Regelung zur Förderung dieses Zwecks
geeignet ist.
U führt keine milderen Alternativen an. Allerdings kommen neben einer wirtschaftlichen Unterstützung durch R, auf
die kein Anspruch besteht, nur die Aufhebung der Regelung
(zumindest hinsichtlich der Aufteilung von Kite- und Windsurfern) oder die Beschränkung der Regelung auf Zeiten
großen Betriebs in Betracht, die – wie erinnerlich – nicht
genauso effektiv sind.
Fraglich ist, ob U der Eingriff zumutbar ist. R schützt ein
hochrangiges Grundrecht vieler Gewässernutzer aus Art. 2
Abs. 2 S. 1 GG. Bzgl. der Rechtsposition der U ist zu sagen,
dass zwar die Auswirkung auf die berufliche Tätigkeit bei der
Abwägung zu berücksichtigen ist, andererseits aber von einer
geringeren Schutzbedürftigkeit des Interesses an Rentabilität
und Nutzung ihres Eigentums zu beruflichen Zwecken auszugehen ist, wenn ein Schutz aus den speziellen und bereits
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71
ÜBUNGSFÄLLE
Henry Hahn
abstrakt als sehr wichtig einzuordnenden Grundrechten des
Art. 12 Abs. 1 GG bzw. Art. 14 GG nicht existiert. Insoweit
gleicht die rechtliche Situation der U im Wesentlichen jener
des S, d.h. der Schutz der körperlichen Unversehrtheit der
Gewässernutzer geht dem Interesse der U an einer rentablen
Wirtschaftsbetätigung konkret am Standort in R vor, sodass
die Satzung angemessen und der U zumutbar ist.
Die Zonen-Regelung ist verhältnismäßig. Die Verletzung
sonstigen Verfassungsrechts ist nicht ersichtlich, sodass insgesamt die Schranken-Schranken gewahrt sind und der Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist.
5. Ergebnis
Art. 2 Abs. 1 GG ist nicht verletzt.
IV. Ergebnis
Die Satzung verletzt U nicht in ihren Grundrechten.
C. Gesamtergebnis
Die Satzung ist mit den Grundrechten des S und der U vereinbar.
Aufgabe 2: Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde
Für die Zulässigkeit müssten alle Sachentscheidungsvoraussetzungen vorliegen.
Die Zuständigkeit des BVerfG ergibt sich aus Art. 93
Abs. 1 Nr. 4a GG und § 13 Nr. 8a BVerfGG.
Beschwerdefähig ist laut Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG und
§ 90 Abs. 1 BVerfGG jedermann, d.h. jeder, der Träger von
Grundrechten sein kann.73 Für U kommt eine Verletzung der
Art. 12 Abs. 1, 14 und 2 Abs. 1 GG in Betracht, die – wie
erinnerlich – ihrem Wesen nach auf U als inländische juristische Person im Sinne des Art. 19 Abs. 3 GG anwendbar sind.
U ist also beschwerdefähig.
An der Prozessfähigkeit besteht kein Zweifel. Bei einer
GbR als teilrechtsfähige Personenmehrheit kann das BVerfG
nach § 21 BVerfGG einen oder mehrere Beauftragte bestellen.74
Zulässiger Beschwerdegegenstand ist die öffentliche Gewalt, d.h. Maßnahmen aller drei Gewalten sind erfasst.75 U
wendet sich gegen eine Satzung der Gemeinde R, dies jedoch
indirekt über das bzw. zusammen mit dem die Rechtmäßigkeit der Satzung bestätigende(n) Urteil des OVG als Akt der
Judikative. Ein tauglicher Beschwerdegegenstand liegt vor.
Für die Beschwerdebefugnis müsste U die Verletzung von
Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten behaupten,
wenngleich einhellig zugunsten des Ausschlusses von Popularklagen zumindest die Möglichkeit der Grundrechtsverletzung gefordert wird, d.h. diese dürfte nicht von vornherein
73
Gersdorf, Verfassungsprozessrecht und Verfassungsmäßigkeitsprüfung, 4. Aufl. 2014, Abschn. 1 Rn. 3.
74
Siehe Klein, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge,
Kommentar zum BVerfGG, 48. Lfg., Stand: 2016, § 21
Rn. 2.
75
Gersdorf (Fn. 73), Abschn. 1 Rn. 18.
und nach allen Betrachtungsweisen ausgeschlossen sein.76
Trotz des Ergebnisses zu Aufgabe 1 ist vorliegend zumindest
die Verletzung des Art. 2 Abs. 1 GG nicht ausgeschlossen.
Darüber hinaus verlangt das BVerfG freilich einschränkend,
dass der Beschwerdeführer selbst, unmittelbar und gegenwärtig beschwert ist.77 Hinsichtlich der Satzung könnte an der
Unmittelbarkeit gezweifelt werden; mit Blick auf das Urteil
des OVG ist das hingegen unproblematisch. Bei einer Urteilsverfassungsbeschwerde ist jedoch zu bedenken, dass das
BVerfG keine „Superrevisionsinstanz“ darstellt, sondern sein
Prüfungsmaßstab auf das Verfassungsrecht beschränkt ist.
Deshalb bedarf es einer spezifischen Grundrechtsverletzung.78 Von den existierenden Fallgruppen ist hier v.a. die
„Verkennung der Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts“ in Gestalt einer fehlerhaften Abwägung79 von Bedeutung. In der Tat erscheint es nämlich nicht ausgeschlossen,
dass das OVG bei der Überprüfung der Rechtmäßigkeit der
Satzung die Relevanz der Grundrechte von U unterschätzt
hat. U ist beschwerdebefugt.
Nach § 90 Abs. 2 BVerfGG muss indes, soweit vorhanden, zunächst der Rechtsweg vor den Fachgerichten erschöpft
werden. Hier hat U den richtigen Verwaltungsrechtsweg
(genauer: die Normenkontrolle nach § 47 Abs. 1 Nr. 2
VwGO i.V.m. § 13 AGGerStrG M-V80) eingeschlagen. Problematisch ist aber, dass der Weg nicht bis zum BVerwG fortgeführt worden ist. Es handelt sich um den Fall, dass das
OVG die Revision zum BVerwG nicht zugelassen hat (§ 132
VwGO). Insoweit ist fraglich, ob die dann nach Maßgabe des
§ 133 VwGO mögliche Nichtzulassungsbeschwerde zwingender Bestandteil des zu erschöpfenden Rechtswegs ist.
Diese Frage ist zu bejahen, denn die Norm verlangt die Erschöpfung sämtlicher, gesetzlich zur Verfügung stehender
(nicht offensichtlich unzulässiger) Rechtsbehelfe,81 zu der
auch die Nichtzulassungsbeschwerde gehört, stellt doch das
so nicht angerufene BVerwG eine wichtige, wenn nicht gar
die wichtigste Instanz für die Klärung insbesondere der einfachgesetzlichen Rechtsfragen dar. Der Rechtsweg ist also
nicht erschöpft. Soweit die Frist für die Nichtzulassungsbeschwerde versäumt sein sollte, muss sich U ggf. um eine
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bemühen.82
76
Sachs, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2010, Rn. 517.
Siehe m.N. Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht,
4. Aufl. 2015, § 3 Rn. 190; Sachs (Fn. 76), Rn. 518.
78
Gersdorf (Fn. 73), Abschn. 1 Rn. 33.
79
Siehe Gersdorf (Fn. 73), Abschn. 1 Rn. 33.
80
Normen der anderen Bundesländer: Art. 5 BayAGVwGO,
§ 4 BaWüAGVwGO, § 4 Abs. 1 BbgVwGO, Art. 7 BremAGVwGO, § 15 HessAGVwGO, § 7 NdsAgVwGO, § 4 RlpAGVwGO, § 18 SaarlAGVwGO, § 24 SächsJG, § 10 SachsAnhAGVwGO, § 5 SchlHAGVwGO, § 4 ThürAGVwGO. In
Berlin, Hamburg und Nordrhein-West-falen wäre die Normenkontrolle nicht statthaft gewesen.
81
Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge
(Fn. 74), § 90 Rn. 395; Hillgruber/Goos (Fn. 77), § 3
Rn. 209 f.
82
Bethge (Fn. 81), § 90 Rn. 395.
77
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Hausarbeit: Surfreviere
ÖFFENTLICHES RECHT
Mangels Rechtswegerschöpfung ist die Verfassungsbeschwerde der U somit unzulässig.
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73
Hausarbeit: „Deutschland zuerst“?
Von Wiss. Mitarbeiter Stefan Martini, Kiel*
Die Hausarbeit mittleren Schwierigkeitsgrads ist im Wintersemester 2016/2017 im Rahmen der Übung für öffentliches
Recht für Anfänger (3. Fachsemester) mit drei Wochen Bearbeitungszeit angeboten worden. Sie stellt zwar mit der Volksbefragung ein klassisches Element des Staatsorganisationsrechts ins Zentrum. Gleichwohl fordert der Sachverhalt die
Bearbeiter heraus, weil er zum einen aktuelle Ereignisse im
Vereinigten Königreich mit europaverfassungsrechtlichem
Bezug aufgreift, die Anlass geben, gewohnte staatsrechtliche
Probleme teilweise ungewohnt zu bearbeiten. Zum anderen
wird erwartet, die Leitlinien der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Wahlberechtigung von Auslandsdeutschen (BVerfGE 132, 39) auf die hier etwas anders liegende Konstellation zu übertragen. Eingekleidet ist der Fall
in eine verfassungsprozessuale Fragestellung. Im Folgenden
wird eine Musterlösung vorgestellt, von der begründete Abweichungen – insbesondere zum Verfassungsvorbehalt von
Volksbefragungen – sehr gut vertretbar sind. Entscheidend
für den Erfolg ist es weniger, die Musterlösung genau zu
treffen als die im Sachverhalt angelegten Argumente zu erfassen und juristisch plausibel zu verarbeiten, die verfassungsrechtlichen Maßstäbe herauszupräparieren und die
eigene Argumentation kohärent und konsistent vorzutragen.
Die Zulässigkeitsprüfung ging mit 10%, die Verfassungsmäßigkeit des Referendums mit 50% und die Prüfung von
Gleichheitsfragen mit 40% in die Bewertung ein.
Sachverhalt
Bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag erringt die Partei
„Deutschland zuerst“ 120 der insgesamt 630 Sitze (einschließlich Überhang- und Ausgleichsmandaten). Gemeinsam
mit der P-Partei, die im Bundestag über 302 Sitze verfügt,
bildet sie eine Koalitionsregierung. Entsprechend einer Vereinbarung im Koalitionsvertrag beschließt die Bundesregierung, ein Referendum über den Austritt der Bundesrepublik
Deutschland aus der Europäischen Union (EU) abzuhalten.
Bundeskanzler K erklärt in einer Pressekonferenz, die Bundesregierung werde das Ergebnis des Referendums als verbindlich akzeptieren. Die europäische Einigung dürfe nicht
als ein Elitenprojekt am Willen des Volkes vorbei betrieben
werden. Das „Gesetz über ein Referendum zur Mitgliedschaft
der Bundesrepublik in der Europäischen Union“ (EU-RefG)
wird im vollbesetzten Bundestag nach kontroverser, teils
turbulenter Debatte in dritter Lesung mit 420 Stimmen bei
209 Gegenstimmen und einer Enthaltung beschlossen. Nach
Zustimmung durch den Bundesrat (mit 49 Ja-Stimmen), Aus* Der Verf. ist Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht mit Schwerpunkt Völker- und Europarecht (Prof.
Dr. Andreas v. Arnauld) am Walther-Schücking-Institut für
Internationales Recht, Christian-Albrechts-Universität zu
Kiel. Die Hausarbeit beruht hinsichtlich des Sachverhalts
maßgeblich auf Ideen von Andreas v. Arnauld und ist im
Austausch mit ihm entstanden – alle verbliebenen Fehler und
Unschärfen sind freilich meine.
fertigung durch den Bundespräsidenten und Gegenzeichnung
durch die Bundesregierung wird es im Bundesgesetzblatt
verkündet und tritt am 1. Oktober in Kraft. Die Durchführung
ist für den 17. Juni des Folgejahres geplant.
Die oppositionelle O-Partei will das Referendum verfassungsgerichtlich verhindern. Ihre Bundestagsfraktion, die 145
Mitglieder zählt, und die Regierung des Bundeslandes B,
dessen Ministerpräsidentin M der O-Partei angehört, reichen
formgerecht beim Bundesverfassungsgericht Anträge auf
Durchführung eines Normkontrollverfahrens ein. Die Antragsteller rügen, dass das Grundgesetz weder Volksabstimmungen zu Fragen der EU-Mitgliedschaft noch den EU-Austritt
selbst vorsehe. Das Referendum ersetze den Bundestag als
eigentlichen Gesetzgeber durch das Wahlvolk. Dass das Referendum nach dem EU-RefG rechtlich unverbindlich sei,
spiele keine Rolle, da die Bundesregierung erklärt habe, das
Ergebnis als politisch verbindlich zu akzeptieren. Außerdem
rügen die Antragsteller, dass gemäß § 2 Abs. 2 EU-RefG
Deutsche, selbst solche im EU-Ausland, von der Abstimmung ausgeschlossen sind, die seit mehr als 15 Jahren nicht
mehr im Bundesgebiet sesshaft sind. Diese würden als
„Staatsbürger zweiter Klasse“ behandelt. Die Bundesregierung hält die Regelung hingegen für unverzichtbar, um ein
„ausreichendes Maß an Verbundenheit mit den nationalen
Angelegenheiten“ zu gewährleisten. Sie weist auf Unterschiede in der Betroffenheit durch deutsche Hoheitsakte, auf
das Fehlen einer Korrelation von Rechten und Pflichten sowie auf potentielle Interessen- und Loyalitätskonflikte bei
längerem Daueraufenthalt außerhalb Deutschlands hin. Zudem verweist sie auf die Rückkehrer-Klausel in § 2 Abs. 3
EU-RefG, wonach Staatsbürger, die mehr als 15 Jahre außerhalb Deutschlands gelebt haben, stimmberechtigt sind, wenn
sie zum Zeitpunkt der Abstimmung seit mindestens drei Monaten wieder ihren Hauptwohnsitz im Bundesgebiet haben.
Aufgabe
Prüfen Sie die Erfolgsaussichten der Anträge der O-Fraktion
und der Landesregierung von B!
Bearbeitervermerk
Gehen Sie auf alle verfassungsrechtlichen Fragen ein.
Falllösung
Die Anträge der O-Fraktion sowie der Landesregierung von
B vor dem Bundesverfassungsgericht auf Normenkontrolle
des EU-RefG versprechen Aussicht auf Erfolg, wenn sie
zulässig und begründet sind.
A. Zulässigkeit
Die Anträge müssen die Zulässigkeitsvoraussetzungen der
abstrakten Normenkontrolle erfüllen.
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ZJS 1/2017
74
Hausarbeit: „Deutschland zuerst“
ÖFFENTLICHES RECHT
I. Antragsberechtigung
Antragsberechtigt sind gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 76
Abs. 1 BVerfGG die Bundesregierung, eine Landesregierung
sowie ein Viertel der Mitglieder des Bundestages. Die Landesregierung von B ist somit antragsberechtigt.
Fraktionen des Bundestages fallen nach dem Wortlaut
von Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 76 Abs. 1 BVerfGG jedoch
nicht in den Kreis der Antragsberechtigten. Die Regelung ist
auch nicht analogiefähig1 und auf Fraktionen übertragbar.
Das Grundgesetz hat sich vielmehr dafür entschieden, Rechte
der parlamentarischen Minderheit vom Erreichen von Quoren
abhängig zu machen und sie nicht von distinkten oppositionellen Akteuren wie Fraktionen wahrnehmen zu lassen.2
Selbst wenn man davon ausginge, dass die O-Fraktion
den Antrag stellvertretend für alle ihre Mitglieder eingereicht
hätte, erreichten die 145 Abgeordneten das Viertel-Quorum
von Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 76 Abs. 1 BVerfGG nicht.
Bei der Berechnung, ob das Quorum erreicht ist, ist von der
gesetzlichen Mitgliederzahl gem. Art. 121 GG zum Zeitpunkt
der Antragstellung auszugehen, d.h. der Sollbestand des
Bundestages von 598 Mitgliedern nebst möglichen Überhang- und Ausgleichsmandaten (§ 1 Abs. 1 BWahlG).3 Bei
einer Größe von 630 Mitgliedern müssten sich mindestens
158 Antragsteller versammeln, um antragsberechtigt zu sein.
Das Quorum ist wegen der eindeutigen Entscheidung des
Verfassungsgesetzgebers für die Höhe der Quoren auch nicht
im Wege teleologischer Reduktion für Legislaturperioden
abzusenken, in denen „erdrückende“ Regierungskoalitionsfraktionen ein starkes Gewicht gegenüber Oppositionsfraktionen einnehmen.4 Die „Auslegungs-Nothilfe“ käme in diesem Fall schon deswegen nicht in Betracht, weil die parlamentarische Minderheit zahlenmäßig durchaus in der Lage
wäre, ein Viertel der Abgeordneten für einen Normenkontrollantrag zu stellen.
Die O-Fraktion ist somit nicht antragsberechtigt.
rechtsnormen; das Gesetzeswerk ist im Zeitpunkt der Antragstellung auch bereits verkündet gewesen.
II. Antragsgegenstand
Der Normenkontrolle ist ein tauglicher Antragsgegenstand zu
unterwerfen. Dazu gehören vor- wie nachkonstitutionelle
Normen des Bundes- oder Landesrechts (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2
GG, § 76 Abs. 1 BVerfGG).5 Die zu prüfende Norm muss
grundsätzlich bereits existent sein, wobei der Zeitpunkt der
Verkündung maßgeblich ist6. Bei den Bestimmungen des
EU-RefG handelt es sich um nachkonstitutionelle Bundes-
IV. Form und Frist
Das Normenkontrollverfahren kennt kein Fristerfordernis.14
Von der Erfüllung der Formvorschriften, wie z.B. dem
schriftlichen Antrag nach § 23 Abs. 1 S. 1 BVerfGG, ist laut
Sachverhalt auszugehen.
1
BVerfGE 21, 52 (53 f.), in Bezug auf eine Partei.
BVerfG, Urt. v. 3.5.2016 – 2 BvE 4/14, Rn. 93; siehe auch
Wieland, in: Dreier, Grundgesetz, 2. Aufl. 2008, Art. 93
Rn. 57; Morgenthaler, in: Epping/Hillgruber, Beck’scher
Online-Kommentar, Grundgesetz, Stand: 1.6.2016, Art. 93
Rn. 30.
3
Rozek, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Kommentar zum BVerfGG, Stand: Juli 2012, § 76 Rn. 11;
Morgenthaler (Fn. 2), Art. 93 Rn. 30.1.
4
BVerfG, Urt. v. 3.5.2016 – 2 BvE 4/14, Rn. 107 ff.
5
BVerfGE 2, 307 (312); 103, 111 (124); Detterbeck, in:
Sachs, Kommentar zum GG, 7. Aufl. 2014, Art. 93 Rn. 55.
6
Rozek (Fn. 3), Art. 76 Rn. 15 f.
III. Antragsgrund
Für die Zulässigkeit des Verfahrens bedarf es eines Klarstellungsinteresses. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG spricht hierzu von
Meinungsverschiedenheiten oder Zweifeln über die Verfassungskonformität, § 76 Abs. 1 BVerfGG demgegenüber von
der Überzeugung von der Nichtigkeit der angegriffenen
Normen („für nichtig hält“). Das Bundesverfassungsgericht
hat in diesem Zusammenhang klargestellt, dass ein objektives, nicht nur theoretisches7 Interesse an einer verfassungsgerichtlichen Klarstellung bestehen muss.8 Das bedeutet, dass
Zweifel an der Verfassungskonformität der angefochtenen
Normen zwar vorliegen müssen, aber nicht zwingend in der
Person des Antragstellers.9 Auch ein subjektives Rechtsschutzinteresse ist trotz des Wortlautes von § 76 Abs. 1
BVerfGG nicht erforderlich.10 § 76 Abs. 1 BVerfGG konkretisiert nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lediglich das in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG bestimmte
objektive Interesse.11 Zweifel an der Gültigkeit der angegriffenen Normen bei den Antragstellern indizieren das Klarstellungsinteresse.12
Selbst wenn man – trotz oder unabhängig des Vorrangs
der Verfassungsnorm in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG – vom Erfordernis eines subjektiven Klarstellungsinteresse nach § 76
Abs. 1 BVerfGG ausginge,13 würden die Antragsteller diese
Voraussetzung erfüllen, da sie ausgehend von ihren vorgetragenen Argumenten von der Verfassungswidrigkeit des EURefG überzeugt sind. Dass rechtliche Interessen des Bundeslandes womöglich nur mittelbar berührt sein könnten, spielt
wegen des objektiven Charakters des Normenkontrollverfahrens keine Rolle. Zudem bestehen objektiv Meinungsverschiedenheiten über das EU-RefG, was an der Debatte im
Bundestag anlässlich seiner Verabschiedung deutlich wird.
V. Zwischenergebnis
Der Antrag der Landesregierung von B ist zulässig, der Antrag der O-Fraktion hingegen unzulässig.
2
7
BVerfGE 12, 205 (221).
BVerfGE 6, 104 (110); 106, 244 (250); 113, 167 (193).
9
Detterbeck (Fn. 5), Art. 93 Rn. 58.
10
BVerfGE 103, 111 (124); 1, 208 (219 f.).
11
BVerfGE 96, 133 (137).
12
BVerfGE 103, 111 (124).
13
Dann setzte sich gleichwohl das objektive Erfordernis
wegen des Vorrangs der Verfassung durch, vgl. Detterbeck
(Fn. 5), Art. 93 Rn. 58; Wieland (Fn. 2), Rn. 59.
14
BVerfGE 7, 305 (310); 38, 258 (268).
8
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75
ÜBUNGSFÄLLE
Stefan Martini
B. Begründetheit
Der zulässige Antrag der Landesregierung von B ist begründet, wenn das EU-RefG in formeller (I.) und materieller (II.)
Hinsicht nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
Aufgrund der objektiven Natur der abstrakten Normenkontrolle15 ist das Bundesverfassungsgericht nicht an die
Rügen der Antragsteller gebunden, sondern prüft die Gültigkeit der angegriffenen Normen unter allen in Betracht kommenden verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten16. Nahe liegt
hier jedoch mangels weiterer Kenntnis des Wortlauts des EURefG die weitgehende Begrenzung auf die geltend gemachten
verfassungsrechtlichen Mängel des EU-RefG.
I. Formelle Verfassungsmäßigkeit
Das EU-RefG muss formell verfassungsgemäß sein. Dazu
sind Zuständigkeit (1.), Verfahren (2.) und Form (3.) zu prüfen.
1. Bundeszuständigkeit
Dem Bund muss die Gesetzgebungskompetenz für das EURefG zustehen.17 Als Grundsatz gilt gem. Art. 70 Abs. 1 GG,
dass den Ländern die Verbandszuständigkeit zukommt, sofern nicht das Grundgesetz dem Bund eine Gesetzgebungskompetenz verleiht. Allerdings weist das Grundgesetz dem
Bund weder für Instrumente der direkten Demokratie noch
für den Austritt aus der Union eine ausdrückliche Kompetenz
zu.
Eine Zuständigkeit des Bundes kann sich allerdings aus
Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG ergeben. Danach kann der Bund Hoheitsrechte an die Europäische Union übertragen. Der Austritt
aus der Europäischen Union stellt hierzu den actus contrarius
dar.18 Die Befragung vor der parlamentsgesetzlichen Entscheidung über den Austritt bildet zur Bundeszuständigkeit
jedenfalls eine Annexkompetenz19. Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG ist
für den Bereich der Unionsverfassungspolitik – also Grundfragen der Integration inklusive ihres Stopps – jedenfalls als
lex specialis zu Art. 73 Abs. 1 Nr. 1 GG20, dem Kompetenztitel für auswärtige Angelegenheiten, anzusehen.
Denkbar erscheint es ferner, eine Zuständigkeit des Bundes kraft Natur der Sache zur Regelung von Modalitäten
einer Abstimmung im Sinne von Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG
anzunehmen.21 Die Kompetenz zur Regelung eines unverbindlichen Referendums würde dieser Zuständigkeit folgen.
15
BVerfGE 103, 111 (124 m.w.N.).
16
BVerfGE 93, 37 (65).
17
Siehe BVerfGE 8, 104 (116 ff.).
18
Siehe Thiele, EuR 2016, 281 (293); Calliess, in: Calliess/
Ruffert, Kommentar zum EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 50
EUV Rn. 4, der dafür – unbeschadet der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit des EU-Austritts – ein Gesetz nach Art. 23
Abs. 1 S. 3 GG fordert.
19
Vgl. BVerfGE 8, 104 (119).
20
Vgl. Wollenschläger, in: Dreier, Kommentar zum GG,
3. Aufl. 2015, Art. 23 Rn. 32.
21
So Meyer, JZ 2012, 538 (542) für die Einführung von Abstimmungen.
Gleichwohl bedarf die Abstimmung im Einzelfall einer spezifisch sachlichen Zuständigkeit des Bundesgesetzgebers,22
wofür wiederum auf Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG zurückzugreifen
ist.
Die Gesetzgebungskompetenz folgt demnach aus Art. 23
Abs. 1 S. 2 GG.
2. Verfassungsgemäßes Verfahren
Das EU-RefG muss in einem ordnungsgemäßen Verfahren
zustande gekommen sein.
Das EU-RefG ist mit Zweidrittel-Mehrheit sowohl im
Bundestag als auch im Bundesrat beschlossen worden, sodass
alle erdenklichen Quoren eingehalten wurden. Auch die Zustimmung des Bundesrates ist erfolgt, sodass selbst einer
eventuellen aus Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V.m. Art. 79 Abs. 2 GG
folgenden Zustimmungsbedürftigkeit des Gesetzes Genüge
getan wäre.23 Sonstige Abstimmungsfehler sind nicht ersichtlich.
Mangels erkennbarer Verfahrensfehler ist das Verfahren
verfassungsgemäß.
3. Verfassungsmäßige Form
Das EU-RefG genügt auch sonstigen formellen Anforderungen des Verfassungsrechts. Es ist ordnungsgemäß verkündet
und ausgefertigt (Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG).
II. Materielle Verfassungsmäßigkeit
Das EU-RefG müsste auch materiell verfassungsgemäß sein.
Dazu ist zunächst zu prüfen, ob das Grundgesetz dem Erlass
des EU-RefG als einer direktdemokratischen Regelung prinzipiell entgegensteht (1.), und in einem zweiten Schritt, inwiefern die Ausgestaltung mit gleichheitsrechtlichen Prinzipien des Grundgesetzes übereinstimmt (2.).
1. Grundsätzliche Zulässigkeit des EU-RefG nach dem
Grundgesetz
Die Einführung eines konsultativen Referendums – zum
Austritt der Bundesrepublik Deutschland aus der Europäischen Union – müsste verfassungsrechtlich zulässig sein.
Eindeutig wäre die Zulässigkeit zu bejahen, wenn das Grundgesetz eine solche Möglichkeit ausdrücklich bestimmen würde. An einer definitiven Gestattung im Text des Grundgesetzes mangelt es jedoch.
a) Generelles Verbot konsultativer Referenden nach geltendem Verfassungsrecht?
Die dürre Formulierung in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG, dass das
Volk die Staatsgewalt (u.a.) in Wahlen und Abstimmungen
ausübt, gleichfalls spärliche Aussagen des Bundesverfassungsgerichts und die hochpolitische Bedeutung des Themas
22
Ebenso wiederum Meyer, JZ 2012, 538 (542).
Um materiell-rechtliche Inzidentprüfungen zu vermeiden,
sollte die Frage, ob die Regeln der Verfassungsänderung
(Art. 79 GG) oder die des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens (Art. 77 GG) Anwendung finden, in der Begründetheit
abgehandelt werden.
23
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ZJS 1/2017
76
Hausarbeit: „Deutschland zuerst“
haben eine intensive staatsrechtliche Diskussion um die Einführung direktdemokratischer Instrumente auf Bundesebene
ausgelöst. Hier ist vieles, Prinzipielles, aber auch im Detail,
sowie überhaupt die Grenze zwischen Verfassungsrecht und
Verfassungsrechtspolitik umstritten. Unterschieden werden
muss jedenfalls zwischen unterschiedlichen Instrumenten
direkter Demokratie: Während Volksbegehren (bzw. -initiativen) und Volksentscheide zu rechtlich verbindlichen Entscheidungen führen (die Rechtsfolgen sind im Einzelnen aber
nicht determiniert), stellen von staatlichen Stellen veranstaltete Volksbefragungen bzw. konsultative Referenden grundsätzlich unverbindliche Erhebungen des Volkswillen dar.24
Zunächst ist danach zu fragen, ob konsultative Referenden, die in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG nicht genannt sind, deswegen vom Grundgesetz verboten sind. Ausdrücklich untersagt
das Grundgesetz allerdings Volksbefragungen nicht. Anhaltspunkte für eine Antwort bieten lediglich die Staatsstrukturprinzipien des Grundgesetzes in Art. 20 GG, v.a. das Demokratieprinzip und die Volksouveränität, und insbesondere
die Aussage in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG, nach der das Volk die
Staatsgewalt – neben der Repräsentation in den drei Gewalten – durch Wahlen und Abstimmungen ausübt. Versteht man
konsultative Referenden als direktdemokratisches Minus zu
rechtsverbindlichen Volksentscheiden,25 gleich welche
Rechtsfolgen sie nach sich ziehen, ist die Frage des grundgesetzlichen Verbots mit der verfassungsrechtlichen Bewertung
von „Abstimmungen“ zu beantworten.26 Der Wortlaut des
Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG lässt sich – isoliert und auf Basis der
Wortlautauslegung – jedenfalls so verstehen, dass direktdemokratische Elemente auf Bundesebene nicht von vornherein
ausgeschlossen sind.27 Die Erwähnung von „Abstimmungen“
wäre ansonsten sinnlos.
Die repräsentative Ausübung von Staatsgewalt durch das
Volk ist gleichwohl z.B. in Art. 38, 76 ff. GG durch Prinzipien und Handlungsformen konkreter ausgestaltet. Die daraus
abgeleitete prinzipielle „Zweitrangigkeit der Abstimmungen“28 kann – in systematischer Auslegung – Rückhalt darin
finden, dass direktdemokratische Instrumente im Grundgesetz nur sporadisch geregelt (Art. 29, 118, 118a GG) und im
Übrigen nicht für das gesamte Bundesgebiet vorgesehen
sind.29 Aber selbst wenn man – wiederum mit Unterstützung
des Wortlauts und des Sinns der Vorschrift – der Auffassung
ist, dass Abstimmungen im verfassungsrechtlichen Wertesys-
24
Siehe M. Martini, DÖV 2015, 981 (982 f.).
Vgl. M. Martini, DÖV 2015, 981 (983): „kleine Schwester
des Bürger-/Volksentscheids“. Anders Bayerischer Verfassungsgerichtshof (BayVerfGH), Entsch. v. 21.11.2016 –
Vf. 8 und 15-VIII-14, Rn. 101.
26
Dreier, in: Dreier (Fn. 20), Art. 20 (Demokratie) Rn. 99;
anders Krause, in: HbStR, III, 3. Aufl. 2005, § 35 Rn. 24.
27
Dreier (Fn. 26), Art. 20 Rn. 105.
28
Krause (Fn. 26), Art. 35 Rn. 24.
29
Sachs, in: Sachs (Fn. 5), Art. 20 Rn. 32 m.w.N.; Huster/
Rux, in: Epping/Hillgruber (Fn. 2), Art. 20 Rn. 82; anders
Stein, in: Alternativ-Kommentar Grundgesetz, 3. Aufl. 2001,
Art. 20 Abs. 1-3 III Rn. 51.
25
ÖFFENTLICHES RECHT
tem nicht prinzipiell hinter Wahlen zurückstehen,30 lässt sich
aus der abstrakten Rangbestimmung kein Argument für oder
wider die Grundgesetzwidrigkeit konsultativer Referenden
gewinnen.
Eine vereinzelte Auffassung, nach der konsultative Referenden an sich gegen die Grundsätze der Volkssouveränität
und des Rechtsstaates, mithin gegen Art. 20 GG verstoßen,
beruft sich darauf, dass selbst bei einem rechtlich unverbindlichen Referendum das Volk an der Staatswillensbildung
teilnimmt31 und in Konkurrenz zu dem eigentlich berufenen
Organ der Gesetzgebung tritt32; gleichlaufend wird ein Verstoß gegen Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG bejaht, da die Abgeordneten durch die Entscheidung des Volkes unzulässig instruiert
werden, mithin nicht frei in ihrer Entscheidung sind33.
Diese Unzulässigkeit kraft nicht legitimierter Bindungswirkung konsultativer Referenden ist unabhängig von der
Einordnung in die Terminologie von Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG
nicht überzeugend. Deren zumindest faktische Bindungswirkung unterstellt,34 spricht – als strenggenommen nicht für
sich geltendes Autoritätsargument – schon die bisherige
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mittelbar für
eine Zulässigkeit von Volksbefragungen, da das Bundesverfassungsgericht die Zulässigkeit der im Jahr 1958 geprüften
Befragungen lediglich an der fehlenden Verbandszuständigkeit scheitern ließ.35 Verfassungsrechtlich wesentlich ist jedoch: Weder die gesetzgebenden Organe – wegen Art. 23
Abs. 1 S. 3 GG Bundestag und Bundesrat – noch der einzelne
Abgeordnete können durch ein konsultatives Referendum im
verfassungsrechtlichen Sinne gebunden werden.36 Ein Verstoß gegen die Volkssouveränität ist – selbst wenn es um
Art. 23 GG geht37 – abzulehnen.38 Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V.m.
Art. 79 Abs. 2 und Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG garantieren mangels entgegenstehender Bestimmungen im Grundgesetz, die
ein direktdemokratisches Verfahren regeln, die Unabhängig-
30
Z.B. Dreier (Fn. 26), Art. 20 Rn. 99; Pestalozza, NJW
1981, 733 (734); siehe auch Engelken, DÖV 2013, 301 (303).
31
So in diesem Punkt auch BVerfGE 8, 104 (118).
32
Krause (Fn. 26), § 35 Rn. 23.
33
Krause (Fn. 26), § 35 Rn. 26. Dieser Gedankengang setzt
freilich voraus, dass konsultative Referenden nicht Abstimmungen sind, Krause (Fn. 26), § 35 Rn. 24; so auch für die
bayerische Verfassung BayVerfGH, Entsch. v. 21.11.2016 –
Vf. 8 und 15-VIII-14, Rn. 101; siehe dagegen Neumann,
Sachunmittelbare Demokratie, 2008, S. 180.
34
So BayVerfGH, Entsch. v. 21.11.2016 – Vf. 8 und 15-VIII14, Rn. 105 ff. (allerdings wohl ohne im engeren Sinne entscheidungserheblich zu sein).
35
BVerfGE 8, 104; 8, 122.
36
Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum GG, Stand:
Januar 2010, Art. 20 Rn. 114,. In Bezug auf Abgeordnete
Hufschlag, Einfügung plebiszitärer Komponenten in das
Grundgesetz?, 1999, S. 80 ff.
37
Hölscheidt/Menzenbach, DÖV 2009, 777 (779 f.).
38
So auch Hölscheidt/Menzenbach, DÖV 2009, 777 (779 f.)
– zur Ratifikation europäischen Vertragsrechts.
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77
ÜBUNGSFÄLLE
Stefan Martini
keit der jeweiligen Entscheidung.39 Ein allein faktischer Entscheidungsdruck gehört zur verfassungsrechtlichen Normalität bzw. zur Verfassungswirklichkeit – er kann keinen Verstoß gegen das freie Mandat bewirken.40
Diese vom Einzelfall eines konkreten Referendums abstrahierende verfassungsrechtliche Position wird auch nicht
durch die Zusage des K ausgehebelt, sich an das Volksvotum
zu halten. Die verfassungsrechtliche Wirkkraft einer solchen
Zusage ist begrenzt. Die Richtlinienkompetenz aus Art. 65
S. 1 GG ist auf die Beziehung zwischen Bundeskanzler und
Bundesminister begrenzt.41 Der Bundestag ist nicht Adressat
von Vorgaben durch den Bundeskanzler; über eingebrachte
Gesetzes- bzw. Beschlussentwürfe entscheiden das Parlament
bzw. die Abgeordneten frei. Zwar gilt es in die verfassungsrechtliche Bewertung einzubeziehen, dass der Bundeskanzler
in der Regel auf eine parlamentarische Mehrheit, die die
Regierung stützt, vertrauen kann und eine Vorgabe des Bundeskanzlers durch faktische Zwänge – z.B. die Fraktionsdisziplin – die Entscheidung des Bundestages (bzw. im Falle
von Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG auch des Bundesrates) faktisch zu
präjudizieren vermag. Für die verfassungsrechtliche Bewertung ist dieser faktische Zwang, was die Zulässigkeit der
Volksbefragung angeht, jedoch letztlich irrelevant. Außerdem
zeigen die „Abweichler“ bei der Abstimmung über das EURefG, dass die Abgeordneten des Bundestages durchaus eine
freie Entscheidung treffen können.
Die Regelung der Hoheitsrechtsübertragung gem. Art. 23
Abs. 1 S. 3 GG als Verfassungsänderung schließt im Umkehrschluss keine Abstimmungen bzw. Volksbefragungen
prinzipiell aus. Dies veranschaulicht eine parallele Überlegung zu Verfassungsänderungen gem. Art. 79 GG. Auch
Gegenstände dieses Verfahrens können prinzipiell zum Thema einer Abstimmung gem. Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG gemacht
werden.
Mithin steht das Grundgesetz nicht per se einem konsultativen Referendum entgegen.
b) Beschluss durch Gesetzesform ausreichend?
Es ist ferner zu prüfen, ob der Beschluss des EU-RefG in
Gesetzesform zulässig war oder nicht vielmehr eine Verfassungsänderung nach Art. 79 GG erforderlich gewesen wäre.
aa) Verfassungsvorbehalt für rechtlich verbindliche Volksgesetzgebung
Die Einführung rechtlich verbindlicher Volksgesetzgebung
bedarf nämlich nach überwiegender Auffassung einer Verfassungsänderung.42 Dies gelte auch für europaverfassungsrecht39
Siehe Dreier (Fn. 26), Art. 20 Rn. 107, jedenfalls für das
freie Mandat.
40
Hölscheidt/Menzenbach, DÖV 2009, 777 (780), obgleich
„wegen der integrationspolitischen Bedeutung“ eine verfassungsrechtliche Ausgestaltung eines integrationspolitischen
Referendums als Minderheitenrecht anregend.
41
Siehe Hermes, in: Dreier (Fn. 20), Art. 65 Rn. 25.
42
Dreier (Fn. 26), Art. 20 Rn. 106; Grzeszick (Fn. 36),
Art. 20 Rn. 113; Huster/Rux (Fn. 29), Art. 20 Rn. 82; Krause
(Fn. 26), § 35 Rn. 26; Kühling, JuS 2009, 777 (778);
liche Abstimmungsthemen; derzeit steht dem nämlich der
Verfassungswortlaut in Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG entgegen.43
Für den Verfassungsvorbehalt streitet in einem allgemeinen
Sinne parallel, dass das Gesetzgebungsverfahren in Art. 77
GG einer Ergänzung bedürfte.44
bb) Entscheidungserheblicher Streit um den Verfassungsvorbehalt für Volksbefragungen
Das EU-RefG ermächtigt jedoch lediglich zur Durchführung
eines rechtlich unverbindlichen Referendums. Für diese Kategorie der direkten Demokratie ist es umstritten, ob eine
Verfassungsänderung erforderlich ist.
Eine Streitentscheidung erübrigte sich freilich, wenn
durch das EU-RefG die Volksgesetzgebung gem. Art. 79 GG
in den Verfassungsbestand der Bundesrepublik Deutschland
aufgenommen worden ist. Die gem. Art. 79 Abs. 2 GG erforderliche Zweidrittelmehrheit ist sowohl im Bundestag mit
420 von 630 Stimmen als auch im Bundesrat mit 49 von 69
Stimmen jedenfalls erreicht. Allerdings muss ein verfassungsänderndes Gesetz das Grundgesetz ausdrücklich ändern
oder ergänzen (Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG). Dies ist durch das
EU-RefG gerade nicht geschehen. Vielmehr wurde eine einmalige Volksbefragung in Form eines einfachen Gesetzes
beschlossen. Eine Grundgesetzänderung würde höchstens
implizit durch das Gesetz erreicht („faktische Verfassungsänderung“), was das Grundgesetz in Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG
jedoch verbietet. Eine Streitentscheidung ist somit nicht obsolet, da das Grundgesetz nicht geändert worden ist.
cc) Auffassung 1: Gesetzesbeschluss für Volksbefragungen
ausreichend
Die Einführung von Volksbefragungen durch Gesetz wird für
zulässig45 und auch für notwendig46 gehalten. Nach vereinzelter Auffassung wäre eine Volksbefragung selbst ohne Gesetzesbeschluss möglich, da die Entscheidungshoheit des Bundestages nicht beeinträchtigt werde.47 Jedenfalls ist hiernach
eine Verfassungsänderung nicht erforderlich. Das EU-RefG
genügt nach dieser Auffassung dem häufig vertretenen Gesetzesvorbehalt.
Grosche, JuS 2016, 239 (241, Falllösung). A.A. z.B. Meyer,
JZ 2012, 538 (542).
43
Hölscheidt/Menzenbach, DÖV 2009, 777 (779).
44
Grzeszick (Fn. 36), Art. 20 Rn. 113; Sommermann, in:
v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum GG, 6. Aufl.
2010, Art. 20 Rn. 162.
45
Siehe nur Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Kommentar zum GG,
14. Aufl. 2016, Art. 20 Rn. 9; Hofmann, in: Hofmann, Verfassungsrechtliche Perspektiven, 1995, S. 146 (159).
46
Robbers, in: Bonner Kommentar zum GG, Stand: Januar
2014, Art. 20 Rn. 3079; Ebsen, AöR 110 (1985), 2 (21 ff.).
47
Pestalozza, NJW 1981, 733 (735).
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ZJS 1/2017
78
Hausarbeit: „Deutschland zuerst“
dd) Auffassung 2: Verfassungsvorbehalt für Volksbefragungen
Demgegenüber wird ebenfalls zahlreich vertreten,48 dass der
amtliche Charakter einer Volksbefragung die Entscheidungsfreiheit des Bundestages erheblich einschränke und jedenfalls
zu einer politisch relevanten Strukturverschiebung führe.49
Wie beim faktischen Grundrechtseingriff sei auch der politische Druck ausreichend, um das befragte Volk zur Staatsgewalt zu formen.50 Folgt man dieser Auffassung, ist eine Verfassungsänderung erforderlich.51
ee) Beschluss einer Volksbefragung durch Gesetz letztlich
verfassungskonform
Gegen diese Auffassung lässt sich aber anführen, dass – anders als bei verbindlicher Volksgesetzgebung – keine zusätzlichen Gesetzgebungsverfahren einzuführen wären.52 Mit
Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG existiert bereits eines, das dem Zweck
nach unabhängig von vorgängigen (unverbindlichen) Prozeduren – wie z.B. einem konsultativen Referendum – existiert.
Zudem wiederholt die Auffassung vom Verfassungsvorbehalt
die Vermutung des rechtlich relevanten, politischen Drucks
auf die Legislative. Diese ist jedoch verfassungsrechtlich frei
und kann in ihrer Entscheidung nicht nur das Volksvotum,
sondern für ihre Willensbildung auch andere Erwägungen,
z.B. solche der auswärtigen Politik sowie überholende tatsächliche Entwicklungen berücksichtigen.
Eine Verfassungsänderung solle indes dann erforderlich
werden, wenn „durch vorherige normative ‚Unterwerfung‘
der Abgeordneten“ der parlamentarische Abschluss vom
Ausgang des Votums abhängig gemacht werde.53 Eine solche
normative Unterwerfung kann nicht in der Zusage des K
gesehen werden, sich an das Volksvotum zu halten. Allenfalls ein vorgehender Beschluss von Bundestag und Bundesrat könnte eine solche Bindungswirkung auslösen, der freilich
wiederum unter dem Vorbehalt einer späteren – parlamentarisch freien – Entscheidung stünde.
48
Nach Möstl (BayVBl. 2015, 217 [220]), sogar die überwiegende Meinung; einschränkend freilich Dreier (Fn. 26),
Art. 20 Rn. 107 („wohl noch überwiegende[…] Auffassung“). Rein quantitativ lässt sich eine eindeutige Stimmenverteilung nicht ausmachen (siehe z.B. M. Martini, DÖV
2015, 981 [983] zur hiesigen Auffassung: „häufig vertretene[…] Auffassung“; sowie die Aufführungen in Neumann
[Fn. 33], S. 181 Fn. 190).
49
Sommermann (Fn. 44), Art. 20 Rn. 162.
50
Volkmann, in: Berliner Kommentar zum Grundgesetz,
Stand: 2001, Art. 20 (4. Teil), Rn. 59; siehe auch Kämmerer/
Ernst/Winter, ZG 2015, 349 (352): „faktische Alterierung des
verfassungsrechtlichen Willensbildungsprozesses“.
51
Siehe nur M. Martini, DÖV 2015, 981 (983).
52
Vgl. Pieroth (Fn. 45), Art. 20 Rn. 9. Anders wohl
M. Martini, DÖV 2015, 981 (983), der die „prozedurale[…]
und institutionelle[…] Formenbindung der Gesetzgebung“
betont.
53
Dreier (Fn. 26), Art. 20 Rn. 108; a.A. Hofmann (Fn. 45),
S. 159 f.
ÖFFENTLICHES RECHT
Eine Verfassungsänderung ist demnach nicht erforderlich,
ein Verfassungsvorbehalt nicht überzeugend. Der Beschluss
des EU-RefG in Gesetzesform ist verfassungskonform.
c) Materielle Unzulässigkeit wegen des Staatsziels Europa?
Das EU-RefG könnte allerdings verfassungswidrig sein,
wenn es gegen das Staatsziel der Beteiligung an der Europäischen Union gem. Art. 23 Abs. 1 GG verstößt. Dies könnte
daraus folgen, dass in der Literatur aus Art. 23 Abs. 1 S. 1
GG hohe Hürden für die Ausübung des Austrittsrechts aus
der Europäischen Union abgeleitet werden und das EU-RefG
die (tatsächliche) Möglichkeit des Austritts gesetzlich bestimmt.
Ein verfassungsrechtliches Staatsziel ist in der Regel nur
hinsichtlich seines Ziels verbindlich, lässt den Verfassungsorganen aber Spielraum bei der Wahl der Mittel zur Erreichung des Ziels.54 Allerdings kommt es hinsichtlich des
Grads der Verbindlichkeit auf das konkrete Staatsziel an und
können für Kernelemente eines weichen Staatsziels konkretere Rechtspflichten begründet sein.55 Aus dem konkreten Auftrag in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG, an der Europäischen Union
mitzuwirken,56 wird in Übereinstimmung mit dieser Staatszieldogmatik spiegelbildlich zumindest für den konkreten
Sonderfall des Austritts aus der Europäischen Union gefordert, dass die Europäischen Union die Voraussetzungen von
Art. 23 Abs. 1 GG verfehlt57 oder übereinstimmend politisch
gescheitert ist.58 Jedenfalls stelle ein grundloser Austritt einen
Verstoß gegen Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG dar.59 Dass ein Austritt
EU-weit konsentiert ist oder dass die EU die Staatsstrukturprinzipien in Art. 23 Abs. 1 GG verletzt, geht aber aus dem
Sachverhalt nicht hervor. Soweit demnach ein Austritt aus
der Europäischen Union mangels hinreichender Begründung
unzulässig wäre, ist fraglich, ob ein Austrittsverbot auf das
EU-RefG durchschlägt. Anders gefragt, kann ein verfassungswidriges Handeln eine zulässige Option eines Referendums sein?
Zwar bereitet das EU-RefG den Boden für einen Austrittsbeschluss gem. Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG; auch setzt es die
Möglichkeit eines Austrittsbeschlusses voraus. Eine notwendige Durchgangsstufe für den Austrittsbeschluss stellt es
verfassungsrechtlich indes nicht dar. Wie schon dargestellt,
ist es lediglich rechtliche Grundlage für eine rechtlich unverbindliche Volksbefragung, die gerade nicht den Austritt aus
der EU selbst regelt. Faktische Volksbefragung und rechtsverbindlicher Austrittsbeschluss sind rechtlich zu trennen.
Selbst wenn man Volksbefragung und Austrittsbeschluss
rechtlich verknüpft sieht, ist jedenfalls eine gewisse Ein54
Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen,
1997, S. 377.
55
Sommermann (Fn. 54), S. 378.
56
Wollenschläger (Fn. 20), Art. 23 Rn. 37; Classen, in:
v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 44), Art. 23 Rn. 7.
57
Hillgruber, in: Schmidt-Bleibtreu u.a., Kommentar zum
GG, 13. Aufl. 2014, Art. 23 Rn. 7.
58
Classen (Fn. 56), Art. 23 Rn. 7.
59
Calliess (Fn. 18), Art. 50 Rn. 4, der als Grund eine Vertiefung der Integration anführt (dann wohl außerhalb der EU).
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79
ÜBUNGSFÄLLE
Stefan Martini
schätzungsprärogative der Gesetzgebungs- bzw. Verfassungsänderungsorgane in Rechnung zu stellen. Hier ist auf die
Aussage des K zu rekurrieren, der die Europäische Union als
Elitenprojekt ablehnt, was als Stellungnahme zur demokratischen Mangelhaftigkeit der EU mit dem in Art. 23 Abs. 1
S. 1 GG erwähnten Demokratieprinzip jedenfalls in Verbindung steht. In einem solchen Spielraum verkörpert sich auch
die weichere rechtliche Verbindlichkeit des Staatsziels Europa. Verfassungsrechtlich vertretbar erscheint es daher, davon
auszugehen, dass die Grenzen des Austrittseinschätzungsspielraums nicht überschritten sind.
Das EU-RefG ist somit materiell nicht verfassungswidrig.
2. Möglicher Gleichheitsverstoß der Ausgestaltung des Referendums
Unabhängig davon, ob man die Verfassungswidrigkeit des
konsultativen Referendums über den EU-Austritt bejaht oder
nicht, könnte § 2 Abs. 2 EU-RefG (i.V.m. § 2 Abs. 3 EURefG) durch Ausschluss von sog. Auslandsdeutschen von der
Abstimmung verfassungswidrig sein, indem die Norm gegen
Gleichheitspostulate des Grundgesetzes verstößt.
a) Abgrenzung bzw. Konkurrenz von Art. 38 Abs. 1 GG und
Art. 3 Abs. 1 GG
Dabei sind die in Betracht kommenden Maßstäbe von Art. 38
Abs. 1 S. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG, die in einem Spezialitätsverhältnis zueinander stehen,60 voneinander abzugrenzen.
Dem Wortlaut nach gelten die Wahlrechtsgrundsätze von
Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG nur für die Wahl zum Deutschen
Bundestag. Als Rechtsprinzipien, die im Demokratieprinzip
wurzeln,61 sind sie nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts allerdings auch auf andere staatliche Wahlen
in den Ländern und Kommunen sowie auf andere Wahlen
anzuwenden.62 Danach wäre eine unmittelbare Anwendung
von Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG auf das EU-RefG ausgeschlossen,
da das EU-RefG keine Wahl ist. Andererseits sollen, so eine
Auffassung, die Wahlrechtsgrundsätze auch auf Abstimmungen im Sinne von Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG angewendet werden.63 Als direktdemokratisches Minus käme dann die jedenfalls entsprechende Anwendung auch auf Volksbefragungen
– wie hier im Falle des EU-RefG – in Betracht.
Für eine Prüfung am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG
spricht andererseits, dass die formale Rigidität der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl64 als Grundsatz auch im
Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes berücksichtigt
werden kann.65 So misst das Bundesverfassungsgericht die
Wahlen zum Europäischen Parlament nicht an Art. 38 GG,
sondern an Art. 3 GG.66 Außerdem würde in Rechnung gestellt, dass die Grundsätze, die zur Wahl zum Deutschen
Bundestag gelten, nicht unbesehen auf andere Verfahren
übertragen werden sollten.67 Die nötige Flexibilität und Berücksichtigung der Eigenheiten konsultativer Referenden
erhält Art. 3 Abs. 1 GG. Da somit mehr für eine Anwendung
von Art. 3 Abs. 1 GG spricht, ist das EU-RefG am allgemeinen Gleichheitssatz zu messen.68
b) Allgemeinheit des Referendums
Als Maßstab bildet Art. 3 Abs. 1 GG den Ausgangspunkt mit
dem Grundsatz, dass gleiche Sachverhalte nicht ohne sachliche Rechtfertigung ungleich behandelt werden dürfen69.
aa) Ungleichbehandlung bzw. Einschränkung der Allgemeinheit des Referendums
Als Vergleichsgruppen können hier zum einen die im Rahmen des EU-RefG zur Abstimmung berechtigten Deutschen
bzw. die zur Abstimmung berechtigten Auslandsdeutschen70
(die weniger als 15 Jahre außerhalb Deutschlands leben) und
zum anderen die von der Abstimmung ausgeschlossenen
Auslandsdeutschen, die zum Zeitpunkt des Referendums
mehr als 15 Jahre außerhalb Deutschlands leben, herangezogen werden. Sie werden durch die jeweils erteilte bzw. nicht
erteilte Berechtigung zur Teilnahme am Referendum ungleich behandelt.
Selbst wenn man das Allgemeinheitspostulat aus Art. 38
Abs. 1 S. 1 GG im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG für den
Fall einer Volksbefragung entsprechend anwendet, lässt sich
ein Eingriff bejahen. Nicht alle grds. zum Wahlvolk gehörenden Deutschen dürfen am EU-Referendum teilnehmen. Eine
Referendumsallgemeinheit ist somit nicht gegeben.
bb) Zwingender Einschränkungsgrund
Zu prüfen ist nun, inwiefern die Einschränkung der Referendumsallgemeinheit gerechtfertigt werden kann. Wegen der
sachlichen Parallelität zu einer Wahl bzw. Abstimmung sind
die Prinzipien des Wahlrechtsgrundsatzes der Allgemeinheit
der Wahl auf das konsultative Referendum des EU-RefG
bzw. im Rahmen der Prüfung von Art. 3 Abs. 1 GG zu übertragen.71
65
60
BVerfGE 99, 1 (13).
BVerfGE 134, 25 (30).
62
BVerfGE 47, 253 (276 f.).
63
Sachs (Fn. 29), Art. 20 Rn. 34. Nach einer älteren Rechtsprechung des BVerfG (BVerfGE 13, 54 [91 f.]; 28, 220
[224]) sind die Wahlrechtsgrundsätze rügbar bei Abstimmungen nach Art. 29 GG. Hier kommt es darauf an, ob Abstimmungen nach Art. 29 GG zu den Abstimmungen des
Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG gehören.
64
BVerfGE 129, 300 (319).
61
Siehe auch Osterloh/Nußberger, in: Sachs (Fn. 5), Art. 3
Rn. 63, für Verfahren außerhalb von Art. 38 und 28 Abs. 1
S. 2 GG.
66
BVerfGE 129, 300 (317).
67
BVerfGE 41, 1 (12) zu Richterwahlen.
68
Allerdings ist auch die Anwendung von Art. 38 Abs. 1 S. 1
GG analog (!) vertretbar.
69
Eine Pflicht zur Einräumung aller staatsbürgerlichen Rechte besteht hingegen nicht, BVerfG, NJW 1991, 689 (690).
70
Vgl. etwas anders gelagert BVerfGE 132, 39 (51).
71
BVerfGE 129, 300 (317): „Ausprägung als Gebot formaler
Wahlgleichheit“. Wer die Grundsätze von Art. 38 Abs. 1 GG
nicht auf Art. 3 Abs. 1 GG überträgt, hat in den gewohnten
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ZJS 1/2017
80
Hausarbeit: „Deutschland zuerst“
Danach besteht zwar kein prinzipielles Differenzierungsverbot; allerdings darf der Gesetzgeber wegen des formalen
Charakters des Grundsatzes die Allgemeinheit des Referendums nur aus zwingenden sachlichen Gründen einschränken.72 Dem Gesetzgeber kommt dabei ein gewisser Spielraum zu. So ist es dem Gesetzgeber nicht verwehrt, realitätsgerecht Typisierungen ausgeschlossener wie eingeschlossener Gruppen vorzunehmen.73 Dabei ist freilich wegen der
„Strenge demokratischer Egalität“74 ein strikter verfassungsrechtlicher Maßstab anzulegen, sodass dem Gesetzgeber nur
„ein eng bemessener Spielraum für Beschränkungen“ zur
Verfügung steht.75 Der Rechtfertigungsgrund muss Anhalt in
der Verfassung haben und von gleichem Gewicht wie die
Allgemeinheit der Wahl bzw. des Referendums sein.76 Für
zulässig ist bspw. die Bestimmung eines Wahlalters befunden
worden.77 Hingegen ist ein Ausschluss bestimmter Bevölkerungsgruppen von der Ausübung des Wahlrechts – und dementsprechend von der Teilnahme an einem Referendum – aus
politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Gründen verfassungswidrig.78 Die Ausgestaltung der Wahl bzw. hier des
Referendums ist trotz Eignung dann verfassungswidrig, wenn
sie zur Erreichung eines grds. verfassungsrechtlich legitimen
Ziels nicht geeignet ist oder das Maß des zur Erreichung
dieses Zieles Erforderlichen überschritten hat.79
(1) Legitimer Einschränkungsgrund
Der Eingriff durch das EU-RefG muss sich zunächst auf
einen verfassungsfundierten Einschränkungsgrund stützen
können.
Ob die Tradition des Sesshaftigkeitskriteriums für sich als
Voraussetzung für die Ausübung des (aktiven) Wahlrechts als
sachlicher Grund noch genügt,80 mag mit gutem Grund be-
Strukturen von Art. 3 Abs. 1 GG zu prüfen (d.h. Ungleichbehandlung und verfassungsrechtliche Rechtfertigung). In der
Rechtfertigung sind zunächst verbotene Differenzierungskriterien nach Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG zu prüfen; danach ist zentral die sog. neue Formel des BVerfG anzulegen. In dieser
gleichheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung können
alle Punkte, die im Rahmen von Art. 38 Abs. 1 GG relevant
werden, angesprochen werden. Allerdings sollte von den
Bearbeitern erkannt werden, dass sich die verfassungsrechtliche Bedeutung der demokratischen Prozedur der Volksbefragung in gegenüber dem klassischen Gleichheitsmaßstab
strengeren Anforderungen niederschlagen muss; vgl. auch
BVerfGE 129, 300 (319).
72
BVerfGE 132, 39 (47 f.)
73
BVerfGE 132, 39 (49).
74
BVerfGE 132, 39 (56).
75
BVerfGE 132, 39 (48).
76
BVerfGE 132, 39, (48).
77
BVerfGE 36, 139 (142); 42, 312 (341).
78
BVerfGE 15, 165 (166 f.).
79
Siehe BVerfGE 132, 39 (48).
80
Siehe BVerfGE 36, 139 (141).
ÖFFENTLICHES RECHT
zweifelt werden.81 Dass einem Sesshaftigkeitskriterium „keine grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken“82 entgegenstehen, bedarf daher einer selbständigen sachlichen
Abstützung.
Als Grund für Einschränkungen der Allgemeinheit des
Referendums kommt vor allem die Sicherung der sog. Kommunikationsfunktion (der Wahl bzw.) des Referendums in
Betracht. Danach kann ein Ausschluss vom aktiven Referendumsrecht in Betracht kommen, wenn eine Personengruppe
nicht im hinreichenden Maße am Kommunikationsprozess
zwischen Volk und Staatsorganen teilnehmen kann.83 Damit
eng verknüpft ist die Verbundenheit mit den politischen Verhältnissen als legitimes Ziel einer Wahlrechtsausgestaltung
angesehen worden.84 Es ist nachvollziehbar, dass eine gewisse Mindestaufenthaltsdauer für die Vertrautheit mit deutschen
Verhältnissen erforderlich ist, wobei es sich um eine Voraussetzung für lebendige Demokratie handelt.85 Wegen der
deutschrechtlichen Tradition des ius sanguinis (§ 4 Abs. 1
S. 1 StAG), d.h. der automatischen Verleihung der deutschen
Staatsangehörigkeit ohne Ansehen des Lebensmittelpunktes
der Eltern, ist es nicht selbstverständlich, dass im Ausland
Lebende deutscher Staatsangehörigkeit mit den politischen
Entwicklungen in Deutschland hinreichend vertraut sind.86
Wenn die Bundesregierung somit (1) auf ein ausreichendes Maß an Verbundenheit mit den nationalen Angelegenheiten, (2) auf Unterschiede hinsichtlich der Betroffenheit durch
deutsche Hoheitsakte, (3) das Fehlen einer Korrelation von
Rechten und Pflichten sowie (4) potentielle Interessen- oder
Loyalitätskonflikte87 hinweist, kann sie sich somit auf einen
in der Rechtsprechung des Bundeverfassungsgerichts angelegten sachlichen Rechtfertigungsgrund stützen, der in
Art. 20 Abs. 1 und 2 GG bzw. im Demokratieprinzip des
Grundgesetzes einen Anhalt findet. Alle angeführten konkreten Regelungszwecke weisen eine hinreichende Nähe zur
Sicherung der Kommunikationsfunktion des Referendums
auf. Dieser verfassungsrechtlich fundierte Grund ist der Allgemeinheit des Referendums zumindest gleichwertig. In der
hinreichenden Verbundenheit mit nationalen Angelegenheiten ist im Übrigen keine Differenzierung aus rein politischen
Gründen zu sehen – niemand wird wegen politischer Auffassungen, sondern wegen der unterschiedlich nahen Beziehung
zum deutschen politischen (demokratischen) Prozess unterschiedlich behandelt.
81
Trute, in: v. Münch/Kunig, Kommentar zum GG, 6. Aufl.
2012, Art. 38 Rn. 23. Versteckte Kritik bei BVerfGE 132,
39/60 (70) – abweichende Meinung Lübbe-Wolff.
82
So noch BVerfGE 36, 139 (142).
83
BVerfGE 132, 39 (51).
84
Mittelbar BVerfGE 5, 2 (6); 36, 139, (143). Zweifel an der
Eignung und Verallgemeinerungsfähigkeit bei Trute (Fn. 81),
Art. 38 Rn. 23.
85
BVerfGE 132, 39 (54).
86
BVerfGE 132, 39 (54).
87
Explizit letzteres offengelassen in BVerfGE 132, 39 (52).
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81
ÜBUNGSFÄLLE
Stefan Martini
(2) Eignung
Die Ausgestaltung in § 2 Abs. 2 EU-RefG muss auch geeignet sein, das in Bezug genommene legitime Ziel zu erreichen.
Zunächst ist die Eignung für den Regelungszweck zu untersuchen, dass § 2 Abs. 2 EU-RefG Interessen- und Loyalitätskonflikten vorbeuge (4). Die Wahrscheinlichkeit einer
Doppelwahl ist zwar nicht von vornherein fernliegend, soweit
auch in anderen Staaten der Europäischen Union Referenden
über einen EU-Austritt abgehalten werden. Eine Eignung
erscheint hier allerdings zweifelhaft, weil nicht einsichtig ist,
warum man nicht von mehreren Rechtsordnungen – gerade in
EU-Angelegenheiten – in einem hinreichenden Maß betroffen sein kann, um zum einen an kollektiven Entscheidungen
teilzuhaben (siehe z.B. Art 28 Abs. 1 S. 2 GG, Art. 22
AEUV) und zum anderen zu gegenwärtigen, dass die eigene
Abstimmungsentscheidung Auswirkungen für und in mehrere/n EU-Staaten haben kann. Interessenkonflikten kann dann
durch einen einseitigen Ausschluss von der Abstimmungsberechtigung nicht vorgebeugt werden.
Soweit die Bundesregierung darauf abstellt, dass nur diejenigen am konsultativen Referendum teilnehmen können
sollen, bei denen eine hinreichende Verbundenheit mit nationalen Angelegenheiten (1) sichergestellt ist, ist eine Eignung
ebenfalls nicht gegeben. Über z.B. digitale Informations- und
Kommunikationskanäle kann nämlich eine Verbundenheit
selbst ohne Sesshaftigkeit in Deutschland langfristig gewährleistet werden.
Allerdings geht es dem Gesetzgeber nicht allein um die
Sicherung der fortbestehenden politischen Verbundenheit mit
dem deutschen Staatswesen oder der Verhinderung von Interessenkonflikten. Er beruft sich daneben selbständig auf die
Sicherung der Kongruenz von demokratischer Betroffenheit
und Mitspracherecht (2, 3). Den grundsätzlichen, wenngleich
eng bemessenen Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers
Rechnung tragend, ist es dabei nicht von der Hand zu weisen,
dass der Ausschluss in § 2 Abs. 2 EU-RefG die Kongruenz
von „formelle(r) Zugehörigkeit […] und materielle(r) Betroffenheit von der Staatsgewalt“88 fördert. Die Regelung, an die
generelle Betroffenheit von deutschen Hoheitsakten anknüpfend, wirkt dem Effekt entgegen, dass sich kollektive Selbstbestimmung zu Fremdbestimmung wandelt, wenn jemand
über fremde Angelegenheiten (mit-)befindet. Der Regelung
kommt mithin ein auch-demokratiefördernder Charakter zu.89
Dass der Gesetzgeber die Grenze des Verlusts der Referendenfähigkeit bei einer Abwesenheit von 15 Jahren zieht,
bewegt sich innerhalb seines Typisierungsspielraums; eine
evidente Überschreitung dieses Spielraums ist nicht zu erkennen. Jedenfalls kann nach 15 Jahren nicht mehr von einem nur vorübergehenden Leben außerhalb Deutschlands
gesprochen werden.
88
BVerfGE 132, 39/60 (66) – abweichende Meinung LübbeWolff.
89
Dieses Ziel ist eng mit der Sicherung der Korrelation von
Rechten (z.B. Referendenrecht) und Pflichten (z.B. Steuerpflicht) verbunden; wegen der damit analogen Bewertung
erübrigt sich eine tiefere Auseinandersetzung.
Eine gewisse Inkonsistenz könnte dem Gesetzgeber vorgeworfen werden, dass es für die Re-Integration in Deutschland ausreichend ist, (ggf. das erste Mal) drei Monate in
Deutschland wohnhaft zu sein (siehe § 2 Abs. 3 EU-RefG).
Allerdings ist dem Gesetzgeber für die Rückkehrerkonstellation ebenfalls ein Typisierungsspielraum eingeräumt; es ist
nicht evident unzulässig, zu vermuten, dass bei einer längeren
als dreimonatigen Wohnsitznahme ein noch längerer Aufenthalt wahrscheinlich ist und eine dementsprechende künftige
Betroffenheit von deutschen hoheitlichen Entscheidungen
anzunehmen ist.
Das EU-RefG ist damit jedenfalls geeignet, die Kongruenz von demokratischer Betroffenheit und Mitspracherecht
durch Teilnahme am Referendum zu sichern. Es ist jedoch
verfassungsrechtlich nicht geeignet, eine hinreichende Verbundenheit mit nationalen Angelegenheiten zu gewährleisten
und Interessen- und Loyalitätskonflikten vorzubeugen. Im
Folgenden wird daher die Prüfung auf die Verfolgung des
Zwecks, die Kongruenz demokratischer Betroffenheit sicherzustellen, beschränkt.
(3) Erforderlichkeit
Die Regelung darf schließlich nicht über das Maß des zur
Erreichung dieses legitimen Ziels Erforderlichen hinausgehen. Bei diesem Prüfungspunkt tritt die Typisierungsermächtigung des Gesetzgebers in Konflikt mit der Einzelfallgerechtigkeit; es ist auszuschließen, dass der Gesetzgeber gewichtige Ausnahmetatbestände übersehen hat. Es fragt sich mithin,
ob andere Ausgestaltungen möglich sind, die dem Ziel der
Zuordnung demokratischer kollektiver Selbstbestimmung
gleich gerecht werden und zugleich die Allgemeinheit des
Referendums weniger berühren.
Ein Heraufsetzen der zeitlichen Grenze von 15 Jahren
stellt die Erforderlichkeit der Regelung allerdings nicht in
Frage, da die Festlegung noch in den Typisierungsspielraum
des Gesetzgebers fällt.
In Betracht hätte ferner eine Ausnahme für Grenzgänger
kommen können, d.h. für deutsche Staatsangehörige, die
ihren Wohnsitz nah an der deutschen Staatsgrenze haben
(hier könnte eine maximale Entfernung gesetzt werden), aber
innerhalb Deutschlands arbeiten bzw. sich in Deutschland
sozial und/oder politisch engagieren.90 Allerdings ist schwer
zu bestimmen, was ein grenznaher Wohnort ist und welches
Engagement, welche berufliche Tätigkeit für die Person des
Grenzgängers genügen. Es stellten sich bei jeder neuen Typisierung neue Gleichheitsprobleme, die eine gleiche Eignung
in Frage stellen.91
Indes liegt eine andere Alternativregelung aus demokratischen Gründen noch näher (die so gut wie alle Grenzgänger
erfassen würde), und zwar diejenigen deutschen Aktivbürger
am Referendum teilnehmen zu lassen, die unionsrechtliche
Freizügigkeitsrechte (Art. 21, 45, 49 AEUV) in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union in Anspruch nehmen.92
90
Dies wird in BVerfGE 132, 39 (57) nahe gelegt.
Ähnlich BVerfGE 132, 39/60 (69) – abweichende Meinung
Lübbe-Wolff.
92
Vgl. auch BVerfGE 58, 202 (205).
91
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82
Hausarbeit: „Deutschland zuerst“
ÖFFENTLICHES RECHT
Bei diesen Staatsbürgern greift das Argument der Fremdbestimmung nämlich nicht. Nehmen sie am Referendum teil,
stimmen sie sehr wohl über eigene Angelegenheiten ab, nämlich darüber, ob ihnen die EU-Freizügigkeitsrechte verlustig
gehen, da diese vom Vorliegen ihrer Unionsbürgerschaft
abhängig sind, die wiederum nur Angehörigen eines EUMitgliedstaats zusteht (siehe Art. 20 Abs. 1 S. 2 AEUV).
Wegen der Gewichtigkeit der Konsequenzen des Referendums für auch im EU-Ausland lebende Deutsche und der
Betroffenheit einer nicht unerheblichen Zahl von Aktivbürgern93 ist der Typisierungsspielraum des Gesetzgebers in
diesem Fall überschritten.
§ 2 Abs. 2 EU-RefG ist somit nicht zwingend erforderlich
und damit wegen Verstoßes gegen den aus Art. 3 Abs. 1 GG
fließenden Grundsatzes der Allgemeinheit von Referenden
verfassungswidrig. Aus der Besonderheit konsultativer Referenden folgt nichts anderes und auch nicht eine Erleichterung
des verfassungsrechtlichen Maßstabs gegenüber dem Gesetzgeber.94
III. Zwischenergebnis
Der Antrag der Landesregierung B ist teilweise im Umfang
der Verfassungswidrigkeit und Nichtigkeit (siehe § 78 S. 1
BVerfGG) von § 2 Abs. 2 EU-RefG begründet.
C. Ergebnis
Der Antrag der O-Fraktion ist bereits unzulässig. Der Antrag
der Landesregierung B ist zulässig und wegen der Nichtigkeit
von § 2 Abs. 2 EU-RefG teilweise begründet.
93
Ca. eine Million, siehe BVerfGE 132, 39 (43).
Wer die Erforderlichkeit der Regelung nicht an der
Nichterfassung Deutscher im EU-Ausland scheitern lässt, hat
sich ggf. – soweit nicht bei der Eignung abgelehnt – kurz mit
potentiellen Interessenkonflikten auseinanderzusetzen. Das
verfassungsrechtliche Gewicht einer klaren Zuordnung von
Loyalitäten und Interessen erscheint jedenfalls leichter als das
der Sicherung demokratischer Selbstbestimmung. Es spricht
im Übrigen einiges dafür, soweit die Berücksichtigung von
gewichtigen Ausnahmetatbeständen abgelehnt wird, die
zwingende Erforderlichkeit der Regelung anzunehmen. Insbesondere ist durch die Rückkehrerklausel sichergestellt,
Übergangskonstellationen der Re-Integration deutscher
Staatsbürger zu erfassen. Die Regelung des § 2 Abs. 3 EURefG dämpft damit den Eingriff in die Referendenallgemeinheit.
94
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83
Übungsfall: Jacqueline und der Fluch der Damenhandtasche
Von Diplom-Jurist Sascha Sebastian, M.mel., Diplom-Jurist Henning T. Lorenz, Halle (Saale)*
Der Fall wurde an der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg im Sommersemester 2016 als Anfängerhausarbeit
gestellt. Er richtet sich damit an Studierende des 2. und 4.
Semesters. Neben einer Auseinandersetzung mit den Problemen des Falles kam es vor Allem auf eine gute Schwerpunktsetzung und eine effektive Argumentationsweise an.
Sachverhalt
Jacqueline (J) ist Auszubildende im örtlichen Seniorenheim.
Ihre Passion sind jedoch Schmink-Videos auf YouTube, wo
sie unter dem Handle „SweetJacky93“ die neuesten Trends
aus der Welt des Makeups vorstellt. Leider handelt es sich
hierbei um ein teures Hobby und „SweetJacky93“ ist nicht
bekannt genug, um die Produkte gesponsert zu bekommen. J
hält daher stets Ausschau nach kreativen Möglichkeiten, um
Geld zu „verdienen“:
Da es Besuchern des Seniorenheims verboten ist, Taschen
oder Rucksäcke mit auf die Zimmer der Bewohner zu nehmen, gibt es eine Reihe von Schließfächern im Eingangsbereich. Dort erblickt J die einfältige Emma (E) und deren
umwerfende Louis Vuitton Neverfull Handtasche, deren
Inhalt ihrem hochwertigen Äußeren vermutlich in nichts
nachsteht. J stellt sich der E – zutreffend – als Angestellte des
Seniorenheims vor und bietet ihr an, die Tasche für sie sicher
einzuschließen. E stimmt zu und übergibt die Tasche an J,
von der sie sodann sicher in einem der Schließfächer verstaut
wird. Was E nicht weiß: J hatte zuvor bereits ein anderes
Schließfach verschlossen, ohne etwas darin zu lagern und
somit bereits einen Schließfachschlüssel in ihrem Besitz. Es
ist dieser Schlüssel, welchen J sodann der E überreicht. Den
Schlüssel zum Schließfach mit der Tasche behält sie zunächst. Ca. eine Stunde vor Ende der Besuchszeit – wenn das
Foyer des Seniorenheims erfahrungsgemäß am ruhigsten ist –
nutzt J einen scheinbar unbeobachteten Moment dazu, die
Tasche aus dem Schließfach zu holen und sich plangemäß auf
den Weg nach draußen zu machen.
Unmittelbar vor dem Eingang zum Seniorenheim wird J
vom Wachmann Warnfried (W) angesprochen. Er teilt ihr
mit, dass er „alles gesehen“ habe und ihr gern – freilich gegen einen Anteil an der Beute – helfen möchte, unerkannt zu
entkommen. Er informiert sie außerdem, dass der Parkplatz
vor dem Hauptgebäude videoüberwacht sei, weswegen J im
Nachhinein leicht ausgemacht werden könne. Die beiden
verabreden daher, dass W das Diebesgut in seinem – unmittelbar vor dem Eingang geparkten – Fiat Panda verstauen
* Der Autor Sebastian ist Wiss. Mitarbeiter im durch das
Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten
Drittmittelprojekt „Prävention von Kapitalmarktdelikten und
Risiken der Geldwäsche“ am Lehrstuhl für Strafrecht und
Strafprozessrecht (Prof. Dr. Christian Schröder). Der Autor
Lorenz ist Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strafrecht,
Strafprozessrecht und Medizinrecht (Prof. Dr. Henning
Rosenau) und Repetitor für das Juristische Repetitorium
hemmer.
wird, bis „Gras über die Sache gewachsen ist“. Der Inhalt der
Tasche soll zu einem späteren Zeitpunkt gleichmäßig aufgeteilt werden. J stimmt dem zu. Während W sodann die Tasche in den Kofferraum seines Autos bugsiert, um später
damit heimfahren zu können, begibt sich J auf den Weg zur
nahegelegenen U-Bahn-Haltestelle.
Dort angekommen, bemerkt J, dass sie gar kein Geld bei
sich hat. Da Kontrollen auf dieser Linie aber ohnehin die
Ausnahme und die Wagons auch nicht videoüberwacht sind,
beschließt sie kurzerhand „schwarzzufahren“. Gleich an der
nächsten Haltestelle muss J jedoch beobachten, wie drei
Kontrolleure in den vorderen Teil des Waggons einsteigen.
Sie entscheidet sich daher, noch schnell aus der hinteren der
drei Waggontüren zu verschwinden. Dies alles wird vom
bulligen Bobfried (B) bemerkt, dessen mangelnde Intelligenz
mit einem starken Gerechtigkeitsempfinden einhergeht. Der
passionierte Hobbyjurist meint, dass das Handeln der J zwar
nicht strafbar sei und er auch keine Zuständigkeit für das
Eintreiben des „erhöhten Beförderungsentgeltes“ habe. Auf
der anderen Seite könne es aber auch nicht sein, dass sich
„richtig“ und „falsch“ allein nach den Buchstaben des Gesetzes richten. Nach einem kurzen inneren Monolog ergreift er
daher die J und teilt ihr mit, dass die anderen Fahrgäste ein
Ticket gelöst haben und sie sich „nicht so anstellen“ solle.
Als J daraufhin versucht, sich durch Tritte gegen den Unterleib des B zu befreien, tritt er ihr mit den Worten „wer nicht
hören will, muss humpeln!“ so hart gegen das linke Knie,
dass sie zu Boden fällt und später nur mit Hilfe des verständigten Krankenwagens nach Hause gelangt. Dauerhafte Verletzungen trägt J zwar nicht davon, allerdings hofft sie, die
nun fälligen 60 € aus der Tatbeute entrichten zu können.
Es kommt ihr daher durchaus Recht, dass sie noch am
selben Abend einen Anruf von W erhält. Weniger erfreut ist
sie jedoch, als dieser ihr mitteilt, dass er doch noch nicht
„alles gesehen“ habe und sie auffordert, am nächsten Abend
Geschlechtsverkehr mit ihm zu haben. Um seiner Forderung
Nachdruck zu verleihen, weist W die J darauf hin, dass das
Foyer des Seniorenheims videoüberwacht sei und er die entsprechende Datei, verbunden mit einer Strafanzeige, bereits
an die örtliche Polizeiwache weitergeleitet habe. Allerdings
kenne er den zuständigen Wachtmeister, sodass es kein Problem wäre, das Ganze unter den metaphorischen Tisch fallen
zu lassen. J ist angewidert, kommt der Aufforderung aber
nach, um ein Auffliegen der Tat zu verhindern. Beim anschließenden Aufteilen der Beute stellen J und W entsetzt
fest, dass es sich bei der Handtasche der E um eine wertlose
Imitation handelt und sich darin lediglich ein hartgekochtes
Ei und ein Mettwurstbrötchen befinden.
Aufgabe
Wie haben sich J, W und B nach dem StGB strafbar gemacht?
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ZJS 1/2017
84
Übungsfall: Jaqueline und der Fluch der Damenhandtasche
Bearbeitervermerk
Eventuell erforderliche Strafanträge sind gestellt. § 240
Abs. 4 StGB ist nicht zu prüfen. Es ist auf alle Rechtsprobleme des Falles – gegebenenfalls in einem Hilfsgutachten –
einzugehen.
STRAFRECHT
Lösungsvorschlag
1. Tatkomplex: „Taschenspielertrick“
A. Strafbarkeit der J
I. Wegen § 263 Abs. 1 StGB (Betrug)
J könnte sich gemäß § 263 Abs. 1 StGB eines eigennützigen
Betruges gegenüber und zu Lasten der E schuldig gemacht
haben, indem sie sich den Schlüssel von E herausgeben lies.
Gewahrsam nicht vollständig und unmittelbar auf J übertragen; also über ihren Gewahrsam verfügen.4 Sie willigte lediglich in eine Gewahrsamslockerung ein, sodass für einen Gewahrsamsbruch – also ein Handeln gegen ihren Willen oder
ohne ihr Wissen – weiterhin Raum war.5
Durch das Verbringen in ein Schließfach, auf welches allein die J Zugriff hatte und deren Inhalt daher ihrer Herrschaftssphäre zuzuordnen war, begründete diese neuen, eigenen Gewahrsam an der Sache. Die E wusste nicht, dass die
Tasche in ein Schließfach verbracht werden würde, auf welches sie keinen Zugriff hat. Der Gewahrsamswechsel geschah
daher ohne das Einverständnis der Berechtigten, also im
Wege des Bruches.6
Der objektive Tatbestand ist mithin erfüllt.
1. Objektiver Tatbestand
Eine Täuschung ist eine vom Opfer wahrnehmbare – ausdrückliche oder konkludente – unwahre Tatsachenbehauptung.1 In Betracht kommt zunächst eine ausdrücklich Täuschung durch die Aussage, beim Verstauen der Tasche helfen
zu wollen. Allerdings war diese Tatsachenbehauptung zutreffend. In dieser Aussage ist auch keine konkludente Erklärung
darüber zu erblicken, dass die E später auch den richtigen
Schlüssel erhalten werde, denn diese musste sich darüber zu
diesem Zeitpunkt noch keine Gedanken machen.
Bei der Herausgabe der Tasche wurde E von J mithin
nicht getäuscht.
2. Subjektiver Tatbestand
a) Vorsatz
Vorsatz ist der Wille zur Verwirklichung eines Straftatbestandes in Kenntnis all seiner objektiven Umstände.7
J war sich bewusst darüber, dass die Tasche und deren Inhalt nicht in ihrem Eigentum standen. Um jedoch selbst daran
gelangen zu können, wollte sie beides aus dem Herrschaftsbereich der E entfernen. Da die Werthaltigkeit der (fremden
beweglichen) Sache(n) kein Umstand ist, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört, hat es zudem keinen Einfluss auf den
Vorsatz der J, dass sie sich über den Inhalt und den Wert der
Tasche irrte. Es handelt sich im Hinblick auf § 16 Abs. 1 S. 1
2. Zwischenergebnis
J hat sich mangels Täuschung der E keines Betruges schuldig
gemacht.
4
II. Wegen § 242 Abs. 1 StGB (Diebstahl)
J könnte sich eines Diebstahls nach § 242 Abs. 1 i.V.m. § 243
Abs. 1 S. 2 Nr. 2 StGB schuldig gemacht haben, indem sie
die Handtasche der E in einem Schließfach verstaute, auf
deren Schlüssel nur sie Zugriff hatte.
1. Objektiver Tatbestand
Die Handtasche und deren Inhalt waren für J fremde bewegliche Sachen.
Wegnahme ist der Bruch fremden und die Begründung
neuen Gewahrsams,2 wobei unter Gewahrsam die sozialnormative Zuordnung einer Sache zur Herrschaftssphäre
einer Person zu verstehen ist.3
Fremder Gewahrsam – solcher der E – bestand zunächst,
als E die Tasche bei sich trug und damit die ihr zugeordnete
Sachherrschaft, sogar unmittelbar, ausübte. Die Übergabe der
Tasche an J änderte hieran zunächst nichts, denn E wollte den
1
Vgl. Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 64. Aufl. 2017, § 263 Rn. 14; Pawlik, StV 2003, 297.
2
Heinrich, in: Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht,
Besonderer Teil, 3. Aufl. 2015, § 13 Rn. 37 m.w.N.
3
Schmidt/Priebe, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2,
16. Aufl. 2016, Rn. 34; Wessels/Hillenkamp, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 38. Aufl. 2015, Rn. 82 ff.
So die h.M. BGHSt 41, 198; Cramer/Perron, in: Schönke/
Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl. 2014,
§ 263 Rn. 60; Fischer (Fn. 1), § 263 Rn. 74; Küper/Zopfs,
Strafrecht, Besonderer Teil, 9. Aufl. 2015, S. 402;
Wessels/Hillenkamp (Rn. 3), Rn. 518; Saliger, in: Matt/ Renzikowski (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar, 2013, § 263
Rn. 124. Gegen das Erfordernis eines Verfügungsbewusstseins Tiedemann, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann
(Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 9/1,
12. Aufl. 2012, § 263 Rn. 118; Kindhäuser, in: Kindhäuser/
Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 3, 4. Aufl. 2013, § 263 Rn. 223.
5
Rengier, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1, 18. Aufl. 2016,
§ 13 Rn. 67, 69; Saliger (Fn. 4), § 263 Rn. 119 m.w.N.
6
Vgl. Eisele, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 3. Aufl.
2015, Rn. 26; Krey/Hellmann/Heinrich, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 17. Aufl. 2015, Rn. 31 f. m.w.N.
7
BGHSt 36, 1 (10); Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 45. Aufl. 2015, Rn. 203; Zur Herleitung auch
Kühl, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2012, § 5 Rn. 6.
Aufgrund ihrer mangelnden Subsumierbarkeit sowie der
begrifflichen Ungenauigkeit sollte jedenfalls die „Kurzformel“ vom „Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung“ vermieden werden! (Hierzu Hruschka, Strafrecht
nach logisch-analytischer Methode, S. 436; Freund, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 2008, § 7 Rn. 41 und
Sternberg-Lieben/Sternberg-Lieben, JuS 2012, 884).
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85
ÜBUNGSFÄLLE
Sascha Sebastian/Henning T. Lorenz
StGB daher um einen unbeachtlichen Motivirrtum (sog. „error in objecto“).8
b) Absicht rechtswidriger Zueignung
Mit Zueignungsabsicht handelt derjenige, der sich an einer
fremden Sache eine eigentümerähnliche Herrschaftsmacht
anmaßt, indem er die Sache selbst oder den in ihr verkörperten Sachwert dem eigenen Vermögen oder dem Vermögen
eines Dritten zumindest vorübergehend einverleiben (= Aneignung) und den Eigentümer dauerhaft aus dessen Eigentümerposition verdrängen (= Enteignung) will.9 Für die Aneignung ist Absicht erforderlich, für die Enteignung bereits
dolus eventualis ausreichend.10
Im Hinblick auf das Vorstellungsbild der J muss jedoch
differenziert werden:
aa) Absicht hinsichtlich der Zueignung der Tasche
Ihr kam es gerade (auch) darauf an, die Tasche, welche sie
für eine wertvolle Designerhandtasche hielt, zu erlangen.
Dass sie sich hierbei über den Wert der Tasche irrte, ist auch
hier unbeachtlich. Zwar wird es durchaus unterschiedlich
beurteilt, inwiefern der Wert des Tatobjektes eine Rolle im
Rahmen der Zueignungsabsicht spielt (dazu sogleich), allerdings kommt es hierauf nicht an, wenn die Sache jedenfalls
vorübergehend als Transportmittel für einen darin vermuteten
Inhalt genutzt werden soll.11 Gerade diese ausschließliche
Nutzung der Sache ist eine allein dem Eigentümer zustehende
Befugnis, welche sich J hier anmaßte. Dies erfolgte zudem
unter Inkaufnahme der dauerhaften Verdrängung der E aus
ihrer Eigentümerposition. Ferner hatte J keinen fälligen und
einredefreien Anspruch auf die Tasche und wusste dies, weshalb sie in der Absicht rechtswidriger12 Zueignung handelte.
8
Wessels/Hillenkamp (Fn. 3), Rn. 138 m.w.N.; zur Notwendigkeit der Prüfung auch des Inhaltes vgl. Küper/Zopfs
(Fn. 4), S. 505.
9
Kretschmer, in: Hoffmann-Holland (Hrsg.), Strafrecht,
Besonderer Teil, 2015, Rn. 791; Wessels/Hillenkamp (Fn. 3),
Rn. 150.
10
Eisele (Fn. 6), Rn. 69, 78.
11
Hierzu LG Düsseldorf NStZ 2008, 155 (156); Kindhäuser,
Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 9. Aufl. 2016, § 2 Rn. 101.
Der BGH (etwa BGH, Beschl. v. 8.9.2009 – 4 StR 354/09)
schließt hingegen von dem Nachtatverhalten, namentlich dem
Wegwerfen eines Transportbehältnisses, darauf, dass es dem
Täter zum Zeitpunkt der Wegnahme nicht um eine Einverleibung in das eigene Vermögen gegangen sein kann und lehnt
daher eine Zueignungsabsicht ab. Zutreffend kritisch hierzu
Sinn, ZJS 2010, 274 (275), der bei einer nach dem Tatplan
notwendigen Nutzung des Behältnisses – wie im vorliegenden Fall – eine Zueignungsabsicht annimmt. Ein bloßer Sachentzug läge hingegen vor, wenn die J sich dem Behältnis
hätte sofort entledigen wollen, vgl. Eisele (Fn. 6), Rn. 85
m.w.N.
12
Schmidt, in: Matt/Renzikowski (Fn. 4), § 242 Rn. 36 ff.
m.w.N.
bb) Absicht hinsichtlich der Zueignung des vermuteten Inhaltes
Ob bzw. wie sich die Fehlvorstellung der J über den Wert des
Inhaltes der Tasche auf eine mögliche Zueignungsabsicht
auswirkt, ist indes zu diskutieren.
(1) Für eine Beachtlichkeit des Irrtums scheint zunächst
die Tatsache zu sprechen, dass Gegenstand der Zueignung
nicht nur die Substanz der Sache selbst, sondern auch ein
dieser innewohnender Wert sein kann (s.o.). Insofern leuchtet
es prima facie ein, den Wert des Zueignungsgegenstandes bei
der Beurteilung des Vorliegens der entsprechenden Absicht
jedenfalls zu berücksichtigen. Das wirft jedoch die Frage auf,
ob der tatsächlich erlangte Gegenstand lediglich (irgend)ein
werthaltiger Gebrauchsgegenstand13 sein muss, welchen der
Täter seinerseits benutzen, veräußern oder weitergegeben
kann oder ob er – in den Augen des Täters – tatsächlich „etwas Wertvolles“ 14 sein muss.
Die von J erbeuteten Lebensmittel mögen keinen hohen
Wert haben, können von ihr aber grundsätzlich verwertet
bzw. verbraucht werden. „Wertvoll“ sind sie in ihren Augen
freilich nicht. Es wäre demnach notwendig, zu beurteilen, ob
es J bei ihrem Handeln um den Erwerb von etwas Wertvollem oder etwas Verwertbarem ging.
(2) Bei genauerer Betrachtung liegt jedoch beiden Auslegungsmöglichkeiten ein falsches Verständnis des Unterschiedes von erfolgsbezogenem Wegnahmevorsatz und der Zueignungsabsicht als überschießender Innentendenz zugrunde.15
Während ersterer nämlich auf das reale (Tat-)Objekt gerichtet
sein muss, kommt es für letztere allein auf die Vorstellung
des Täters zum Zeitpunkt der Wegnahme an. Das wird deutlich, wenn man bedenkt, dass es für den Diebstahl unerheblich ist, wenn die Zueignung scheitert oder der Täter später
seine Meinung über den weggenommenen Gegenstand ändert. Diese Interpretation der Zueignungsabsicht hat zudem
den Vorteil, dass sie die gesetzlich vorgesehene Parallelität
des Diebstahls und des Betruges beibehält, bei dem es nämlich – für die Bereicherungsabsicht – keine Rolle spielt, ob
sich der Täuschende über den Wert des Verfügungsgegenstandes irrt.16
Die Fehlvorstellung der J ist dementsprechend unbeachtlich. Sie wollte sich auch den Inhalt der Tasche zueignen.
Hinweis: Die andere Auffassung war mit entsprechenden
Argumenten genauso gut vertretbar. Dann war der subjektive Tatbestand nur hinsichtlich der Tasche erfüllt.
c) Zwischenergebnis
Sowohl bzgl. der Tasche als auch des Inhalts ist der subjektive Tatbestand erfüllt.
13
Vgl. die Darstellung bei OLG Düsseldorf 2008, 155 (156).
BGH NStZ 2006, 686 f.; Sinn, ZJS 2010, 274 ff.; Schmitz,
in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum
Strafgesetzbuch, Bd. 5, 2. Aufl. 2014, § 263 Rn. 170.
15
OLG Düsseldorf 2008, 155; so auch Böse, GA 2010, 249.
16
Vgl. OLG Düsseldorf NStZ 2008, 155, allerdings zur Bereicherungsabsicht bei der räuberischen Erpressung.
14
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ZJS 1/2017
86
Übungsfall: Jaqueline und der Fluch der Damenhandtasche
3. Rechtswidrigkeit und Schuld
J handelte rechtswidrig und schuldhaft.
4. Strafzumessung
Man kann darüber nachdenken, ob das Schließfach eine besondere Wegnahmesicherung im Sinne von § 243 Abs. 1 S. 2
Nr. 2 StGB ist. Allerdings wurde der Gewahrsam an der
Tasche gerade durch das Einschließen in das Schließfach
gebrochen, sodass die Sache zum Zeitpunkt der Sicherung
bereits weggenommen war. Eine Auseinandersetzung mit der
Frage, wie sich der Irrtum im Hinblick auf § 243 Abs. 2
StGB auswirkt, ist daher entbehrlich.17
5. Zwischenergebnis
J hat sich eines Diebstahls an der Tasche sowie deren Inhalts
schuldig gemacht. Da es sich dabei um geringwertige Sachen
handelt,18 ist von der E ein Strafantrag zu stellen (§§ 248a, 77
Abs. 1 StGB). Der Irrtum der J über den Wert der Sachen ist
insofern unbeachtlich, weil der Vorsatz des Täters sich nicht
auf die Strafverfolgungsvoraussetzungen erstrecken muss.19
III. Wegen § 263 Abs. 1 StGB ([Sicherungs-]Betrug)
J könnte sich gemäß § 263 Abs. 1 StGB eines eigennützigen
(Sicherungs-)Betruges gegenüber und zu Lasten der E schuldig gemacht haben, indem sie dieser den falschen Schlüssel
herausgab.
1. Objektiver Tatbestand
a) Täuschung
Zwar erklärte J bei der Herausgabe des Schlüssels ausdrücklich nichts, allerdings begründete die Vereinbarung zwischen
ihr und E bei der Letztgenannten die Erwartung, den Schlüssel zum Schließfach mit der eigenen Handtasche zu erhalten.
Die Herausgabe eines Schließfachschlüssels musste von E
daher so verstanden werden, dass es sich um den korrekten
Schlüssel handele (sog. „Negativtatsache“20).
Die Täuschungshandlung der J bestand mithin in der sich
aus den Umständen ergebenden (konkludenten) Behauptung,
es handele sich um den korrekten Schließfachschlüssel.
b) Irrtum
Aufgrund der Täuschungshandlung ging E davon aus, den
korrekten Schlüssel – nämlich jenen zum Schließfach mit
ihrer Tasche – in der Hand zu halten. Ihre subjektive Vorstellung stimmte mithin nicht mit der Wirklichkeit überein.21 E
unterlag einem Irrtum.
STRAFRECHT
c) Vermögensverfügung
Unter Vermögensverfügung ist jedes Tun, Dulden oder Unterlassen mit unmittelbar vermögensmindernder Wirkung zu
verstehen.22 Da der Gewahrsam an der Tasche zum Zeitpunkt
der Tat (vgl. § 8 StGB) bereits gebrochen war, kommt eine –
grundsätzlich mögliche23 – Verfügung über denselben nicht
(mehr) in Betracht.
Da die E dachte, sie erhalte den korrekten Schlüssel, sah
sie davon ab, ihren Herausgabeanspruch (§ 985 BGB) gegenüber J geltend zu machen. Die Vermögensverfügung der E
besteht mithin in diesem Unterlassen (sog. „Sicherungsbetrug“24).
d) Vermögensschaden
Das Vermögen der E ist geschädigt, wenn die Saldierung
aller Zu- und Abflüsse geldwerter Güter negativ ausfällt.25
Hier verzichtete E täuschungsbedingt auf die Geltendmachung ihres Herausgabeanspruches bezüglich der Tasche
und deren Inhalts. Hierfür wurde ihr keinerlei Gegenleistung
gewährt, sodass ein insgesamt negativer Saldo und damit ein
Vermögensschaden vorliegen.
e) Zwischenergebnis
Der objektive Tatbestand ist erfüllt.
2. Subjektiver Tatbestand
a) Vorsatz
J war sich bewusst, dass das Vermögen der E durch den täuschungsbedingten Verzicht auf die Geltendmachung des
Anspruches geschädigt werden würde. Zur Sicherung des
bereits erlangten Diebesgutes kam es ihr aber gerade hierauf
an.
b) Absicht rechtswidriger und stoffgleicher Bereicherung
Ferner kam es J bei Ihrer Tat auf die eigene finanzielle Besserstellung an, wobei ihr klar war, dass ihr der erlangte Vorteil rechtlich nicht zustand (= rechtswidrige Bereicherung).26
Da Nachteil der E und Vorteil der J zudem auf derselben
Verfügung beruhen, besteht zwischen beiden auch Stoffgleichheit.27
3. Rechtswidrigkeit und Schuld
Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe sind keine ersichtlich und an der Schuldfähigkeit der J bestehen keine
Zweifel. Sie handelte rechtswidrig und schuldhaft.
22
17
Vgl. hierzu Kindhäuser (Fn. 4), § 243 Rn. 55 ff.
Zum Geringwertigkeitsbegriff Wessels/Hillenkamp (Fn. 3),
Rn. 252 m.w.N.
19
Schmitz (Fn. 14), § 248a Rn. 14 m.w.N.
20
Zum Begriff Saliger (Fn. 4), § 263 Rn. 12 m.w.N.
21
Vgl. Beukelmann, in: v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.),
Beck’scher Online Kommentar, Strafgesetzbuch, Stand:
1.6.2016, § 263 Rn. 23 m.w.N.
18
BGHSt 14, 170 (171); Wessels/Hillenkamp (Fn. 3),
Rn. 515; Rengier (Fn. 5), § 13 Rn. 63.
23
Zum Gewahrsam als tauglichen Verfügungsgegenstand
beim Betrug vgl. Ast, NStZ 2013, 305 (307 f.) und Sebastian,
Jura Studium & Examen (JSE) 2016, 64 (71 f.).
24
Hefendehl, in: Joecks/Miebach (Fn. 14), § 263 Rn. 871 f.;
Wessels/Hillenkamp (Fn. 3), Rn. 599
25
Kindhäuser (Fn. 4), § 263 Rn. 248.
26
Saliger (Fn. 4), § 263 Rn. 277 f., 289 f. m.w.N.
27
Fischer (Fn. 1), § 263 Rn. 187 ff.
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87
ÜBUNGSFÄLLE
Sascha Sebastian/Henning T. Lorenz
4. Zwischenergebnis
J hat sich eines eigennützigen (Sicherungs-)Betruges gegenüber und zu Lasten der E schuldig gemacht.
B. Strafbarkeit des W
I. Wegen §§ 242 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB (Diebstahl in
Mittäterschaft)
W könnte sich eines mittäterschaftlich begangenen Diebstahls nach §§ 242 Abs. 1, 25 Abs. 2 schuldig gemacht haben, indem er J bei der Beutesicherung unterstützte.
1. Objektiver Tatbestand
W selbst hat die Tasche und deren Inhalt nicht weggenommen, sodass eine Tatbestandsverwirklichung nur in Frage
kommt, wenn ihm das Verhalten der J nach § 25 Abs. 2 StGB
zugerechnet werden kann. Hierfür wiederum sind ein gemeinsamer Tatplan und die gemeinsame Tatbegehung vonnöten.28
a) Gemeinsamer Tatplan
Es ist nicht notwendig, dass ein Tatplan gemeinsam ausgearbeitet wird, vielmehr ist ein – auch stillschweigendes – Beitreten zu einem bestehenden Plan möglich, solange die anderen Mittäter hiermit einverstanden sind.29
W wusste, was J tat und ihm war klar, dass eine Beutesicherung folgen müsse, da andernfalls keiner der beiden in
den Genuss des Taterlöses kommen würde. Er trat mithin
dem Plan der J bei, womit diese mangels Alternativen auch
einverstanden war.
b) Gemeinschaftliche Tatbegehung
Im Hinblick auf das Erfordernis einer gemeinschaftlichen
Tatbegehung erscheint fraglich, ob es zum Zeitpunkt des
Eintretens des W überhaupt noch möglich war, Täter des
Diebstahls zu werden. Solange noch nicht alle Merkmale des
gesetzlichen Tatbestandes verwirklicht sind (sog. „Vollendungsphase“), ist gegen eine solche „sukzessive Mittäterschaft“ – bezüglich der noch zu verwirklichenden Merkmale
– grundsätzlich nichts einzuwenden.30 Allerdings hatte J den
neuen (eigenen) Gewahrsam bereits begründet, sodass W
„nur“ noch dazu beitragen konnte, die Tat zu einem tatsächlichen Abschluss zu bringen, indem er die Beute für J (und
sich selbst) sicherte („sog. Beendigungsphase“).31
28
Zur insoweit h.M. etwa Rengier, Strafrecht, Allgemeiner
Teil, 8. Aufl. 2016, § 44 Rn. 2; Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 2, 8. Aufl. 2014, § 49 Rn. 21 ff.;
Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 2, 2003, § 25
Rn. 188 f.; Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 7), Rn. 671 m.w.N.
zu abweichenden Auffassungen.
29
Maurach/Gössel/Zipf (Fn. 28), § 49 Rn. 31; Roxin (Fn. 28),
§ 25 Rn. 192 m.w.N.
30
RGSt 8, 43; BGHSt 2, 345; Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch,
Kommentar, 28. Aufl. 2014, § 25 Rn. 10.
31
Vgl. zum Unterschied zwischen (normativer) Vollendung
und (tatsächlicher) Beendigung der Tat Schmidt, Strafrecht,
aa) Beurteilt man die „Gemeinschaftlichkeit“ des Zusammenwirkens am Kriterium der sog. „Tatherrschaft“, so
kommt es vor allem auf eine Befugnis bzw. die Fähigkeit zur
Steuerung des Ablaufes der Tat an („planvoll lenkende InDen-Händen-Halten des Geschehens“).32 „Gemeinschaftlich“
begangen im Sinne des § 25 Abs. 2 StGB ist eine Tat mithin
dann, wenn alle Beteiligten für die „Steuerung“ der Tat gemeinsam („funktional“) verantwortlich sind, wobei diese
Verantwortung auch in Form der arbeitsteiligen Begehung
auf verschiedene Tätigkeiten im (Gesamt)Tatplan aufgeteilt
werden kann.33 Die Möglichkeit einer „sukzessiven“ Mittäterschaft in der Beendigungsphase scheitert hiernach bereits
daran, dass ein nach Vollendung Hinzutretender die tatbestandsmäßige Ausführungshandlung, schon begriffslogisch
nicht (mehr) (mit-)beherrschen kann.34 Mit anderen Worten:
die Sicherung der bereits weggenommenen Beute ist keine
Wegnahme im Sinne des § 242 Abs. 1 StGB.35 Es wäre jedoch denkbar, im Rahmen einer sog. „weiten Tatherrschaftslehre“ – welche den Begriff der „Tatherrschaft“ nicht auf die
eigentliche Ausführungshandlung beschränkt – auch Tatbeiträge des Mittäters einzubeziehen, welche vor oder (sukzessive) nach der Tatausführung i.e.S. begangen werden.36 Das
Argumentationsmuster ähnelt dann jenem der „Normativen
Kombinationstheorie“ der Rspr., indem das Kriterium der
„Tatherrschaft“ eine (weitere) normative Aufladung erfährt.37
Ohne W wäre die Tat der J wohl sehr schnell aufgeflogen,
sodass dessen Beitrag der eigentlichen Tathandlung bei wertender Betrachtung in nichts nachsteht. Hält man dennoch
daran fest, dass W die Tat – im Sinne der Verwirklichung des
Tatbestandes (§ 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB) – begriffslogisch nicht
beherrschen kann, ist er kein Mittäter, jedoch möglicherweise
(„sukzessiver“) Teilnehmer.
bb) Es ist indes auch denkbar, die „Gemeinschaftlichkeit“
des Zusammenwirkens im Wege einer wertenden GesamtAllgemeiner Teil, 16. Aufl. 2016, Rn. 637 f.; Rengier (Fn. 5),
§ 2 Rn. 195; Wessels/Hillenkamp (Fn. 3), Rn. 131 und
Sebastian, Jura 2015, 992 (1002 f.).
32
Im Einzelnen: Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft,
8. Aufl. 2006, 25 ff. Hierzu auch Jäger, ExamensRepetitorium Strafrecht, Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2015, § 6
Rn. 231 f.
33
Vgl. Schünemann, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 1,
12. Aufl. 2007, § 25 Rn. 7; Roxin (Fn. 28), § 25 Rn. 27 ff.;
Sebastian, JSE 2016, 64 (69).
34
Krey/Esser, Deutsches Strafrecht, Allgemeiner Teil,
5. Aufl. 2012, Rn. 1198; Kühl (Fn. 7), § 20 Rn. 127 f.; Roxin
(Fn. 28), § 25 Rn. 227.
35
Krey/Esser (Fn. 34), Rn. 967 m.w.N.
36
So etwa Hoyer, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, 32. Lfg., Stand: März 2000,
§ 25 Rn. 119; Kühl (Fn. 7), § 20 Rn. 110 ff.
37
Vgl. bspw. die Darstellung bei Jescheck/Weigend, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, § 63 II. 2., der sukzessive Mittäterschaft auch in der Beendigungsphase zulässt.
Ebenfalls eine sukzessive Mittäterschaft für möglich haltend
Heine/Weißer, in: Schönke/Schröder (Fn. 4), § 25 Rn. 96.
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Übungsfall: Jaqueline und der Fluch der Damenhandtasche
betrachtung zu ermitteln (sog. „Normative Kombinationstheorie“). Hiernach ist anhand des Umfanges der Tatbeteiligung, des Eigeninteresses am Taterfolg und der Tatherrschaft
bzw. des Willens hierzu ein objektivierter Täter- oder Teilnehmerwille zu bestimmen.38 Da die (funktionale) „Tatherrschaft“ hier nur eines der relevanten Kriterien ist und ihr
Fehlen mithin durch andere Aspekte ausgeglichen werden
kann, ist eine sukzessive Mittäterschaft in der Beendigungsphase jedenfalls grundsätzlich möglich.39
Auf den Fall angewendet, kann man daher sagen, dass das
„Minus“ des W bei der Tatausführung durch seinen bedeutenden Beitrag bei der Beutesicherung40 und sein erhebliches
Eigeninteresse an den Taterlösen kompensiert wird.
Hinweis: Es wäre genauso gut möglich, mit der Frage
nach der verfassungsrechtlichen Tragfähigkeit der Annahme einer „Beendigungsphase“ beim Diebstahl zu beginnen. Auf die Darstellung der Täterschaftslehren von
Rechtsprechung und Lehre käme es dann streng genommen nicht an. Die hier gewählte Darstellung trägt jedoch
dem Umstand Rechnung, dass es durchaus Autoren gibt,
welche die Unzulässigkeit einer „sukzessiven“ Mittäterschaft (allein) aufgrund der Tatherrschaftslehre ableiten
und die dementsprechend kein Problem mit der Existenz
einer sukzessiven Beihilfe haben.41 Um dies vollständig
darstellen zu können, bedarf es sowohl einer Darstellung
von Tatherrschaftslehre und „Normativer Kombinationstheorie“ als auch einer Darstellung der Auffassung, welche eine „Beendigungsphase“ aus verfassungsrechtlichen
Gründen ablehnt (hierzu sogleich).
cc) Setzt man indes nicht bei der Frage nach der „Gemeinschaftlichkeit“ der Tatbegehung an, sondern bereits bei der
Frage, ob es sich bei einem Geschehen in der „Beendigungsphase“ überhaupt noch um eine beteiligungsfähige Tat handelt, so ist auch eine gänzlich andere Argumentation denkbar.
Anders als bei Dauerdelikten, bei denen ein rechtswidriger
Zustand geschaffen und aufrechterhalten wird (z.B. § 239
StGB), erschöpft sich der Diebstahl nämlich bereits seinem
Wortlaut nach in einer Wegnahmehandlung. Dementsprechend ist es bspw. bei einer andauernden Freiheitsberaubung
möglich, auch nach Beschränkung der Fortbewegungsfreiheit
Handlungen vorzunehmen, welche das Opfer (weiterhin) der
Freiheit berauben, es ist jedoch sprachlogisch ausgeschlossen, dass eine bereits abgeschlossene Wegnahme, durch
nachgelagertes Handeln zu einer „gemeinschaftlichen Weg38
BGH NStZ 1985, 165; BGH NStZ 1995, 285; BGH NStZRR 2001, 148. Weiterführend: Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2011, § 12 Rn. 92; Wessels/
Beulke/Satzger (Fn. 7), Rn. 749 ff.; Roxin (Fn. 28), § 25
Rn. 22 ff.
39
BGH NStZ 1999, 510; BGH NStZ 2000, 594; BGH NStZ
2008, 280 (281).
40
Ein solcher wird, da heute eine rein subjektive Sichtweise
vom BGH nicht mehr vertreten wird, zumindest zu fordern
sein, vgl. Jäger (Fn. 32), § 6 Rn. 227.
41
Krey/Esser (Fn. 34), Rn. 1088 und 1198.
STRAFRECHT
nahme“ im Sinne der §§ 242 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB wird.42
Derartige nachgelagerte Handlungen sind vielmehr – wie es
das Gesetz auch vorsieht – allein mithilfe der Anschlussdelikte zu lösen.
Eine Ausdehnung der Tatphase des Diebstahls über die
Vollendung hinaus ist daher ein grundsätzlicher Verstoß
gegen das Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2 GG) und
dementsprechend abzulehnen.43 Das Handeln des W kann
damit bereits strukturell keine Mittäterschaft begründen,
sodass ihm das Handeln der J nicht nach § 25 Abs. 2 StGB
zugerechnet werden kann.
Der objektive Tatbestand ist nicht erfüllt.
2. Zwischenergebnis
W hat sich keines Diebstahls in Mittäterschaft schuldig gemacht.
Hinweis: Wer sich strikt gegen eine Ausdehnung der
Tatphase des Diebstahls ausgesprochen hat, kann direkt
zur Prüfung der Begünstigung übergehen. Wer hingegen
die Mittäterschaft aufgrund der (engen) Tatherrschaftslehre ablehnt, muss der Frage nach einer sukzessiven Beihilfe nachgehen.
Die Argumente gegen eine Ausdehnung der Tatphase des
Diebstahls in den Bereich der (faktischen) Beendigung können selbstverständlich auch gegen die Strafbarkeit einer
„sukzessiven“ Beihilfe in diesem Stadium vorgebracht werden.44 So setzt die Tathandlung der Beihilfe, das „Hilfeleisten“ im Sinne des § 27 StGB, eine „vorsätzlich begangene
rechtswidrige Tat“ voraus, womit wiederum die Verwirklichung eines Straftatbestandes gemeint ist (vgl. § 11 Abs. 1
Nr. 5 StGB). Das ist jedoch bei einem Diebstahl bereits mit
der Wegnahme der Fall, sodass begrifflich – im Hinblick auf
Art. 103 Abs. 2 GG – zwischen Hilfeleisten zu einer Weg-
42
Vgl. Krey, ZStW 101 (1989), 838 (848). Kühl (Fn. 7), § 20
Rn. 127; Maurach/Gössel/Zipf (Fn. 28), § 49 Rn. 50 ff.
m.w.N.
43
So auch Geppert, Jura 2011, 30 (35) und Schmidt (Fn. 31),
Rn. 637 f. Die Unterscheidung zwischen (normativer) Vollendung und (deskriptiver) Beendigung der Tat kann jedoch
im Rahmen der Abgrenzung von §§ 242, 249 zu § 252 StGB
und der Verjährung (vgl. § 78a StGB) eine Rolle spielen
(Vgl. Wessels/Hillenkamp [Fn. 3], Rn. 132).
44
Dennoch geht die wohl h.M. von der Existenz des Instituts
der „sukzessiven Beihilfe“ aus: BGHSt 4, 132 (133); 6, 248
(251);
BGH
NStZ
2008,
152;
Weber,
in:
Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht, Allgemeiner Teil,
11. Aufl. 2003, § 31 Rn. 25; Eser/Bosch, in: Schönke/
Schröder (Fn. 4), § 242 Rn. 73; Heine/Weißer (Fn. 37), § 27
Rn. 20; Krey/Esser (Fn. 34), Rn. 1088 ff., der darauf verweist, dass das starke Wortlautargument gegen die sukzessive
Mittäterschaft („gemeinschaftlich begehen“) hier nicht greife.
Entschieden hiergegen Maurach/Gössel/Zipf (Fn. 28), § 50
Rn. 106 m.w.N.
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ÜBUNGSFÄLLE
Sascha Sebastian/Henning T. Lorenz
nahme und Beutesicherung nach vollendeter Wegnahme zu
differenzieren ist.45
Wer trotz dieser Argumente eine sukzessive Beihilfe für
zulässig erachtet, muss sodann der Frage nachgehen, wie
diese und die Begünstigung voneinander abzugrenzen sind;
schließlich ist die Tathandlung in beiden Fällen eine Beutesicherung.46 Die Rechtsprechung grenzt die sukzessive Beihilfe von der Begünstigung – im Sinne tatbestandlicher Exklusivität – nach der inneren Willensrichtung ab.47 Sie fragt,
ob der Helfer den erfolgreichen Abschluss der Haupttat fördern (Beihilfe) oder den Vortäter vor einer Entziehung des
erlangten Vorteils schützen wollte (Begünstigung). In der
Literatur wird die Beihilfe als vorrangig angesehen, sodass
die Begünstigung in Anlehnung an § 257 Abs. 3 S. 1 StGB
subsidiär dahinter zurücktritt.48 Im Ergebnis sprechen die
besseren Argumente sodann gegen die Rechtsprechung, da
die kaum zu ermittelnde49 innere Einstellung des Täters die
Abgrenzung ins Belieben des entscheidenden Richters stellt.
Im Hinblick auf den mitunter deutlich höheren Strafrahmen
der Beihilfestrafbarkeit sollte die Abgrenzung mithin dem
Gesetz überlassen bleiben.50
II. Wegen § 257 Abs. 1 StGB (Begünstigung)
W könnte sich einer Begünstigung nach § 257 StGB schuldig
gemacht haben, indem er J bei der Beutesicherung unterstützte.
1. Objektiver Tatbestand
Da W kein Täter des Diebstahls ist (s.o.), handelt es sich
dabei um die rechtswidrige Tat eines anderen. Sein Handeln
– nämlich das Verstecken und Aufbewahren der Beute – war
objektiv dazu geeignet, die Vorteile dagegen zu sichern, dass
sie dem Vortäter zu Gunsten des Verletzten wieder entzogen
werden.51 Er leistete J also Hilfe bei der Sicherung der aus
der Tat erlangten Vorteile.
W erfüllte daher auch den objektiven Tatbestand.
2. Subjektiver Tatbestand
W ist sich über die Herkunft der Tasche im Klaren. Auch
weiß er, dass sein Handeln dazu geeignet ist, die Wiedererlangungsmöglichkeiten des Berechtigten erheblich einzuschränken. Da es ihm gerade hierauf ankommt, um sein Ziel
zu erreichen, bestehen am Vorsatz keine Zweifel. Auch
kommt es W gerade darauf an, die Beute zu sichern, um so
einen Teil derselben erhalten zu können.52 Er handelte mithin
auch in Vorteilssicherungsabsicht.
3. Rechtswidrigkeit und Schuld
W handelte rechtswidrig und schuldhaft.
4. Zwischenergebnis
W hat sich einer Begünstigung schuldig gemacht.
C. Ergebnis im ersten Tatkomplex
J hat sich wegen Diebstahls (§ 242 Abs. 1 StGB) an der Tasche und ihrem Inhalt strafbar gemacht. Der anschließende
Sicherungsbetrug hinsichtlich der Beute tritt dahinter als
mitbestrafte Nachtat zurück.53 W hat sich wegen Begünstigung (§ 257 Abs. 1 StGB) strafbar gemacht.
2. Tatkomplex: „Gerechtigkeit für Alle“
1. Teilkomplex: Das Festhalten der J
A. Strafbarkeit der J
Hinweis: Es wäre grundsätzlich denkbar, zunächst einen
(versuchten) Betrug der J gegenüber den Kontrolleuren
und zu Lasten der Nahverkehrsgesellschaft zu prüfen. Der
Sachverhalt enthält jedoch zu einer möglichen Täuschung
keinerlei Angaben, sodass eine entsprechende Prüfung
möglichst schnell zu beenden wäre.
45
Kindhäuser (Fn. 4), § 242 Rn. 131; Ruß, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 6, 11. Aufl. 1994, § 242 Rn. 76; Schmitz (Fn. 14),
§ 242 Rn. 179.
46
Die praktische Relevanz dieser Abgrenzung wird deutlich,
wenn man die Strafrahmen qualifizierter Eigentumsdelikte
mit jenen der Begünstigung vergleicht. Weiterführend: Krey/
Hellmann/Heinrich, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1,
16. Aufl. 2015, Rn. 861; Roxin (Fn. 28), § 26 Rn. 260 f. und
Schmitz, Unrecht und Zeit – Unrechtsqualifizierung durch
zeitlich gestreckte Rechtsgutverletzung, 2001, S. 199 ff.
47
BGHSt 2, 346; 4, 132 (133); OLG Köln, NJW 1990, 587
(588).
48
Geppert, Jura 1980, 274; Jäger, Examens-Repetitorium
Strafrecht, Besonderer Teil, 6. Aufl. 2015, § 13 Rn. 395;
Maurach/Schröder/Maiwald, Strafrecht, Besonderer Teil,
Bd. 2, 9. Aufl. 2005, Rn. 746; Seelmann, JuS 1983, 33 f.
49
Geppert, Jura 1994, 441 (443) weist zudem darauf hin,
dass der Täter sich zu dieser Frage kaum Gedanken machen
wird, sodass es hier streng genommen gar nichts zu ermitteln
gibt.
50
Roxin (Fn. 28), § 26 Rn. 261.
I. Wegen § 265a Abs. 1 StGB (Erschleichen von Leistungen)
J könnte sich eines Erschleichens von Leistungen nach
§ 265a Abs. 1 StGB schuldig gemacht haben, indem sie
„schwarzfuhr“.
1. Objektiver Tatbestand
a) Beförderung durch ein Verkehrsmittel
J hat sich in einem Verkehrsmittel – einer Straßenbahn54 –
befördern lassen.
51
Zur insoweit h.M. und abweichenden Ansichten Dietmeier,
in: Matt/Renzikowski (Fn. 4), § 257 Rn. 14 m.w.N.
52
Vgl. Eisele (Fn. 6), Rn. 1094; Jäger (Fn. 48), § 13 Rn. 396.
53
Saliger (Fn. 4), § 263 Rn. 338 m.w.N.
54
Vgl. Gaede, in: Matt/Renzikowski (Fn. 4), § 265a Rn. 9.
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Übungsfall: Jaqueline und der Fluch der Damenhandtasche
STRAFRECHT
b) „Erschleichen“ der Beförderung
Ob eine solche Leistung durch das bloße „Schwarzfahren“
indes „erschlichen“ wurde, erscheint fraglich. Dem Wortsinn
nach erfordert „Erschleichen“ neben der fehlenden Berechtigung auch ein Element der Heimlichkeit, der List oder des
Täuschens.55
aa) Nun ist es jedoch denkbar – vor allem in Fällen, in
denen Leistungen ohne Überprüfung der Berechtigung erbracht werden –, dass dem Erfordernis eines täuschenden
Elementes beim „Erschleichen“ bereits dann Genüge getan
ist, wenn es sich um ein der Ordnung widersprechendes Verhalten handelt, durch das sich der Täter in den Genuss der
Leistung bringt und bei welchem er sich mit dem Anschein
der Ordnungsmäßigkeit umgibt.56 Ein solcher adressatenloser
Rechtsschein soll bereits dann vorliegen, wenn der Täter
„unauffällig wie jeder andere – ‚ehrliche‘ – Benutzer auftretend, die Leistung des Betreibers – bspw. durch Betreten des
abfahrbereiten Beförderungsmittels – in Anspruch nimmt.“57
Da sich J in ihrem Verhalten äußerlich nicht von einem zahlenden Fahrgast unterschied, umgab sie sich – legt man diese
Auffassung zugrunde – mit dem Anschein der Rechtmäßigkeit. Sie „erschlich“ sich demnach die Beförderungsleistung.
bb) Es ist indes keineswegs zwingend, einen adressatenlosen Rechtsschein für die Beurteilung des „Erschleichens“
ausreichen zu lassen. Im Hinblick auf das bereits im Wortlaut
angelegte Element der Heimlichkeit, List oder Täuschung,
liegt es nahe, dass neben der äußeren Unauffälligkeit des
Verhaltens auch die Umgehung oder Überwindung von Kontroll- oder Sicherheitsvorkehrungen vonnöten ist.58 Es wäre
dementsprechend nicht möglich, sich eine Leistung zu „erschleichen“ die – aufgrund fehlender Kontrollen – ohnehin
jeder in Anspruch nehmen kann (selbst wenn dies unbefugt
geschieht).
Da genau dies der Fall des „schlichten Schwarzfahrens“
ist, wäre dieses vom Tatbestand des § 265a StGB nicht erfasst. Nahverkehrsgesellschaften wären dementsprechend auf
das Eintreiben der konkludent vereinbarten Vertragsstrafen
(§ 340 BGB) – und damit auf den Zivilrechtsweg – verwiesen.59 J wäre dementsprechend nicht strafbar.
cc) Die zuletzt genannte Auslegung des Merkmals scheint
im Hinblick auf den Wortlaut der Regelung und ihren historischen Zweck augenscheinlich die richtige zu sein. Dennoch
wird ihr entgegengehalten, dass sie ein dringendes kriminalpolitisches Bedürfnis ignoriere, welches die extensive Auslegung des Merkmales interessengerechter erscheinen lässt, als
den Verweis des (zivilrechtlich) Geschädigten auf den (Zivil)Rechtsweg. Wie eine solche besondere Schutzwürdigkeit der
Anbieter von Beförderungsleistungen begründet werden soll,
ist indes nicht ersichtlich.60 So gibt es zunächst keine empirische Grundlage dafür, dass fehlende Zugangskontrollen den
ÖPNV effektiver und kostengünstiger gestalten,61 und selbst
wenn dies so wäre, würde die unstrittig individualschützende
Norm hier anhand eines Allgemeinbelanges ausgelegt werden.62 Auch die Idee, dass Nahverkehrsgesellschaften durch
den Abbau von Zugangskontrollen gewissermaßen in Vorleistung gegenüber ihren Kunden gehen, mag zutreffen, führt
allerdings nicht dazu, dass ihnen für diese Kosteneinsparungsmaßnahme die Entscheidungsgewalt über ihre eigene
Schutzwürdigkeit übertragen wird.63 Denn ganz generell wird
in der Debatte um den strafrechtlichen Schutz vor „Schwarzfahrern“ verkannt, dass selbst bei Bestehen eines kriminalpolitischen Bedürfnisses die Entscheidung über dessen Umsetzung noch immer beim Parlament liegt. Dem Einwand des
dringenden kriminalpolitischen Bedürfnisses fehlt damit
nicht nur die Tatsachengrundlage, er ist im Rahmen einer
Normauslegung schlicht verfehlt.64
Mithin liegt im „schlichten“ Schwarzfahren daher kein
tatbestandliches „Erschleichen“ im Sinne des § 265a StGB.
55
60
Vgl. Wohlers/Mühlbauer, in: Joecks/Miebach (Fn. 14),
§ 265a Rn. 45, die dies allerdings nur mit dem Duden „begründen“.
56
Etwa BGHSt 53, 122; Rengier (Fn. 5), § 16 Rn. 6; Otto,
Grundkurs Strafrecht, Besonderer Teil, 7. Aufl. 2005, § 52
Rn. 19.
57
Gaede (Fn. 54), § 265a Rn. 9 m.w.N.
58
Zu dieser „Kumulativformel“ und der Kritik an anderen
Definitionen Wohlers/Mühlbauer (Fn. 55), § 265a Rn. 45
m.w.N.
59
Exner, JuS 2009, 990 ff.; Krey/Hellmann/Heinrich (Fn. 6),
Rn. 721 ff. m.w.N.
2. Zwischenergebnis
Der objektive Tatbestand ist nicht erfüllt. J hat sich keines
Erschleichens von Leistungen schuldig gemacht.
II. Zwischenergebnis
J hat sich in diesem Teilkomplex nicht strafbar gemacht.
Hinweis: Vertretbar war es hier auch der anderen – wohl
herrschenden – Auffassung zu folgen. Subjektiver Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld würden keine Probleme bereiten, sodass J sich wegen § 265a StGB strafbar
gemacht hätte.
B. Strafbarkeit des B
I. Wegen § 239 Abs. 1 Var. 2 StGB (Freiheitsberaubung)
B könnte sich einer Freiheitsberaubung nach § 239 Abs. 1
Alt. 2 StGB schuldig gemacht haben, indem die B festhielt.
Krey/Hellmann/Heinrich (Fn. 6), Rn. 722; Fischer, NJW
1988, 1928 (1929).
61
Dies zeigen gerade Vergleiche mit anderen europäischen
Großstädten (z.B. Amsterdam) in denen Zugangskontrollen
in den öffentlichen Verkehrsmitteln, wie etwa Straßenbahnen, existieren.
62
Exner, JuS 2009, 990 (993).
63
Hinrichs, NJW 2001, 932 (934).
64
Zweifelhaft daher Rengier (Fn. 5), § 16 Rn. 6, der die vom
BVerfG festgestellte Vereinbarkeit der Auslegung mit
Art. 103 Abs. 2 GG (BVerfG NJW 1998, 1135) als Argument
für die Rechtsprechung des BGH sieht.
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ÜBUNGSFÄLLE
Sascha Sebastian/Henning T. Lorenz
1. Objektiver Tatbestand
Ein Mensch ist in anderer Weise seiner Freiheit beraubt,
wenn und solange er – sei es auch nur vorübergehend und
ohne sein Wissen – gehindert wird, seinen Aufenthaltsort frei
zu wählen; dabei muss seine Fortbewegungsfreiheit vollständig aufgehoben werden, das Verlassen des Ortes also unmöglich oder mindestens so erschwert werden, dass es nach den
Umständen als Verhaltensalternative nicht mehr in Frage
kommt.65
Der B ist J körperlich überlegen und hält sie fest. Selbst
ihre Versuche, sich zu wehren, haben auf seinen Griff keinen
Einfluss, sodass ihre Fortbewegungsfreiheit – jedenfalls vorübergehend – vollständig aufgehoben wurde.
doch, dass das Festhalten der J – zumindest auf Tatbestandsebene – gegen verbindliches Recht verstieß und
überdehnte auch nicht rechtlichen Grenzen der Rechtfertigung zu seinen Gunsten.68 Er ging von einer Straflosigkeit des Verhaltens der J aus und entschied sich ganz
bewusst dazu sich über die „Buchstaben des Gesetzes“
hinwegzusetzen. Ein Verbotsirrtum – gleich welcher Art –
scheidet damit offensichtlich aus.
5. Ergebnis
B hat sich einer Freiheitsberaubung schuldig gemacht.
Hinweis: Da auf alle Rechtsprobleme des Falles einzugehen war, musste (zwingend) der Frage nachgegangen
werden, wie die Rechtswidrigkeit des Handelns des B zu
beurteilen wäre, wenn man zuvor eine Strafbarkeit der J
wegen § 265a StGB bejaht hatte. Es handelt sich hierbei
ersichtlich um das einzige größere Problem dieses Tatkomplexes und das Hauptproblem der Hausarbeit.
2. Subjektiver Tatbestand
B war sich bewusst, dass sein Handeln die J daran hintern
würde frei über ihren Aufenthaltsort zu entscheiden. Weil J
keinen Fahrschein hatte, wollte er dies jedoch. Er handelte
vorsätzlich.
3. Rechtswidrigkeit
Fraglich ist, ob B sich auf das Festnahmerecht nach § 127
Abs. 1 S. 1 StPO berufen konnte und daher gerechtfertigt
war.
a) Rechtfertigungslage
J hat nicht rechtswidrig und schuldhaft den Tatbestand eines
Strafgesetzes verwirklicht (Tat, vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB),
womit keine Tat im Sinne des § 127 Abs. 1 S. 1 StPO vorliegt.66
b) Zwischenergebnis
B ist daher nicht gerechtfertigt und handelte rechtswidrig.
4. Schuld
B handelte auch schuldhaft.
Hinweis: Denkbar wäre es, an dieser Stelle etwas zu einem möglichen Verbotsirrtum (§ 17 StGB) zu schreiben.
Ein solcher würde jedoch voraussetzen, dass B ohne
Unrechtseinsicht/Unrechtsbewusstsein handelt. Er hätte
mithin nicht erkennen dürfen (bzw. hierzu in der Lage
sein), dass sein Handeln gegen die durch verbindliches
Recht erkennbare Wertordnung verstößt.67 B erkannte je65
Eidam, in: Matt/Renzikowski (Fn. 4), § 239 Rn. 6 ff.;
Jäger (Fn. 48), § 3 Rn. 115; Wessels/Hettinger, Strafrecht,
Besonderer Teil, Bd. 1, 39. Auflage 2015, Rn. 370 ff.
66
Umfassend zu dem klassischen Streit, ob auch ein dringender Tatverdacht ausreichend ist Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1, 4. Aufl. 2006, § 17 Rn. 24 ff. Auf diesen kam
es vorliegend jedoch nicht an, weil bei der Annahme die J
habe sich nicht nach § 265a StGB strafbar gemacht, auch
kein entsprechender (objektiver) Verdacht aufkommen kann.
67
BGHSt 2, 194 (201 f.); 45, 97 (101); Roxin (Fn. 66), § 21
Rn. 12 f.
– Hilfsgutachten –
Bejaht man eine Strafbarkeit der J wegen § 265a StGB, so
liegt eine Tat im Sinne des § 127 Abs. 1 S. 1 StPO vor.69
Auch besteht beim Festhalten des B ein enger räumlichzeitlicher Zusammenhang mit der Tat, sodass J auf „frischer
Tat betroffen“ wurde.70 Sie ist im Begriff zu flüchten und, da
B sie nicht kennt, ist auch eine Identitätsfeststellung nicht zu
erwarten.71 Es lag mithin ein Festnahmegrund und damit eine
Festnahmelage vor.
b) Rechtfertigungshandlung
Die vorläufige Festnahme selbst ist ein Realakt, der an keine
bestimmte Form gebunden ist. Sie muss dazu geeignet sein,
den Festnahmegrund zu verwirklichen, verhältnismäßig sein
und der Täter muss deutlich machen, dass es sich um eine
Festnahme handelt.72 Da sich die Rechtfertigung auf „die
Festnahme“ bezieht, werden auch die für eine solche regelmäßig unerlässlichen Verhaltensweise, wie leichte Körperverletzungen, Freiheitsberaubungen oder Nötigungen von
§ 127 Abs. 1 S. 1 StPO erfasst.73
B hat der J deutlich zu verstehen gegeben, dass er sie aufgrund der nicht vorhandenen Fahrkarte festhält, hinderte sie
dadurch an der Flucht und wendete – zum Zeitpunkt der
Festnahme – keine unverhältnismäßige Gewalt an.
68
Sog. direkter bzw. indirekter Verbotsirrtum, vgl. Wessels/
Beulke/Satzger (Fn. 7), Rn. 712 f.
69
Auch hier kam es wiederum nicht auf den Streit an, ob ein
Tatverdacht ausreicht, da die Voraussetzungen der restriktiveren Auffassung erfüllt waren.
70
Vgl. Böhm/Werner, in: Kudlich (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Strafprozessordnung, Bd. 1, 2014, § 127 Rn. 12.
71
Vgl. zu den Festnahmegründe Pfeiffer, Strafprozessordnung, Kommentar, 5. Aufl. 2005, § 127 Rn. 5 m.w.N.
72
Pfeiffer (Fn. 71), § 127 Rn. 6 f.
73
Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 7), Rn. 602 m.w.N.
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c) Subjektives Rechtfertigungselement
Fraglich erscheint indes, wie es sich auswirkt, dass der B bei
seinem Handeln davon ausging, dass das Verhalten der J
zwar moralisch, nicht aber rechtlich zu beanstanden ist. Da es
sich hierbei um eine Fehlvorstellung handelt, liegt es nahe,
dies im Rahmen der subjektiven Rechtfertigungsvoraussetzungen zu diskutieren. Dass es solche – in Form des sog.
„subjektiven Rechtfertigungselementes“ – gibt, wird heute
nicht mehr ernsthaft in Zweifel gezogen. Denn nur so kann
neben den, bereits durch die objektiven Rechtfertigungsvoraussetzungen kompensierten, Erfolgsunwert der Tat auch
der, in ihrer vorsätzlichen Verwirklichung liegende, personale Handlungsunwert kompensiert werden.74 Auch ist als Mindestbedingung anerkannt, dass derjenige der sich auf einen
Rechtfertigungsgrund berufen will, analog § 16 Abs. 1 StGB
jedenfalls in Kenntnis der objektiven Rechtfertigungsvoraussetzungen („Erlaubnistatumstände“) des jeweiligen Rechtfertigungsgrundes handeln muss.75
aa) Erfordernis eines voluntativen Elementes
Ob neben diesem kognitiven Element auch ein voluntatives
Element zu fordern ist, erscheint – auch im Hinblick auf
andere Rechtfertigungsgründe – fraglich.76
(1) Da es sich bei § 127 StPO um einen sog. „unvollkommen zweiaktigen Rechtfertigungsgrund“ handelt, bei
dem durch die Festnahme (erlaubtes Verhalten) nicht zugleich ein Zuführen des Täters zur Strafverfolgung (Zweck
der Erlaubnis) erreicht wird, ist es zunächst denkbar, von
einem Absichtserfordernis im Hinblick auf den Zweck des
74
Vgl. aber die von Spendel, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky
(Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 2,
11. Aufl. 1992, § 32 Rn. 138 ff. vertretene objektive Unrechtslehre. Danach soll neben dem Erfolgsunwert kein
Handlungsunwert erforderlich sein, weshalb dieser auch nicht
über das Vorliegen eines subjektiven Rechtfertigungselements kompensiert werden müsse. Freilich ist eine solche
Auffassung nicht in der Lage, den Strafgrund des untauglichen Versuches zu erklären, welcher gerade keinen Erfolg,
und damit kein Erfolgsunrecht, voraussetzt (§ 23 Abs. 3
StGB).
75
Zu einem so verstandenen „Abwehr- oder Verteidigungsvorsatz“ Kühl (Fn. 7), § 7 Rn. 128 ff. Hier kann sich neben
den unstreitig erfassten Fällen des dolus directus 2. Grades
(Wissentlichkeit) die Frage stellen, ob dolus eventualis hinsichtlich der objektiven Rechtfertigungsvoraussetzungen
ausreichend ist. Soll die Parallele zum Unrecht der vorsätzlichen Begehung indes konsequent durchgehalten werden, wird
man das bejahen müssen. Für das subjektive Rechtfertigungselement genügt es demnach, wenn der Täter auf das
Vorliegen der für möglich gehaltenen Umstände vertraut
(vgl. Stratenwerth/Kuhlen [Fn. 38], § 9 Rn. 151).
76
Am klausurträchtigsten in dieser Hinsicht ist sicherlich der
Streit um die von der Rspr. bei Notwehr verlangte „Verteidigungsabsicht“, hierzu Roxin (Fn. 67), § 14 Rn. 97 ff., § 15
Rn. 129 f.
STRAFRECHT
Erlaubnissatzes auszugehen.77 Der Täter hätte demnach die
zum Wegfall des Erfolgsunwerts führende Handlungsbefugnis nur, wenn er mit der Tat das Ziel verfolgt, den Festgenommenen den Strafverfolgungsbehörden zuzuführen. Intendiert der Täter indes keinen solchen „sozial-wertvollen Tateffekt“, wird der Unrechtsgehalt des tatbestandlich verwirklichten Deliktes nicht kompensiert.78
B – der von der Straflosigkeit des „Schwarzfahrens“ ausgeht – handelt nicht, um J der Strafverfolgung zuzuführen,
sondern um sie den Kontrolleuren zu übergeben, welche das
„erhöhte Beförderungsentgelt“ eintreiben. Mangels der erforderlichen Absicht hätte er mithin einen von der Rechtsordnung missbilligten Erfolg herbeigeführt (Erfolgsunwert) und
wäre dementsprechend nicht gerechtfertigt.
Hinweis: Nach dieser Ansicht bleiben der Erfolgsunwert
und damit die Strafbarkeit aus vollendetem Delikt daher
bestehen. Auf den Streit, welche Folge das Fehlen des
subjektiven Rechtfertigungselementes hat, kommt es insofern nicht an.
(2) Die Grundannahme, dass die Handlungsbefugnis an den
Zweck des § 127 Abs. 1 S. 1 StPO anknüpft, ist im Hinblick
auf die Rechtsnatur der Regelung durchaus zutreffend. Allerdings ist es keineswegs zwingend, daraus ein Absichtserfordernis – oder überhaupt ein subjektives Element – zur Kompensation des Erfolgsunwerts abzuleiten.79 Denn selbst wenn
der Festnehmende sich nicht darüber im Klaren ist, dass die
Möglichkeit der Zuführung zur Strafverfolgung besteht, führt
er dennoch einen von der Rechtsordnung gebilligten Erfolg
herbei, solange andere Faktoren ex ante den werterhaltenden
Charakter (Zuführung zur Strafverfolgung) der Handlung
gewährleisten; beispielsweise durch die Anwesenheit Dritter,
die ihrerseits eine Übergabe an die zuständige Behörde garantieren.80 Hiermit ist dem Kompensationsgedanken der
77
Erstmals und den Begriff des „unvollkommen zweiaktigen
Rechtfertigungsgrund“ einführend Lampe, GA 1978, 7 ff.
Ebenso Mitsch, in: Baumann/Weber/Mitsch (Fn. 44), § 16
Rn. 65; Lenckner/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder
(Fn. 4), Vor §§ 32 ff. Rn. 16; Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 38),
§ 9 Rn. 152.
78
Mitsch, in: Baumann/Weber/Mitsch (Fn. 44), § 16 Rn. 65
m.w.N.
79
Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, 11/21;
Schlehofer, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1, 2. Aufl. 2011, § 32 ff.
Rn. 96; Frisch, in: Küper/Puppe/Tenckhoff (Hrsg.), Festschrift für Karl Lackner zum 70. Geburtstag am 18. Februar
1987, 1987, S. 113 (145 ff.); Herzberg, JA 1986, 190 (198
ff.).
80
Frisch (Fn. 79), S. 145 ff., ebenfalls auf die Eignung zur
Zweckerreichung abstellend Herzberg, JA 1986, 190 (198
ff.). Jakobs (Fn. 79), 11/21; Schlehofer (Fn. 79), Vorb. § 32
ff. Rn. 96 hingegen kritisieren einzig das Absichtserfordernis
und plädieren dafür, dass bereits die Möglichkeitskenntnis
ausreiche. Hinsichtlich der Frage, was jedoch die Rechtsfolge
bei werterhaltendem Charakter und fehlender Kenntnis hier-
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93
ÜBUNGSFÄLLE
Sascha Sebastian/Henning T. Lorenz
Rechtfertigungsgründe ebenso Genüge getan, denn es geht
(speziell bei § 127 Abs. 1 S. 1 StPO) um die Gewährleistung
der Strafverfolgung durch die Festnahme – im Sinne einer
positiven Prognose –, nicht um die tatsächliche Erreichung
dieses Zweckes. Auf diese Prognose hat es jedoch keinen
Einfluss, ob der Täter die Strafverfolgung des Festgenommenen beabsichtigt, in Kauf nimmt, oder sie nur unwissentlich
absichert.81 Eine derartige Differenzierung liefe im Ergebnis
auf eine Gesinnungsstrafe hinaus.82 Es ist folgerichtig nur
konsequent, dass (subjektive) Absichten und Kenntnisse des
Täters bei der Kompensation Erfolgsunwertes durch die Erlaubnisnorm keine Rolle spielen – sie sind allein bei der Frage beachtlich, ob auch der Handlungsunwert der Tat durch
ein Verhalten in Kenntnis der die Erlaubnisnorm begründenden Umstände kompensiert wird.83
Misst man das Handeln des B hieran, so ging er zwar (unzutreffend) von der Straflosigkeit des Verhaltens der J aus,
wollte sie aber dennoch an die Kontrolleure übergeben. Diese
wiederum reichen als Garanten für das Einleiten einer Strafverfolgung indes vollkommen aus (vgl. §§ 265a Abs. 3, 248a,
77 Abs. 1 StGB), sodass der Erfolgsunwert der Freiheitsberaubung aufgrund einer objektiv im Hinblick auf den Zweck
des § 127 Abs. 1 S. 1 StPO günstigen Prognose kompensiert
ist.
Fraglich bleibt indes, inwiefern die Fehlvorstellung des B
Einfluss auf seine Bestrafung hat. Hier bereitet bereits die
Kategorisierung des Irrtums erheblich Schwierigkeiten. So
könnte man versucht sein, ihn als einen Rechtsirrtum – also
eine falsche Bewertung von Tatsachen – einzuordnen, statt
von einem Tatsachenirrtum auszugehen, wie es im Rahmen
des subjektiven Rechtfertigungselementes eigentlich üblich
ist. In ersterem Falle müsste man wohl von einem straflosen
Wahndelikt ausgehen, während in letzterem Falle die Strafbarkeit wegen untauglichen Versuches die sachgerechte Lösung wäre. Von einem Wahndelikt wird auf Ebene der Rechtfertigung immer dann ausgegangen, wenn der Täter die
Grenzen eines Rechtfertigungsgrundes zu seinen Ungunsten
einschränkend verkennt,84 etwa weil er davon ausgeht, dass
Schusswaffengebrauch (im Rahmen des § 32 StGB) nur bei
körperlichen Angriffen zulässig ist oder Festnahmen (entgegen § 127 Abs. 1 StPO) nur durch Strafverfolgungsorgane
erfolgen können.85 Dabei handelt es sich indes um Fehlvorstellungen über die Reichweite einer aus der Rechtfertigungslage erwachsenden Befugnis, während es hier in jedem Falle
um eine Fehlvorstellung über die Rechtfertigungs- bzw. Festnahmelage selbst geht. B geht nämlich entweder zu Unrecht
von – wie im vorliegenden Fall – ist, treffen die Autoren
keine Aussage.
81
Vgl. Jakobs (Fn. 79), 11/21; Schlehofer (Fn. 79), Vorb.
§ 32 ff. Rn. 96.
82
Dies wird überzeugenderweise bereits im Rahmen der
anderen Rechtfertigungsgründe gegen das Absichtserfordernis angeführt, vgl. Roxin (Fn. 67), Rn. 99; ebenfalls kritisch
Herzberg, JA 1986, 190 (200).
83
Frisch (Fn. 79), S. 148.
84
Hierzu statt aller Roxin (Fn. 28), § 29 Rn. 382.
85
Herzberg, JuS 1980, 469 (478).
davon aus, dass keine „Tat“ im Sinne des § 127 Abs. 1 S. 1
StPO vorliegt oder aber er verkennt die objektiv günstige
Festnahmeprognose. Da Beides vom in einer Rechtfertigungslage befindlichen Täter das Anstellen einer Wertung
abverlangt, handelt es sich insofern um einen Irrtum über ein
normatives (Erlaubnis-)Tatbestandsmerkmal86. Die Frage,
wie sich eine selbstbelastende Fehlvorstellung über ein normatives (Verbots-)Tatbestandsmerkmal – bspw. die „rechtswidrige Vortat“ (§ 258 StGB) – auswirkt, wird – freilich im
Hinblick auf den allgemeinen Tatbestandsvorsatz – uneinheitlich beurteilt.87 Die Auffassungen sind jedoch grundsätzlich auf die Rechtfertigungsebene – dann im Hinblick auf das
subjektive Rechtfertigungselement – und damit auf die hier
untersuchte Problematik übertragbar88:
(a) So ist es zunächst denkbar, vom Täter zu verlangen,
dass ihm das Vorliegen des betreffenden Merkmals bekannt
ist. Er müsste dann bspw. im Falle eines Diebstahls wissen,
dass die Sache (im Rechtssinne) fremd ist, sie also nicht etwa
bereits an oder von ihm übereignet wurde (§§ 929 ff. BGB).89
Ein Irrtum über die rechtliche Bewertung des Vorganges der
Eigentumsübertragung wäre dementsprechend vorsatzausschließend, sodass es sich im Ergebnis bei allen selbstbelastenden Rechtsirrtümern im Vorfeld der Tat um straflose
Wahndelikte handelt. B wäre daher, obwohl er sich bewusst
über die Grundentscheidung des Gesetzgebers hinwegsetzte,
straflos zu stellen, weil er den zutreffend erkannten Sachverhalt – unzutreffend – nicht unter den Begriff der „Tat“ subsumierte.
(b) Eine genaue rechtliche Kenntnis des Verweisungsbereichs der normativen Merkmale – den „Verweisungsbegriffen“ – wird sich in der Praxis jedoch in aller Regel nicht
nachweisen lassen, sodass darüber nachzudenken ist, ob dem
kognitiven Erfordernis nicht bereits dann genüge getan ist,
wenn der Täter jedenfalls die in den normativen Merkmalen
ausgedrückte Grundentscheidung des Gesetzgebers nachvollzogen hat.90 Im Falle einer bewussten Entscheidung gegen
die zutreffend erkannte Grundentscheidung des Gesetzgebers,
wäre mithin die Betätigung eines „bösen Willens“ – als untauglicher Versuch – strafbar.91
86
Zum normativen Tatbestandsmerkmal Wessels/Beulke/
Satzger (Fn. 7), Rn. 190, 353.
87
Umfassend hierzu Roxin (Fn. 28), § 29 Rn. 388 ff.
88
So ganz zutreffend Herzberg, JuS 1980, 469 (478).
89
Burkhardt, JZ 1981, 681; ders., wistra 1982, 178; ähnlich
auch Puppe, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Auflage 2011,
§ 8 Rn. 7.
90
Zurückgehend auf Blei, JA 1973, 237 (321 389 459 529
601 604) und weitergeführt von Herzberg, JuS 1980, 469
(473). Im Ergebnis so auch BGHSt 15, 212 f. bei einem Irrtum eines, eine Strafanzeige unterdrückenden, Polizeibeamten über die Strafbarkeit seines Schwiegervaters. Der BGH
verurteilte hier wegen versuchter Begünstigung im Amt
(§ 346 a.F. StGB), weil der Rechtsirrtum sich allein auf die
Normen bezog, die die Strafbarkeit des Schwiegervaters
begründeten.
91
Ähnlich Herzberg, JuS 1980, 469 (478).
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ZJS 1/2017
94
Übungsfall: Jaqueline und der Fluch der Damenhandtasche
Auf den Fall gewendet folgt hieraus folgendes: Wenn B
die J festnimmt, obwohl er zutreffend erkennt, dass sie keine
„Tat“ begangen hat, setzt er sich bewusst über die Entscheidung des Gesetzgebers hinweg, Festnahmen nur bei Vorliegen einer „Tat“ zuzulassen.92 Es handelt sich daher mitnichten um einen Fall tatbestandslosen Verhaltens, welches allein
aufgrund mangelnder Rechtskenntnis des Handelnden strafbar gestellt wird.93 Ob nun hieraus – wie bei Vorfeldirrtümer
bzgl. normativer (Verbots-)Tatbestandsmerkmale – die Strafbarkeit wegen untauglichen Versuchs folgt, oder gegebenenfalls sogar eine Strafbarkeit wegen vollendeter Tat in Frage
kommt, ist dabei freilich gesondert zu entscheiden.94
(3) Die Fehlvorstellung des B ist mithin ein Fall des fehlenden subjektiven Rechtfertigungselementes.
Hinweis: Vertretbar wäre es auch gewesen, der Gegenauffassung zu folgen, welche hier ein strafloses Wahndelikt
annehmen würde. Allerdings hätte man sich hierdurch die
Diskussion um die Folge eines fehlenden subjektiven
Rechtfertigungselementes abgeschnitten, was wiederum
klausurtaktisch unklug wäre. Ferner wäre auch ein zwischen den dargestellten Auffassungen differenzierender
Ansatz denkbar.95
bb) Folgen eines fehlenden subjektiven Rechtfertigungselementes
Es stellt sich mithin die Frage, wie sich das Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselementes auf die Rechtfertigung des
B auswirkt.
(1) Dabei scheint es auf den ersten Blick einzuleuchten,
beim Fehlen einer Rechtfertigungsvoraussetzung, die Rechtfertigung als solche scheitern zu lassen.96 Man wird zwar
anerkennen müssen, dass das Unrecht der Erfolgsherbeiführung durch das Vorliegen der objektiven Rechtfertigungsvoraussetzungen (Lage und Handlung) kompensiert ist, allerdings ändert es grundsätzlich nichts an der Tatsache, dass der
tatbestandliche Erfolg eingetreten ist. Hierdurch ist der
STRAFRECHT
Rückgriff auf die Versuchsregeln mithin versperrt.97 Der
Täter – hier B – wäre demnach aus vollendetem Delikt zu
bestrafen (sog. Vollendungslösung).98 Es kann allerdings
darüber nachgedacht werden, ob ihm aufgrund des kompensierten Erfolgsunrechts – analog zur Vorschrift des § 23
Abs. 2, 3 StGB – eine (fakultative) Strafmilderung nach § 49
StGB zu gewähren ist.99
(2) Belässt man es bei dieser unterkomplexen Betrachtungsweise, kommt es – unabhängig von der Überzeugungskraft der Argumente selbst – zu einer systematischen Ungereimtheit. Denn derjenige, für den die objektiven Notwehrvoraussetzungen vorliegen, stellt mit seinem Handeln unstrittig einen von der Rechtsordnung erwünschten Zustand her.100
Durch das Versagen der Rechtfertigung geht von ihm jedoch
ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff aus, sodass ihm
gegenüber Notwehr (§ 32 StGB) geübt werden kann – mit der
möglichen Folge eines von der Rechtsordnung unerwünschten Zustandes.101
Doch auch unabhängig davon ist die These, dass die Anwendung der Versuchsregelungen aufgrund des Eintritts des
tatbestandlichen Erfolges kein Raum ist, fragwürdig. Denn
auch wenn es zutreffen mag, dass die Rechtfertigungsvoraussetzungen in ihrer Gesamtheit nicht vorliegen, so ist auch
eine Bestrafung wegen vollendeten Deliktes unzulässig, wenn
es am Erfolgsunwert der Tat fehlt bzw. dieser kompensiert
wurde. Der personale (Handlungs-)Unwert allein genügt
nämlich anerkanntermaßen nicht, um dies zu legitimieren. Im
Ergebnis ist es mithin korrekt, den Täter im Falle eines fehlenden subjektiven Rechtfertigungselementes nicht zu rechtfertigen, es ist jedoch nicht möglich, ihn infolgedessen aus
vollendetem Delikt zu bestrafen.102
(3) Das wirft freilich die Frage auf, ob die für Fälle des
gänzlich fehlenden Erfolgsunrechts geschaffen Vorschriften
über den (untauglichen) Versuch – entgegen der eingangs
aufgestellten These – trotz Erfolgseintritt anwendbar sind. Es
kommt sowohl die direkte103, als auch die analoge104 Anwen-
97
92
Herzberg, JuS 1980, 469 (478) benennt als normatives
Erlaubnistatbestandsmerkmal etwa die „Rechtswidrigkeit“
des Angriffs im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB. Das, zum straflosen Wahndelikt führende, Verkennen der Grundentscheidung des Gesetzgebers sieht er etwa dann gegeben, wenn
jemand das Notwehrrecht für sich ausschließt, weil er unter
„rechtswidrig“ nur straftatbestandsmäßiges Verhalten (vgl.
§ 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB) versteht. Liegt der Irrtum hingegen
im Verweisungsbereich, etwa weil der geflohene, sich nach
zwei Stunden wehrende Dieb unzutreffend davon ausgeht,
der ihn Festnehmende tue dies noch „auf frischer Tat“ und sei
daher seinerseits gerechtfertigt, soll ein strafbarer untauglicher Versuch vorliegen.
93
So der Einwand von Burkhardt, JZ 1981, 681, welcher sich
indes explizit nur auf die Tatbestandsebene bezog.
94
Hierzu sogleich die folgenden Erörterungen.
95
Roxin (Fn. 28), § 29 Rn. 409 ff.
96
Heinrich, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2014,
Rn. 392.
In einschlägigen Beiträgen der Vertreter der Vollendungslösung wird davon gesprochen, durch die Versuchslösung
werde der „Boden der Realität verlassen“ bzw. handele es
sich um eine „Vergewaltigung der Tatsachen“, vgl. Hirsch,
in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Strafgesetzbuch,
Leipziger Kommentar, Bd. 1, 11. Aufl. 1994, Vor § 32
Rn. 61 und Spendel (Fn. 74), § 32 Rn. 140 f.
98
BGHSt 2, 111 (114); Alwart, GA 1983, 433 (454 f.);
Heinrich (Fn. 96), Rn. 392; Krey, Strafrecht, Allgemeiner
Teil, Bd. 2, 3. Aufl. 2008, Rn. 423.
99
So vertreten von Hirsch (Fn. 86), Vor § 32 Rn. 59.
100
Roxin (Fn. 67), § 14 Rn. 105.
101
Kühl (Fn. 7), § 7 Rn. 15.
102
Jescheck/Weigend (Fn. 37), § 31 IV. 2.; Kühl (Fn. 7), § 7
Rn. 14 f.
103
So etwa Amelung, JR 1985, 474 (477); Herzberg, JA
1986, 190 ff.; Schlehofer (Fn. 79), Vorb. § 32 ff. Rn. 98;
Rönnau, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.),
Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 2, 12. Aufl.
2011, § 32 Rn. 90; Roxin (Fn. 67), Rn. 104 ff.
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95
ÜBUNGSFÄLLE
Sascha Sebastian/Henning T. Lorenz
dung der Regelungen in Frage. Da eine Analogie allerdings
eine planwidrige Regelungslücke voraussetzt,105 kommt es
zunächst einmal nur auf die Argumente für eine unmittelbare
Anwendung und deren Tragfähigkeit an.
Hier ist es zunächst denkbar, mit der sog. „Lehre von den
negativen Tatbestandsmerkmalen“ von einem Gesamtunrechtstatbestand – welcher auch das Nichtvorliegen der
Rechtfertigungsvoraussetzungen umfasst – auszugehen. Da
jedenfalls die objektiven Rechtfertigungsvoraussetzungen
vorliegen, fehlt es hier an der Tatbestandsverwirklichung,
sodass der Anwendung der Versuchsvorschriften nichts im
Wege steht.106
Es bedarf indes gar nicht des Rückgriffes auf diese –
durchaus umstrittene107 – Lehre. Als Argument für das Vorliegen einer planwidrigen Regelungslücke kommt nämlich
allein die Behauptung in Frage, dass die Versuchsvorschriften bei Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges nicht anwendbar seien.108 Doch auch wenn man einen dreigliedrigen
Verbrechensaufbau zugrunde legt, ist in jedem vollendeten
Vorsatzdelikt als notwendiges Durchgangsstadium auch ein
versuchtes Delikt enthalten.109 Kennzeichen des strafbaren
Versuches ist mithin nicht Ausbleiben des Tatbestandserfolgs, sondern das Ausbleiben des Unrechtserfolgs, der den
Erfolgsunwert begründet.110 An einem solchen fehlt es jedoch, wenn die objektiven Voraussetzungen der Rechtfertigung vorliegen.111 Daran vermag auch der Hinweis auf mögliche „Strafbarkeitslücken“112 im Falle einer fehlenden Versuchsstrafbarkeit (vgl. § 23 Abs. 1 StGB) nichts zu ändern.
Denn wenn der Gesetzgeber sich dafür entschieden hat, bestimmte Fälle des fehlenden Erfolgsunwertes nicht unter
Strafe zu stellen, dann darf diese Grundentscheidung nicht
auf Grundlage eines vermeintlichen kriminalpolitischen Bedürfnisses negiert werden.113
Fälle eines fehlenden subjektiven Rechtfertigungselementes sind mithin unmittelbar nach den Regeln des (untauglichen) Versuches zu beurteilen. Eine Bestrafung wegen voll104
Exemplarisch Jescheck/Weigend (Fn. 73), § 31 IV. 2.;
Kühl (Fn. 10), § 7 Rn. 16; Rosenau, in: Satzger/Schluckebier/
Widmaier, Strafgesetzbuch, Kommentar, 2. Aufl. 2014, Vor
§ 32 Rn. 16; Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 38), § 9 Rn. 155.
105
Die zweite Voraussetzung ist die Vergleichbarkeit der
Interessenlagen. Vgl. allgemein zum Analogieschluss
Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl. 2013, Rn. 889.
106
Herzberg, JA 1986, 190 ff.; Prittwitz, Jura 1984, 74 ff.
107
Eine Darstellung soll an dieser Stelle dahinstehen. Näher
hierzu Gropp, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2015, § 5
Rn. 1 ff.; Roxin (Fn. 67), § 10 Rn. 13-26 m.w.N.
108
Vgl. bspw. Kühl (Fn. 7), § 7 Rn. 16.
109
Schlehofer (Fn. 79), Vorb. § 32 ff. Rn. 98, 68 m.w.N.
110
Hierzu Roxin (Fn. 67), § 14 Rn. 105.
111
Als Vertreter der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen diesen Weg auf Grundlage eines dreistufigen
Deliktsaufbaus aufzeigend Herzberg, JA 1986, 190 (192).
112
Lesenswert zum Wert der Argumentation mit „Strafbarkeitslücken“ Vormbaum, JZ 1999, 613.
113
Herzberg, JA 1986, 190 (193); Roxin (Fn. 67), § 14
Rn. 106.
endeter Freiheitsberaubung kommt für B dementsprechend
nicht in Betracht.
4. Zwischenergebnis
B hat sich keiner (vollendeten) Freiheitsberaubung schuldig
gemacht.114
– Hilfsgutachten Ende –
II. Zwischenergebnis
B hat sich in diesem Teilkomplex wegen Freiheitsberaubung
strafbar gemacht.
Hinweis: Je nach Argumentation war auch die Strafbarkeit wegen versuchter Freiheitsberaubung gut vertretbar,
wenn man zuvor eine Strafbarkeit der J wegen § 265a
StGB bejaht hatte (s. Hilfsgutachten).
2. Teilkomplex: Die Gegenwehr der J
A. Strafbarkeit der J
Hinweis: Da der Sachverhalt keine Angaben zu einem
Verletzungserfolg enthält, wird hier nur die versuchte
Tatbegehung geprüft. Wenn – mit entsprechender Begründung – eine Vollendung geprüft wird, ist dies jedoch
vertretbar.
I. Wegen §§ 223 Abs. 1, 2, 22, 23 Abs. 1, 12 Abs. 2 StGB
(Versuchte Körperverletzung)
J könnte sich einer versuchten Körperverletzung gem. §§ 223
Abs. 1, 2, 22, 23 Abs. 1, 12 Abs. 2 StGB schuldig gemacht
haben, indem sie in Richtung des Unterleibs von B trat.
1. Vorprüfung
Mangels gegenteiliger Angaben im Sachverhalt handelt es
sich um eine nicht vollendete Tat, die bei der Körperverletzung nach §§ 223 Abs. 1, 2, 22, 23 Abs. 1, 12 Abs. 2 StGB
auch strafbar ist.
2. Tatentschluss
J wollte dem B gegen den Unterleib treten. Dies hätte bei ihm
starke Schmerzen zur Folge gehabt. Im Erfolgsfalle wären die
Tritte daher eine für B üble und unangemessene Behandlung,
die dessen körperliches Wohlbefinden erheblich beeinträchtigt hätten.115
Für eine Gesundheitsschädigung lassen sich im Sachverhalt keine Anhaltspunkte finden.
114
Es wäre mithin eine versuchte Freiheitsberaubung zu
prüfen und zu bejahen. A.A. Kühl (Fn. 7), § 7 Rn. 16, der
meint, eine förmliche Versuchsprüfung sei in diesem Falle
entbehrlich.
115
Vgl. BGHSt 14, 269; Lilie, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky
(Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 6,
11. Aufl. 2000, § 223 Rn. 6, 9.
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ZJS 1/2017
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Übungsfall: Jaqueline und der Fluch der Damenhandtasche
Verteidigungsabsicht fordert,121 muss prüfen, ob es der
Zweck des Handelns der J war, der Rechtsverletzung
durch B entgegenzutreten.122 Das noch anzusprechende
Problem stellt sich aber auch dort.
3. Unmittelbares Ansetzen (§ 22 StGB)
J führte die erfolgsgeeigneten Handlungen bereits aus; sie hat
unmittelbar zur Tat angesetzt.116
4. Rechtswidrigkeit
Fraglich ist, ob J durch Notwehr gerechtfertigt ist (§ 32
StGB).
a) Notwehrlage
Hierfür muss es sich beim Festhalten durch B um einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff handeln.117
Das Festhalten war eine strafbare Freiheitsberaubung im
Sinne des § 239 StGB, womit ein gegenwärtiger, rechtswidriger Angriff vorlag.
Hinweis: Wer auf Grundlage des Hilfsgutachtens wegen
des fehlenden subjektiven Rechtfertigungselements nur
einen untauglichen Versuch der Freiheitsberaubung durch
B annahm, der musste die Notwehrlage ebenfalls ablehnen, weil ein solcher kein Angriff im Sinne des § 32
Abs. 2 StGB ist.118
b) Notwehrhandlung
Die Verteidigungshandlung der J muss erforderlich (geeignet;
relativ mildestes Mittel)119 und geboten120 gewesen sein (§ 32
Abs. 2 StGB).
Aus einer objektiven ex-ante-Sicht war ein Tritt in den
Unterleib dazu geeignet den Angriff zu beenden, denn ein
Treffer und die daraus resultierenden Schmerzen hätten den
Griff des B durchaus lockern können.
Auch sind ist keine anderen Mittel ersichtlich, weshalb es
sich bei dem Tritt um das relativ mildeste Mittel handelte.
Anlass zu einer „sozial-ethischen Einschränkung des
Notwehrrechts“ bestand nicht, sodass die Verteidigung auch
geboten war.
c) Subjektives Element
Hinweis: Nach der hier vertreten Auffassung genügt für
das Vorliegen des subjektiven Rechtfertigungselementes
ein Handeln, bei dem der/die Handelnde die tatsächlichen
Umstände erfasst und sich über die Grundentscheidung
des Gesetzgebers bzgl. der normativen Erlaubnistatbestandsmerkmale im Klaren ist (s.o.). Wer hingegen eine
116
Vgl. Kudlich, JuS 2002, 27 (28); BGH NStZ 2002, 433
(435).
117
Vgl. Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 7), Rn. 482 ff.
118
Vgl. Roxin (Fn. 67), § 15 Rn. 9, 1.
119
Engländer, in: Matt/Renzikowski (Fn. 4), § 32 Rn. 24 ff.;
Fischer (Fn. 1), § 32 Rn. 28; Rosenau (Fn. 104), § 32 Rn. 23
ff.
120
Vgl. Momsen, in: v. Heintschel-Heinegg (Fn. 21), § 32
Rn. 31 ff.; krit. hinsichtlich Art. 103 Abs. 2 GG und eines
einfachrechtlichen Anknüpfungspunkts durch das Wort „geboten“ in § 32 Abs. 1 StGB, Engländer (Fn. 108), § 32
Rn. 42.
STRAFRECHT
Fraglich ist jedoch, ob J Kenntnis davon hatte, dass es sich
vorliegend um einen rechtswidrigen Angriff handelte. Da die
Rechtswidrigkeit des Angriffs des B ihren Grund in der Straffreiheit des Handelns der J hat (s.o.), müsste man streng genommen fordern, dass J um die Straffreiheit ihres eigenen
Handelns weiß.123 Lässt man es in diesem Zusammenhang
genügen, dass J in Kenntnis der Umstände handelte, welche
die Rechtswidrigkeit des Angriffes des B begründeten, wäre
das Erfordernis eine subjektiven Rechtfertigungselementes in
ihrer Person erfüllt. Geht man indes darüber hinaus und fordert – in Übereinstimmung mit dem oben Gesagten –, dass
ihr die Grundentscheidung des Gesetzgebers – also dass
Notwehr nur gegen rechtswidriges Handeln zulässig ist –
bekannt war, fehlt es hierzu im Sachverhalt schlicht an den
notwendigen Feststellungen. Da sich der „in dubio pro reo“Grundsatz allerdings anerkanntermaßen auch auf die Erlaubnistatumstände bezieht,124 ist hier jedoch von der notwendigen Kenntnis der J auszugehen, sodass es auf eine Entscheidung zwischen den Sichtweisen nicht ankommt.
d) Zwischenergebnis
J handelte nicht rechtswidrig
5. Zwischenergebnis
J hat sich keiner versuchten Körperverletzung schuldig gemacht.
II. Zwischenergebnis
J hat sich in diesem Teilkomplex nicht strafbar gemacht.
B. Strafbarkeit des B
I. Wegen § 223 Abs. 1 StGB (Körperverletzung)
B könnte sich einer Körperverletzung nach § 223 Abs. 1
StGB schuldig gemacht haben, indem er der J heftig gegen
das linke Knie trat.
1. Objektiver Tatbestand
Der Tritt gegen das Knie war sehr schmerzhaft, schränkte die
Funktionsfähigkeit des Körperteils vorübergehend ein und
zog – jedenfalls kurzfristigen – Behandlungsbedarf nach sich.
121
Weiterführend Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 38), § 9 Rn. 146
m.w.N.
122
Vgl. etwa BGH GA 1980, 67.
123
Sie muss nicht davon ausgehen, dass ihr Handeln erlaubt
ist. Der Begriff des rechtswidrigen Angriffes in § 32 StGB
erfasst jedoch keine Vertragsverletzungen, sofern diese keinen Straftatbestand erfüllen, vgl. Roxin (Fn. 61), § 15 Rn. 35.
124
Heinrich (Fn. 96), Rn. 331, 1449 ff.
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ÜBUNGSFÄLLE
Sascha Sebastian/Henning T. Lorenz
Es handelt sich mithin sowohl um eine körperliche Misshandlung als auch um eine Gesundheitsschädigung125.
bewährungsprinzip128 erforderlichen – groben Missverhältnisses.129
2. Subjektiver Tatbestand
B war sich bewusst, was sein Tritt für Folgen haben würde.
Auf diese kam es ihm jedoch gerade an, um J an der Flucht
zu hindern und sie von weiteren Tritten gegen seinen Unterleib abzuhalten. Er handelte vorsätzlich.
II. Zwischenergebnis
B hat sich wegen Körperverletzung strafbar gemacht. Sofern
die Staatsanwaltschaft kein öffentliches Interesse bejaht, wird
die Tat jedoch nur auf Antrag der J verfolgt (§§ 230 Abs. 1,
77 Abs. 1 StGB). Ein solcher wurde laut Bearbeitervermerk
gestellt.
3. Rechtswidrigkeit
Das Handeln des B könnte jedoch durch § 32 StGB (Notwehr) gerechtfertigt sein.
Hinweis: Falsch wäre es, hier auf das Festnahmerecht abzustellen. Denn selbst wenn es oben bejaht wurde, hat der
Tritt des B nichts mehr mit der Festnahme zu tun, sondern
ist vielmehr Reaktion auf den (neuen) Angriff der J.
C. Ergebnis im zweiten Tatkomplex
B hat sich wegen Freiheitsberaubung (§ 239 Abs. 1 Var. 2
StGB) in Tatmehrheit (§ 53 StGB) mit Körperverletzung
(§ 223 Abs. 1 StGB) strafbar gemacht. J bleibt in diesem
Tatkomplex straflos.
Hinweis: An dieser Stelle besteht die Gelegenheit, das eigene Ergebnis im zweiten Tatkomplex auf Schlüssigkeit
zu überprüfen. Es ist nahezu jede erdenkliche Kombination der geprüften Delikte vertretbar, sodass es neben einer
stichhaltigen Argumentation bei den Problemen vor allem
darauf ankommt, konsequent zu bleiben.
a) Notwehrlage
Die J war ihrerseits durch Notwehr gerechtfertigt, sodass es
an der Rechtswidrigkeit des gegenwärtigen Angriffs126 fehlt.
b) Zwischenergebnis
Der B war daher nicht durch Notwehr gerechtfertigt und
handelte rechtswidrig.
4. Schuld
B handelte schuldhaft.
5. Ergebnis
B hat sich wegen Körperverletzung nach § 223 Abs. 1 StGB
schuldig gemacht.
Hinweis: Wer oben von einem rechtswidrigen Angriff der
J ausgegangen ist, muss sich bei der Prüfung der Notwehrhandlung mit deren Gebotenheit auseinandersetzen;
namentlich der Frage nach einem „Bagatellangriff“ und
des „groben Missverhältnisses“ zwischen Verteidigungshandlung und Angriff.
Allerdings sind Tritte in den Unterleib eines Mannes keineswegs Verhaltensweisen, die „an der Grenze zu den
sonst üblichen Belästigungen liegen“ (Bagatelle).127 Und
auch wenn man eine gewisse Disproportionalität von Art
und Umfang der aus dem Angriff drohenden Verletzungen und der aus der Verteidigung drohenden Beeinträchtigung hier nicht leugnen können wird, genügt diese nicht
für die Annahme eines – im Hinblick auf das Rechts-
3. Tatkomplex: „Berufsprivilegien“
A. Strafbarkeit des W
I. Wegen § 240 Abs. 1 Var. 2 StGB (Nötigung)
W könnte sich einer Nötigung nach § 240 Abs. 1 Var. 2 StGB
schuldig gemacht haben, indem er der J das „Verschwindenlassen“ der Strafanzeige in Aussicht stellte, wenn sie mit ihm
Geschlechtsverkehr habe.
1. Objektiver Tatbestand
Drohung ist das Inaussichtstellen eines zukünftigen Übels,
das verwirklicht werden soll, wenn der Gezwungene sich
nicht dem Willen des Täters beugt und sich dementsprechend
verhält, vorausgesetzt, der Drohende hat Einfluss auf das
Übel oder er gibt einen solchen Einfluss vor.130
B hat J (ausdrücklich) in Aussicht gestellt, dass sie sich
der Strafverfolgung ausgesetzt sehen werde, wenn sie sich
seinem Willen nicht beuge. Er behauptete hierbei, dass er
Einfluss auf den Eintritt dieses Übels habe, was J ihm wiederum glaubte.
Fraglich erscheint indes, ob – bzw. unter welchen Voraussetzungen – die Drohung mit der Nichtvornahme einer Handlung dem Tatbestand des § 240 StGB unterfällt.
a) Zum einen ließe sich annehmen, dass derjenige, der
ankündigt, eine Handlung zu unterlassen, deren Vornahme
die Rechtsordnung in dessen freies Belieben stellt, nicht
128
125
Vgl. Engländer (Fn. 119), § 223 Rn. 7.
126
Die Tritte der J sind gerade stattfindendes Verhalten, welches droht das rechtlich geschützte Individualrechtsgut der
körperlichen Unversehrtheit des B zu verletzen.
127
Perron, in: Schönke/Schröder (Fn. 4), § 32 Rn. 49;
Frister, GA 1988, 313.
Zur Kritik an der Rechtsbewährungsdoktrin siehe Renzikowski, Notwehr und Notstand, 1994, S. 76 ff.
129
Momsen (Fn. 120), § 32 Rn. 33a.
130
Fischer (Fn. 1), § 240 Rn. 31; Joecks, Strafgesetzbuch,
Studienkommentar, 11. Aufl. 2014, § 240 Rn. 21; Rengier,
Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 17. Aufl. 2016, § 23
Rn. 39.
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ZJS 1/2017
98
Übungsfall: Jaqueline und der Fluch der Damenhandtasche
droht.131 Die Drohung mit einem Unterlassen wäre demnach
nur dann tatbestandlich, wenn der Täter im Sinne des § 13
StGB zur Vornahme der in Aussicht gestellten Handlung
verpflichtet wäre oder ihn eine sonstige Rechtspflicht
(§§ 138, 323c StGB) träfe.132
Da B keine Pflicht traf, die Strafverfolgung von J abzuwenden, wäre sein Handeln dementsprechend nicht tatbestandsmäßig.
b) Es ist jedoch keineswegs zwingend, die Drohung mit
einem Unterlassen an den strengen Voraussetzungen des § 13
StGB zu messen.133 Ein solche Auslegung verkennt den Unterschied zwischen der Drohung mit einem Unterlassen und
der Drohung durch ein Unterlassen – nur für letztere schreibt
das Gesetz die zusätzlichen Voraussetzungen des § 13 StGB
vor.134 Und auch, wenn eine sonstige Rechtspflicht gefordert
wird, wird damit außen vor gelassen, dass das Opfer beim
Drohen mit einem Unterlassen in eine vergleichbare Zwangslage gebracht werden kann, wie beim Drohen mit aktivem
Tun. Es gilt zudem zu bedenken, dass der Täter bei der Drohung mit einem empfindlichen Übel vielfach offenlassen
kann, ob dieses durch ein Tun oder ein Unterlassen seinerseits erreicht werden soll. Die Tatbestandsverwirklichung
kann daher nicht von dieser zufälligen Unterscheidung abhängen.135 Als ungerecht empfundene Ergebnisse können
mittels der „Verwerflichkeitsklausel“ (§ 240 Abs. 2 StGB)
vermieden werden.136
B hat den Willen der J durch sein Verhalten in „sozialwidriger“ Weise in eine bestimmte Richtung gelenkt. Hiernach läge eine Drohung vor, die indes auf ihre Verwerflichkeit hin zu untersuchen wäre.
c) Auch wenn die letztgenannte Sichtweise zweifellos
pragmatisch und flexibel ist, so verkennt sie doch grundlegend das Wesen einer Drohung im Rechtssinne. Um das
nachvollziehen zu können, muss man sich nur vergegenwärtigen, dass bei der Drohung mit einem Unterlassen der
Rechtskreis des potentiellen Opfers erweitert wird. Ihm wird
131
RGSt 14, 264 (265); RGSt 63, 424 (425); BGH, GA 1960,
277 (278); Dreher/Tröndle, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 39. Aufl. 1980, § 235 Rn. 5; Grosse-Wilde,
MedR 2012, 189; Haffke, ZStW 1972, 71; Jakobs, in:
Baumann/Tiedemann (Hrsg.), Festschrift für Karl Peters zum
70. Geburtstag, 1974, S. 78; Roxin, JR 1983, 333 ff. Zu einem ganz ähnlich gelagerten Fall wie dem vorliegen OLG
Hamburg NJW 1980, 2592 f. m. zust. Anm. Ostendorf.
132
Zur Unterscheidung dieser „Rechtspflichttheorie“ und der
Auffassung, die stets eine Garantenstellung verlangt, Eidam
(Fn. 65), § 240 Rn. 42.
133
BGHSt 31, 195 (201); 44, 251 (252); Eidam (Fn. 65),
§ 240 Rn. 42; Gropp/Sinn, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 4, 2. Aufl.
2012, § 240 Rn. 84 m.w.N.
134
BGHSt 31, 195 ff.; 44, 251 (252); OLG Oldenburg, NJW
2008, 3012 m. zust. Bespr. Sinn, ZJS 2010, 447 ff.; Eser, in:
Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar, 27. Aufl.
2006, § 240 Rn. 20.
135
BGHSt 31, 195 (202).
136
BGHSt 31, 195 (201).
STRAFRECHT
von Seiten des Täters Hilfe in Form des Tätigwerdens – zu
einem Preis – angeboten, zu deren Anbieten von Rechtswegen gerade keine Verpflichtung besteht.137 Es handelt sich
mithin um den Hinweis auf eine bestehende Notlage und das
Aufzeigen eines Ausweges.138 Der „Umweg“ über die Verwerflichkeitsklausel überdehnt indes die begrifflichen Grenzen der „Drohung“ nur um dann im Wege einer „konkret
normativen Betrachtung“ in vielen Fällen zum selben Ergebnis zu kommen, wie all diejenigen, welche die Tatbestandsmäßigkeit einer Drohung durch Unterlassen ablehnen. Denn
an der Verwerflichkeit im Sinne des § 240 Abs. 2 StGB soll
es in den einschlägigen Fällen immer dann fehlen, wenn der
Handlungsspielraum des Bedrohten erweitert, die Autonomie
seiner Entschlüsse jedoch nicht in strafwürdiger Weise angetastet wird.139 Soweit im Einzelfall dennoch eine Strafbarkeit
mit der Behauptung bejaht wird, dass „die Verquickung einer
eigennützigen Forderung, mit der Ankündigung nur im Falle
der Vornahme dieser auf ein Unterbleiben strafrechtlicher
Verfolgung hinzuwirken, offenkundig verwerflich“ sei,140
handelt es sich um die Bestrafung einer Verhaltensweise,
welche das geschützte Rechtsgut der Nötigung nicht beeinträchtigt.141
2. Zwischenergebnis
Mangels einer Pflicht zur Abwendung der Strafverfolgung ist
eine Drohung des W daher abzulehnen. Der objektive Tatbestand ist nicht erfüllt.
II. Zwischenergebnis
B hat sich keiner Nötigung schuldig gemacht.
B. Ergebnis im dritten Tatkomplex
B hat sich in diesem Tatkomplex nicht strafbar gemacht.
Gesamtergebnis
J hat sich wegen Diebstahls (§ 242 Abs. 1 StGB) strafbar
gemacht. W hat sich wegen Begünstigung (§ 257 Abs. 1
137
Horn, in: Wolter (Fn. 36), 240 Rn. 16 f. Kritisch hierzu
die Anmerkung Ostendorfs.
138
OLG Hamburg, NJW 1980, 2592.
139
BGHSt 31, 195 (202).
140
So fast identisch das OLG Oldenburg NJW 2008, 3012 für
einen Fall in dem Geld für das Hinwirken auf die Einstellung
eines Ermittlungsverfahrens verlangt wurde. Auch die von
Sinn, ZJS 2010, 447 (449) in diesem Fall vorgenommene
Begründung des für richtig gehaltenen Ergebnisses überzeugt
nicht, wenn er anführt der Täter habe keinen Anspruch auf
das Geld und das Opfer werde andernfalls vogelfrei. Übertragen auf den vorliegenden Fall wäre wohl auch „offenkundige“ Verwerflichkeit anzunehmen gewesen.
141
Zu Recht krit. daher Grosse-Wilde, MedR 2012, 189 und
Roxin, JR 1983, 333 (335), der diese Vorgehensweise – Annahme der Strafbarkeit bei strafwürdigem Antasten der Autonomie des Opfers – wegen der alleinige Beurteilung der
Strafwürdigkeit durch den Richter, als einen Verstoß gegen
Art. 103 Abs. 2 GG wertet.
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99
ÜBUNGSFÄLLE
Sascha Sebastian/Henning T. Lorenz
StGB) strafbar gemacht. B hat sich wegen Freiheitsberaubung (§ 239 Abs. 1 Var. 2 StGB) in Tatmehrheit (§ 53 StGB)
mit Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB) strafbar gemacht.
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ZJS 1/2017
100
BGH, Urt. v. 12.10.2016 – VIII ZR 103/15
Stietz
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Entscheidungsanmerkung
Beweislastumkehr nach § 476 BGB zugunsten des Verbrauchers bei jedem sich innerhalb der ersten sechs Monate nach Gefahrübergang zeigenden Mangel?
1. § 476 BGB ist richtlinienkonform dahin auszulegen,
dass die dort vorgesehene Beweislastumkehr zugunsten
des Käufers schon dann greift, wenn diesem der Nachweis gelingt, dass sich innerhalb von sechs Monaten ab
Gefahrübergang ein mangelhafter Zustand (eine Mangelerscheinung) gezeigt hat, der – unterstellt, er hätte seine
Ursache in einem dem Verkäufer zuzurechnenden Umstand – dessen Haftung wegen Abweichung von der geschuldeten Beschaffenheit begründen würde. Dagegen
muss der Käufer weder darlegen und nachweisen, auf
welche Ursache dieser Zustand zurückzuführen ist, noch
dass diese in den Verantwortungsbereich des Verkäufers
fällt (im Anschluss an EuGH, Urteil vom 4. Juni 2015 –
C-497/13, NJW 2015, 2237 Rn. 70 – Faber; Änderung der
bisherigen Senatsrechtsprechung; vgl. Senatsurteile vom
2. Juni 2004 – VIII ZR 329/03, BGHZ 159, 215, 217 f.
[Zahnriemen]; vom 14. September 2005 – VIII ZR 363/04,
NJW 2005, 3490 unter II 1 b bb (1) [Karrosserieschaden];
vom 23. November 2005 – VIII ZR 43/05, NJW 2006, 434
Rn. 20 f. [Turbolader]; vom 18. Juli 2007 – VIII ZR
259/06, NJW 2007, 2621 Rn. 15 [defekte Zylinderkopfdichtung]).
2. Weiter ist § 476 BGB richtlinienkonform dahin auszulegen, dass dem Käufer die dort geregelte Vermutungswirkung auch dahin zugutekommt, dass der binnen sechs
Monaten nach Gefahrübergang zu Tage getretene mangelhafte Zustand zumindest im Ansatz schon bei Gefahrübergang vorgelegen hat (im Anschluss an EuGH, Urteil
vom 4. Juni 2015 – C-497/13, aaO Rn. 72 – Faber; Aufgabe der bisherigen Senatsrechtsprechung; vgl. Urteile vom
2. Juni 2004 -– VIII ZR 329/03, aaO; vom 22. November
2004 – VIII ZR 21/04, NJW 2005, 283 unter [II] 2; vom
14. September 2005 – VIII ZR 363/04, aaO; vom 23. November 2005 – VIII ZR 43/05, aaO Rn. 21; vom 21. Dezember 2005 – VIII ZR 49/05, NJW 2006, 1195 Rn. 13
[Katalysator]; vom 29. März 2006 – VIII ZR 173/05,
BGHZ 167, 40 Rn. 21, 32 [Sommerekzem I]; vgl. Senatsurteil vom 15. Januar 2014 - VIII ZR 70/13, BGHZ 200, 1
Rn. 20 [Fesselträgerschenkelschaden]).
(Amtliche Leitsätze)
BGB § 476
BGH, Urt. v. 12.10.2016 – VIII ZR 103/15 (OLG Frankfurt
am Main, LG Frankfurt am Main)1
In seinem Urteil vom 12.10.20162 hat der BGH seine bisherige Rechtsprechung zur Beweislastumkehr beim Verbrauchsgüterkauf nach § 476 BGB grundlegend verändert.
War der BGH in der Vergangenheit noch davon ausgegangen, dass § 476 BGB nur in zeitlicher Hinsicht wirke,
änderte er diese Auffassung mit seiner jüngsten Entscheidung
dahingehend, dass § 476 BGB unter Beachtung der Rechtsprechung des EuGH als Quasi-Haltbarkeitsgarantie wirke!
Diese Entscheidung ist begrüßenswert, da der BGH sich
nun im Gleichschritt mit der vorzugswürdigen Auslegung der
Literatur zu § 476 BGB bewegt.3
Zum Prozessverlauf: Der Kläger hatte von der Beklagten,
einer Kraftfahrzeughändlerin einen gebrauchten BMW gekauft, der nach knapp fünf Monaten in der Automatikeinstellung „D“ nicht mehr in den Leerlauf schaltete, statt dessen
starb der Motor ab. Ein Anfahren oder Rückwärtsfahren am
Berg war nicht mehr möglich. Nach erfolgloser Fristsetzung
zur Mangelbeseitigung trat der Kläger vom Kaufvertrag zurück und verlangte Rückzahlung des Kaufpreises und Schadensersatz.
Bisher nahm der BGH an, dass das bloße Auftreten eines
Mangels innerhalb von sechs Monaten seit Gefahrübergang
nicht ausreiche, um die Beweislast umzukehren.4 Das Gericht
ging davon aus, dass § 476 BGB lediglich eine Vermutung in
zeitlicher Hinsicht sei und es deshalb des Beweises durch den
Käufer bedürfe, dass die Sache bereits bei Gefahrübergang
mangelhaft gewesen sei, bzw. ggf. darüber hinaus, dass eine
fehlerhafte Bedienung durch den Käufer nicht Ursache für
die Mangelhaftigkeit gewesen sein konnte.
Das Rücktrittsbegehren des Käufers scheiterte in der Praxis regelmäßig daran, dass nicht bewiesen werden konnte, ob
ein Grundmangel oder eine fehlerhafte Bedienung zum sich
zeigenden Mangel geführt hat.
So wäre es auch im nun vom BGH entschiedenen Fall
gewesen; der BMW fuhr – zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs – einwandfrei. Ob ein in der Sache schlummernder
Sachmangel oder eine Fehlbedienung des Käufers zur Funktionsuntüchtigkeit des Leerlaufs geführt hat, konnte nicht
festgestellt werden. Nach alter BGH-Ansicht wäre § 476
BGB nicht anwendbar gewesen und der Käufer hätte (mangels Fiktion eines Sachmangels bei Gefahrübergang) keine
Mängelgewährleistungsrechte geltend machen können.
Die durchaus interessante Meinung Schwabs5 zog der
BGH im Rahmen seiner Urteilsfindung nicht heran. Sie ergriffe den vom BGH entschiedenen Fall allerdings auch
schon gar nicht. Nach Schwab soll der Käufer im Sinne einer
sog. „Jemals-Vermutung“ § 476 BGB dann fruchtbar machen
können, wenn der Verkäufer zwar beweisen kann, dass die
Sache bei Gefahrübergang einwandfrei funktioniert hat, der
Käufer seinerseits aber beweisen kann, dass die Sache ir2
Urt. v. 12.10.2016 – VIII ZR 103/15.
Ausführliche dogmatische Darstellung siehe Stietz, ZJS
2016, 399.
4
BGH NJW 2004, 2299 (2300); BGH NJW 2005, 3490
(3492); BGH NJW 2006, 2250 (2253); BGH NJW 2007,
2621 (2622); BGH NJW 2014, 1086 (1087).
5
Schwab, JuS 2015, 71.
3
1
Die Entscheidung ist abrufbar unter:
http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/docu
ment.py?Gericht=bgh&Art=en&nr=76474&pos=0&anz=1
(23.1.2017).
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Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com
101
BGH, Urt. v. 12.10.2016 – VIII ZR 103/15
Stietz
_____________________________________________________________________________________
gendwann in ihrer Lebensdauer schon einmal mangelhaft
gewesen war.6 Hier war dem Käufer des BMW keine vorherige Mangelhaftigkeit bekannt auf die er sich hätte berufen
können.
In seinem Urteil vom 12.10.2016 entschied sich der BGH
vielmehr dafür, § 476 BGB richtlinienkonform auszulegen.
Hierzu war er nach der Faber-Entscheidung des EuGH7 auch
gezwungen.
§ 476 BGB wurde im Jahr 2002 zur Umsetzung von
Art. 5 Abs. 3 der VerbrGK-RL8 in das BGB eingefügt.
Grundsätzlich sind letztinstanzliche Gerichte verpflichtet,
Normen europarechtskonform auszulegen und ggf. bei Unsicherheiten hinsichtlich der Auslegung des Unionsrechts den
EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach
Art. 267 Abs. 3 AEUV anzurufen. Hat der EuGH allerdings
bereits über einen gleichen Fall entschieden, besteht keine
Vorlagepflicht (acte éclairé) und ist die Rechtsprechung des
EuGH bei der Urteilsfindung entsprechend zu berücksichtigen. In seiner Faber-Entscheidung9 hat der EuGH Art. 5
Abs. 3 VerbrGK-RL dahingehend ausgelegt, dass es sich um
eine quasi Haltbarkeitsgarantie für die ersten sechs Monate
nach Gefahrübergang handele. Da der Wortlaut des § 476
BGB für eine solche Interpretation offen ist, musste der BGH
§ 476 BGB in der vorliegenden Entscheidung dahingehend
auslegen, dass er dem Verbraucher innerhalb von sechs Monaten nach Gefahrübergang einen vollumfänglichen Schutz
bietet. Das bedeutet, dass der Käufer lediglich das Vorliegen
eines Mangels innerhalb von sechs Monaten nach Gefahrübergang beweisen können muss, damit ein Mangel bei Gefahrübergang über § 476 BGB vermutet werden kann.
Indem der BMW fünf Monate nach Gefahrübergang nicht
mehr einwandfrei funktionierte, ist der Tatbestand des nun
neu ausgelegten § 476 BGB erfüllt, so dass ein Mangel bei
Gefahrübergang angenommen werden kann. Der Käufer kann
trotz dessen, dass nicht klar ist, ob ein bei Gefahrübergang
vorliegender Grundmangel oder eine Fehlbedienung durch
den Käufer zur Mangelhaftigkeit geführt hat, im Rahmen des
Sachmängelgewährleistungsrechts gegen die Verkäuferin
vorgehen.
Die vorzugswürdige Ansicht in der Literatur10 war bei der
Auslegung des § 476 BGB schon seit jeher zu dem oben
dargestellten Ergebnis gelangt. Sie nimmt eine von der alten
Ansicht des BGH abweichende Wortlautauslegung sowie
eine Auslegung nach der Systematik und dem Sinn und
Zweck der Vorschrift vor:
§ 476 BGB lasse nach seinem klaren Wortlaut keine andere Deutung zu als die, dass bei jedem Mangel, der sich
innerhalb der ersten sechs Monate nach Gefahrübergang
zeige, zugunsten des Verbrauchers vermutet werde, die Sache
sei bereits bei Gefahrübergang mangelhaft gewesen. Hierbei
behilft sich die Literatur mit der Vorstellung eines in der
Sache schlummernden Mangels. § 476 BGB stelle ferner eine
Ausnahme zur allgemeinen Regel nach § 363 BGB dar, derzufolge der Fordernde eine ihm günstige Tatsache beweisen
können muss. Diese Modifizierung sei erforderlich und von §
476 BGB, der wie oben gezeigt Art. 5 Abs. 3 VerbrGK-RL
umsetzt, bezweckt, um den Verbraucher vor schlechteren
Beweismöglichkeiten die Sache betreffend und vor besseren
Erforschungsmöglichkeiten des Unternehmers schützen zu
können.
Abschließend lässt sich feststellen, dass § 476 BGB sowohl nach Auslegung der Literatur als auch nach neuer Auslegung des BGH dahingehend zu verstehen ist, dass jeder
Mangel innerhalb der ersten sechs Monate nach Gefahrübergang als Mangel bei Gefahrübergang anzusehen ist, wenn
nicht der Verkäufer etwas Gegenteiliges beweisen kann.
Stud. iur. Cornelia Stietz, Heidelberg
6
Diese Ansicht ist abzulehnen. Nur organische Sachen können sich von einem Mangel scheinbar regenerieren und dabei
dennoch an einem zwischenzeitlich nicht sichtbaren Grundmangel leiden. Weiß der Käufer einer starren Sache von
einem Mangel, greift bereits § 442 BGB. Für § 476 BGB
bleibt kein Raum. Detaillierter Stietz, ZJS 2016, 399 (401).
7
EuGH, Urt. v. 4.6.2015 – C-497/13 (Faber).
8
Richtlinie 1999/44/EG.
9
EuGH, Urt. v. 4.6.2015 – C-497/13 (Faber).
10 Vgl. Lorenz, in: Münchner Kommentar zum BGB, 7. Aufl.
2016, § 476 Rn. 4; Löhnig, JA 2004, 857 (858); Lorenz, NJW
2004, 3020 (3021); Fischinger, JA 2006, 401 (402); Maultzsch, NJW 2006, 3091 (3093).
_____________________________________________________________________________________
ZJS 1/2017
102
BGH, Urt. v. 24.9.2014 – XIII ZR 394/12
Hagemann
_____________________________________________________________________________________
Entscheidungsanmerkung
Der Begriff der wesentlichen Vertragsverletzung im UNKaufrecht
1. Für die Beurteilung, ob eine wesentliche Vertragsverletzung vorliegt, ist, wenn die Vertragswidrigkeit auf
einer Abweichung von der vertraglich vereinbarten Beschaffenheit (Art. 35 Abs. 1 CISG) oder auf einer sonstigen Mangelhaftigkeit (Art. 35 Abs. 2 CISG) beruht, nicht
allein die Schwere der Mängel entscheidend, sondern
vielmehr, ob durch das Gewicht der Vertragsverletzung
das Erfüllungsinteresse des Käufers im Wesentlichen
entfallen ist. Kann er die Kaufsache, wenn auch unter
Einschränkungen, dauerhaft nutzen, wird eine wesentliche Vertragsverletzung vielfach zu verneinen sein (Fortführung von BGH, Urteil vom 3. April 1996 – VIII ZR
51/95, BGHZ 132, 290, 297 ff.).
2. Bei der Prüfung, ob eine Vertragsverletzung des Verkäufers das Erfüllungsinteresse des Käufers im Wesentlichen entfallen lässt, ist in erster Linie auf die getroffenen
Parteivereinbarungen abzustellen. Fehlen ausdrückliche
Vereinbarungen, ist vor allem auf die Tendenz des UNKaufrechts Rücksicht zu nehmen, die Vertragsaufhebung
zugunsten der anderen in Betracht kommenden Rechtsbehelfe, insbesondere der Minderung oder des Schadensersatzes zurückzudrängen. Die Rückabwicklung soll dem
Käufer nur als letzte Möglichkeit (ultima ratio) zur Verfügung stehen, um auf eine Vertragsverletzung der anderen Partei zu reagieren, die so gewichtig ist, dass sie sein
Erfüllungsinteresse im Wesentlichen entfallen lässt (im
Anschluss an BGH, Urteil vom 3. April 1996 – VIII ZR
51/95, aaO).
3. Die Aufrechnung von gegenseitigen Geldforderungen,
die aus demselben dem UN-Kaufrecht unterliegenden
Vertragsverhältnis entspringen, beurteilt sich nach konventionsinternen Verrechnungsmaßstäben. Folge der
konkludent oder ausdrücklich zu erklärenden Aufrechnung ist, dass die gegenseitigen Geldforderungen - sofern
keine Aufrechnungsausschlüsse vereinbart worden sind –
durch Verrechnung erlöschen, soweit sie betragsmäßig
übereinstimmen (Weiterentwicklung von BGH, Urteile
vom 23. Juni 2010 – VIII ZR 135/08, WM 2010, 1712
Rn. 24; vom 14. Mai 2014 – VIII ZR 266/13, WM 2014,
1509 Rn. 18).
(Amtliche Leitsätze)
CISG Art. 4, 7 Abs. 2, 25, 49 Abs. 1 lit. a
BGH, Urt. v. 24.9.2014 – VIII ZR 394/12 (OLG Zweibrücken,
LG Zweibrücken)1
I. Einleitung
Das CISG („Convention on Contracts for the International
Sale of Goods“) oder Wiener Übereinkommen der Vereinten
Nationen vom 11.4.1980 über Verträge über den internationalen Warenkauf gilt seit 1.1.1991 für die Bundesrepublik
Deutschland. Das auch UN-Kaufrecht genannte Übereinkommen ist grundsätzlich auf grenzüberschreitende Kaufverträge über Waren zwischen Unternehmen mit Sitz in den
CISG-Mitgliedsstaaten anzuwenden (Art. 1 CISG). Die Regeln des UN-Kaufrechts sind dispositiv; die Vertragsparteien
dürfen die Geltung des CISG ausschließen (Art. 6 CISG).
Das UN-Kaufrecht gilt derzeit in 85 Mitgliedsstaaten.2
Der vorliegende Beitrag beleuchtet die Bedeutung des
Begriffs der wesentlichen Vertragsverletzung für die Mängelgewährleistung im UN-Kaufrecht vor dem Hintergrund
des Urteils des BGH. Anhand des Urteils wird veranschaulicht, welche Voraussetzungen vorliegen müssen, damit eine
wesentliche Vertragsverletzung bejaht werden kann.
II. Die Bedeutung der wesentlichen Vertragsverletzung
im UN-Kaufrecht
1. Der Begriff der Vertragsverletzung
Das UN-Kaufrecht verwendet für alle Fälle der Pflichtverletzung den zentralen Begriff der Vertragsverletzung. Insoweit
wird auch nicht zwischen unterschiedlichen Pflichtverletzungen wie Verzug oder Schlechtleistung differenziert.3
Der Begriff der Vertragsverletzung wird im UN-Kaufrecht nicht definiert. Laut Güllemann4 heißt Vertragsverletzung, dass eine Pflicht aus dem Vertrag oder dem CISG nicht
eingehalten worden ist. Dabei soll es allein auf die objektive
Verletzung der Pflicht ankommen. Ein Verschulden wird
nicht vorausgesetzt.
2. Der Begriff und die Bedeutung der wesentlichen Vertragsverletzung
Bei Vorliegen einer (einfachen) Vertragsverletzung hat der
Vertragspartner verschiedene Rechtsbehelfe. So darf der
Käufer Erfüllung (Art. 46 Abs. 1 CISG), Nachbesserung
(Art. 46 Abs. 3 CISG) oder Minderung (Art. 50 CISG) und
daneben Schadenersatz fordern (Art. 45 Abs. 1 lit. b, 74
CISG).
Die Rechtsbehelfe der Ersatzlieferung (Art. 46 Abs. 2
CISG) und der Vertragsaufhebung (Art. 49 Abs. 1 lit. a
CISG) setzen hingegen voraus, dass die Vertragsverletzung
wesentlich ist. Und schließlich verliert der Käufer bei Vorliegen einer wesentlichen Vertragsverletzung trotz eines eingetretenen Gefahrübergangs nicht seine Rechte (Art. 70 CISG).
Die Hauptbedeutung der wesentlichen Vertragsverletzung, die auch als „Angelpunkt des Sanktionensystems“ des
2
1
Die Entscheidung ist abrufbar unter:
http://juris.bundesgerichtshof.de/cgibin/rechtsprechung/docu
ment.py?Gericht=bgh&Art=en&sid=d0168fdcf1b5bfed9242d
797608558e5&nr=69357&pos=0&anz=1 (26.1.2017).
Vgl. http://www.uncitral.org/uncitral/en/uncitral_texts/sale_
goods/1980CISG_status.html (26.1.2017).
3
Güllemann, Internationales Vertragsrecht, 2. Aufl. 2014,
S. 173.
4
Güllemann (Fn. 3), S. 174.
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BGH, Urt. v. 24.9.2014 – XIII ZR 394/12
Hagemann
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CISG bezeichnet wird, liegt in seiner Funktion als Vertragsaufhebungsvoraussetzung.5
Art. 25 CISG lautet:
„Eine von einer Partei begangene Vertragsverletzung ist
wesentlich, wenn sie für die andere Partei solchen Nachteil
zur Folge hat, dass ihr im Wesentlichen entgeht, was sie nach
dem Vertrag hätte erwarten dürfen, es sei denn, dass die vertragsbrüchige Partei diese Folge unter den gleichen Umständen auch nicht vorausgesehen hätte.“
Diese gesetzliche Definition des Begriffs der wesentlichen Vertragsverletzung wurde in der Literatur als „sehr
vage“ bezeichnet. Denn sie stellt gleich auf mehrere unbestimmte Begriffe ab (Vertragsverletzung, Nachteil, Wesentlichkeit, berechtigte Erwartung und Vorhersehbarkeit).6
Einigkeit bestand jedoch in Rechtsprechung und Literatur
darin, dass angesichts der einschneidenden Folgen von einem
restriktiven Verständnis des Begriffs der wesentlichen Vertragsverletzung auszugehen sei.7 Denn die Vertragsaufhebung und die daraus im internationalen Handelsverkehr folgende Notwendigkeit eines aufwändigen Rücktransports von
Waren über große Distanzen werden im Vergleich zur Geltendmachung anderer Rechtsbehelfe wie eines Schadensersatzes als unökonomisch angesehen.8 Aus diesem Grund soll
die Rückabwicklung von Verträgen nur als „ultima ratio“ zur
Verfügung stehen.9
Zu fragen ist nun, unter welchen Voraussetzungen und bei
welchen Fallgestaltungen eine wesentliche Vertragsverletzung vorliegt. Denn nur die Klassifizierung einer Vertragsverletzung als wesentlich eröffnet – wie gerade dargelegt –
die Möglichkeit zu Ersatzlieferung oder Vertragsaufhebung.
III. Urteil des BGH
1. Sachverhalt (verkürzt dargestellt)
Die Beklagte bezog Spritzgusswerkzeuge bei der in Ungarn
ansässigen Klägerin. Bei einigen Lieferaufträgen rügte die
Beklagte Mängel. Nachdem die Klägerin die Mängel nicht
zur Zufriedenheit der Beklagten beseitigt hatte, erklärte die
Beklagte den „Rücktritt vom Vertrag“. In der Folgezeit behob
die Beklagte bei sämtlichen Werkzeugen die von ihr monierten Mängel selbst und setzte sie danach in ihrer Produktion
ein.
Die Klägerin begehrt einen Restkaufpreis für die Werkzeuge. Die Beklagte hält dem entgegen, die Vergütungsforderungen seien durch den Rücktritt entfallen.
Das Landgericht Zweibrücken hatte der Klage im Wesentlichen stattgegeben. Im Berufungsverfahren hatte das
OLG Zweibrücken entschieden, die Beklagte sei wegen Vor5
Schroeter, in: Kommentar zum Einheitlichen UN-Kaufrecht, 6. Aufl. 2013, Art. 25 CISG Rn. 6.
6
Ferrari, in: Ferrari u.a., Internationales Vertragsrecht,
2. Aufl. 2011, Rn. 4.
7
BGH NJW 1996, 2364 (2366); Ferrari (Fn. 6), Rn. 4;
Gruber, in: Münchener Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 2016,
Art. 25 CISG Rn. 5.
8
Gruber (Fn. 7), Art. 25 CISG Rn. 5; Schroeter (Fn. 5),
Art. 25 CISG Rn. 9.
9
Gruber (Fn. 7), Art. 25 CISG Rn. 5.
liegens einer wesentlichen Vertragsverletzung und des daraufhin erklärten Rücktritts von der Zahlungspflicht befreit.
Gegen diese Entscheidung richtete sich die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin, der der BGH stattgab.
2. Rechtliche Wertung des BGH
Der BGH hat im vorliegenden Fall eine wesentliche Vertragsverletzung seitens der Klägerin verneint.
Nach Ansicht des BGH ist ein Pflichtenverstoß im Anschluss an Art. 25 CISG dann wesentlich, wenn er die berechtigten Vertragserwartungen der anderen Partei so sehr
beeinträchtigt, dass deren Interesse an der Erfüllung des Vertrags im Wesentlichen entfällt.
Bei der Beurteilung, ob eine Vertragsverletzung wesentlich ist, ist zunächst auf die Parteivereinbarung abzustellen.
Fehlen Parteivereinbarungen ist auf die Tendenz des UNKaufrechts Rücksicht zu nehmen, wonach die Rückabwicklung des Vertrags nur als letzte Möglichkeit (ultima ratio)
besteht. Denn das UN-Kaufrecht geht vom Vorrang der Vertragserhaltung aus.
Für die Bejahung oder Verneinung einer wesentlichen
Vertragsverletzung sollen die Umstände des Einzelfalls entscheidend sein.
Der BGH stellt jedoch in seinem Urteil für bestimmte
Fallgruppen Leitlinien auf.
Im Falle der mangelhaften Lieferung ist nicht allein auf
die Schwere der Mängel abzustellen. Vielmehr soll eine wesentliche Vertragsverletzung dann vorliegen, wenn durch das
Gewicht der Vertragsverletzung das Erfüllungsinteresse des
Käufers im Wesentlichen entfallen ist. Die mangelhafte Ware
muss also für den Käufer weitgehend ohne Nutzen sein.
Eine Vertragsverletzung soll grundsätzlich dann nicht wesentlich sein, wenn der Käufer die Ware – und sei es unter
Einschränkungen – nutzen kann. Demzufolge soll kein Mangel vorliegen, wenn eine anderweitige Verarbeitung oder ein
Absatz der Ware im gewöhnlichen Geschäftsverkehr, gegebenenfalls mit einem Preisabschlag, ohne unverhältnismäßigen Aufwand möglich und zumutbar ist. Entsprechendes gilt,
wenn der Mangel von Käufer oder Verkäufer mit zumutbarem Aufwand innerhalb angemessener Frist beseitigt werden
kann. Gegen das Vorliegen einer wesentlichen Vertragsverletzung kann schließlich auch der Umstand sprechen, dass der
Käufer die mangelhafte Sache für den vorgesehenen Zweck
auf Dauer verwendet und hierdurch gezeigt hat, dass sie für
ihn nicht ohne Interesse war.
Für den vorliegenden Fall war damit von entscheidender
Bedeutung, dass die Beklagte nach tatrichterlicher Feststellung bereits im Zeitpunkt des Rücktritts nicht vorhatte, die
Werkzeuge zurückzugeben. Die Beklagte wollte vielmehr die
Mängel selbst beheben und die Werkzeuge anschließend
verwenden. Damit hat der BGH eine wesentliche Vertragsverletzung nach den oben genannten Leitlinien verneint und
ein Entfallen des Kaufpreisanspruchs nach Art. 81 Abs. 1
CISG ebenfalls verneint.
IV. Fazit und Praxistipps
Im besprochenen Fall stellt der BGH Leitlinien für das Vorliegen einer wesentlichen Vertragsverletzung nach CISG auf.
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Positiv zu vermerken ist, dass die Leitlinien dem Grundgedanken des UN-Kaufrechts vom Vorrang der Vertragserhaltung folgen. Die Leitlinien des BGH führen zudem zu wirtschaftlich sinnvollen Ergebnissen. Im grenzüberschreitenden
Verkehr ist die Rückabwicklung von Verträgen mit erhöhtem
Aufwand verbunden. In den meisten Fällen werden die Parteien von sich aus versuchen, über eine Minderung des Kaufpreises zu einer Lösung zu gelangen. Eine Rückabwicklung
des Vertrages wird in vielen Fällen nicht im Interesse beider
Parteien sein. Diese Praxis wird durch die Leitlinien des
BGH gestärkt.
Zu beachten ist jedoch, dass der BGH die Umstände des
Einzelfalls als entscheidend ansieht und bei Vorliegen einer
Parteivereinbarung diese als vorrangig bewertet.
Vor diesem Hintergrund bietet es sich in der Beratungspraxis an, bereits im Vertrag Fallgruppen und Voraussetzungen für das Vorliegen einer wesentlichen Vertragsverletzung
zu definieren und damit eine Parteivereinbarung zur Definition einer wesentlichen Vertragsverletzung zu treffen. Diese
Festlegungen dienen der Rechtssicherheit und helfen, Streitigkeiten zu vermeiden.10
Rechtsanwältin Dr. Katrin Hagemann, Minden
10
Die vorstehenden Ausführungen stellen die persönliche
Auffassung der Autorin dar und stehen in keinem Zusammenhang mit ihrer beruflichen Tätigkeit.
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Entscheidungsanmerkung
Amtshaftung wegen unterbliebener Bereitstellung von
Plätzen in der Kindertagesbetreuung seitens der öffentlichen Jugendhilfe
1. Der zuständige Träger der öffentlichen Jugendhilfe
verletzt seine Amtspflicht, wenn er einem gemäß § 24
Abs. 2 SGB VIII (in der ab dem 1.8.2013 geltenden Fassung) anspruchsberechtigten Kind trotz rechtzeitiger Anmeldung des Bedarfs keinen Betreuungsplatz zur Verfügung stellt. Für das Verschulden des Amtsträgers kommt
dem Geschädigten ein Beweis des ersten Anscheins zugute.
2. Die mit dem Anspruch aus § 24 Abs. 2 SGB VIII korrespondierende Amtspflicht bezweckt auch den Schutz
der Interessen der personensorgeberechtigten Eltern.
3. In den Schutzbereich der verletzten Amtspflicht fällt
auch der Verdienstausfallschaden, den Eltern dadurch
erleiden, dass ihr Kind entgegen § 24 Abs. 2 SGB VIII
keinen Betreuungsplatz erhält.
(Amtliche Leitsätze)
BGB § 839
SGB VIII § 24 Abs. 2
BGH, Urt. v. 20.10.2016 – III ZR 278/15, 302/15, 303/151
I. Einführung
Die drei Urteile des BGH vom 20.10.2016 befassen sich mit
Schadenersatzansprüchen von personensorgeberechtigten
Elternteilen gegenüber Trägern der öffentlichen Jugendhilfe,
die für die Bereitstellung von Plätzen in der Kindertagesbetreuung, also Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege, zuständig sind.2 Das Gericht sieht eine Amtspflichtverletzung der beklagten Gemeinde (genauer: der Stadt Leipzig)
darin, dass sie anspruchsberechtigten Kindern entsprechende
Plätze trotz frühzeitiger Anmeldung nicht zur Verfügung
gestellt hat. Die Besonderheit der Fälle liegt darin, dass sich
§ 24 SGB VIII als Norm, die den Anspruch der Kinder auf
Betreuungsplätze begründet, in den entscheidenden Passagen
allein an die Kinder wendet, während die geltend gemachten
1
Im Internet abrufbar unter
http://juris.bundesgerichtshof.de/cg-bin/rechtsprechung/docu
ment.py?Gericht=bgh&Art=en&sid=d1eee650aa4f4d3ce191
474fb19ecae3&nr=76566&pos=6&anz=19 (19.1.2017);
http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/docu
ment.py?Gericht=bgh&Art=en&sid=d1eee650aa4f4d3ce191
474fb19ecae3&nr=76486&pos=7&anz=19 (19.1.2017);
http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/docu
ment.py?Gericht=bgh&Art=en&sid=d1eee650aa4f4d3ce191
474fb19ecae3&nr=76521&pos=8&anz=19 (19.1.2017).
2
Dieser Beitrag behandelt nicht die vom BGH ebenfalls
diskutierten Anspruchsgrundlagen des öffentlich-rechtlichen
Schuldverhältnisses (§§ 280, 311, 249 BGB analog), des
§ 36a Abs. 3 SGB VIII und der Geschäftsführung ohne Auftrag (§§ 683, 670 BGB).
finanziellen Schäden den (klagenden) Müttern entstanden
sind. Entgegen dem OLG Dresden als Vorinstanz bejaht der
BGH gleichwohl einen auf § 839 Abs. 1 S. 1 BGB i.V.m.
Art. 34 GG beruhenden Ersatzanspruch. Die Art und Weise,
in der er das Problem rechtsmethodisch angeht und die Entscheidungen begründet, verdient Beachtung und stellt den
besonderen Wert dar, den diese nicht unbedingt im Zentrum
des Prüfungsgeschehens angesiedelten Urteile für die juristische Ausbildung besitzen. Wer das methodische Vorgehen
des BGH in seiner zentralen Argumentation nachverfolgt,
kann die eigenen juristischen Kompetenzen stärken.
II. Sachverhalt
In den drei Urteilen geht es um Mütter, die ihre Kinder im
April, Mai und Juli 2013 jeweils ca. acht Monate vor Vollendung des ersten Lebensjahres in der öffentlichen Kindertagesbetreuung anmeldeten, um den Platz rechtzeitig zum ersten Geburtstag zur Verfügung zu haben. Weil die Stadt
Leipzig es nicht schaffte, entsprechende Betreuungsstellen
zum gewünschten Zeitpunkt zuweisen zu können, mussten
die drei Klägerinnen ihre Elternzeit verlängern und erlitten
Verdienstausfälle, und zwar (nach Abzug des Elterngeldes3)
in Höhe von 4.463,12 €, 1.682,40 € und 7.332,93 €. Diese
wollten sie – neben anderen Posten wie Beiträgen zu einem
Berufsversorgungswerk und Rechtsanwaltsgebühren – von
der Stadt Leipzig ersetzt haben.
III. Rechtliche Einordnung der Urteile
1. Ansprüche auf Förderung in der Kindertagesbetreuung
gemäß § 24 SGB VIII
Kindertagesbetreuung findet statt in Tageseinrichtungen oder
in der Kindertagespflege. Eine erste Abgrenzung dieser beiden Institute liefert § 22 Abs. 1 S. 1 SGB VIII, der erklärt,
dass Tageseinrichtungen Einrichtungen sind, in denen Kinder
sich für einen Teil des Tages oder ganztägig aufhalten und in
Gruppen gefördert werden (Bsp.: Kindergärten, Kindertagesstätten), während Kindertagespflege von einer geeigneten
Tagespflegeperson in ihrem Haushalt oder im Haushalt des
Personensorgeberechtigten geleistet wird. Näheres zur Unterscheidung überlässt § 22 Abs. 1 S. 2 SGB VIII dem Landesrecht.4 Die Vorschrift, die den rechtlichen Zugang zu den
einzelnen Formen der Kindertagesbetreuung regelt, ist § 24
SGB VIII. Seine jetzige Fassung beruht auf dem Kinderförderungsgesetz5 und ist am 1.8.2013 in Kraft getreten. Er
differenziert nach Altersgruppen:
§ Abs. 1 befasst sich mit Kindern unter einem Jahr, deren
Förderung in einer Einrichtung oder in der Kindertagespflege an die in S. 1 Nr. 1 und 2 bestimmten Voraussetzungen gebunden ist. Der Umfang der täglichen Förderung richtet sich nach dem individuellen Bedarf (S. 3). Ob
3
Siehe zur Berechtigung § 1 BEEG, zur Höhe §§ 2 ff. BEEG.
Siehe etwa § 1 des Kindertagesbetreuungsgesetzes BadenWürttemberg oder – passend zu den drei Urteilen – § 1 des
Gesetzes über Kindertageseinrichtungen Sachsen.
5
Vom 10.12.2008 = BGBl. I 2008, S. 2403.
4
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§ 24 Abs. 1 SGB VIII nicht nur eine objektiv-rechtliche
Verpflichtung der zuständigen öffentlichen Träger zur
Schaffung entsprechender Plätze, sondern sogar einen
Rechtsanspruch des jeweiligen Kindes mit der Folge der
Einklagbarkeit der Betreuung beinhaltet, ist umstritten.6
Letztere Deutung kann sich immerhin auf den Wortlaut
der Vorschrift stützen,7 denn es heißt in § 24 Abs. 1 S. 1
SGB VIII mit Blick auf das betroffene Kind, dass dieses
„zu fördern [ist]“. Dies spricht eher dafür, dass der Gesetzgeber Kindern auch vor Vollendung des ersten Lebensjahres die Möglichkeit einräumen wollte, im Falle
des Vorliegens der Voraussetzungen des Abs. 1 S. 1 ihre
Rechte gegenüber den öffentlichen Trägern der Kinderund Jugendhilfe gerichtlich durchsetzen zu können. Nach
historischer und systematischer Auslegung des § 24
Abs. 1 S. 1 SGB VIII lässt sich dies jedoch nicht halten.
Denn einerseits liest man in den einschlägigen Gesetzesbegründungen lediglich von einer „öffentlich-rechtlichen“
bzw. „objektiv-rechtlichen Verpflichtung“, die mit § 24
Abs. 1 SGB VIII geschaffen werden sollte.8 Andererseits
verwendet § 24 Abs. 2 S. 1, Abs. 3 S. 1 SGB VIII – anders als Abs. 1 S. 1 – mit Bezug auf die beiden folgenden
Altersstufen explizit den Begriff „Anspruch“ und reiht
sich damit in die übrigen anspruchsbegründenden Vorschriften des SGB VIII ein (siehe etwa §§ 17 Abs. 1 S. 1,
27 Abs. 1, 35a Abs. 1, 43 Abs. 4, 53 Abs. 2, 75 Abs. 2
SGB VIII). Deshalb ist bei Kindern vor Vollendung des
ersten Lebensjahres von einem einklagbaren Recht auf
Förderung gerade nicht auszugehen.
§ Kinder, die das erste Lebensjahr vollendet haben, verfügen gemäß § 24 Abs. 2 S. 1 bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres über einen (gerichtlich durchsetzbaren)9
Anspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege. Auch hier richtet sich
der Umfang nach dem individuellen Bedarf (§ 24 Abs. 2
S. 2 i.V.m. § 24 Abs. 1 S. 3 SGB VIII).10
§ Kinder, die das dritte Lebensjahr vollenden, haben gemäß
§ 24 Abs. 3 S. 1 SGB VIII bis zum Schuleintritt ebenfalls
6
Siehe etwa Struck, in: Wiesner, SGB VIII, Kommentar,
5. Aufl. 2015, § 24 Rn. 7 m.w.N.
7
Siehe dazu Hardtung, Lehrskript Rechtstheorie mit juristischer Methodenlehre, 3. Kapitel: Die Auslegung von Gesetzen, Stand: 2014, Rn. 275, der zu Recht betont, dass der
Wortlaut maßgeblich ist, „bis ein anderer Auslegungsgesichtspunkt (Historie, Systematik) dargetan ist, der zu einem
anderen Auslegungsergebnis führt: Wer sich vom typischen
Wortsinn lösen möchte, hat die Beweislast.“
8
Siehe Gesetzentwurf der Fraktionen CDU/CSU und SPD,
BT-Drs. 16/9299, S. 15; Gesetzentwurf der Bundesregierung,
BT-Drs. 16/10173, S. 16.
9
Zuständig sind die Verwaltungsgerichte, denn es handelt
sich um öffentlich-rechtliche Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art, die keinem anderen Gericht, insbesondere
nicht dem Sozialgericht, zugewiesen sind, siehe dazu § 40
Abs. 1 VwGO i.V.m. § 51 SGG.
10
Siehe Einzelheiten bei Winkler, in: BeckOK SozR, SGB
VIII, Kommentar, Stand: 31.7.2016, § 24 Rn. 17 ff.
Anspruch auf Förderung, und zwar in einer Tageseinrichtung. Dass nicht ganztätig gefördert werden muss, zeigt
S. 2 der Vorschrift, der nur eine Pflicht auf Hinwirken
statuiert. Das Kind kann bei besonderem Bedarf oder ergänzend auch in Kindertagespflege gefördert werden.11
§ Für Kinder im schulpflichtigen Alter muss ein bedarfsgerechtes Angebot in Tageseinrichtungen geschaffen werden (§ 24 Abs. 4 S. 1 SGB VIII). Bei besonderen Bedarfen kommt ergänzend Kindertagespflege in Betracht. Es
gilt das für Kinder vor Vollendung des ersten Lebensjahres Gesagte: Da in Abs. 4, anders als in Abs. 2 und 3, der
Begriff „Anspruch“ nicht verwendet wird, handelt es sich
nur um eine nicht einklagbare objektive Rechtspflicht des
zuständigen Trägers der öffentlichen Jugendhilfe.
2. Amtspflichtverletzung und hinreichende Drittbezogenheit
Es gilt, den Bogen von § 24 SGB VIII zur Schadenersatzpflicht der Gemeinde wegen Amtspflichtverletzung zu schlagen. Als Anspruchsgrundlage lautet § 839 Abs. 1 S. 1 BGB:
„Verletzt ein Beamter vorsätzlich oder fahrlässig die ihm
einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht, so hat er
dem Dritten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen.“
Die Formulierung der Norm macht deutlich, dass für einen
Schadenersatzanspruch nicht die Verletzung irgendeiner
Amtspflicht genügt, sondern es eine sein muss, die gerade
gegenüber dem Geschädigten als „Dritten“ besteht. Zudem
muss der Schaden „aus“ der Amtspflichtverletzung entstehen.
Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen, sind: Welches ist die einschlägige Amtspflicht des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe und wurde diese verletzt? Besteht die
Pflicht auch gegenüber den geschädigten Müttern? Erfasst die
Pflicht die geltend gemachten Verdienstausfälle? Die Antworten, die der BGH in den Urteilen liefert, sind überzeugend.
a) Amtspflichtverletzung
Die Amtspflichtverletzung sieht der BGH in dem Umstand,
dass die Stadt Leipzig als zuständiger öffentlicher Träger den
Kindern der drei Klägerinnen Plätze in der Kindertagesbetreuung zum gewünschten Zeitpunkt nicht anbieten konnte:
Mit § 24 Abs. 2 SGB VIII habe der Gesetzgeber Kindern
zwischen Vollendung des ersten und dritten Lebensjahres, zu
denen die der Klägerinnen gehören, einen Anspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege eingeräumt, und daraus erwachse für den
sachlich und örtlich zuständigen öffentlichen Träger die
Amtspflicht, im Rahmen seiner Planungsverantwortung sicherzustellen, dass für jedes anspruchsberechtigte Kind ein
entsprechender Betreuungsplatz zur Verfügung stehe. Insoweit treffe den öffentlichen Träger, sagt der BGH, „eine
unbedingte Gewährleistungspflicht“, die nicht nur im Rahmen der vorhandenen Kapazität bestehe, sondern ihn dazu
anhalte, eine ausreichende Zahl von Betreuungsplätzen selber
oder durch geeignete freie Träger oder Tagespflegepersonen
zu schaffen. Hierbei habe der öffentliche Träger die Wahl, ob
er den Platz in einer Tageseinrichtung oder im Rahmen der
11
Näheres bei Struck (Fn. 6), § 24 Rn. 56 ff.
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Kindertagespflege zuweise, die gleichrangig nebeneinander
stünden.12 Diese Pflicht habe die beklagte Kommune verletzt,
denn sie habe den Kindern der Klägerinnen nach Ablauf des
ersten Lebensjahres keine Plätze in der Kindertagesbetreuung
zur Verfügung stellen können, obgleich deren Bedarf rechtzeitig angemeldet wurde.13
b) Drittbezogenheit
aa) Allgemeines
Eine größere Hürde stellt sich dem BGH bei der sog. Drittbezogenheit der Amtspflicht, also der Frage, ob die Mütter als
Personensorgeberechtigte von der soeben beschriebenen
Pflicht des öffentlichen Trägers, eine ausreichenden Zahl von
Betreuungsplätzen zu gewährleisten, mitgeschützt werden.
Man erinnere sich an den Text des § 839 Abs. 1 S. 1 BGB,
der verlangt, dass die Amtspflicht dem geschädigten Dritten
gegenüber obliegt. Zur Drittbezogenheit hat der BGH in der
Vergangenheit allgemein ausgeführt:14
„Ob eine Amtspflicht gegenüber einem geschädigten
Dritten besteht, bestimmt sich danach, ob die Amtspflicht –
wenn auch nicht notwendig allein, so doch [...] auch – den
Sinn hat, gerade sein Interesse wahrzunehmen. Aus den die
Amtspflicht begründenden und sie umreißenden Bestimmungen sowie aus der Natur des Amtsgeschäfts muss sich ergeben, dass der Geschädigte zu dem Personenkreis zählt, dessen
Belange nach dem Zweck und der rechtlichen Bestimmung
des Amtsgeschäfts geschützt und gefördert werden sollen;
darüber hinaus kommt es darauf an, ob in qualifizierter und
zugleich individualisierbarer Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist. Es muss mithin eine besondere Beziehung zwischen der verletzten Amtspflicht und dem geschädigten Dritten bestehen. Hierfür ist die unmittelbare Beteiligung am Amtsgeschäft freilich ebenso wenig notwendige
Voraussetzung wie ein Rechtsanspruch des Betroffenen auf
die streitgegenständliche Amtshandlung. Andererseits genügt
es nicht allein, dass sich die Verletzung der Amtspflicht für
den Geschädigten nachteilig ausgewirkt hat. Da im Übrigen
eine Person, der gegenüber eine Amtspflicht zu erfüllen ist,
12
Hier sieht Schwarz ein mögliches Schlupfloch der Kommunen, der aufwändigen Schaffung von Kindertageseinrichtungen zu entgehen, siehe unter:
http://community.beck.de/2016/10/26/schadensersatz-guensti
ger-als-kita-bau-bgh-urteilt-zu-fehlender-betreuung
(19.1.2017).
13
§ 24 Abs. 5 S. 2 SGB VIII gibt dem Landesgesetzgeber die
Möglichkeit, entsprechende Bestimmungen zu schaffen.
Hiervon hat das betroffene Land Sachsen Gebrauch gemacht
und in seinem Gesetz über Kindertageseinrichtungen folgenden § 4 S. 2 etabliert: „Sie [die Erziehungsberechtigten] haben den Betreuungsbedarf in der Regel sechs Monate im
Voraus bei der gewünschten Einrichtung oder Kindertagespflegestelle und bei der Wohnortgemeinde unter Angabe der
gewünschten Einrichtung oder Kindertagespflegestelle anzumelden“. Dass die betroffenen Mütter diesbezüglich alle
Obliegenheiten erfüllt haben, unterlag keinen Zweifeln.
14
Siehe BGH NJW 2013, 3370.
nicht in allen ihren Belangen immer als Dritter anzusehen
sein muss, ist jeweils zu prüfen, ob gerade das im Einzelfall
berührte Interesse nach dem Zweck und der rechtlichen Bestimmung des Amtsgeschäftes geschützt werden soll.“
Das Merkmal ist hier schwierig, weil die Formulierung
des § 24 Abs. 2 S. 1 SGB VIII – wie angedeutet – die zu
betreuenden Kinder, nicht die Personensorgeberechtigten
anspricht. Die Vorinstanz, das OLG Dresden,15 hat genau
daraus geschlossen, dass der erforderliche Bezug der Amtspflicht zu den Müttern nicht bestehe und deshalb ein Schadenersatzanspruch aus § 839 Abs. 1 S. 1 BGB nicht herzuleiten sei. Bestärkt wähnte das OLG sich noch durch die Tatsache, dass von den in § 22 Abs. 2 SGB VIII genannten
„Grundsätze(n) der Förderung“ einzig das kindeswohlbezogene Merkmal der Nr. 1 in der Anspruchsgrundlage des § 24
Abs. 2 SGB VIII repräsentiert ist, nämlich in der Formulierung „frühkindliche Förderung“.
Der BGH stellt sich den Ausführungen des OLG Dresden
nun mit einer methodisch sauberen Begründung entgegen und
bejaht die „Drittbezogenheit“. Er rückt dabei „Sinn und
Zweck“ des Gesetzes in den Vordergrund, den er neben der
Förderung des Kindeswohls auch in der Verbesserung der
Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsleben und der Schaffung von Anreizen für die Erfüllung von Kinderwünschen
sieht. Dieser „Sinn und Zweck“ wird vom BGH allerdings
nicht aus dem sprichwörtlichen Hut gezaubert und § 24
Abs. 2 SGB VIII schwebend-teleologisch aufgestülpt,16 sondern unter Zuhilfenahme von historischen und systematischen Argumenten überzeugend ermittelt. Allgemein gilt: Ein
dem Gesetz vom Rechtsanwender beigelegter „Sinn und
Zweck“ muss, will er ernstgenommen sein, auf eine Quelle
im Wortlaut des Gesetzes, der Gesetzgebungsgeschichte oder
der Gesetzessystematik zurückgeführt werden können, anderenfalls ist er als unbewiesene Behauptung wertlos, weil
zirkelschlüssig: „Wenn Sinn und Zweck des Gesetzes das
Ergebnis der Auslegung sind, können sie nicht gleichzeitig
ihr Mittel sein.“17
bb) Historie
Der BGH argumentiert zunächst historisch und zitiert Materialien aus dem Gesetzgebungsverfahren zum Kinderförderungsgesetz. Und tatsächlich spiegelt sich sein Ergebnis, § 24
Abs. 2 SGB VIII diene (auch) der Verbesserung der Vereinbarkeit von Erwerbsleben und Familie, in verschiedenen
Passagen der Entwürfe wider. Diese seien hier wörtlich zitiert:
„Viele Eltern realisieren ihre vorhandenen Kinderwünsche nicht, weil sie keine Möglichkeiten sehen, ihr berufliches Engagement mit den familiären Aufgaben zu verbinden.
Deshalb ist es notwendig, Wege für eine verbesserte Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsleben zu öffnen, die dem
15
Siehe OLG Dresden NZFam 2015, 915.
Zur ergebnisorientierten Beliebigkeit, die die „teleologische“ Auslegung erzeugen kann, Herzberg, JuS 2005, 1
(6 ff.); Schlehofer, JuS 1992, 572 (576); Walz, ZJS 2010, 482
(485).
17
Schlehofer, JuS 1992, 572 (576).
16
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Wohle der Kinder dienen. Um diesem Anliegen gerecht zu
werden, benötigen wir für die Kinder unter drei Jahren mehr
Betreuungsplätze in guter Qualität.“18
„Angesichts der von Land zu Land unterschiedlichen Zugangskriterien zu den Tageseinrichtungen können Eltern, die
eine Erwerbstätigkeit mit Pflichten in der Familie vereinbaren
wollen und angesichts der Anforderungen der Wirtschaft ein
hohes Maß an Mobilität aufbringen müssen, nicht darauf
vertrauen, in allen Ländern ein im Wesentlichen gleiches
Angebot an qualitätsorientierter Tagesbetreuung vorzufinden.
Aus demselben Grunde können auch überregional agierende
Unternehmen nicht damit rechnen, in allen Ländern auf ein
Potenzial qualifizierter weiblicher Arbeitskräfte zurückgreifen zu können, da sie örtlich und regional fehlende Betreuungsmöglichkeiten an einer Erwerbstätigkeit hindern. […]
Deshalb ist ein bedarfsgerechtes Angebot an qualifizierter
Tagesbetreuung in allen Teilen der Bundesrepublik Deutschland heute eine zentrale Voraussetzung für die Attraktivität
Deutschlands als Wirtschaftsstandort in einer globalisierten
Wirtschaftsordnung. Engpässe in der Versorgung mit Betreuungsplätzen in einzelnen Regionen haben unmittelbare Folgen für die Rekrutierung qualifizierter Arbeitskräfte und
damit für die Wettbewerbsfähigkeit dieser Region.“19
cc) Systematik
Im Weiteren geht der BGH auf die systematische Schiene
und weist den in den Materialien ausgedrückten Willen des
Gesetzgebers im Gesetzestext nach. Er stellt dabei besonders
auf § 22 SGB VIII ab, der die Grundsätze der Förderung von
Kindern in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege
beschreibt. In diesem legt Abs. 2 Nr. 3 fest, dass die Kindertagesbetreuung auch dazu dient, Eltern zu helfen, Erwerbstätigkeit und Kindererziehung besser miteinander vereinbaren
zu können. Den vom OLG Dresden vertretenen Ansatz, dieser Grundsatz habe in § 24 Abs. 2 SGB VIII keinen Niederschlag gefunden, vielmehr sei dort nur von „frühkindlicher
Förderung“ die Rede, widerlegt der BGH mit richtigen Argumenten: Einerseits steht die Vorschrift des § 22 SGB VIII
mitsamt ihrem Abs. 2 am Anfang des Abschnitts und gilt
deshalb ohne Einschränkung und Differenzierungen für eben
diesen Abschnitt. Warum der Gesetzgeber die Stärkung der
Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familie gerade beim
Anspruch aus § 24 Abs. 2 SGB VIII nicht hätte gelten lassen
sollen, ist aus keinem Grund ersichtlich. Andererseits beinhaltet die Formulierung der „frühkindlichen Förderung“ keinen Ausschluss der Belange des § 22 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII,
sondern lediglich eine Bezugnahme auf das „gefördert werden“ in § 22 Abs. 1 S. 1 SGB VIII.
Weitere Argumente für seine Ansicht findet der BGH in
den Vorschriften der § 24 Abs. 5 S. 1 SGB VIII und § 80
Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 4 SGB VIII. Hier überzeugt der
Hinweis auf erstere zwar nur bedingt, denn § 24 Abs. 5 S. 1
SGB VIII statuiert eine Pflicht der öffentlichen Träger, Eltern
oder Elternteile zu informieren und zu beraten, bezieht sich
dabei aber weniger auf die Erwerbstätigkeit als das „pädago18
19
gische Grundkonzept“ der jeweiligen Kindertagesbetreuung.
Plausibel ist dann aber wieder die Einbeziehung des § 80
SGB VIII, denn dieser verpflichtet die Träger im Rahmen der
Planungsverantwortung den Bedarf „unter Berücksichtigung
der Wünsche, Bedürfnisse und Interessen der jungen Menschen und der Personensorgeberechtigten“ zu ermitteln
(Abs. 1 Nr. 2) und Einrichtungen und Dienste so zu planen,
dass „Mütter und Väter Aufgaben in der Familie und Erwerbstätigkeit besser miteinander vereinbaren können“
(Abs. 2 Nr. 4). Der Hinweis auf § 80 SGB VIII – sich nicht
direkt in einem Abschnitt mit § 24 Abs. 2 SGB VIII befindend – hat sicher nicht die Durchschlagskraft wie § 22 Abs. 2
Nr. 3 SGB VIII, ein tragfähiges Indiz für die Wertschätzung
des Gesetzgebers gegenüber der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familie liefert er allemal.
c) Einbeziehung der Verdienstausfälle in den Schutzbereich
der Amtspflicht
Mit der Begründung der Verletzung der Amtspflicht und der
Drittbezogenheit hat der BGH die entscheidenden Vorarbeiten geleistet. Nun kann er leicht darlegen, dass gerade die von
den Klägerinnen geltend gemachten Verdienstausfälle dem
Schutzbereich der Amtspflicht, eine ausreichende Anzahl von
Betreuungsplätzen zur Verfügung zu stellen, unterstehen: Es
entspreche, so das Gericht, der in der Gesetzeshistorie ermittelten und im Gesetz zum Ausdruck gekommenen Regelungsabsicht des Gesetzgebers, Vereinbarkeit von Familie
und Erwerbsleben zu verbessern und Anreize für die Erfüllung von Kinderwünschen zu schaffen. Den Eltern ein- bis
dreijähriger Kinder solle eine Erwerbstätigkeit leichter als
bisher ermöglicht werden. Hieraus folge, dass der Verdienstausfallschaden, den ein Elternteil infolge der Nichtbereitstellung eines Betreuungsplatzes erleide, grundsätzlich vom
Schutzbereich der verletzten Amtspflicht mitumfasst werde.
Dem ist nichts hinzuzufügen.
3. Ausblick
Die Argumentation des BGH in den Urteilen vom 20.10.2016
betrifft letztlich nur die Vorschrift des § 24 Abs. 2 SGB VIII.
Sie wird auf Konstellationen des § 24 Abs. 3 SGB VIII aber
zukünftig ebenfalls Anwendung finden müssen, weil dieser –
wie erörtert – auch einen Anspruch auf Förderung statuiert,
nämlich den von Kindern ab Vollendung des dritten Lebensjahres bis zum Schuleintritt. Die vom BGH vorgetragenen
Argumente aus Wortlaut, Historie und Systematik gelten dort
ebenso, insbesondere ist der in den Materialien und der Vorschrift des § 22 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII etablierte Grundsatz,
dass die Kindertagesbetreuung Eltern helfen soll, Erwerbstätigkeit und Kindererziehung besser miteinander vereinbaren
zu können, uneingeschränkt auf den Anspruch aus § 24
Abs. 3 SGB VIII anzuwenden.
Prof. Dr. Torsten Noak, LL.M., Ludwigsburg
Siehe BT-Drs. 16/10173, S. 1.
Siehe BT-Drs. 16/9299, S. 11 f.
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BGH, Beschl. v. 3.2.2016 – 4 StR 594/15
Böse
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E n t s c h e i d u n g s a n m e r k u n g
Gefährliche Körperverletzung mittels eines gefährlichen
Werkzeugs
Der Tatbestand des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB setzt voraus,
dass die Körperverletzung durch ein von außen unmittelbar auf den Körper einwirkendes gefährliches Tatmittel
eingetreten ist. Wird ein Kraftfahrzeug als Werkzeug
eingesetzt, muss die körperliche Misshandlung also bereits durch den Anstoß selbst ausgelöst worden sein; erst
infolge eines anschließenden Sturzes erlittene Verletzungen sind dagegen nicht auf den unmittelbaren Kontakt
zwischen Fahrzeug und Körper zurückzuführen.
(Leitsatz d. NStZ-Schriftleitung)
StGB § 224 Abs. 1 Nr. 2
BGH, Beschl. v. 3.2.2016 – 4 StR 594/15 (LG Mönchengladbach)1
I. Einleitung
Der erhöhte Strafrahmen des § 224 StGB beruht auf der besonderen Gefährlichkeit der Tatbegehung für die körperliche
Unversehrtheit und Gesundheit des Opfers. Im Fall des § 224
Abs. 1 Nr. 2 StGB resultiert das gesteigerte Unrecht auf dem
zur Körperverletzung eingesetzten gefährlichen Werkzeug.
Darunter fällt nach h.M. jeder Gegenstand, der nach seiner
objektiven Beschaffenheit und der Art seiner Verwendung im
konkreten Fall geeignet ist, erhebliche Verletzungen herbeizuführen.2 Eine erhebliche Verletzung muss nicht eingetreten
sein, eine diesbezügliche konkrete Gefährdung ist vielmehr
für den Tatbestand des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB ausreichend.3 Der Tatbestand verlangt allerdings, dass die vom
Grundtatbestand (§ 223 StGB) geforderte Körperverletzung
„mittels“ des gefährlichen Werkzeugs herbeigeführt worden
ist. Um die sich daraus ergebenden Anforderungen geht es in
der vorliegenden Entscheidung.
1
Die Entscheidung ist abgedruckt in NStZ 2016, 724 und
online abrufbar unter
http://juris.bundesgerichtshof.de/cgibin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&sid=
35d439dc1e860a3da54baf75c48bf9a3&nr=74047&pos=0&a
nz=1&Blank=1.pdf (31.1.2017).
2
BGHSt 3, 105 (109); 14, 149 (155); BGH NStZ 2002, 86;
BGH NStZ 2007, 95; Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 64. Aufl. 2017, § 224 Rn. 9; Stree/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl. 2014, § 224 Rn. 4.
3
Fischer (Fn. 2), § 224 Rn. 2; Stree/Sternberg-Lieben
(Fn. 2), § 224 Rn. 3; näher zur Einordnung als konkretes
Gefährdungsdelikt: Paeffgen, in: Kindhäuser/Neumann/
Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch,
Bd. 2, 4. Aufl. 2013, § 224 Rn. 3 ff.
II. Sachverhalt
Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zu Grunde: A
und B haben einen Getränkemarkt mit zwei Kisten Mineralwasser verlassen, ohne diese zu bezahlen, und diese anschließend in ihr Auto verladen. Als A mit dem Auto den Parkplatz
des Getränkemarktes verlassen will, stellt sich ihr der C in
den Weg. Nachdem A den C zunächst einige Meter zurückgedrängt hat, indem sie mit dem Auto langsam auf ihn zugerollt ist, setzt sich C auf die Motorhaube, um A am Weiterfahren zu hindern. Als A die Fahrt mit mittlerer Geschwindigkeit fortsetzt, hält C sich an dem Spalt zwischen Windschutzscheibe und Motorhaube fest, rutscht aber während der
Fahrt für einen kurzen Moment nach vorn, so dass sein linker
Fuß kurzzeitig vorne unter die Motorhaube gerät und er
dadurch nicht unerhebliche Schmerzen am Fuß erleidet. Ob
diese auf einen unmittelbaren Kontakt zwischen dem Fuß des
C und dem Fahrzeug zurückzuführen sind, ergibt sich nicht
aus den erstinstanzlichen Feststellungen.
III. Entscheidung
In der ersten Instanz war A des Diebstahls (§ 242 StGB) in
Tateinheit mit Nötigung (§ 240 StGB), gefährlichem Eingriff
in den Straßenverkehr (§ 315b StGB) und gefährlicher Körperverletzung (§ 224 StGB) schuldig gesprochen worden.
Der BGH hob die Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung auf, da die Voraussetzungen für eine Körperverletzung „mittels“ eines gefährlichen Werkzeugs nicht belegt
seien.4 Der Tatbestand des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB setze
nämlich voraus, dass der Körperverletzungserfolg durch ein
von außen unmittelbar auf den Körper einwirkendes Mittel
eingetreten sei.5 Werde ein Kraftfahrzeug als gefährliches
Werkzeug eingesetzt, sei diese Voraussetzung nicht gegeben,
wenn das Opfer nicht durch den Kontakt mit dem Fahrzeug,
sondern erst durch den nachfolgenden Sturz Verletzungen
erleide.6 Das Tatgericht habe gerade nicht festgestellt, dass
die Schmerzen am Fuß des C auf einen Kontakt mit dem von
A geführten Fahrzeug zurückzuführen gewesen seien.7 Auch
ein Schuldspruch wegen einfacher Körperverletzung komme
nicht in Betracht, da es insoweit an den Voraussetzungen des
§ 230 Abs. 1 StGB fehle (Strafantrag oder Annahme eines
besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung).8
IV. Analyse und Kritik
1. Entwicklung der Rechtsprechung
Die aus dem vorangestellten Leitsatz ersichtliche Einschränkung der in § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB enthaltenen Qualifikation über das Erfordernis einer unmittelbaren körperlichen
Einwirkung durch das gefährliche Werkzeug beruht auf einer
4
BGH NStZ 2016, 724.
BGH NStZ 2016, 724.
6
BGH NStZ 2016, 724.
7
BGH NStZ 2016, 724.
8
BGH NStZ 2016, 724.
5
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gefestigten Rechtsprechung.9 Soweit ersichtlich, hat der BGH
diese Einschränkung zum ersten Mal in einem Fall angewandt, in dem der Täter auf die Reifen eines fahrenden Autos
geschossen und dabei in Kauf genommen hatte, dass es
dadurch zu einem Unfall und einer Verletzung von Fahrer
und Beifahrer kommen könnte. Der BGH sah den Tatbestand
des (versuchten) § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB nicht als verwirklicht an, da die Fahrzeuginsassen nach der Vorstellung des
Täters nicht durch die mit der Waffe abgefeuerten Projektile,
sondern erst durch den nachfolgenden Unfall verletzt worden
wären, die Körperverletzungserfolg mithin nicht „mittels“ der
eingesetzten Waffe eingetreten wäre.10 Die nächste Entscheidung hatte bereits eine der vorliegenden Entscheidung ähnliche Sachverhaltskonstellation zum Gegenstand: Ein Polizist
beugt sich in das Innere eines Fahrzeugs, um den Fahrer
durch das Ziehen der Handbremse an der Weiterfahrt zu
hindern; dieser fährt rückwärts los, das Fahrzeug stößt gegen
eine Böschung, wodurch der Polizist vom Fahrzeug auf den
Gehweg fällt und sich dabei verletzt. Der BGH erkannte zwar
an, dass ein Kraftfahrzeug, das zur Verletzung von Personen
eingesetzt wird, als gefährliches Werkzeug anzusehen sei,
verneinte aber auch hier eine gefährliche Körperverletzung,
da nicht auszuschließen sei, dass die Verletzungen des Polizisten nicht durch eine Einwirkung des Fahrzeugs auf seinen
Körper, sondern erst durch den Aufprall auf dem Gehweg
entstanden seien.11 Das Erfordernis einer „unmittelbaren“
körperlichen Einwirkung durch das gefährliche Werkzeug hat
der BGH ausdrücklich erstmals in einem Fall aufgestellt, in
dem der Täter dem Opfer ein Kabel locker um den Hals gelegt hatte, um es in Angst und Schrecken zu versetzen; insoweit war zwar nach der konkreten Verwendung des Kabels
bereits das Vorliegen eines gefährlichen Werkzeugs zu verneinen, der BGH wies jedoch ergänzend mit Blick auf die
vorstehend genannten Urteile darauf hin, dass die Wirkung
des Kabels nicht körperlich, sondern psychisch vermittelt
werde und es somit an einer unmittelbaren körperlichen Einwirkung fehle.12 Das Unmittelbarkeitskriterium wurde in der
Folgezeit in mehreren Entscheidungen zum Einsatz eines
Kraftfahrzeugs als Tatmittel im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2
StGB übernommen, in denen jeweils die bisherige Rechtsprechung bestätigt wurde, wonach der Tatbestand nicht
erfüllt sei, wenn die Verletzungen des Opfers nicht unmittelbar durch den Kontakt mit dem Fahrzeug, sondern nur mittelbar durch einen nachfolgenden Sturz verursacht worden
seien.13 Dies gelte erst recht, wenn es nicht durch einen Zusammenstoß mit dem vom Täter geführten Fahrzeug, sondern
durch eine Ausweichreaktion des Opfers zu sturzbedingten
9
BGH NStZ 2006, 572 (573); BGH NStZ 2007, 405; BGH
NStZ 2010, 512 (513); BGH NStZ 2012, 697 (698); BGH
NStZ 2014, 36 (37).
10
BGH NStZ 2006, 572 (573).
11
BGH NStZ 2007, 405.
12
BGH NStZ 2010, 512 (513).
13
BGH BeckRS 2011, 19236; BGH NStZ 2012, 697 (698);
BeckRS 2013, 03156; BGH NStZ 2014, 36 (37).
Verletzungen gekommen sei.14 Wenngleich die Rechtsprechung des BGH im Schrifttum überwiegend Zustimmung
gefunden hat15, ist sie nicht ohne Widerspruch geblieben16.
So hat das OLG Hamm Zweifel an dem Erfordernis einer
unmittelbaren Einwirkung geäußert und sich dafür ausgesprochen, auch einen Einsatz des Fahrzeugs, der mittelbar zu
einer Verletzung des Opfers führt, als tatbestandsmäßig im
Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB anzusehen.17 Diesen
Zweifeln soll nunmehr nachgegangen werden.
2. Wortlaut und systematische Stellung des § 224 Abs. 1 Nr. 2
StGB
Die einschränkende Auslegung des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB
wird äußerst knapp begründet.18 Der BGH stützt sich auf den
Wortlaut des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB („mittels“) und weist
ergänzend darauf hin, dass auch § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB in
dem Sinne ausgelegt werde, dass eine mittelbare Verursachung einer Lebensgefahr nicht ausreichend sei.19 Dieser Begründung wird jedoch mit Recht entgegengehalten, dass die
Präposition „mittels“ ihrer Bedeutung nach nur voraussetzt,
dass die Körperverletzung mit dessen Hilfe bzw. durch dieses
verursacht wird, aber einen unmittelbaren Zusammenhang
zwischen Kontakt mit dem gefährlichen Werkzeug und Verletzung nicht verlangt.20 Da der BGH die einschränkende
Auslegung des § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB seinerseits unter
Verweis auf seine Rechtsprechung zu § 224 Abs. 1 Nr. 2
StGB begründet hat21, vermag auch diese Parallele eine einschränkende Auslegung nicht zu stützen.22 Im Schrifttum
findet sich allerdings als weiteres systematisches Argument,
dass aus dem Regelungszusammenhang mit § 224 Abs. 1
Nr. 1 StGB („Beibringen“ des Giftes) abzuleiten sei, dass
auch § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB einen Kontakt zwischen Tatmittel und Opfer voraussetze.23 Aus dieser Parallele ergäbe
14
BGH NJW 2013, 2133 (2135); BGH NStZ-RR 2015, 244
(jeweils zum Versuch).
15
Fischer (Fn. 2), § 224 Rn. 7a; Krüger, NZV 2007, 482
(483); Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, Kommentar, 28. Aufl.
2014, § 224 Rn. 3; Momsen/Momsen-Pflanz, in: Satzger/
Schluckebier/Widmaier,
Strafgesetzbuch,
Kommentar,
3. Aufl. 2016, § 224 Rn. 20; Rengier, Strafrecht, Besonderer
Teil, Bd. 2, 17. Aufl. 2016, § 14 Rn. 41; Stree/SternbergLieben (Fn. 2), § 224 Rn. 3a.
16
Eckstein, NStZ 2008, 125 ff.; Hardtung, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch,
Bd. 4, 2. Aufl. 2012, § 224 Rn. 21 ff.; Paeffgen (Fn. 3), § 224
Rn. 12; Stam, NStZ 2016, 713 ff.; siehe auch Kindhäuser,
Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1, 7. Aufl. 2015, § 9 Rn. 14.
17
OLG Hamm NStZ-RR 2014, 141; siehe bereits KG NStZ
NZV 2006, 111.
18
Siehe die entsprechende Kritik bei Stam, NStZ 2016, 713.
19
BGH NStZ 2007, 405, mit Hinweis auf BGH NZV 2006,
483 (484) – zu § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB.
20
OLG Hamm NStZ-RR 2014, 141; Stam, NStZ 2016, 713
(714); siehe auch Krüger, NZV 2007, 482 (483).
21
BGH NZV 2006, 483 (484).
22
So aber Krüger, NZV 2007, 482.
23
Krüger, NZV 2007, 482 (483).
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BGH, Beschl. v. 3.2.2016 – 4 StR 594/15
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sich indes allenfalls, dass es zu einem Kontakt mit dem Fahrzeug gekommen sein muss (also Verletzungen infolge von
Ausweichreaktionen nicht erfasst werden)24, der Verweis auf
die Binnensystematik des § 224 StGB wäre jedoch nicht
geeignet, mittelbare Verletzungsfolgen eines solchen Kontaktes – wie im vorliegenden Fall – generell vom Anwendungsbereich des Tatbestands auszunehmen.
3. Normzweck und Gefährdungsunrecht
a) Wendet man sich nun der teleologischen Auslegung zu, so
wird das in § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB vertypte, durch den
Einsatz des Tatmittels begründete Gefährdungsunrecht zum
maßgeblichen Bezugspunkt. Mit Blick auf den Schutz des
Opfers vor der Gefahr erheblicher Verletzungen kommt es
nicht darauf an, ob die beim Opfer eingetretene Verletzung
unmittelbar oder nur mittelbar auf dem Einsatz des gefährlichen Werkzeugs beruht. Die vom BGH vorgenommene Differenzierung führt vielmehr zu Ergebnissen, die mit Blick auf
den Schutzzweck des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB sachwidrig
sind, unter Umständen geradezu abwegig erscheinen. So wäre
der Tatbestand nicht erfüllt, wenn der Täter mit seinem Fahrzeug einen anderen Wagen rammt und dem darin sitzenden
Fahrer schwere Verletzungen zufügt, da es an einem unmittelbaren Kontakt zwischen Tatmittel und Opfer fehlt.25 Dieses Ergebnis ließe sich nur vermeiden, wenn man das gerammte Fahrzeug als das die Verletzung unmittelbar herbeiführende Werkzeug ansehen wollte. Diese Konstruktion einer
„mittelbar-unmittelbaren“ Einwirkung – welche die Zweifel
an der Berechtigung des Unmittelbarkeitskriteriums eher
nährt als beseitigt – versagt indes, sobald sich das Opfer in
einem unbeweglichen Objekt (z.B. einer Hütte) befindet.
Dass das Unmittelbarkeitskriterium dem vom Täter verwirklichten Gefährdungsunrecht nicht ausreichend Rechnung
trägt, zeigt auch ein weiterer Fall, der dem BGH Gelegenheit
gab, auf seine oben wiedergegebene Rechtsprechung hinzuweisen: Dort hatte der Täter versucht, seinen Beifahrer zu
töten, indem er mit dem von ihm gesteuerten Kraftfahrzeug
auf der Beifahrerseite bei einer Geschwindigkeit von ca. 100
km/h gegen einen Baum fuhr.26 Im Schrifttum ist der Hinweis
des BGH dahingehend verstanden worden, dass dieses Verhalten nicht den Tatbestand des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB
erfüllt.27 Angesichts der erheblichen Gefahr, die aus dieser
Verwendung des Fahrzeugs für das Opfer entstanden ist, wird
dies zu Recht abgelehnt.28
b) In Abkehr vom Unmittelbarkeitskriterium wird daher
im Schrifttum darauf abgestellt, ob der Einsatz des Fahrzeugs
eine besonders gesteigerte Verletzungsgefahr für das Opfer
begründet und sich dieses Risiko auch in dem Körperverletzungserfolg verwirklicht hat, dieser also auf der spezifischen
Gefährlichkeit des Tatmittels beruht.29 Beim Einsatz eines
Kraftfahrzeugs als Tatmittel ergibt sich diese besondere Gefahr aus der Bewegungsenergie, der das Opfer ausgesetzt
wird, sei es, indem es zu einer unmittelbaren Kollision von
Fahrzeug und Opfer kommen und letzteres dadurch verletzt
werden kann, sei es, indem sich die Beschleunigung auf das
Opfer übertragen und dadurch mittelbar über eine weitere
Kollision mit einem anderen Fahrzeug, der Straße, einem
Gebäude etc. zu Verletzungen führen kann („KatapultWirkung“).30 Für den Sachverhalt der vorliegenden Entscheidung wäre demnach bei lebensnaher Auslegung davon auszugehen, dass die von C erlittene Verletzung auch darauf
beruhte, dass er in einem Moment vom Fahrzeug rutschte und
mit dem Erdboden in Kontakt kam, als sich dieses („mit
mittlerer Geschwindigkeit“) in Bewegung befand und damit
den Fuß unmittelbar dieser Bewegungs- bzw. Bremsenergie
aussetzte.31 Mit letzter Sicherheit lässt sich dies allerdings
anhand des in der Entscheidung mitgeteilten Sachverhalts
nicht beurteilen. Die Verwirklichung der spezifischen Gefahr
des Tatmittels scheidet demgegenüber aus, wenn bereits die
Verwendung des jeweiligen Werkzeugs nicht konkret gefährlich ist; dies kann unter Umständen (z.B. bei geringer Geschwindigkeit) auch beim Einsatz von Kraftfahrzeugen in Betracht kommen.32
c) Der vorstehend geschilderte Zusammenhang zwischen
Gefährlichkeit des Werkzeugs und Körperverletzungserfolg
kann zwar die Widersprüche einer Unterscheidung von unmittelbaren und mittelbaren Verletzungsfolgen ausräumen,
versteht sich aber mit Blick auf die Tatbestandsstruktur des
§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB keineswegs von selbst. Der nach
allgemeinen Grundsätzen zurechenbare Körperverletzungserfolg ist bereits im Unrecht des Grundtatbestands (§ 223
StGB) enthalten. Die in § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB vertypte
Unrechtssteigerung ergibt sich aus der darin normierten konkreten Gefährdung des Opfers, beschränkt sich aber auch
darauf, d.h. es wird nicht verlangt, dass sich diese Gefahr in
Gestalt von Verletzungsunrecht realisiert hat. Mit dieser
Beschränkung auf Gefährdungsunrecht einerseits und den
gesteigerten Anforderungen an die Schwere der drohenden
Rechtsgutsverletzung (Gefahr „erheblicher“ Verletzungen)
andererseits erscheint es kaum vereinbar, über den im Schrifttum postulierten Gefahrzusammenhang besondere Anforderungen an die Zurechnung des bereits im Grundtatbestand
enthaltenen Erfolgsunrechts aufzustellen. Weder der Wortlaut
(„mittels“) noch die Systematik des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB
deutet darauf hin, dass der Körperverletzungserfolg im Sinne
des § 223 Abs. 1 StGB auf einer qualifizierten Gefährdung
als Durchgangsstadium beruht; die Zurechnung des Verlet29
24
Siehe auch Krüger, NZV 2007, 482 (483).
Siehe auch die Beispiele bei Eckstein, NStZ 2008, 125
(128); Hardtung (Fn. 16), § 224 Rn. 23.
26
BGH NStZ 2009, 628 (629).
27
Stree/Sternberg-Lieben (Fn. 2), § 224 Rn. 3a.
28
Bosch, JA 2009, 392 (394); Rengier (Fn. 15), § 14 Rn. 42.
25
Eckstein, NStZ 2008, 125 (128); Paeffgen (Fn. 3), § 224
Rn. 12; siehe auch Stam, NStZ 2016, 713 (714 715).
30
Eckstein, NStZ 2008, 125 (128); Hardtung (Fn. 16), § 224
Rn. 23; Jäger, JA 2013, 472 (473 f.); Paeffgen (Fn. 3), § 224
Rn. 12; Rengier (Fn. 15), § 14 Rn. 42; Stam, NStZ 2016, 713
(714).
31
Vgl. auch KG NZV 2006, 111; Hardtung (Fn. 16), § 224
Rn. 24.
32
Siehe insoweit Krüger, NZV 2007, 482.
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zungserfolgs bestimmt sich vielmehr – auch im Rahmen des
§ 224 StGB – allein nach den für den Grundtatbestand (§ 223
StGB) geltenden Regeln.33 § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB setzt
demnach voraus, dass der Körperverletzungserfolg durch
Einsatz („mittels“) eines gefährlichen Werkzeugs herbeigeführt wird, für das erhöhte Unrecht ist aber allein die dadurch
für das Opfer geschaffene Gefahr erheblicher Verletzungen
maßgeblich.
Auf dieser Grundlage lassen sich auch die Fälle in den
Anwendungsbereich des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB einbeziehen, in denen das Opfer einem drohenden Zusammenstoß mit
dem vom Täter geführten Fahrzeug gerade noch ausweichen
kann, dabei aber stürzt und verletzt wird.34 Nach der Rechtsprechung ist der Tatbestand bereits wegen des fehlenden
Kontakts mit dem Fahrzeug nicht erfüllt (siehe oben 1.). Dass
das Verhalten des Täters – ein entsprechender Vorsatz sei
unterstellt – den Tatbestand des § 223 Abs. 1 StGB verwirklicht, da der Angriff mit einem gefährlichen Werkzeug das
Opfer zu plötzlichen Ausweichreaktionen veranlassen kann,
die ein gesteigertes Verletzungsrisiko bergen.35 Dies gilt
ebenso für die in § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB normierte Gefahr,
die in diesem Fall darin liegt, dass das Opfer bei dem durch
den Täter „mittels“ seines Fahrzeugs provozierten Sturzes
möglicherweise erhebliche Verletzungen erleidet. Der Täter
hat daher sowohl das in § 223 StGB vorausgesetzte Verletzungsunrecht als auch das in § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB enthaltene Gefährdungsunrecht in zurechenbarer Weise herbeigeführt.36 Es besteht damit kein Grund, eine Strafbarkeit nach
§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB zu verneinen.
4. Parallele zu den §§ 226, 227 StGB?
Abschließend soll noch ein kurzer Blick auf die Diskussion
des Unmittelbarkeitszusammenhangs bei den erfolgsqualifizierten Delikten (§§ 226, 227 StGB) geworfen werden. Der
BGH hatte im „Rötzel-Fall“ die Annahme einer Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB) noch davon abhängig
gemacht, dass der Tod unmittelbar durch die Körperverletzungshandlung des Täters verursacht worden ist, und den
Tatbestand des § 227 StGB bei einem tödlichen Fluchtversuch des Opfers verneint.37 Diese Rechtsprechung hat der
BGH inzwischen in der Sache aufgegeben und lässt es nunmehr genügen, dass der Täter mit der Begehung des Grund-
33
Hardtung (Fn. 16), § 224 Rn. 26; Stam, NStZ 2016, 713
(714).
34
Siehe zu anderen vergleichbaren Fällen Hardtung (Fn. 16),
§ 224 Rn. 21, 26.
35
Hardtung (Fn. 16), § 224 Rn. 26; Stam, NStZ 2016, 713
(714 f.); siehe dagegen zu § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB Eckstein,
NStZ 2008, 125 (128). Eine freiwillige Selbstgefährdung
scheidet in derartigen Fällen aufgrund des auf das Opfer
verübten Angriffs aus, so aber wohl Oehmichen, FD-StrafR
2016, 377116 [juris]; siehe dagegen Krüger, NZV 2006, 111
(112); siehe auch unten 4. (zu §§ 226, 227 StGB).
36
Vgl. zu vergleichbaren Fällen Hardtung (Fn. 16), § 224
Rn. 21, 26.
37
BGH NJW 1971, 152.
delikts mittelbar den Tod des Opfers herbeiführt.38 Es bestätigt die teleologischen Einwände gegen das Unmittelbarkeitserfordernis (siehe oben 3.), dass der BGH dieses im Rahmen
des § 227 StGB selbst nicht mehr als sachgerecht, sondern als
„zu restriktiv“ ansieht und stattdessen auf den gefahrspezifischen Zusammenhang zwischen Grundtatbestand und Todesfolge abstellt.39
Vor diesem Hintergrund erscheint es widersprüchlich,
wenn die Rechtsprechung im Rahmen des § 224 Abs. 1 Nr. 2
StGB an dem Unmittelbarkeitszusammenhang festhält. So
hat das KG den Schlag mit einer Metallstange, der das Opfer
nicht unmittelbar verletzt, aber dieses ins Stolpern bringt und
ihm durch den anschließenden Sturz mittelbar eine Verletzung am Arm zufügt, unter Verweis auf die Rechtsprechung
des BGH nicht als gefährliche Körperverletzung angesehen,
da der Körperverletzungserfolg nicht unmittelbar durch das
gefährliche Werkzeug (Metallstange) bewirkt worden sei.40
Wäre das Opfer bei der Ausweichbewegung so unglücklich
gestürzt, dass es an den Folgen verstorben wäre, hätte dieser
Umstand einer Verurteilung nach § 227 StGB nicht entgegengestanden. Auf den ersten Blick legt es die Parallele zu
den §§ 226, 227 StGB damit nahe, den Unmittelbarkeitszusammenhang auch im Rahmen des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB
durch einen spezifischen Zurechnungs- bzw. Gefahrzusammenhang zu ersetzen (siehe oben 3. b).
Eine Übertragung der zu den erfolgsqualifizierten Delikten entwickelten Zurechnungskriterien scheitert indes an der
unterschiedlichen Struktur der Qualifikationstatbestände (siehe
bereits oben 3. c). Die §§ 226, 227 StGB setzen mit der
schweren Folge bzw. dem Tod des Opfers ein gegenüber
§ 223 StGB erhöhtes Verletzungsunrecht voraus, für dessen
Zurechnung angesichts der hohen Strafandrohung besondere
Anforderungen gelten (tatbestandsspezifischer Gefahrzusammenhang).41 Demgegenüber knüpft die höhere Strafe in § 224
StGB an das gesteigerte Gefährdungsunrecht an; soweit der
Tatbestand – wie § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB – als konkretes
Gefährdungsdelikt verstanden wird, ist es nur konsequent,
dass sich die konkrete Gefahr erheblicher Verletzungen aus
dem Einsatz des Werkzeugs ergeben muss.42 Dies kann jedoch nicht für die Zurechnung des bereits im Grunddelikt
(§ 223 StGB) enthaltenen Verletzungserfolgs gelten. Es ist
nicht nachvollziehbar, aus welchem Grund die Gefahr erheblicher Verletzungen (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB) Voraussetzung für die Zurechnung einer einfachen Körperverletzung
(§ 223 StGB) sein soll, noch ist einsichtig, warum die Feststellung konkreten Gefährdungsunrechts in Bezug auf eine
erhebliche Verletzung (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB) davon abhängen sollte, dass sich diese Gefahr bereits in einer einfa-
38
BGH NStZ 1992, 335 f.; BGH NStZ 2003, 149 (150 f. zum
Versuch); BGH NStZ 2008, 278; eingehend zur Entwicklung
der Rechtsprechung Paeffgen (Fn. 3), § 227 Rn. 9 ff.
39
BGH NStZ 2008, 278.
40
KG NStZ 2012, 326 (327).
41
Siehe dazu eingehend Paeffgen (Fn. 3), § 227 Rn. 8 ff., 11
ff., 17 (Leichtfertigkeit als zusätzliches Erfordernis).
42
Hardtung (Fn. 16), § 224 Rn. 20, 27.
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113
BGH, Beschl. v. 3.2.2016 – 4 StR 594/15
Böse
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chen Körperverletzung realisiert hat.43 Beide Unrechtselemente sind vielmehr im Ausgangspunkt getrennt voneinander
festzustellen. Mit dem Wort „mittels“ wird nicht mehr gefordert als der allgemeine Kausal- und Zurechnungszusammenhang zwischen Einsatz des Tatmittels und Körperverletzungserfolg.44
V. Schluss
Entgegen der Rechtsprechung setzt § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB
keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Einsatz
des gefährlichen Werkzeugs und der Verletzung des Opfers
voraus. A hat sich daher – sofern die übrigen Voraussetzungen des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB vorliegen, die Verwendung
des Fahrzeugs also zu einer konkreten Gefahr erheblicher
Verletzungen führte (siehe oben 3. b) – nach § 224 Abs. 1
Nr. 2 StGB strafbar gemacht. Dass der BGH auch eine Verurteilung nach § 223 StGB ablehnt, ist hingegen konsequent, da
sich allein aus der Anklage wegen gefährlicher Körperverletzung nicht ableiten lässt, dass die Staatsanwaltschaft auch in
Bezug auf eine Verfolgung nach § 223 StGB das besondere
öffentliche Interesse an der Strafverfolgung bejaht (§ 230
Abs. 1 StGB).45 Nach dem Sachverhalt hätte darüber hinaus
auch eine Strafbarkeit wegen räuberischen Diebstahls (§ 252
StGB) nahegelegen, aber darüber hatte der BGH auf die Revision der Angeklagten nicht zu entscheiden (Verbot der
reformatio in peius, § 358 Abs. 2 StPO).
Prof. Dr. Martin Böse, Bonn
43
Siehe das Beispiel bei Hardtung (Fn. 16), § 224 Rn. 26:
Schlag mit einer entsicherten Pistole auf den Kopf.
44
Hardtung (Fn. 16), § 224 Rn. 27; Kindhäuser, Strafrecht,
Besonderer Teil, Bd. 2, 9. Aufl. 2016, § 9 Rn. 14.
45
Fischer (Fn. 2), § 230 Rn. 4; Paeffgen (Fn. 3), § 230
Rn. 35.
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BGH, Urt. v. 28.4.2016 – 4 StR 563/15
Krell
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E n t s c h e i d u n g s a n m e r k u n g
Sukzessive Mittäterschaft beim räuberischen Angriff auf
Kraftfahrer
1. § 316a StGB erfordert in subjektiver Hinsicht, dass
sich der Täter – entsprechend dem Ausnutzungsbewusstsein bei der Heimtücke nach § 211 Abs. 2 StGB – in tatsächlicher Hinsicht der die Abwehrmöglichkeiten des
Tatopfers einschränkenden besonderen Verhältnisse des
Straßenverkehrs bewusst ist.
2. Der Täter muss nicht von vornherein planen, die verringerten Abwehrmöglichkeiten auszunutzen; es reicht,
wenn er sie zum Zeitpunkt der Tathandlung erkennt.
3. Sukzessive Mittäterschaft kommt bei § 316a StGB in
Betracht, wenn ein Täter in Kenntnis und mit Billigung
des bisher Geschehenen – selbst bei Abweichungen vom
ursprünglichen Tatplan in wesentlichen Punkten – in eine
bereits begonnene Ausführungshandlung eintritt und er
sich mit dem anderen vor Beendigung der Tat zu gemeinschaftlicher weiterer Ausführung verbindet, auch wenn
das Opfer zu diesem Zeitpunkt kein Kraftfahrzeug mehr
führt.
(Leitsätze des Verf.)
StGB § 316a
BGH, Urt. v. 28.4.2016 – 4 StR 563/151
I. Sachverhalt (vereinfacht)
S, F und G beschlossen, ein Taxi zu überfallen. Ihr Plan sah
vor, einen Taxifahrer abzulenken, damit G die Geldbörse an
sich nehmen könne. Sofern dies nicht gelinge, solle Gewalt
angewendet werden. S führte deshalb ein HDMI-Kabel, F
einen Schlagstock mit sich. Die Initiative sollte von F ausgehen. F erklärte der Taxifahrerin O, sie könne nun anhalten. O
setzte daraufhin das Taxi etwas zurück, weil sie noch wenden
wollte. In diesem Moment missverstand S einen Blick des F
und ging davon aus, dieser habe ihm das vereinbarte Signal
gegeben. Er würgte O mit dem Kabel. Als diese sich wehrte,
schlug F mit dem Schlagstock zu. O war sofort bewusstlos.
Daraufhin schlug G noch einmal auf O ein. Anschließend
nahm er 300 EUR Bargeld an sich. S, F und G riefen keinen
Notarzt, obwohl sie erkannt hatten und billigend in Kauf
nahmen, dass O sterben könnte. Sie hatten aber Angst, infolge eines Notrufs überführt zu werden. O überlebte.
II. Entscheidung
Der 4. BGH-Strafsenat moniert, dass das LG die Angeklagten
lediglich wegen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit
gefährlicher Körperverletzung und versuchten Verdeckungs1
Die Entscheidung ist abgedruckt in NStZ 2016, 607
und online abrufbar unter
http://juris.bundesgerichtshof.de/cgibin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&sid=
61280f34bf84360d5667c1ca7f1adb3d&nr=74759&pos=0&a
nz=1&Blank=1.pdf (31.1.2017).
mordes verurteilt hat. Es habe die Voraussetzungen eines
räuberischen Angriffs auf Kraftfahrer mit rechtlich unzutreffenden Erwägungen verneint. Nach Auffassung des LG hatten S, F und G nicht die besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs ausgenutzt.
Dagegen wendet der BGH ein, dieses Merkmal sei in der
Regel erfüllt, wenn sich das Fahrzeug in Bewegung befindet,
weil der Fahrer dann typischerweise abgelenkt und dadurch
ein leichteres Opfer sei.2 Entgegen der Auffassung des LG sei
es nicht erforderlich, dass die Angeklagten ursprünglich geplant hatten, die besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs
auszunutzen; notwendig, aber auch hinreichend sei es, dass S,
F und G zum Zeitpunkt der Tathandlung der eingeschränkten
Abwehrmöglichkeit bewusst waren.3 Der Senat zieht ausdrückliche eine Parallele zum Ausnutzungsbewusstsein bei
der Heimtücke.
Anschließend gibt er noch eine „Segelanweisung“: Einer
Strafbarkeit aller Angeklagten aus § 316a StGB stehe es nicht
entgegen, dass S „mit seinem noch vor dem Anhalten des
Taxis verübten Angriff auf die Nebenklägerin von dem gemeinsamen Tatplan abwich“. Dies schließe es nicht aus, sein
Vorgehen G und F „im Wege der (sukzessiven) Mittäterschaft zuzurechnen“.4
„Zwar kann einem Mittäter das Handeln eines anderen
Mittäters, das über das gemeinsam Gewollte hinausgeht,
nicht zugerechnet werden. Dabei ist jedoch zu beachten, dass
die Zurechnung keine ins Einzelne gehende Vorstellung von
den Handlungen des anderen Tatbeteiligten erfordert. Regelmäßig werden die Handlungen des anderen Tatbeteiligten,
mit denen nach den Umständen des Falles gerechnet werden
musste, vom Willen des Mittäters umfasst, auch wenn er sie
sich nicht besonders vorgestellt hat. Ebenso ist er für jede
Ausführungsart einer von ihm gebilligten Straftat verantwortlich, wenn er mit der Handlungsweise seines Tatgenossen
einverstanden oder sie ihm zumindest gleichgültig war […].
Sukzessive Mittäterschaft kommt in Betracht, wenn ein Täter
in Kenntnis und mit Billigung des bisher Geschehenen –
selbst bei Abweichungen vom ursprünglichen Tatplan in
wesentlichen Punkten – in eine bereits begonnene Ausführungshandlung eintritt und er sich mit dem anderen vor Beendigung der Tat zu gemeinschaftlicher weiterer Ausführung
verbindet. Sein Einverständnis bezieht sich dann auf die
Gesamttat mit der Folge, dass ihm die gesamte Tat zugerechnet werden kann […]. Angesichts dessen, dass der Angeklagte S. mit seinem geringfügig zeitlich vorgezogenen Angriff
auf das Tatopfer nur unwesentlich von der gemeinsamen
Tatplanung abwich und die Angeklagten im Folgenden den
2
BGH, Urt. v. 28.4.2016 − 4 StR 563/15, Rn. 12 = NStZ
2016, 607 (608 f.); vgl. aber auch Kudlich, JA 2016, 707
(709), der die Frage aufwirft, ob eine Bestrafung aus § 316a
StGB wirklich sachgerecht ist, wenn das Fahrzeug sich „wenige Augenblicke zwischen ‚Noch-Fahren‘ und ‚BereitsStehen‘“ befindet.
3
BGH, Urt. v. 28.4.2016 − 4 StR 563/15, Rn. 12, 14 = NStZ
2016, 607 (608 f.).
4
BGH, Urt. v. 28.4.2016 − 4 StR 563/15, Rn. 15 = NStZ
2016, 607 (609).
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BGH, Urt. v. 28.4.2016 – 4 StR 563/15
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Überfall wie verabredet arbeitsteilig durchführten, liegt es
danach nicht fern, dass der Angriff auf die noch mit der Bedienung des in Bewegung befindlichen Taxis befasste Nebenklägerin auch vom Wollen der Angeklagten G. und F.
umfasst war oder sich jedenfalls deren Vorsatz sukzessiv auf
dieses Vorgehen erstreckte.“5
III. Rechtliche Würdigung
1. Räuberischer Angriff auf Kraftfahrer
Die Entscheidung überzeugt, soweit sie die Begründung des
LG angreift. Man könnte – insbesondere im Lichte der Parallele zum Ausnutzungsbewusstsein bei der Heimtücke6 –
allenfalls fragen, ob nicht die Spontanität ein Problem ist, mit
der S das Opfer frühzeitig würgte.7 Immerhin handelte S vor
allem deshalb, weil er irrig davon ausging, F habe ihm signalisiert, dass es nun losgehe. Etwas schwieriger liegen die
Dinge bei der „Segelanweisung“. Diese wirft einige Rechtsprobleme auf, die in der Entscheidung nicht hinreichend
aufgearbeitet werden.
a) Der gemeinsame Tatplan und das möglicherweise abweichende Verhalten des F
Die Unklarheiten beginnen bereits im tatsächlichen Bereich.
Es bleibt im Dunkeln, was genau nun eigentlich der Tatplan
von S, F und G vorsah. Nach den Feststellungen des Landgerichts – jedenfalls soweit sie vom BGH wiedergegeben
werden – war nur klar, dass sie überhaupt eine Gewaltanwendung als Alternative zur bloßen Wegnahme in Betracht
gezogen hatten. Wann sie Gewalt anwenden wollten, ist nicht
ersichtlich. Da F damit rechnete, schon im Taxi das Signal zu
erhalten, liegt es an sich nahe, dass sie gegebenenfalls schon
während der Fahrt Gewalt anwenden wollten. Vor diesem
Hintergrund ist es unverständlich, wenn der Senat ausführt,
dass S „mit seinem noch vor dem Anhalten des Taxis verübten Angriff von dem gemeinsamen Tatplan abwich“.8
Sollte der Tatplan tatsächlich erst eine Gewaltanwendung
nach Fahrtende vorgesehen haben, wäre dem BGH im Ergebnis zuzustimmen. Denn der gemeinsame Tatentschluss begründet die wechselseitige Zurechnung und damit die Einheit
der Mittäter nicht nur, sondern er begrenzt sie zugleich.9 Um
die Reichweite der Zurechnung zu klären, muss man also den
Tatplan auslegen, wobei insbesondere geringfügige oder
naheliegende Abweichungen oft konkludent zum Bestandteil
des Plans gemacht werden.10 Hier sprechen aber die besseren
Gründe für eine erhebliche Abweichung und deshalb einen
Exzess des S (sowie ggf. auch des F).11 Verwirklicht ein
Mittäter einen anderen Tatbestand, so ist dies selbst nach der
Rspr. – die mit der Annahme von Exzessen sonst eher zurückhaltend ist – den anderen Beteiligten nämlich nur dann
zurechenbar, wenn sie mit dieser Möglichkeit gerechnet hatten oder es ihnen gleichgültig war.12 Zwar hat der BGH auch
entschieden, dass Abweichungen vom ursprünglichen Tatplan jedenfalls dann zurechenbar seien, wenn die anderen
Beteiligten weiter an der Vollendung der Tat mitwirkten.13
Die Tat nach § 316a StGB war aber bereits vollendet. Denn
dafür reicht es aus, wenn der Angriff verübt und das heißt:
ausgeführt wurde.14 Damit läge allenfalls dann kein Exzess
vor, wenn es S und G gleichgültig war, wann F Gewalt ausübt. Auch hierzu fehlen eindeutige Feststellungen, doch
scheint es keineswegs ausgeschlossen.
Hätten S, F und G dagegen von vornherein vorgehabt, gegebenenfalls bereits während der Fahrt Gewalt gegenüber O
anzuwenden, dann wäre die vorzeitige Gewaltanwendung
gewiss nur eine unwesentliche Abweichung und damit S und
G zuzurechnen gewesen. Auf die Ausführungen zur sukzessiven Mittäterschaft wäre es dann überhaupt nicht mehr angekommen.
b) Sukzessive Mittäterschaft bei § 316a StGB
Was aber ist nun, wenn man mit dem BGH von einer wesentlichen Abweichung ausgeht? Jedenfalls S ist nach § 316a
StGB strafbar. Problematischer ist es, wenn der Senat davon
ausgeht, auch F und G seien Mittäter des räuberischen Angriffs auf Kraftfahrer. Soweit es F betrifft, kommt es auf § 25
Abs. 2 StGB im Ergebnis wohl gar nicht an: Es spricht einiges dafür, dass dieser mit dem Schlag einen eigenen Angriff
auf O verübte, als diese noch das Kraftfahrzeug führte. Das
wäre dann jedoch ein Fall von unmittelbarer (Neben-)Täterschaft. F wäre also nach § 316a StGB strafbar; die sukzessive
Mittäterschaft wäre nur noch insofern von Interesse, als ihm
möglicherweise auch das Würgen durch S zugerechnet werden könnte. Darauf käme es aber im Ergebnis nicht an, weil
gleichwohl nur eine Tat nach § 316a StGB vorläge.15 Man
könnte allenfalls fragen, ob F noch die besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs ausnutzte oder nicht vielmehr nur
die Ablenkung durch S. Jedenfalls als G zuschlug war das
Opfer bereits bewusstlos. Damit führte es kein Kraftfahrzeug
10
5
BGH, Urt. v. 28.4.2016 − 4 StR 563/15, Rn. 16 = NStZ
2016, 607 (608 f.) – aus dem Zitat wurden lediglich Rspr.Nachw. gestrichen.
6
Vgl. zu entsprechenden Heimtücke-Fällen etwa BGH NStZ
2014, 574 m. Anm. Liebhart.
7
Siehe auch Kulhanek, NStZ 2016, 609 (610).
8
BGH, Urt. v. 28.4.2016 − 4 StR 563/15, Rn. 15 = NStZ
2016, 607 (609).
9
Murmann, Grundkurs Strafrecht, 3. Aufl. 2015, § 27 Rn. 57;
Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1,
6. Aufl. 2011, § 12 Rn. 80; Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht,
Allgemeiner Teil, Bd. 2, 8. Aufl. 2014, § 49 Rn. 58.
Vgl. Murmann (Fn. 9), § 27 Rn. 57.
A.A. Hecker, JuS 2016, 850 (852 f.); skept. auch Kudlich,
JA 2016, 707 (710).
12
Vgl. neben den vom Senat zitierten Entscheidungen etwa
BGH NJW 1983, 377; BGH NStZ 2002, 597 (598); BGH
NStZ-RR 2005, 71.
13
BGH NStZ-RR 2002, 9.
14
Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar,
64. Aufl. 2017, § 316a Rn. 13; Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, Kommentar, 28. Aufl. 2014, § 316a Rn. 4.
15
Die Frage kann allerdings für die Strafzumessung eine
Rolle spielen; vgl. BGH NStZ 2010, 146; T. Walter, NStZ
2008, 548 (553).
11
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mehr und G konnte auch nicht mehr die besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs – sondern allenfalls die Bewusstlosigkeit des Opfers – ausnutzen. Nur für die Strafbarkeit des G
ist daher entscheidend, ob ihm die Handlung des S (sowie
ggf. des F) zugerechnet werden kann.
aa) Allgemeines zur sukzessiven Mittäterschaft
Sukzessive Mittäterschaft bedeutet, dass jemand nachträglich
in eine bereits begonnene Tatausführung eintritt. Grundsätzlich kann der gemeinsame Tatentschluss auch noch während
der Tatausführung und konkludent gefasst werden, sodass
jedenfalls alle Tatbeiträge unproblematisch zugerechnet werden können, an denen der Sukzessivtäter noch selbst mitwirkt.16 Kommt der Sukzessivtäter gerade des Weges, als der
Ersttäter im Begriff ist, fremde bewegliche Sachen wegzunehmen, und hilft er ihm dabei, so bestehen keinerlei Bedenken, ihn wegen Diebstahls zu bestrafen. Entweder er hat
selbst weggenommen oder die Wegnahme der Ersttäters kann
ihm auf Basis eines vorab konkludent gefassten Tatplans
zugerechnet werden. Dass auch diese Konstellation als sukzessive Mittäterschaft bezeichnet wird, ist nicht sonderlich
glücklich.17 Erstens versteht sich das Ergebnis von selbst,
ohne dass es auf die „sukzessive“ Mittäterschaft in irgendeiner Weise ankäme. Zweitens werden so verschiedene Konstellationen, die teils unproblematisch, teils lebhaft umstritten
sind, unter einen einheitlichen Begriff gebracht, was eher
verwirrend ist.
Keine Einigkeit besteht in der Frage, ob auch bereits verwirklichte Tatbestandsmerkmale – insbesondere Erschwerungsgründe – noch zugerechnet werden können.18 Diese
Konstellationen machen den Hauptanteil der Rspr. zur sukzessiven Mittäterschaft aus. Beispiel: Der Sukzessivtäter hilft
dem Ersttäter, der bereits Gewalt angewendet hat, bei der
Wegnahme – Strafbarkeit nur aus § 242 StGB oder auch aus
§ 249 StGB?
Unser Fall liegt noch einmal anders. Der Tatbestand wurde durch F – und wohl auch durch S – bereits vollständig
erfüllt. Deren Handlungen können G also nur dann zugerechnet werden, wenn eine sukzessive Mittäterschaft auch nach
formeller Vollendung – d.h. nachdem alle objektiven Tatumstände verwirklich sind –19 noch möglich ist. Auch diese
Fallkonstellation ist umstritten. Klar ist dabei, dass diese
Form der sukzessiven Mittäterschaft die problematischste ist.
Denn anders als bei der zuvor genannten Konstellation wirkt
der Sukzessivtäter an keinem Tatumstand mit. Das ist aus
zwei Gründen wichtig: Erstens richten sich alle Einwände
gegen die sukzessive Zurechnung abgeschlossener Tatum16
Siehe nur Murmann (Fn. 9), § 27 Rn. 59; Maurach/Gössel/
Zipf (Fn. 9), § 49 Rn. 47; Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil,
Bd. 2, 2003, § 25 Rn. 219 f.; Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 9),
§ 12 Rn. 88.
17
Vgl. T. Walter, NStZ 2008, 548 (552 f.); zust. Grabow/
Pohl, Jura 2009, 656 (660).
18
Dazu Maurach/Gössel/Zipf (Fn. 9), § 49 Rn. 53 f.; Roxin
(Fn. 16), § 25 Rn. 224.
19
Vgl. Kühl, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2016, § 14
Rn. 20.
stände (dazu sogleich) auch und erst Recht gegen die sukzessive Mittäterschaft nach Vollendung. Denn hier müssen ja
sämtlich Tatumstände zugerechnet werden, die in der Vergangenheit liegen. Zweitens werfen einige Einschränkungen,
die der BGH bei der Zurechnung abgeschlossener Tatumstände teilweise anerkennt, die Frage auf, wie dann überhaupt
noch eine sukzessive Mittäterschaft nach Vollendung möglich sein soll.
(1) Zunächst zu den Einwänden gegen eine rückwirkende
Zurechnung: Vielfach wird vorgebracht, etwas, das in der
Vergangenheit liege, könne nicht verursacht werden.20 Auf
einer ähnlichen Linie wird aus dem Lager der Tatherrschaftslehre eingewandt, dass man ein bereits abgeschlossenes Geschehen nicht beherrschen könne.21 Beide Einwände sind
allerdings nicht zwingend: Man kann es nämlich auch ausreichen lassen, dass der Beitrag des Sukzessivtäters für die Gesamttat ursächlich wird, dieser aber den Beitrag des Ersttäters nicht verursachen muss.22 Wenn man das ausreichen
lässt, erscheint es aber auch denkbar, dies für eine Tatherrschaft ausreichen zu lassen. Beides gilt allerdings nur dann,
wenn der Sukzessivtäter noch an irgendeinem Tatumstand
mitwirkt. Das ist nach Vollendung indes nicht der Fall.
Sieht man die Zurechnungsgrundlage bei der Mittäterschaft im gemeinsamen Tatplan – was auch dem Standpunkt
des BGH entspricht –,23 so muss dieser von vornherein auf
alle tatbestandlich relevanten Umstände gerichtet sein; er
kann keine Rückwirkung entfalten.24 Insofern gilt letztlich
dasselbe wie für den Exzess:25 Was vom Tatplan nicht ge20
Hoyer, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum
Strafgesetzbuch, 32. Lfg., Stand: März 2000, § 25 Rn. 125;
Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, 21/60;
Klesczewski, Strafrecht, Besonderer Teil, 2016, § 8 Rn. 131;
Seher, JuS 2009, 304 (306).
21
R. Becker, ZJS 2010, 403 (411); Heine/Weißer, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl. 2014,
§ 25 Rn. 96; Kaspar, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2015,
Rn. 528; Rengier, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1,
18. Aufl. 2016, § 7 Rn. 47; Roxin, JA 1979, 519 (525); ders.
(Fn. 16), § 25 Rn. 227; Schünemann, in: Laufhütte/Rissingvan Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger
Kommentar, Bd. 1, 12. Aufl. 2007, § 25 Rn. 200; Seher, JuS
2009, 304 (306); tendenziell auch Kudlich, in: v. HeintschelHeinegg (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar, Strafgesetzbuch, Stand: 1.9.2016, § 25 Rn. 56.1.
22
Dencker, Kausalität und Gesamttat, 1996, S. 251 ff.; zust.
Frister, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2015, Kap. 26
Rn. 13.
23
Vgl. BGHSt 6, 248 (249); BGH NStZ 1997, 336.
24
Joecks, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1, 2. Aufl. 2011, § 25 Rn. 208;
Murmann, ZJS 2008, 456 (459); Maurach/Gössel/Zipf
(Fn. 9), § 49 Rn. 57; Roxin (Fn. 16), § 25 Rn. 227; Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 9), § 12 Rn. 88.
25
Der Zusammenhang zwischen Exzess und nachträglicher
Zurechnung kommt teilweise auch in der Rspr. zum Ausdruck (vgl. BGH NStZ 1997, 272). Verwirrend BGH NStZ
2008, 280 (281): „Nicht jede Abweichung des tatsächlichen
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deckt war, kann nicht zugerechnet werden. Was bereits geschehen ist, kann aber nicht mehr geplant werden. Die nachträgliche Billigung ist daher nichts weiter als ein unbeachtlicher dolus subsequens.26
Neben diesen Gründen, die gegen eine rückwirkende Zurechnung im Allgemeinen sprechen, wird gegen die sukzessive Mittäterschaft nach Vollendung im Besonderen noch ein
weiteres gewichtiges Argument in Stellung gebracht: § 25
Abs. 2 StGB fordert, dass „mehrere die Straftat gemeinsam“
begehen. Eine Tat ist nach § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB aber nur
„eine solche, die den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht“. Sobald die Straftat aber formell vollendet ist, wurde
sie bereits begangen. Es ist keine Tat mehr übrig, die man
noch gemeinschaftlich begehen könnte. Deshalb verstößt es
gegen das Analogieverbot aus Art. 103 Abs. 2 GG, wenn
man eine sukzessive Mittäterschaft nach Vollendung anerkennt.27
(2) Auch der BGH setzt der Zurechnung bereits verwirklichter Tatumstände Grenzen. In gefestigter Rspr. formuliert
er, eine Zurechnung sei ausgeschlossen, wenn das Geschehen
schon „vollständig abgeschlossen ist“,28 ohne jedoch näher
darzulegen, was genau das eigentlich heißt.29 Der BGH
kommt auf dieser Basis gleichsam zu einer gespaltenen Zurechnung: Wenn der Sukzessivtäter dem Ersttäter, der bereits
Gewalt gegen das Opfer angewendet hat, hilft, diesem nun
eine Sache wegzunehmen, so sei die qualifizierte Nötigungshandlung zurechenbar, nicht jedoch die bereits abgeschlossene Körperverletzung.30 Das legt es nahe, dass eine Tat für den
Geschehens von dem vereinbarten Tatplan beziehungsweise
von den Vorstellungen des Mittäters begründet die Annahme
eines Exzesses. Vielmehr liegt sukzessive Mittäterschaft vor,
wenn jemand in Kenntnis und Billigung des bisher Geschehenen – auch wenn dieses in wesentlichen Punkten von dem
ursprünglichen gemeinsamen Tatplan abweicht – in eine
bereits begonnene Ausführungshandlung als Mittäter eintritt.
Sein Einverständnis bezieht sich dann auf die Gesamttat mit
der Folge, dass ihm das gesamte Verbrechen strafrechtlich
zugerechnet wird.“ – Selbst wenn man das nachträgliche
Einverständnis für erheblich hält, ändert das doch nichts
daran, dass ursprünglich ein Exzess vorlag.
26
R. Becker, ZJS 2010, 403 (411); Grabow/Pohl, Jura 2009,
656 (659); Joecks (Fn. 24), § 25 Rn. 208; Murmann, ZJS
2008, 456 (459); Klesczewski (Fn. 20), § 8 Rn. 131; Rengier
(Fn. 21), § 7 Rn. 47; Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 9), § 12
Rn. 88; T. Walter, NStZ 2008, 548 (553).
27
Vgl. R. Becker, ZJS 2010, 403 (411); Geppert, Jura 2011,
30 (35); Grabow/Pohl, Jura 2009, 656 (659); Haas, in: Matt/
Renzikowski (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar, 2013,
§ 25 Rn. 90; Krey/Esser, Strafrecht, Allgemeiner Teil,
6. Aufl. 2016, Rn. 1198; Murmann (Fn. 9), § 27 Rn. 61;
ders., ZJS 2008, 456 (458); Maurach/Gössel/Zipf (Fn. 9),
§ 49 Rn. 50.
28
So BGH NStZ 1997, 272; BGH NStZ 2010, 146 (147);
BGH NStZ-RR 2014, 72 (73); BGH NStZ 2016, 524.
29
Vgl. auch Haas (Fn. 27), § 25 Rn. 93 f.
30
BGH bei Dallinger MDR 1969, 533; krit. Haas (Fn. 27),
§ 25 Rn. 95.
BGH erst dann „vollständig abgeschlossen“ ist, wenn sie
beendigt ist.31
Nun formuliert jedoch der BGH teilweise auch deutlich
restriktiver: „Die Zurechnung bereits verwirklichter Tatumstände ist aber nur dann möglich, wenn der Hinzutretende
selbst einen für die Tatbestandsverwirklichung ursächlichen
Beitrag leistet. Kann der Hinzutretende die weitere Tatausführung dagegen nicht mehr fördern, weil für die Herbeiführung des tatbestandsmäßigen Erfolgs schon alles getan ist und
das Tun des Eintretenden auf den weiteren Ablauf des Geschehens ohne jeden Einfluss bleibt, kommt mittäterschaftliche Mitwirkung trotz Kenntnis, Billigung und Ausnutzung
der durch einen anderen geschaffenen Lage nicht in Betracht.“32 Wie aber passt das zu der Annahme einer sukzessiven Mittäterschaft nach Vollendung?33 Diese müsste doch
konsequenter Weise ausscheiden, sollte eine Zurechnung
wirklich nicht mehr möglich, sobald „für die Herbeiführung
des tatbestandsmäßigen Erfolgs schon alles getan ist“. Soll
man den BGH so verstehen, dass eine Zurechnung nur ausscheidet, wenn alles für den Erfolg getan ist und kumulativ
„das Tun des Eintretenden auf den weiteren Ablauf des Geschehens ohne jeden Einfluss bleibt“? Dann wäre zwar die
sukzessive Mittäterschaft nach Vollendung möglich, die
Schwelle aber bedenklich niedrig angesetzt. Noch viel weniger leuchtet ein, wie der Sukzessivtäter auch nach Vollendung noch haften können soll, wenn man von ihm einen für
die Tatbestandsverwirklichung ursächlichen Beitrag verlangt.34 Die Rspr. des BGH zu den umstrittenen Fällen der
sukzessiven Mittäterschaft gibt also kein einheitliches Bild ab
und ist nicht frei von Widersprüchen.
bb) Beendigungszeitpunkt bei § 316a StGB
Selbst wenn man mit dem BGH eine sukzessive Mittäterschaft nach Vollendung prinzipiell zulässt, bleibt noch ein
weiterer Aspekt zu beachten, den der Senat überhaupt nicht
explizit erwähnt. Jedenfalls nach Beendigung ist eine Beteiligung nach einhelliger Auffassung nicht mehr möglich.35
Der BGH hat den Beendigungszeitpunkt bei § 316a StGB
bisher – soweit ersichtlich – nie positiv bestimmt.36 Er hat
allerdings – ebenfalls durch den 4. Strafsenat – festgestellt,
dass das Delikt jedenfalls dann beendigt sei, wenn „ein länge31
Vgl. Murmann, ZJS 2008, 456 (456 f.).
BGHSt 54, 69 (129).
33
Vgl. auch Geppert, Jura 2011, 30 (35 f.); Maurach/Gössel/
Zipf (Fn. 9), § 49 Rn. 55.
34
So neben BGHSt 54, 69 (129) z.B. auch BGH NStZ 1984,
548 f.
35
BGH bei Dallinger MDR 1975, 366; BGH NStZ 1984,
548; BGH NJW 1985, 814; BGH NStZ-RR 1999, 208; Fischer (Fn. 14), § 25 Rn. 39; Roxin (Fn. 16), § 25 Rn. 223. Mit
der Beendigungsphase des § 316a StGB befasst sich daneben
noch BGHSt 52, 44 (46). Dort geht es allerdings um die Frage, ob ein Angriff vor Fahrbeginn noch ausreichen kann,
wenn er während der Fahrt fortgesetzt wird. Die Beendigung
wird auch nicht weiter präzisiert.
36
Missverständlich insofern Sternberg-Lieben/Hecker, in:
Schönke/Schröder (Fn. 21), § 316a Rn. 17.
32
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rer zeitlicher und räumlicher Abstand zu dem Angriff auf das
Opfer“ bestand.37 Danach scheide folglich auch eine Beteiligung aus. Indem der Senat nun eine sukzessive Beteiligung
bei § 316a StGB für möglich hält, geht er implizit davon aus,
dass er es noch nicht mit einer beendigten Tat zu tun hat. Nun
heißt es aber in der Kommentarliteratur ganz überwiegend,
die Tat des § 316a StGB sei bereits beendigt, sobald der Angriff abgeschlossen ist.38 Wie verträgt sich das mit der Prämisse des 4. Strafsenats?
(1) Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, wann der
Angriff abgeschlossen ist. Insofern könnte man sagen, dass
der Angriff solange fortdauert, wie seine Wirkung beim Opfer anhält. Er wäre dann mit dem Schlag vollendet, aber erst
beendigt, wenn das Opfer wieder bei Bewusstsein ist. So hat
es der BGH für das Merkmal Gewalt entschieden.39 Nimmt
man diesen Standpunkt ein, so besteht möglicherweise überhaupt kein Widerspruch zwischen dem BGH und dem
Schrifttum. Man kann dann nämlich in dem Rekurs auf den
„längeren zeitlichen und räumlichen Abstand“ eine absolute
Grenze sehen, die selbst dann gilt, wenn die Folgen des Angriffs noch fortwirken. Man muss dann aber wohl voraussetzen, dass der Sukzessivtäter schon zum Zeitpunkt des Angriffs um die Absicht zum Raub usw. weiß, wie dies auch für
die Finalität bei § 249 StGB gefordert wird.40 Diese Voraussetzung war hier aber erfüllt, weil für G auf der Hand lag,
welchen Zweck das Würgen mit dem Kabel hatte.
(2) Ein anderer Weg könnte darin liegen, das Beendigungsstadium über den abgeschlossenen Angriff hinaus zu
erstrecken. Man ist sich heute wohl einig, dass weder eine
allgemeine Definition der Beendigung möglich ist noch nach
unterschiedlichen Deliktsgruppen pauschal differenziert werden kann, ob Vollendung und Beendigung auseinanderfallen
(können).41 Deshalb dürfte es auch nicht entscheidend darauf
ankommen, ob man § 316a StGB mit der h.M. als Tätigkeits-
37
BGH NStZ 2007, 35 (36); zust. Fischer (Fn. 14), § 316a
Rn. 15; Sowada, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann
(Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 12,
12. Aufl. 2008, § 316a Rn. 48; krit. Duttge, in:
Dölling/Duttge/Rössner (Hrsg.), Handkommentar, Gesamtes
Strafrecht, 2012, § 316a Rn. 19.
38
Ernemann, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier (Hrsg.),
Strafgesetzbuch, Kommentar, 2. Aufl. 2014, § 316a Rn. 19;
Esser, in: Leipold/Tsambikakis/Zöller (Hrsg.), AnwaltKommentar StGB, 2. Aufl. 2015, § 316a Rn. 29; Feilcke, in: v.
Heintschel-Heinegg (Fn. 21), Stand: 1.9.2016, § 316a Rn. 26;
Fischer (Fn. 14), § 316a Rn. 15; Kindhäuser, Strafgesetzbuch, Lehr- und Praxiskommentar, 6. Aufl. 2015, § 316a
Rn. 19; Wolters, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, 129. Erg.-Lfg., Stand: September 2011, § 316a Rn. 9
39
BGH JZ 1981, 568.
40
Überzeugend Küper, JZ 1981, 568 (570 ff.) entgegen BGH
JZ 1981, 596.
41
Hillenkamp, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann
(Fn. 21), vor §§ 22 ff. Rn. 20, 24, 31.
delikt einstuft oder darin ein Erfolgsdelikt sieht.42 Unabhängig davon lässt sich bei § 316a StGB prinzipiell ein Stadium
zwischen Vollendung und Beendigung denken. Das zeigt
auch unser Fall: So kann man sagen, der Angriff des S durch
das Würgen sei zwar – da er bereits auf das Opfer einwirkt –
vollendet, aber noch nicht abgeschlossen, solange S noch
weiter würgt. Dann ließe sich auch eine sukzessive Mittäterschaft des F konstruieren (auch wenn es auf sie im Ergebnis
gar nicht ankommt, weil S einen eigenen Angriff verübt). Ob
das auch noch für den Zeitpunkt gilt, als G zuschlug, hängt
von der oben angesprochenen Frage ab, ob es auf die Einwirkung des Opfers ankommt oder auf den Wegfall der Folgen
des Angriffs. Wenn ersteres richtig ist, gibt den Ausschlag,
ob nach dem – dann abgeschlossenen – Angriff noch Raum
für eine materielle Beendigung ist.
Insofern lassen sich zwei Ansatzpunkte denken: Man
kann zum einen mit der überwiegenden Rspr. von einem
faktischen Beendigungsbegriff ausgehen, der nicht „die Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale bis zur Vollendung
[…], sondern das ganze Geschehen bis zu dessen tatsächlicher Beendigung“ umfasst.43 Der Maßstab ähnelt dann dem
der prozessualen Tat und man dürfte aufgrund des engen
zeitlich-räumlichen Zusammenhangs zu dem Ergebnis kommen, dass die Tat nach § 316a StGB hier noch nicht beendet
war. Nämliches gilt, wenn man auf den vom Täter verfolgten
Zweck abstellt,44 weil S, F und G die Beute noch nicht erlangt hatten.
Kritiker solcher Ansätze monieren, dass der Beendigungszeitpunkt strafausweitende Wirkung habe und deshalb dem
Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB) besser
gerecht werden müsse, wenn man dieses nicht schon durch
die sukzessive Mittäterschaft nach Vollendung per se für
verletzt hält.45 Deshalb müsse der Beendigungszeitpunkt so
bestimmt werden, dass er sich noch in den gesetzlichen Tatbestand miteinbeziehen lasse.
Anknüpfungspunkt könnte die Deliktsstruktur des § 316a
StGB sein. Es handelt sich nach h.M. um ein Delikt mit überschießender Innentendenz.46 Für solche Delikte wird vielfach
vertreten, dass die Tat erst beendet sei, wenn die überschie-
42
Vgl. für die h.M. Sander, in: Joecks/Miebach (Hrsg.),
Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 5, 2. Aufl.
2014, § 316a Rn. 3; Sowada (Fn. 37), § 316a Rn. 4; Wessels/
Hillenkamp, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 39. Aufl.
2016, Rn. 415; a.A. (Erfolgsdelikt) Kindhäuser (Fn. 38),
§ 316a Rn. 1.
43
So zu § 249 StGB BGHSt 20, 194 (195); näher dazu und
auch zu eher normativen Entscheidungen Hillenkamp
(Fn. 41), vor §§ 22 ff. Rn. 20 m. Nachw.
44
So z.B. BayObLG NJW 1980, 412.
45
Hillenkamp (Fn. 41), vor §§ 22 ff. Rn. 34 f.; Jescheck, in:
Stratenwerth (Hrsg.), Festschrift für Hans Welzel zum 70.
Geburtstag am 25. März 1974, 1974, S. 683 (691); Kühl, in:
Schünemann u.a. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin zum
70. Geburtstag am 15. Mai 2001, 2001, S. 665 (671, 674 ff.).
46
Feilcke (Fn. 38), § 316a Rn. 4; Sowada (Fn. 37), § 316a
Rn. 4; Wolters (Fn. 38), § 316a Rn. 2a.
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ßende Absicht sich verwirklicht habe.47 Vertreter der restriktiven Linie, die eine „tatbestandsbezogene“ Beendigungslehre fordern,48 verlangen, dass es sich um eine rechtsgutsbezogene Absicht handelt. Deshalb ist z.B. ein Mord mit Ermöglichungsabsicht mit dem Tod des Opfers beendigt und nicht
erst mit der zu ermöglichenden Tat, weil diese keinen Bezug
zum Rechtsguts des § 211 StGB hat.49 Teilweise wird sogar
gefordert, dass die Absichtsverwirklichung die Rechtsgutsverletzung vertieft. Deshalb sei etwa die Bereicherungsabsicht beim Betrug sub specie Beendigung irrelevant, weil das
Vermögen nicht dadurch (weiter) geschädigt wird, dass der
Täter oder ein Dritter bereichert wird.50
Was heißt das nun für § 316a StGB? Die Vorschrift
schützt jedenfalls auch das Vermögen. Umstritten ist nur, ob
daneben auch die Sicherheit des Straßenverkehrs als weiteres
Rechtsgut tritt.51 Dann ist aber auch die Verwirklichung dieser Absicht rechtsgutsrelevant, zumal die Absicht in erheblichem Maße unrechtsprägend ist. Dafür spricht auch eine
Kontrollüberlegung: § 316a StGB ist von zwei Besonderheiten geprägt, einer Vorverlagerung der Strafbarkeit und einer
drastischen Strafschärfung gegenüber einem gewöhnlichen
Raub usw. Diese beruht auf der Erwägung, dass Kraftfahrer
vor Angriffen mit Raubabsicht etc. besonders zu schützen
seien. Hätte der Gesetzgeber die Vorverlagerung der Strafbarkeit für verzichtbar gehalten, so hätte es nahegelegen, eine
Raubqualifikation zu statuieren. An einem solchen Delikt
wäre aber – sofern man eine Zurechnung bereits verwirklichter Tatbeiträge (hier: der qualifizierten Nötigungshandlung)
für möglich hält – eine Beteiligung möglich, solange die
Beute noch nicht weggenommen wurde bzw. der Vermögensnachteil eingetreten ist. Daraus folgt erstens: Die unausgesprochene Prämisse des 4. Strafsenats, dass der räuberische
Angriff auf Kraftfahrer noch nicht beendigt ist, verdient i.E.
Zustimmung. Zweitens: Das überwiegende Schrifttum nimmt
bei § 316a StGB bedenklich früh eine Beendigung an.52 Drittens: Die ältere Entscheidung des 4. Senats steht zwischen
diesen Standpunkten, nimmt aber tendenziell ebenfalls recht
früh Beendigung an. Sie ist zugleich ein guter Beleg dafür,
dass die Rspr. den Beendigungszeitpunkt ohne dogmatische
47
Eser/Bosch, in: Schönke/Schröder (Fn. 21), vor §§ 22 ff.
Rn. 6 f.; Hau, Die Beendigung der Straftat und ihre rechtlichen Wirkungen, 1974, S. 29, 37, 97 ff.; Jescheck (Fn. 45),
S. 692 f.
48
Kühl (Fn. 44), S. 673 ff.
49
Hau (Fn. 47), S. 30; i.E. auch Hsueh, Abschied vom Begriff der Tatbeendigung im Strafrecht, 2013, S. 59, der allerdings nicht auf den fehlenden Rechtsgutsbezug, sondern
darauf abstellt, dass die Absichtsverwirklichung ihrerseits
eine Straftat ist.
50
Kühl (Fn. 45), S. 665; anders die h.M.: BGH NStZ 2014,
516 m. Anm. Chr. Becker; Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 46. Aufl. 2016, Rn. 842; Hau
(Fn. 47), S. 107 ff.
51
So BGHSt 5, 280 (281); 13, 27 (29); 22, 114 (117); 39, 249
(250); 49, 8 (11); 52, 44 (46); zum Streit um das geschützte
Rechtsgut m. Nachw. ferner Sowada (Fn. 37), § 316a Rn. 7.
52
Krit. auch Kulhanek, NStZ 2016, 609 (610).
Kriterien und damit letztlich in kaum vorhersehbarer Weise
bestimmt.
c) Ausreichender Tatbeitrag des G?
Mit diesen Erwägungen ist aber noch nicht gesagt, dass es
sachgerecht wäre, G als Mittäter zu bestrafen. Selbst wenn
man den Beendigungszeitpunkt wie hier bestimmt und zudem
eine sukzessive Mittäterschaft nach Vollendung nicht generell ablehnt, stellt sich nämlich die Frage, ob G wirklich einen
ausreichenden Tatbeitrag erbracht hat. Dabei sollte man zunächst sehen, dass nach der hier vertretenen Auffassung das
Stadium zwischen Vollendung und Beendigung bei § 316a
StGB sehr lang sein kann. 53 Hinzu kommt, dass eine sukzessive Mittäterschaft zu einem drastischen Strafrahmensprung
führen kann. Insofern sollte also besonderes Augenmerk
darauf gerichtet werden, wenigstens hinreichende Anforderungen an die gemeinschaftliche Tatbegehung zu stellen.54
Solche Voraussetzungen mag man bei G noch als erfüllt
ansehen: Dieser war die ganze Zeit „dabei“, hatte ein eigenes
Tatinteresse, hat das Bargeld weggenommen und die Gewalthandlungen waren beliebig austauschbar. Es lassen sich aber
auch andere Fälle denken: Soll ernsthaft denjenigen, der für
einen anderen den Pkw, in dessen Kofferraum der gefesselte
Fahrer liegt, ein Stück fährt – vorbehaltlich des § 316a Abs. 2
StGB – Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren erwarten?
Insofern verdient der Gedanke Beachtung, entsprechend der
funktionalen Tatherrschaftslehre im Beendigungsstadium
sogar ein Plus an Mitwirkung zu verlangen, wenn ein Minus
im Ausführungsstadium zu verzeichnen ist.55
2. Versuchter Verdeckungsmord
Der Senat hat offenbar keine prinzipiellen Bedenken gegen
die Annahme des LG, dass hier ein versuchter Verdeckungsmord in Betracht kommt. Der Schuldspruch wurde insofern
nur deshalb aufgehoben, weil der Senat nicht ausschließen
konnte, dass das LG in neuer Hauptverhandlung einen Tötungsvorsatz bereits bei Beginn des Überfalls feststellen
würde. Damit würde aber ein anschließender versuchter Verdeckungsmord nach gefestigter Rspr. ausscheiden.56 Dass S,
F und G lediglich mit Eventualvorsatz handelten, wird nicht
einmal mehr problematisiert. Hier zeigt sich insofern eine
53
Vgl. auch Kulhanek, NStZ 2016, 609 (610), der die verschiedenen Aspekte zusammenführt und Beendigung annimmt, „wenn entweder die überschießende Innentendenz
verwirklicht wurde, die Fortwirkung des ursprünglichen
Angriffs aufgehoben ist, oder ein längerer zeitlicher und
räumlicher Abstand zur Vollendung des Angriffs eintritt“.
54
Dazu allgemein schon BGH bei Dallinger, MDR 1971, 365
(366); Küper, JZ 1981, 568 (572 f.).
55
Vgl. Kühl (Fn. 45), S. 682.
56
Grundlegend BGH NStZ 2002, 312 (313); zur Kritik etwa
Schneider, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 4, 2. Aufl. 2012, § 211 Rn. 244
ff.
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ebenfalls gefestigte Rspr. zu den – sich überschneidenden57 –
Themenkreisen Eventualvorsatz und Unterlassen bei der
Verdeckungsabsicht. Geht man einmal davon aus, dass insofern beim Unterlassungsdelikten die gleichen Grundsätze
gelten,58 ist entscheidend, ob die Verdeckung nur durch den
Todeserfolg erreicht werden konnte – dann ist Absicht erforderlich – oder ob die Tathandlung condicio sine qua non für
den Verdeckungserfolg ist.59 Da es hier um ein Unterlassen
geht, kommt es also auf die gebotene Rettungshandlung an.60
Wegen ebendieser befürchteten die Täter aber entdeckt zu
werden; sie gingen nach den Feststellungen nicht davon aus,
das Opfer könnte sie identifizieren. Insofern befindet sich das
Urteil auf dem Boden der h.M., ohne sich allerdings mit der
daran geübten Kritik61 auseinanderzusetzen.
Prof. Dr. Paul Krell, Hamburg
57
Siehe etwa Geppert, Jura 2004, 242 (245 f.); Kaspar/
Broichmann, ZJS 2013, 346 (351 f.); Mitsch, in: Leipold/
Tsambikakis/Zöller (Fn. 38), § 211 Rn. 80.
58
Schneider (Fn. 56), § 211 Rn. 243.
59
Schneider (Fn. 56), § 211 Rn. 238.
60
Vgl. Geppert, Jura 2004, 242 (246); Theile, JuS 2006, 110
(111).
61
Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.),
Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 2, 4. Aufl. 2013,
§ 211 Rn. 102; Mitsch (Fn. 57), § 211 Rn. 81.
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BGH, Beschl. v. 15.9.2016 – 4 StR 90/16
Theile
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E n t s c h e i d u n g s a n m e r k u n g
Falsches Überholen im Straßenverkehr
Das Tatbestandsmerkmal des Überholens wird auch
durch ein Vorbeifahren von hinten an sich in derselben
Richtung bewegenden oder verkehrsbedingt haltenden
Fahrzeugen verwirklicht, das unter Benutzung von Flächen erfolgt, die nach den örtlichen Gegebenheiten zusammen mit der Fahrbahn einen einheitlichen Straßenraum bilden.
(Amtlicher Leitsatz)
StGB § 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. b
BGH, Beschl. v. 15.9.2016 – 4 StR 90/161
I. Einleitung
Im Zentrum der Entscheidung steht die alles andere als leicht
handzuhabende, aber hochgradig praxis- und ausbildungsrelevante Strafvorschrift des § 315c StGB. Es handelt sich –
anders als § 316 StGB – um ein konkretes Gefährdungsdelikt,
das zahlreiche dogmatische Fragen aufwirft. Im Unterschied
zu § 315b StGB erfasst die Norm gerade Angriffe auf die
Sicherheit des Straßenverkehrs, die von innen aus dem Verkehr heraus und nicht etwa von außen auf den Verkehr hinaus
verübt werden. Dies ergibt sich aus der in § 315b Abs. 1
Nr. 3 StGB enthaltenen Wendung „einen ähnlichen, ebenso
gefährlichen Eingriff“. Im konkreten Fall geht es um die
Auslegung des Merkmals des falschen Überholens aus § 315c
Abs. 1 Nr. 2 lit. b StGB, das eine der enumerativ aufgeführten sieben Todsünden des Straßenverkehrs darstellt. Jenseits
der vom BGH behandelten Auslegungsfrage bietet die Entscheidung Gelegenheit, sich noch einmal mit einigen Problemen dieser Strafvorschrift auseinanderzusetzen.
II. Sachverhalt
Der einen PKW steuernde Angeklagte wollte sich einer polizeilichen Kontrolle entziehen und überfuhr daher bei großer
Beschleunigung eine rote Ampel, um sodann nach links in
eine dreispurige Straße einzubiegen. Indes war ihm hier nach
kurzer Weiterfahrt die Fahrbahn wegen einer weiteren roten
Ampel versperrt, zumal auf der linken und mittleren Spur
zwei Fahrzeuge hielten und der rechte Fahrstreifen durch
einen an einer Haltestelle wartenden Linienbus blockiert war.
Zur Ermöglichung der Flucht vor der ihm folgenden Polizei
lenkte der Angeklagte seinen PKW über einen Bordstein
schräg auf den rechten Gehweg und fuhr in einem Abstand
von weniger als einem Meter an zwei Mädchen auf einem
Fahrrad vorbei. Anschließend setzte er die Fahrt, an den auf
der Straße wartenden Fahrzeugen vorbei, deutlich schneller
als mit Schrittgeschwindigkeit über den Bürgersteig fort.
Überdies hielt er auf einen ihm entgegenkommenden Passan1
Die Entscheidung ist in NJW 2016, 3462 abgedruckt und
abrufbar unter:
https://www.juris.de/jportal/?quelle=jlink&docid=KORE301
712016&psml=jurisw.psml&max=true (12.1.2017).
ten zu und berührte ihn; der empörte Passant geriet zwar aus
dem Tritt, ohne jedoch das Gleichgewicht zu verlieren oder
zu Boden zu stürzen. Insoweit bestand – was dem Angeklagten klar war und womit er sich jedoch abfand – die naheliegende Gefahr eines Zusammenstoßes, so dass es nur dem
Zufall zu verdanken war, ob sich der Fußgänger erheblich
verletzen würde. Nachdem er im weiteren Verlauf noch ein
an einer Hausfassade befestigtes Reklameschild gestreift
hatte, hielt er schließlich an und setzte seine Flucht zu Fuß
fort.
III. Rechtliche Würdigung
1. Der vom BGH zu würdigende Vorgang fand zweifellos
„im Straßenverkehr“ statt, da das Fahrmanöver auf dem seitlich von der Fahrbahn gelegenen Gehweg und damit im öffentlichen Verkehrsraum stattfand: Unabhängig von Eigentumsverhältnissen oder einer Widmung sind alle Straßen,
Wege und Plätze öffentlich, die mit ausdrücklicher oder stillschweigender Duldung des Verfügungsberechtigten von der
Allgemeinheit genutzt werden.2
2. Als Verkehrsverstoß läge es nicht völlig fern, auf eine
Nichtbeachtung der Vorfahrt abzustellen, da der Angeklagte
bereits im Vorfeld der eigentlichen Gefährdungssituation eine
erste rote Ampel überfahren hatte. Von § 315c Abs. 1 Nr. 2
lit. a StGB werden Verkehrssituationen erfasst, in der sich die
Fahrlinien zweier Fahrzeuge kreuzen oder so stark annähern,
dass ein reibungsloser Verkehrsablauf nicht mehr gewährleistet ist.3 Dies soll auch der Fall sein, wenn der Täter bei Rotlicht in eine Kreuzung einfährt und dadurch den Vorrang des
Querverkehrs missachtet.4 Immerhin stellt eine Ampel der
Sache nach nichts anderes als eine Vorfahrtsregelung dar, da
sie den vor dem roten Signal befindlichen Verkehrsteilnehmern ein Halten gebietet. Jedoch sah sich der BGH an diesem
Punkt offenbar deswegen zu keiner Stellungnahme genötigt,
weil es zunächst noch zu keiner konkreten Gefährdung gekommen war und die „kurze Strecke“ bis zu der späteren
Gefährdungssituation wohl doch immerhin lang genug war,
um diese nicht mehr dem ersten Verstoß zuordnen zu können.
3. Allerdings kam ein Verstoß im Sinne des § 315c Abs. 1
Nr. 2 lit. b StGB in Betracht, wenn der Angeklagte falsch
überholt oder bei Überholvorgängen falsch gefahren wäre.
2
Eisele, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1, 3. Aufl. 2014,
Rn. 1107; Rengier, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2,
17. Aufl. 2016, § 43 Rn. 4.
3
Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar,
64. Aufl. 2017, § 315c Rn. 5a; König, in: Laufhütte/Rissingvan Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger
Kommentar, Bd. 11, 12 Aufl. 2008, § 315c Rn. 71; Sternberg-Lieben/Hecker, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch,
Kommentar, 29. Aufl. 2014, § 315c Rn. 14.
4
OLG Frankfurt NZV 1994, 365; OLG Düsseldorf NZV
1996, 245; kritisch Fischer (Fn. 3), § 315c Rn. 5a; König
(Fn. 3), § 315c Rn. 72; kritisch Kudlich, in: v. HeintschelHeinegg (Hrsg.), Beck‘scher Online-Kommentar, Strafgesetzbuch, Stand: 10.1.2017, § 315c Rn. 40; Lackner/Kühl,
Strafgesetzbuch, Kommentar, 28. Aufl. 2014, § 315c Rn. 13;
Sternberg-Lieben/Hecker (Fn. 3), § 315c Rn. 14.
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Zwar referiert § 5 StVO auf den Begriff des Überholens,
ohne ihn jedoch näher inhaltlich zu bestimmen. Unter Überholen versteht man einen zielgerichteten Verkehrsvorgang,
bei dem ein Verkehrsteilnehmer von hinten an einem anderen
vorbeifährt, der sich auf derselben Fahrbahn in der gleichen
Richtung bewegt oder nur mit Rücksicht auf die Verkehrslage anhält.5 Demgegenüber liegt ein schlichtes Vorbeifahren
vor, wenn der andere Verkehrsteilnehmer nicht verkehrsbedingt angehalten hat, etwa weil er parkt oder eine Panne hat.6
Da die auf der dreispurigen Fahrbahn haltenden Fahrzeuge
verkehrsbedingt ihre Fahrt unterbrochen hatten, lag kein
bloßes Vorbeifahren vor. Der Annahme des Überholens steht
demnach nicht entgegen, dass die vor der Ampel stoppenden
Fahrzeuge ihre Fahrtbewegung unterbrochen hatten; entscheidend bleibt, dass die Fahrzeuge aktiv am Straßenverkehr
beteiligt sind.7
Das Überholen ist falsch, wenn der Täter eine der in § 5
StVO normierten Regeln missachtet, die freilich nicht erschöpfend sind, so dass auch ein Überholen unter Verletzung
anderer der Sicherheit des Überholvorgangs dienender Verkehrsvorschriften den Tatbestand erfüllt.8 Dies ergibt sich
schon daraus, dass neben dem falschen Überholen das sonst
bei Überholvorgängen falsche Fahren in § 315c Abs. 1 Nr. 2
lit. b StGB erfasst wird.9 Das eigentliche Problem liegt darin,
dass der Angeklagte die anderen Fahrzeuge nicht auf der
Straße, sondern auf dem rechts seitlich gelegenen Gehweg
überholte. Kann demnach noch von einem Überholen im
Sinne des § 315 Abs. 1 Nr. 2 lit. b StGB gesprochen werden,
zumal § 5 StVO erkennbar auf Verhaltensweisen zugeschnitten ist, die auf ein und demselben Straßenteil stattfinden?
Indes können identische Begriffe in verschiedenen normativen Zusammenhängen durchaus unterschiedlich ausgelegt
werden, da Rechtsbegriffe relativ und vor dem Hintergrund
des jeweiligen normativen Regelungszusammenhangs auszulegen sind.10 Der BGH war deswegen keineswegs gehindert,
seiner Entscheidung eine spezifisch strafrechtliche Interpretation des Begriffs des Überholens zugrunde zu legen. Es handelt sich bei § 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. b StGB um eine vollständige Strafrechtsnorm und nicht um eine ausfüllungs-
5
BGHSt 26, 74; OLG Düsseldorf NJW 1980, 1116; OLG
Hamm NJW 1972, 652; OLG Karlsruhe NJW 1972, 963;
König (Fn. 3), § 315c Rn. 77 ff.; Sternberg-Lieben/Hecker
(Fn. 3), § 315c Rn. 15.
6
BGH VRS 11 (1956), 171; OLG Hamm VRS 28 (1963),
128; König (Fn. 3), § 315c Rn. 87; Sternberg-Lieben/Hecker
(Fn. 3), § 315c Rn. 15.
7
Siehe in diesem Zusammenhang auch Sandherr, NZV 2016,
585 (587).
8
Sternberg-Lieben/Hecker (Fn. 3), § 315c Rn. 18.
9
Zu den verfassungsrechtlichen Konnotationen BVerfG NJW
1995, 315.
10
Siehe hierzu Eisele, in: Baumann/Weber/Mitsch/Eisele,
Strafrecht, Allgemeiner Teil, 12. Aufl. 2016, § 7 Rn. 67;
Rengier, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2016, § 5
Rn. 13.
bedürftige Blankettnorm, bei der das Gericht inhaltlich gebunden gewesen wäre.11
Vor diesem Hintergrund führt der BGH in etwas umständlicher Formulierung aus, dass das Tatbestandsmerkmal
des Überholens auch durch ein Vorbeifahren von hinten an
sich in derselben Richtung bewegenden oder verkehrsbedingt
haltenden Fahrzeugen verwirklicht werden kann, das unter
Benutzung von Flächen erfolgt, die nach dem örtlichen Gegebenheiten zusammen mit der Fahrbahn einen einheitlichen
Straßenraum bilden; dies ergebe sich aus der Wortbedeutung
und unter Berücksichtigung des Umstands, dass das Sichbewegen auf derselben Fahrbahn kein taugliches Kriterium
für eine abschließende Erfassung besonders gefährlicher
Fälle des Vorbeifahrens liefere.12 Ähnliches hatte der BGH
bereits in der Vergangenheit judiziert, indem etwa das Vorbeifahren über Seiten- oder Grünstreifen,13 über Ein- und
Ausfädelspuren oder über lediglich durch abgesetzte Radoder Gehwege unter die Vorschrift subsumiert wurde.14 An
diesem Punkt wird man dem BGH durchaus zustimmen können, da das Überholen im Sinne des § 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. b
StGB in erster Linie einen aktiven Bewegungsvorgang beschreibt und dieser Vorgang jedenfalls solange unter das
Tatbestandsmerkmal subsumiert werden kann, wie er in den
öffentlichen Straßenverkehr – und sei es: den Fußgängerverkehr – eingebettet ist.
Systematisch könnte sich etwas anderes daraus ergeben,
wenn man das Verhalten des Täters nicht mehr als einen
Vorgang aus dem Verkehr selbst heraus, sondern als einen
von außen auf den Verkehr einwirkenden Vorgang verstehen
würde. Wäre dies der Fall, wäre § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB
einschlägig, unter den etwa die bewusste Zweckentfremdung
eines Kfz subsumiert wird, sofern es nicht als Fortbewegungsmittel, sondern als Mittel zur Verletzung von Menschen
oder Schädigung von Sachen eingesetzt wird.15 Indes bleibt
eine trennscharfe Abgrenzung zwischen § 315b StGB und
§ 315c StGB auch dann möglich,16 wenn man mit dem BGH
den Gehweg als einen mit der Fahrbahn verbundenen „einheitlichen Straßenraum“ ansieht. Denn ein solches Verständnis ändert nichts daran, dass es sich im konkreten Fall um
eine aus dem Verkehr heraus entstehende Gefährdungslage
handelt. Anders als in den Zweckentfremdungskonstellationen, in denen der Verkehrsbezug des Verhaltens hinter die
Verletzungs- und Schädigungsintention zurücktritt, ist dieser
Bezug hier noch gegeben.
Teleologisch spricht sowieso alles für die vom BGH gewählte Auslegung, da § 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. b StGB gerade
dem Schutz der Verkehrsteilnehmer vor grob verkehrswidrigen und rücksichtslosen Fahrmanövern dienen soll. Dies
muss erst recht gelten, wenn der Überholvorgang auf dem
11
BVerfG NJW 1995, 315 (316).
BGH NJW 2016, 3462 (3463).
13
BVerfG NJW 1995, 315.
14
OLG Hamm VRS 32 (1965), 449.
15
Siehe hierzu Eisele (Fn. 2), Rn. 1150 f.; Rengier (Fn. 2),
§ 45 Rn. 26; Wessels/Hettinger, Strafrecht, Besonderer Teil,
Bd. 1, 39. Aufl. 2015, Rn. 980 f.
16
Zweifelnd Kubiciel, jurisPR-StrafR 23/2016.
12
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123
BGH, Beschl. v. 19.6.2016 – 4 StR 90/16
Theile
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Gehweg stattfindet, da die sich dort aufhaltenden Personen
nicht nur völlig ungeschützt sind, sondern auch viel weniger
mit derartigen Verhaltensweisen rechnen müssen als am
motorisierten Verkehr beteiligte Personen.17
Dass der Angeklagte nach Abschluss des Manövers nicht
wieder auf die Fahrbahn einscherte, ändert ebenso wenig an
dieser Interpretation, da Wortlaut, Systematik und Zweck des
§ 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. b StGB keineswegs verlangen, dass
der Täter nach Abschluss des Vorganges einen erneuten Spurenwechsel vollzieht und die Fahrt dort fortsetzt:18 Entscheidend ist das zielgerichtete Passieren der verkehrsbedingt vor
der roten Ampel stehenden Fahrzeuge sowie des an der Haltestelle wartenden Linienbusses. Der BGH argumentiert zudem mit Praktikabilitätserwägungen, indem er darauf hinweist, dass die rechtliche Einordnung des Verhaltens nicht so
lange unklar bleiben dürfe, bis der Verkehrsvorgang insgesamt abgeschlossen sei.19
Dass es sich um einen objektiv besonders schweren Verstoß gegen das Verbot falschen Überholens handelt und der
Täter deswegen grob verkehrswidrig im Sinne des § 315c
Abs. 1 Nr. 2 StGB handelte, liegt auf der Hand: Geht man
davon aus, dass die Vorschrift auf die Sicherheit des Straßenverkehrs abzielt, wird man das abrupte Ausweichen auf einen
Gehweg als besonders gefährliches Verhalten ansehen können.
4. Als konkretes Gefährdungsdelikt setzt § 315c Abs. 1
StGB die konkrete Gefährdung von Leib oder Leben eines
anderen Menschen oder fremder Sachen von bedeutendem
Wert voraus. Gemeint ist ein Zustand, der auf einen unmittelbar bevorstehenden Unfall hindeutet und den Eintritt eines
Schadens so wahrscheinlich macht, dass es vom Zufall abhängt, ob das Rechtsgut verletzt wird oder nicht.20 Konkret ist
die Gefahr nur, wenn eine andere Person oder fremde Sache
in die unmittelbare Gefahrenzone und dort in eine riskante/
kritische Verkehrssituation gerät, die nach Lage der Dinge
fast zu einem Unfall geführt hätte und gerade noch einmal
gut ausgegangen ist.21
An diesem Punkt kam sowohl eine Gefährdung der beiden Fahrradfahrerinnen durch das in einem Abstand von
weniger als einem Meter erfolgende Vorbeifahren sowie das
Touchieren des Fußgängers in Frage. Insoweit führt der BGH
aus, dass der Angeklagte deutlich schneller als mit Schrittgeschwindigkeit fuhr,22 ohne jedoch genauere Angaben zu
machen, was im Nachhinein wohl auch nur schwer möglich
war. Bei höheren Geschwindigkeiten wird man dem BGH
hier durchaus folgen können, auch wenn sich ein gewisser
Zweifel daraus ergibt, dass die Geschwindigkeit offenbar
nicht so hoch war, dass der Fußgänger trotz des Touchierens
stürzte.
Das Streifen des Reklameschildes hat offenbar keinen
größeren Schaden nach sich gezogen bzw. zu einer diesbezüglichen Gefahr geführt, so dass die nach wie vor bestehende Wertgrenze von 750 € offenbar nicht überschritten wurde.23
5. Der Zurechnungszusammenhang war hier unproblematisch (vgl. „und dadurch“). Gleichwohl ist in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass die konkrete Gefahr stets
auf dem Pflichtverstoß beruhen muss.
6. Hinsichtlich der Personengefahren ging der BGH davon aus, dass der Angeklagte hinsichtlich des Fußhängers die
Gefahr eines Zusammenstoßes sah und sich gleichwohl damit
abfand, um seine Flucht fortzusetzen.24 Insoweit liegt hier
eine Vorsatz-/Vorsatz-Kombination vor und auf § 315c
Abs. 3 StGB war nicht abzustellen.
7. Das dem Unrechtstatbestand und nicht der Schuld
zugehörige subjektive Tatbestandsmerkmal der Rücksichtslosigkeit lag deswegen vor, weil der Angeklagte zur Ermöglichung seiner Flucht potentiell über Leichen zu gehen gewillt
war.25 Rücksichtslos handelt, wer sich aus egoistischen
Gründen bewusst über seine Pflichten als Verkehrsteilnehmer
hinwegsetzt oder bei unbewusster Fahrlässigkeit aus Gleichgültigkeit von vornherein erst gar keine Bedenken gegen sein
Verhalten aufkommen lässt und unbekümmert um etwaige
Folgen drauflosfährt.26
Prof. Dr. Hans Theile, LL.M., Konstanz
23
17
BGH NJW 2016, 3462 (3463).
18
BGH NJW 2016, 3462 (3463); anders scheinbar Kubiciel,
jurisPR-StrafR 23/2016.
19
BGH NJW 2016, 3462 (3463).
20
Eisele (Fn. 2), Rn. 1131 f.; Rengier (Fn. 2), § 44 Rn. 12;
Wessels/Hettinger (Fn. 15), Rn. 990.
21
Eisele (Fn. 2), Rn. 1136; Rengier (Fn. 2), § 44 Rn. 13.
22
BGH NJW 2016, 3462 (3463).
BGHSt 48, 119 (121); BGH NStZ 2013, 167; zu Erhöhungstendenzen siehe OLG Thüringen StV 2009, 194; Rengier (Fn. 2), § 44 Rn. 21; Sternberg-Lieben/Hecker (Fn. 3),
§ 315c Rn. 31.
24
BGH NJW 2016, 3462 (3463).
25
Zur Einordnung siehe Rengier (Fn. 2), § 44 Rn. 8; Sternberg-Lieben/Hecker (Fn. 3), § 315c Rn. 28.
26
BGHSt 5, 392 (395); Eisele (Fn. 2), Rn. 1130; Rengier
(Fn. 2), § 44 Rn. 8.
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ZJS 1/2017
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Weller/Prütting, Handels- und Gesellschaftsrecht
Szalai
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B u c h r e z e n s i o n
Marc-Philippe Weller/Jens Prütting, Handels- und Gesellschaftsrecht, 9. Aufl., Verlag Franz Vahlen, München 2016,
420 S., € 29,80.
Im November 2016 erschien die 9. Auflage des vormals von
Prof. Dr. Günther H. Roth begründeten Lehrbuchs zum Handels- und Gesellschaftsrecht. Die 9. Auflage erschien unter
Mitwirkung von Prof. Dr. Jens Prütting, nachdem zuvor
Prof. Dr. Marc-Philippe Weller die Vorauflagen (7. und 8.
Auflage) nach dem Ausscheiden von Prof. Dr. Roth allein
fortgeführt hatte.
Auch die 9. Auflage behält die Grundstrukturen der Vorauflagen im Wesentlichen bei und ist (weiterhin) thematisch
gegliedert.
Im ersten (Grundlagen-)Teil werden (1.) der Begriff des
Handelsrechts, (2.) das Handelsregister und seine Funktionsweise sowie (3.) der Unternehmens- und Kaufmannsbegriff
erläutert. Neben den zahlreichen Beispielen setzen die Autoren besondere Schwerpunkte auf klausurträchtige Normen
bzw. Konstellationen wie bspw. § 15 HGB. Zudem werden
auf sehr anschauliche Weise Bezüge zu allgemeinen Rechtsgrundsätzen (etwa Vertrauensschutz und Rechtsscheinhaftung) hergestellt.
Der zweite Teil befasst sich ausschließlich mit dem
kaufmännischen Unternehmen. Dabei werden (1.) Einzelkaufmann und Handelsgesellschaften, (2.) die Personengesellschaften, (3.) die Kapitalgesellschaften mit knappen Ausführungen zum Konzern, (4.) die kaufmännische Rechnungslegung und (5.) das kaufmännische Personal (Handlungsgehilfen und Handelsvertreter) dargestellt. Die vertiefte Darstellung beschränkt sich dabei auf deutsche Gesellschafts- und
Handlungsformen.
Hier kommt die Stärke des gewählten Aufbaus zum Tragen. Die thematische Gliederung erlaubt es insbesondere,
Unterschiede und Gemeinsamkeiten der einzelnen (Personen-)Gesellschaftsformen und ihre Strukturmerkmale gegenüberzustellen sowie hieran anknüpfend etwa Bezüge zum
Steuerrecht herzustellen. Bereits bei den einzelnen Gesellschaftsformen werden Besonderheiten des Umwandlungsrechts oder der Eintragung im Grundbuch (§ 899a BGB)
dargestellt.
Anschaulich sind auch die Ausführungen zur GmbH und
zum e.V. Auch hier bietet die gewählte Art der Darstellung
insbesondere mit Blick auf die zeitsparende Klausurvorbereitung Vorzüge, wofür das Kapitel zur Haftungsverfassung der
GmbH nur ein nicht abschließendes Beispiel bildet.
Gut nachvollziehbar und sehr leserfreundlich sind auch
die Ausführungen zu den Handelsbüchern und Publizitätspflichten.
Der dritte Teil stellt das Unternehmen im Rechtsverkehr
dar. Hier werden das Unternehmen und die Firma ebenso
ausführlich dargestellt wie die Vertretung des Kaufmanns
sowie Besonderheiten im Zusammenhang mit der Einbringung des Unternehmens, der Erbfolge inklusive etwaiger
Nachfolgeregelungen, Verschmelzungsvorgängen oder Ähnliches. Der thematische Aufbau erlaubt hier Verweisungen
auf bereits Dargestelltes (etwa im Zusammenhang mit § 15
HGB).
Der vierte Teil befasst sich schließlich mit den Handelsgeschäften und stellt hierbei zunächst die allgemeinen Vorschriften und Folgen der Kaufmannseigenschaft in Abweichung von den Regelungen im BGB dar. In dem Abschnitt zu
den besonderen Handelsgeschäften werden Handelskauf,
Kommissionsgeschäft, aber auch Fracht-, Speditions- und
Lagergeschäft sowie andere Hilfsgeschäfte dargestellt.
Das Werk richtet sich an junge Juristen und Juristinnen
und will die Grundzüge des Handels- und Gesellschaftsrechts
vermitteln. Der thematische Aufbau und die passenden Querverweise auf verwandte Themen kommen insbesondere Studenten entgegen, was zügiges und vernetztes Lernen ermöglicht. Zu Beginn eines jeden Kapitels finden sich kleine Fälle,
anhand derer das Gelernte bzw. Erarbeitete im Anschluss
überprüft werden kann. Der Fußnotenapparat sowie die übrigen Literaturhinweise sind studentenfreundlich auf die wesentlichen Punkte beschränkt und ermöglichen eine zügige
Vertiefung, wo dies dem Leser angezeigt erscheint. Knapp
dreißig Schaubilder verdeutlichen an passender Stelle Besonderheiten (etwa zur Haftung in der Gründungsphase der
GmbH) oder Prüfungsschemata (etwa zur Untersuchungsund Rügeobliegenheit nach § 377 HGB). Die einzelnen Problemkomplexe werden dicht am Gesetz dargestellt, was das
Auffinden von Problemen in der Klausur, das Argumentieren
dicht am Gesetz und das systematische Lernen in der Vorbereitung auf die Klausur erleichtert.
Dabei eignet sich das Werk nicht nur für jüngere Semester und das erstmalige Erschließen des Lehr- und Lernstoffes,
sondern auch für fortgeschrittene Studenten und Referendare
zur Wiederholung bzw. Auffrischung vorhandenen Wissens.
Dies gilt nicht nur aufgrund des ausführlichen Inhaltsverzeichnisses und dem gut geführten Stichwortverzeichnis.
Vielmehr ist dies auf sinnvoll eingesetzten Fettungen und der
Behandlung auch prozessualer Fragestellungen (etwa im
Rahmen der. der Klage gegen einen Personengesellschafter)
zurückzuführen. Aufgrund der thematischen Gliederung
eignet sich das Werk zudem gut zum Nachschlagen als Einstieg für einzelne Problemkomplexe.
Die 9. Auflage des „Weller/Prütting – Handels- und Gesellschaftsrecht“ sei hiermit insbesondere Studenten ans Herz
gelegt, die sich mit wenig Aufwand einen guten Überblick
über die wesentlichen Regelungsgegenstände des Handelsund Gesellschaftsrechts verschaffen wollen und sich dabei
nicht eine Vielzahl von Publikationen oder Lehrbüchern
zurückgreifen möchten. Referendaren bietet dieses Buch eine
gute Grundlage, ihr Wissen aufzufrischen. Berufseinsteiger
können das Buch gut als Nachschlagewerk verwenden. So ist
der Weller/Prütting zweifellos eine gute Investition für eine
sehr breite Leserschaft.
Dr. Stephan Szalai, LL.M., Leipzig
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125
Schoch, Kommentar zum Informationsfreiheitsgesetz
Rosenau
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B u c h r e z e n s i o n
Friedrich Schoch, Kommentar zum Informationsfreiheitsgesetz, 2. Aufl., Verlag C.H. Beck, München 2016, 1112 S.,
€ 139,-.
Das Informationsfreiheitsgesetz des Bundes ist mittlerweile
seit etwas mehr als zehn Jahren in Kraft. Dieses Jubiläum hat
Friedrich Schoch, Professor an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg i. Br. und Richter im Nebenamt am VGH BW,
offensichtlich zum Anlass genommen, um seinen Kommentar
zum IFG des Bundes in zweiter Auflage zu veröffentlichen.
Die Neuauflage erscheint dabei in einem größeren Format
und hat innerhalb des Beck-Verlags von der Reihe der „Gelben Erläuterungsbücher“ in die „Graue Reihe“ der Großkommentare gewechselt. Nach eigenen Angaben des Autors
war dies notwendig, „um den Herausforderungen des Informationsfreiheitsrechts auch vom Umfang her gerecht werden
zu können.“1
Inhaltlich wurde der Kommentar, der Nachweise zu
Rechtsprechung und Schrifttum bis einschließlich Februar
2016 berücksichtigt, dementsprechend um rund ein Drittel
und damit deutlich erweitert. Auch das Landesinformationsfreiheitsgesetz Baden-Württemberg vom 17.12.2015 sowie
das Landestransparenzgesetz Rheinland-Pfalz vom 27. 11.
2015 haben in der Neuauflage bereits Beachtung gefunden.
Die Gliederung der neuen Auflage entspricht im Wesentlichen der vorherigen: Der Erläuterung der Einzelvorschriften
des IFG geht eine umfassende Einleitung voraus, die fast 180
Seiten umfasst. Dort wird eingangs die allgemeine Entwicklung der Informationszugangsfreiheit skizziert (A.). Sodann
folgen verfassungsrechtliche (B.) und unionsrechtliche (C.)
Erläuterungen. Behandelt werden in der Einleitung weiterhin
Aspekte des internationalen Rechts (D.), das allgemeine
Informationszugangsrecht der Bundesländer (E.), kommunalrechtliche Informationsfreiheitssatzungen (F.) sowie das
allgemeine Informationszugangsrecht des Bundes (G.). Wie
in der ersten Auflage bildet auch in der Neuauflage eine Betrachtung der Erfahrungen mit dem Informationsfreiheitsrecht
auf Unions-, Bundes- und Landesebene den Abschluss der
einleitenden Ausführungen (H.). Weil nach zehn Jahren Geltungsdauer die im Zusammenhang mit dem IFG gesammelten
Erfahrungen naturgemäß wesentlich umfangreicher ausfallen
müssen als bei der ersten Auflage, bei deren Erscheinen das
Gesetz rund drei Jahre in Kraft war, fällt dieser Abschnitt
freilich deutlich umfassender als in der Vorauflage aus.
Es folgt eine ausführliche Kommentierung der einzelnen
Vorschriften des IFG, in der die reichhaltige Literatur und
Judikatur der vergangenen Jahre von Schoch sorgfältig verarbeitet wird. Dies geschieht in einem dreischrittigen Aufbau:
Eingangs wird ein allgemeiner Überblick über die betreffende
Vorschrift gegeben (A.), an den sich deren Einzelerläuterung
anschließt (B.). Zuletzt erfolgen Hinweise auf Defizite des
geltenden Rechts sowie rechtspolitische Überlegungen (C.).
Den dritten Teil des Werks bildet ein umfangreicher Anhang, der landes-, bundes- und unionsrechtliche Vorschriften
1
wiedergibt, die im Zusammenhang mit dem Recht auf Informationszugang stehen. Außerdem sind dort ein Auszug aus
der Aarhus-Konvention sowie das Übereinkommen des Europarates über den Zugang zu amtlichen Dokumenten abgedruckt.
Judikatur und rechtswissenschaftliches Schrifttum zur Informationszugangsfreiheit haben sich in den vergangenen
Jahren stark entwickelt. Von daher tat eine Neuauflage des
„Schoch“ als Standardkommentar für alle, die sich mit dem
IFG des Bundes befassen, not. Es bleibt zu hoffen, dass die
dritte Auflage keine sieben Jahre auf sich warten lässt.
Mag. iur. René Rosenau, Köln
Schoch, in: Schoch, IFG, 2. Aufl. 2016, S. V.
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ZJS 1/2017
126
Enz, Verminderte Schuldfähigkeit im deutschen und US-amerikanischen Strafrecht
Babucke
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B u c h r e z e n s i o n
Bettina Enz, Verminderte Schuldfähigkeit im deutschen und
US-amerikanischen Strafrecht, Schriften zum Internationalen
und Europäischen Strafrecht, Bd. 25, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2016, 659 S., € 98,-.
Der Schuldgrundsatz ist eine der essentiellen Grundlagen des
deutschen Strafrechts, „nulla poena sine culpa“, keine Strafe
ohne Schuld. Die Schuld wird dabei als eine Voraussetzung
verstanden, die im Falle von Erwachsenen als im Regelfall
gegeben angesehen wird. Anlassbezogen ist sie indessen im
Detail zu prüfen. Nur wenn diese Prüfung im Einzelfall
ergibt, dass die Schuld völlig fehlt, also Schuldunfähigkeit
gegeben ist, ist ein Strafausschluss begründet. Wie wird nun
aber in Fällen einer bloß graduellen Abweichung vorgegangen? Was passiert, wenn die Schuldfähigkeit in Teilen vorhanden, insofern also eingeschränkt ist? Was bedeutet es
überhaupt, zwar grundsätzlich schuldfähig zu sein, dies aber
im konkreten Fall nur in eingeschränktem Maße?
Enz befasst sich in ihrem Werk mit einer Thematik, die
bisher in dieser Präzision und Ausführlichkeit noch nicht
behandelt wurde. Sie konzentriert sich auf die verminderte
Schuldfähigkeit. Sie betrachtet dabei das deutsche System in
all seinen Facetten und sucht gleichzeitig den Vergleich und
Kontrast zum US-amerikanischen System, was die Besonderheiten der deutschen Rechtslage deutlich herauszuarbeiten
gestattet.
Enz beginnt ihre Abhandlung recht zügig. Der Leser findet sich gleich auf der ersten Seite in der historischen Entwicklung der Regelung zur verminderten Schuldfähigkeit in
Deutschland wieder. Enz zeigt die verschiedenen Entwicklungsschritte bis hin zu der heutigen Regelung zur verminderten Schuldfähigkeit auf, inklusive der dabei diskutierten Reformentwürfe. Sie erläutert Hintergrundüberlegungen, leitende Zielideen und Diskussionspunkte, wobei sie auch die
Referenz zu anderen kontinentaleuropäischen Kodifikationen
sucht (S. 75). Leider wird im Rahmen der Darstellung der
Reformentwürfe und -ideen nicht erörtert oder beschrieben,
warum diese letztlich nicht in den Gesetzestext aufgenommen
wurden (vgl. S. 383). Die entsprechenden Erklärungen fehlen
zwar nicht völlig, sie erfolgen allerdings erheblich später,
wodurch die Darstellung etwas auseinandergerissen wirkt
und der Lesefluss etwas leidet.
Schön wäre es gewesen, hier auch etwas Näheres zu den
Gründen für die erst 1934 erfolgte Integration der „verminderten Schuldfähigkeit“ als „verminderte Zurechnungsfähigkeit“ in die Regelungen des RStGB zu erfahren. Insofern
müssen, trotz des erheblichen Umfangs dieser Arbeit,
gleichwohl inhaltliche Grenzen konstatiert und Abstriche
gemacht werden.
Weiter ordnet Enz die deutsche Regelung zur verminderten Schuldfähigkeit in den grundrechtlichen Kontext ein und
sieht die gesetzliche Normierung der verminderten Schuldfähigkeit als eine Form der Verwirklichung des Gebotes der
schuldangemessenen Strafe (S. 81). Gerade an dieser Stelle
offenbart sich aber auch eine Schwierigkeit der Arbeit. Die
Konzentration auf die Regelung zur verminderten Schuldfä-
higkeit ist bezogen auf die deutsche Kodifikation anspruchsvoll, da hier diverse Schnittstellen zur Schuldunfähigkeit
bestehen. Diese müssen angesprochen werden, um auch die
verminderte Schuldfähigkeit adäquat in den normativen Kontext einzubetten. Enz gelingt insoweit allerdings der Spagat
zwischen dem Fokus auf das eigentliche Thema der verminderten Schuldfähigkeit und dessen Einordnung in das große
Ganze.
Schade ist dennoch die recht kurze Thematisierung des
Schuldprinzips und seiner philosophischen Dimensionen
(S. 344/345), die im Rahmen der Einordnung der Regelung
zur verminderten Schuldfähigkeit ebenfalls eine enorme
Bedeutung haben. Die aktuellen neurowissenschaftlichen und
biologischen Erkenntnisse bezogen auf die Willensfreiheit
sind hingehen weitaus differenzierter dargestellt. Diese
Passagen vermitteln interessante Einblicke (S. 346 ff.).
Hinsichtlich der prozessualen Umsetzung, insbesondere
bezogen auf das deutsche Strafverfahren, bleiben ihre Ausführungen hingegen etwas oberflächlich. Hier hätte, gerade
mit Blick auf die Praxis der gerichtlichen Heranziehung
Sachverständiger zur Frage der Schuldfähigkeit im Strafprozess, auf diesbezügliche Forschung eingegangen werden
können.1
Die extensiven Ausführungen zum ICD-10 sowie DSMIV-TR wiederum unterstreichen den wissenschaftsübergreifenden, interdisziplinären Charakter der Arbeit, die so dem
§ 21 StGB als Norm an der Schnittstelle von Rechtswissenschaft und Psychologie/Psychiatrie gerecht wird. Enz hat sich
hier sehr ausführlich, man könnte schon sagen für eine juristische Dissertation überobligat, mit dem Bereich der Psychiatrie und Psychologie auseinandergesetzt. Sie gibt so aber
dem rechtswissenschaftlich ausgerichteten Leser recht wertvolle und gleichzeitig verständliche Einblicke in eine Wissenschaft, die in so vielen Teilbereichen des Strafrechts Bedeutung erlangen kann und daher, in Teilen, in die juristischen Ausbildung integriert sein sollte. Diese Forderung lässt
auch Enz anklingen (S. 636 ff.).
Im Rahmen der Betrachtung des US-amerikanischen
Rechts beginnt Enz mit einer Einführung, in welcher die drei
relevanten dogmatischen Modelle der Regelungen zur verminderten Schuldfähigkeit dargestellt werden (S. 422 ff.).
Hier ist Enz nun sehr schnell und kommt kaum auf die Einbettung der verminderten Schuldfähigkeit in das US-amerikanische Strafrechtssystem zu sprechen. Schön eingeordnet
werden hingegen der Modal Penal Code sowie die diesbezüglichen Ideen und weiteren Entwicklungen (S. 428 ff.). Die
weiteren Abschnitte, in denen das US-Bundesstrafrecht
(S. 468 ff) sowie die verminderte Schuldfähigkeit im kalifornischen Strafrecht (S. 524 ff.) dargestellt werden, sind ebenfalls übersichtlich und nachvollziehbar. Auch hier werden
Reformideen sowie Schlüsselmomente in der politischen
Debatte und juristischen Entwicklung aufgezeigt, die zu einem recht kurzweiligen und spannenden Lesen führen (vgl.
u.a. S. 546 ff.).
1
Vgl. Böttger u.a., MschrKrim 1991, 369; Maneros u.a.,
Angeklagte Straftäter, Das Dilemma der Begutachtung, 2002.
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Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com
127
Enz, Verminderte Schuldfähigkeit im deutschen und US-amerikanischen Strafrecht
Babucke
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Enz zeigt darüber auch anschaulich die generelle Struktur
des US-amerikanischen Rechtssystems auf. Sie geht wissenschaftlich unvoreingenommen sowie sehr differenziert mit
den US-amerikanischen strafrechtlichen Ideen ins Gericht
und zeigt kritische Punkte auf. Gleichzeitig verweist sie auf
Ideen zur Neustrukturierung (S. 444 f.).
Einige Erwartungen, die beim Leser angesichts des Titels
entstehen mögen, werden allerdings auch enttäuscht. Befasst
man sich mit der verminderten Schuldfähigkeit, also einem
Teilbereich des im deutschen Strafrecht grundlegenden Prinzips der Schuld als Basis für Sanktionen, im Vergleich zu
einem anderen Rechtssystem, so stellen sich unweigerlich
über diesen Teilbereich hinausgehende Fragen nach Grundkonzeptionen. In Deutschland ist der Schuldgrundsatz als
Basis unverzichtbar und zentral. Während dies von Enz ausführlich erläutert wird, bleibt offen, ob sich dieses Prinzip
ähnlich, völlig anders oder gar nicht im US-amerikanischen
Strafrecht widerfindet.
Im Rahmen der abschließenden Bilanz werden spezifische
Aspekte und Debatten dargestellt, die im US-amerikanischen
System aufkommen und die so auf das deutsche Rechtssystem nicht übertragbar sind (S. 603). Hierdurch werden einmal
mehr bestehende Unterschiede anschaulich dokumentiert.
Schön ist ebenfalls die daran schließende Defizitanalyse
bezogen auf die Regelung im deutschen Recht. Hierdurch
werden Impulse gesetzt, die zu einer konstruktiven Diskussion führen können. Durch die Formulierung eines reformierten § 21 StGB wird auch ein eigener Beitrag zu einer solchen
Debatte geleistet.
Der enorme Umfang der Arbeit ist unter anderem den
recht ausführlichen und informativen Fußnoten geschuldet.
An manchen Stellen wirkt die Arbeit allerdings auch etwas
langatmig. In der Summe sind die Analysen und Ausführungen von Enz jedoch hoch interessant und beleuchten differenziert und aufschluss- sowie materialreich einen gerade in der
komparativen Wissenschaft vernachlässigten Teilbereich an
der Schnittstelle von Rechtswissenschaft und Psychologie/
Psychiatrie. Die Arbeit leistet einen erheblichen Beitrag zur
Intensivierung bestehender Diskussionen der Schuldfähigkeit
im Strafrecht. Es wäre sehr wünschenswert und zu hoffen,
dass die damit gesetzten Impulse – auch international – aufgegriffen werden.
Diplom-Juristin Lea Babucke, Hamburg
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ZJS 1/2017
128
Ambos, Internationales Strafrecht
Gölly
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B u c h r e z e n s i o n
Kai Ambos, Internationales Strafrecht. Strafanwendungsrecht
– Völkerstrafrecht – Europäisches Strafrecht, 4. Aufl., Verlag
C.H. Beck, München 2014, LXI, 697 S., kart., € 42,90.
Wenn ein „Lehrbuch-Klassiker“ in neuer Auflage erscheint,
von dessen Vorauflagen man bereits um die hohe Qualität des
Werkes weiß, überrascht es nicht, dass eines schon vorweg
festgehalten werden kann: Auch in der vierten – überarbeiteten und erweiterten – Auflage seines Studienbuches „Internationales Strafrecht“ hält der Göttinger Universitätsprofessor
und Richter Prof. Kai Ambos den hohen Standard erwartungsgemäß aufrecht.
Für jene, die mit den Vorauflagen dieses Werkes bislang
nicht vertraut sind, soll im Folgenden zunächst der Inhalt
desselben kurz zusammengefasst werden:
Sein Studienbuch hat der Verf. in drei große Bereiche unterteilt: Der erste (1. Teil, §§ 1 bis 4) widmet sich dem deutschen Strafanwendungsrecht, also der Frage nach der Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts auf eine bestimmte
Tat. Ambos gibt in diesem ersten Teil seines Buches zunächst
eine grundlegende Einführung in die Thematik des Strafanwendungsrechts und geht danach insbesondere auf die
unterschiedlichen Anknüpfungspunkte, die einen Nationalstaat im Allgemeinen bzw. Deutschland im Speziellen zur
Strafverfolgung legitimieren können, ausführlich ein. Dabei
erläutert er zu Beginn die (völkerrechtlichen) Grundlagen des
jeweiligen Anknüpfungspunktes (z.B. Territorialitätsprinzip,
Flaggenprinzip, Weltrechtsprinzip etc.) und im Anschluss
daran die deutsche Rechtslage. Besonderes Augenmerk legt
der Verf. sodann noch auf den Umgang mit (positiven) Jurisdiktionskonflikten.
Nach diesen knapp einhundert Seiten zum Strafanwendungsrecht widmet sich Ambos dem Völkerstrafrecht (2. Teil,
§§ 5 bis 8). Hier behandelt er als Einführung in die Thematik
zunächst wiederum die Grundlagen, bevor er die Entwicklung des Völkerstrafrechts bzw. der zu dessen Durchsetzung
berufenen internationalen Instanzen bis hin zur Schaffung
eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) mit
Sitz in Den Haag nachzeichnet. Daran anschließend stellt
Ambos – der aufgrund seiner Erfahrungen in diesem Bereich
wie kaum ein anderer dazu berufen ist – das Völkerstrafrecht
instruktiv dar, wobei er der aus dem nationalen Strafrecht
bekannten Unterteilung in materielles und formelles Völkerstrafrecht folgt. Im das materielle Völkerstrafrecht behandelnden Kapitel (§ 7, S. 160 ff.) erläutert der Verf. zunächst
den „Allgemeinen Teil“ des Völkerstrafrechts, wobei er besonders auf die unterschiedlichen Täterschaftsformen bzw.
die Teilnahme sowie auf sog. „defences“ (Straffreistellungsgründe) eingeht. Daran anschließend stellt Ambos den „Besonderen Teil“ des Völkerstrafrechts dar, also die völkerstrafrechtlichen Verbrechen (Genozid, Verbrechen gegen die
Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, etc.). Im folgenden Kapitel (§ 8, S. 348 ff.) wird schließlich das Völkerstrafprozessrecht beschrieben, wobei der Verf. sowohl das Verfahrensrecht des IStGH, als auch jenes der Ad-Hoc-Tribunale für das
ehemalige Jugoslawien (ICTY) und Ruanda (ICTR) gemein-
sam dar- bzw. einander gegenüberstellt. Die auch in diesem
Kapitel regelmäßig zu findenden Schaubilder (insbesondere
tabellarische Übersichten) und kleinen Beispielsfälle samt
Lösungen machen das – für kontinentaleuropäische Verhältnisse zum Teil doch etwas ungewohnte – Prozessrecht vom
Vorverfahren über das Hauptverfahren bis hin zum Rechtsmittelverfahren gut nachvollziehbar und verdeutlichen die
Unterschiede zwischen den Vorschriften für Verfahren vor
dem IStGH, dem ICTY und dem ICTR. Zum Abschluss dieses zweiten, das Völkerstrafrecht betreffenden Teils, wendet
sich Ambos schließlich noch der strafrechtlichen Zusammenarbeit der nationalen und internationalen Gerichte auf dem
Gebiet des Völkerstrafrechts zu. Gerade dieser Teil des Buches hat in der aktuellen Auflage umfassende Ergänzungen
erfahren, da unter anderem die ersten Urteile des IStGH eingearbeitet wurden.
Im letzten Teil seines Studienbuches behandelt der Verf.
das Europäische Strafrecht. Auch dieser 3. Teil, der in die
§§ 9 bis 13 unterteilt ist, wird mit einer Einführung in die
Thematik eingeleitet, wobei insbesondere auf den Begriff des
Europäischen Strafrechts, dessen Kompetenzgrundlagen sowie relevante Rechtsquellen eingegangen wird. Danach wendet sich Ambos dem europäischen Grundrechtsschutz zu, den
insbesondere die Europäische Menschenrechtskonvention
(EMRK) und die EU-Grundrechtecharta im Kontext des
Strafrechts bieten (§ 10, S. 456 ff.). Zudem wird in diesem
Kapitel das Doppelverfolgungsverbot des Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) ausführlich
dargestellt. Ähnlich wie im vorhergehenden Teil das Völkerstrafrecht wird hier auch das Europäische Strafrecht unterteilt
in materielles Strafrecht (im weiteren Sinne) und Verfahrensrecht dargestellt (§§ 11 und 12 des Studienbuches, S. 550 ff.).
Die eingängigen Ausführungen zum Verfahrensrecht betreffen allerdings weniger klassisches Prozessrecht im engeren
Sinne, sondern vielmehr die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit innerhalb Europas bzw. der Europäischen
Union. Danach wird noch überblicksartig auf sonstige
Rechtshilfebestimmungen mit Schwerpunkt auf Beweiserlangungsvorschriften und die Vollstreckungshilfe eingegangen.
Zuletzt gibt der Verf. noch einen Einblick in europäische
Strafverfolgungs-Institutionen (UCLAF bzw. OLAF, Europol, Eurojust sowie die geplante „Europäische Staatsanwaltschaft“).
Die beiden Teile über das Völkerstrafrecht und das Europäische Strafrecht präsentieren sich mit über 330 Seiten bzw.
mehr als 230 Seiten deutlich umfangreicher als der knapp
hundertseitige 1. Teil über das Strafanwendungsrecht.
Beim raschen Überschlagen der angeführten Seitenangaben gelangt man zu dem Ergebnis, dass dieses Buch mehr als
650 reine Textseiten umfasst. Angesichts dieses Umfangs
mag es auf den ersten Blick verwundern, dass das gegenständliche Werk in der Reihe der „Juristischen Kurz-Lehrbücher“ des C.H. Beck-Verlages erscheint. Doch wenn man
sich den enormen Umfang dieses vielseitigen Rechtsgebietes
vor Augen führt, wird schnell klar, dass es sich bei „kurz“ um
keine euphemistische Beschreibung handelt. Vielmehr erkennt man die besondere Leistung des Verf., das inhomogene
Themengebiet des internationalen Strafrechts gleichzeitig
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Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com
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Ambos, Internationales Strafrecht
Gölly
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ausführlich und tiefgehend darzustellen und dennoch einen
Rahmen einzuhalten, der das Werk noch zu einem Lehrbuch
und nicht zu einem reinen Nachschlagewerk macht – wenngleich es sich auch dazu hervorragend eignet.
Die besondere Studierendenfreundlichkeit dieses Werkes
zeigt sich aber noch in mehrerlei anderer Hinsicht: Zunächst
verfügt das Buch über besonders für ein Lehrbuch außergewöhnlich umfangreiche Fußnoten. Der Grund für deren Ausmaß liegt unter anderem darin, dass der Verf. zahlreiche interessante Informationen, die aber für studentische Nutzer
regelmäßig nur von untergeordneter Bedeutung sein werden,
in die Fußnoten verschoben hat. Dadurch lässt sich der Fließtext durchgehend gut lesen und vermittelt der studierenden
Leserschaft alle wichtigen Inhalte. Gleichzeitig ermöglichen
die zahlreichen Quellennachweise das rasche Auffinden weiterführender Informationen, falls ein bestimmtes Thema noch
tiefgehender betrachtet werden möchte.
Auch der konsequente Fettdruck wichtiger Schlagworte
im Fließtext kommt den Bedürfnissen der Studierenden (wie
auch der übrigen Leserschaft) ungemein entgegen. Dasselbe
gilt für die Verwendung unterschiedlicher Schriftgrößen, die
als erstes Indiz für die (Prüfungs-)Relevanz der jeweiligen
Ausführungen dienen können und es Studierenden durch das
Hervorheben der besonders bedeutsamen Inhalte erleichtern,
sich zunächst einen Überblick über die Materie zu verschaffen. Als ausgesprochen instruktiv erweisen sich auch die
regelmäßig abgedruckten Schaubilder, welche die zuvor textlich vermittelten Informationen noch einmal anschaulich
zusammenfassen, und die zahlreichen praktischen Fälle inklusive der Lösungen, die den Stoff noch weiter veranschaulichen; dadurch werden die theoretischen bzw. dogmatischen
Inhalte ergänzt und leichter nachvollziehbar gemacht. Insgesamt erweist das gegenständliche Studienbuch damit nicht
nur studentischen Einsteiger/-innen, sondern durchaus auch
in diesem Bereich bereits erfahreneren Leser/-innen regelmäßig wertvolle Dienste.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der
Verf. im vorliegenden Studienbuch das internationale Strafrecht so kurz und prägnant wie möglich, gleichzeitig jedoch
so umfassend und vielseitig wie für eine fundierte Wissensvermittlung nötig, dargestellt hat. Durch den übersichtlichen
Aufbau, die Schaubilder und die Fallbeispiele sowie den
klaren, gut verständlichen Schreibstil gelingt es Ambos, den
Studierenden mit diesem Werk ein ausgezeichnetes und didaktisch vorbildliches Studienbuch in die Hand zu geben, das
dabei dennoch so ausführlich ist, dass es allen wissenschaftlichen Ansprüchen in höchstem Maße gerecht wird und in dem
nachzuschlagen sich auch für erfahrene Strafrechtswissenschafter und -praktiker jederzeit lohnt.
Univ.-Ass. Mag. iur. Sebastian Gölly, Graz
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ZJS 1/2017
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