Inhalt AUFSÄTZE Zivilrecht Die Minderung im Dienstvertragsrecht – Mut zur Rechtsfortbildung? Von stud. iur. Philipp Lerch, LL.M., Münster 1 Schadenersatz im Deliktsrecht aus Rechtsökonomischer Perspektive Von stud. iur. Lea Larissa Faltmann, Köln 10 Öffentliches Recht Rechtsbehelfe von Umweltverbänden: Die Aufgabe des Individualrechtsschutzsystems in Deutschland? Von stud. rer. oec./stud. iur. Marvin Pötsch, LL.B, Hamburg/Essen 19 Strafrecht Sonstige häufig wiederkehrende Tathandlungen im Medienstrafrecht Beiträge zum Medienstrafrecht – Teil 7 Von Prof. Dr. Manfred Heinrich, Kiel 25 Bericht über einen Moribunden: Das Privatklageverfahren Rechtliches, Rechtstatsächliches, Reform- und Zukunftsperspektiven – Teil 1 Von Jun.-Prof. Dr. Tillmann Bartsch, Tübingen 40 ÜBUNGSFÄLLE Zivilrecht Fortgeschrittenenklausur: Der abgeschleppte Sattelauflieger – Folgen eines Notrufs Von Rechtsanwältin Dr. Simona Liauw, Düsseldorf 52 Inhalt (Forts.) 1/2017 ÜBUNGSFÄLLE (Forts.) Zivilrecht (Forts.) Schwerpunktbereichsklausur: Der kontrollfreudige Minderheitsaktionär Von Oberregierungsrat Dr. Michael Hippeli, LL.M., MBA (MDX), Frankfurt a.M. 57 Öffentliches Recht Hausarbeit: Surfreviere Von Wiss. Mitarbeiter Dr. Henry Hahn, Rostock 64 Hausarbeit: „Deutschland zuerst“? Von Wiss. Mitarbeiter Stefan Martini, Kiel 74 Strafrecht Übungsfall: Jacqueline und der Fluch der Damenhandtasche Von Diplom-Jurist Sascha Sebastian, M.mel., Diplom-Jurist Henning T. Lorenz, Halle (Saale) 84 ENTSCHEIDUNGSANMERKUNGEN Zivilrecht BGH, Urt. v. 12.10.2016 – VIII ZR 103/15 (Beweislastumkehr nach § 476 BGB zugunsten des Verbrauchers bei jedem sich innerhalb der ersten sechs Monate nach Gefahrübergang zeigenden Mangel?) (Stud. iur. Cornelia Stietz, Heidelberg) 101 BGH, Urt. v. 24.9.2014 – VIII ZR 394/12 (Der Begriff der wesentlichen Vertragsverletzung im UNKaufrecht) (Rechtsanwältin Dr. Katrin Hagemann, Minden) 103 Öffentliches Recht BGH, Urt. v. 20.10.2016 – III ZR 278/15, 302/15, 303/15 (Amtshaftung wegen unterbliebener Bereitstellung von Plätzen in der Kindertagesbetreuung seitens der öffentlichen Jugendhilfe) (Prof. Dr. Torsten Noak, LL.M., Ludwigsburg) 106 Strafrecht BGH, Beschl. v. 3.2.2016 – 4 StR 594/15 (Gefährliche Körperverletzung mittels eines gefährlichen Werkzeugs) (Prof. Dr. Martin Böse, Bonn) 110 BGH, Urt. v. 28.4.2016 – 4 StR 563/15 (Sukzessive Mittäterschaft beim räuberischen Angriff auf Kraftfahrer) (Prof. Dr. Paul Krell, Hamburg) 115 Inhalt (Forts.) 1/2017 Entscheidungsanmerkungen (Forts.) Strafrecht (Forts.) BGH, Beschl. v. 15.9.2016 – 4 StR 90/16 (Falsches Überholen im Straßenverkehr) (Prof. Dr. Hans Theile, LL.M., Konstanz) 122 Rezensionen Zivilrecht Marc-Philippe Weller/Jens Prütting, Handels- und Gesellschaftsrecht, 9. Aufl. 2016 (Dr. Stephan Szalai, LL.M., Leipzig) 125 Öffentliches Recht Friedrich Schoch, Kommentar zum Informationsfreiheitsgesetz, 2. Aufl. 2016 (Mag. iur. René Rosenau, Köln) 126 Strafrecht Bettina Enz, Verminderte Schuldfähigkeit im deutschen und US-amerikanischen Strafrecht, 2016 (Diplom-Juristin Lea Babucke, Hamburg) 127 Kai Ambos, Internationales Strafrecht. Strafanwendungsrecht – Völkerstrafrecht – Europäisches Strafrecht, 4. Aufl. 2014 (Univ.-Ass. Mag. iur. Sebastian Gölly, Graz) 129 Die Minderung im Dienstvertragsrecht – Mut zur Rechtsfortbildung? Von stud. iur. Philipp Lerch, LL.M., Münster* Ob bei Dienstverhältnissen die Vergütung des Dienstverpflichteten zu mindern ist, wenn dieser seine Dienstpflichten schlecht erfüllt, wird kontrovers beurteilt. In diesem Aufsatz werden zunächst verschiedene dogmatische Lösungswege erörtert. Dem Studenten kann die Lektüre dabei die Möglichkeit geben, insbesondere noch einmal die diskutierten allgemein-schuldrechtlichen Rechtsinstitute, über welche ein allgemeines Minderungsrecht potentiell begründbar wird, gründlich zu durchdenken. Im Anschluss wird auf Grundlage allgemeiner rechtlicher und wirtschaftlicher Wertungen eine Gesamtanalogie zu den bestehenden Minderungsrechten nahegelegt. I. Einführung Das Dienstvertragsrecht (§§ 611-630 BGB) trifft im Gegensatz zum Werkvertragsrecht (§§ 631-651 BGB) keinerlei Regelungen über Gewährleistungsrechte. Die überwiegende Ansicht in Rechtsprechung und Literatur sieht darin einen Grund, im Falle von Schlechtleistungen dem Dienstberechtigten kein Minderungsrecht zu gewähren. 1 Dieser Aufsatz stellt eine rechtsdogmatische Untersuchung an, ob sich entgegen der herrschenden Auffassung über eine direkte oder entsprechende Anwendung bestehender Rechtsinstitute eine Minderung der Vergütung in Dienstverträgen doch begründen lässt. Dazu ist es erforderlich, zunächst die einschlägigen Vorschriften des allgemeinen und besonderen Schuldrechts auszulegen und zu untersuchen, ob nicht eine versteckte, möglicherwiese allgemeinschuldrechtliche Minderung von Gegenleistungen bereits im Gesetz vorgesehen ist, die eine Diskussion über Rechtsfortbildung überflüssig machte. Des Weiteren ist mittels Auslegung zu ermitteln, ob das Gesetz gegenüber einer Minderung auf dem Wege der Rechtsfortbildung überhaupt offen ist oder Wertungen des Gesetzgebers dieser entgegenstehen. Unabhängig vom Ergebnis dieser Auslegung soll zudem am Ende dieses Aufsatzes eine Erörterung dessen vorgenommen werden, ob eine Minderung im Dienstvertrag in der Sache gerechtfertigt ist oder nicht. * Der Verf. ist studentische Hilfskraft in Münster am Institut für Rechtsgeschichte, Lehrstuhl Prof. Dr. Sebastian Lohsse. Der Aufsatz ist im Zuge eines Seminars zum allgemeinen Zivilrecht entstanden. 1 BGHZ 159, 376; BGH NJW 2004, 2817; OLG Frankfurt MDR 1992, 347; Mansel, in: Jauernig, Kommentar zum BGB, 15. Aufl. 2014, § 611 Rn. 16; Schreiber, in: Schulze u.a., Handkommentar zum BGB, 8. Aufl. 2014, § 611 Rn. 17a; Weidenkaff, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 74. Aufl. 2015, § 611 Rn. 16; a.A. z.B. Medicus/Lorenz, Schuldrecht II, Besonderer Teil, 16. Aufl. 2012, Rn. 630; Schlechtriem/Schmidt-Kessel, Schuldrecht Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2005, Rn. 556; Ji, Haftungsfragen im freien Dienstvertrag, 2007, S. 106 f. II. Grundsatzfragen 1. Der Aspekt der Qualität im Dienstvertragsrecht Unstreitig ist, dass beim Dienstvertrag – im Gegensatz zum Werkvertrag – nicht die Herbeiführung eines bestimmten Arbeitsergebnisses geschuldet ist.2 Eine Minderung der Vergütung kommt daher nicht schon alleinig deshalb in Betracht, weil ein bestimmtes Arbeitsergebnis nicht erreicht wurde. Gegenstand der Leistung ist die Tätigkeit des Dienstverpflichteten. Dies schließt jedoch nicht schon begrifflich aus, dass auf Dienstverträge schlecht geleistet werden kann, ist doch möglicherweise auch eine Tätigkeit – sei es im Hinblick auf Konzentration, Intensität etc. – als nicht vertragsgemäß und damit schlecht zu klassifizieren, ohne dass sie schon als Nichtleistung zu bezeichnen ist: ein Rechtsanwalt, der einen Vertragsentwurf verfassen soll und nach Stundensatz bezahlt wird, braucht dabei mangels Konzentration doppelt so lange wie man es eigentlich von einem durchschnittlichen Anwalt in derartigen Fällen erwarten kann. Er rechnet dennoch jede Stunde ab. Offensichtlich liegt hier keine Nichtleistung vor: der Anwalt hat eine Dienstleistung erbracht, die sogar zum bezweckten Ergebnis führte. Der Mandant hat etwas für sein Geld erhalten, an dem er auch ein Interesse hat. In Betracht kommt jedoch, die Leistung als Schlechtleistung zu qualifizieren, wenn seine Unkonzentriertheit pflichtwidrig war. Dies setzt voraus, dass die Qualität der Leistung überhaupt erheblich ist, der Dienstverpflichtete dem Dienstberechtigten also Dienste bestimmter Qualität, insbesondere Intensität schuldet und eine Leistung unter diesem Qualitätsniveau zu bestimmten Rechtsfolgen führt. a) Erheblichkeit der Dienstleistungsqualität Bereits diese Frage ist schon stark umstritten. Zum Teil wird vertreten, dass auch mangelhafte Dienste Erfüllungswirkung entfalten und daher voll vergütet werden müssen.3 Hierfür wird angeführt, dass das Dienstvertragsrecht im Gegensatz zum Kauf-, Miet-, und Werkvertragsrecht keine Regelungen über die Folgen einer Schlechterfüllung trifft.4 Aus solch einer Nichtregelung ohne weiteres e contrario zu folgern, dass jede auch mangelhafte Dienstleistung, soweit sie zeitlich-quantitativ erbracht ist, Erfüllung im Sinne des § 362 2 Richardi/Fischinger, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2010, § 611 Rn. 516; Fuchs, in: Beck’scher OnlineKommentar zum BGB, Ed. 41, Stand: 1.11.2016, § 611 Rn. 11; Müller-Glöge, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 611 Rn. 22; Mansel (Fn. 1), vor § 611 Rn. 15. 3 Richardi/Fischinger (Fn. 2), § 611 Rn. 716; Ullrich, NJW 1984, 585; Fikentscher/Heinemann, Schuldrecht, 10. Aufl. 2006, Rn. 1157; Mansel (Fn. 1), § 611 Rn. 16; Larenz/ Canaris, Schuldrecht II/1, 13. Aufl. 1986, S. 315 f.; Emmerich, BGB – Schuldrecht Besonderer Teil, 14. Aufl. 2015, Rn. 13. 4 Fikentscher/Heinemann (Fn. 3), Rn. 1157; BGH NJW 2002, 1571 (1572); OLG Koblenz NJW-RR 1994, 52 f. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 1 AUFSÄTZE Philipp Lerch Abs. 1 BGB darstellen soll, ist schon logisch nicht haltbar, betrifft sie schließlich gar nicht die Möglichkeit des tatbestandlichen Vorliegens einer Schlechtleistung, sondern deren Rechtsfolge.5 Die Möglichkeit zur Schlechtleistung sei tatbestandlich schon deshalb ausgeschlossen, weil der Leistungsmaßstab des Verpflichteten ein subjektiver sei und sich damit nach der individuellen Leistungsfähigkeit richte.6 Jedoch wird mit dieser Aussage nicht die Frage verneint, ob nachteilige Abweichungen von der geschuldeten Qualität der Tätigkeit eine Leistungsstörung darstellen: vielmehr stellt sie nur eine Bestimmung des Qualitätsmaßstabs dar. Dem Argument ist nur insoweit zuzugeben, dass durch die Subjektivierung des Leistungsmaßstabes der praktische Anwendungsbereich der hier gegenständlichen Problematik eingegrenzt würde, da auch bei statistisch weit unterdurchschnittlichen Leistungen des Dienstverpflichteten dieser, soweit sie seinem subjektiven Vermögen entsprechen, die Leistung wie geschuldet bewirkt hat. Allerdings kann – insbesondere bei vorsätzlich wenig intensiver und langsamer Ausführung – auch dieser subjektive Leistungsmaßstab nicht eingehalten sein, sodass eine Schlechtleistung auch bei dieser Annahme in Betracht käme. Richtig ist folgendes: geschuldet ist das Tätigwerden des Dienstverpflichteten. Dies ist der Leistungsgegenstand und nicht der damit bezweckte Erfolgseintritt. Der Anwalt schuldet bemühtes Handeln, um den Prozess zu gewinnen, nicht jedoch den positiven Ausgang des Verfahrens für den Mandanten. Offensichtlich ist jedoch, dass auch diese Dienstverpflichtung auf die Erreichung eines bestimmten Erfolges gerichtet ist: niemand wird allein der Tätigkeit wegen angestellt, sondern zu einem bestimmten Zweck, in diesem Fall zu einem positiven Prozessausgang. Es liegt nahe, zur Bestimmung der geschuldeten Leistungsqualität der Erfolgsbezogenheit jeglicher Dienstleistungen gerecht zu werden und auf die Rechtsgedanken des besonderen Schuldrechts abzustellen: wenn keine explizite Vereinbarung über die Qualität der Leistung getroffen wurde, ist prinzipiell die geschuldete Qualität daran zu beurteilen, ob sie dem Vertragszweck gerecht wird, die §§ 434 Abs. 1 S. 2, 633 Abs. 2 S. 2 BGB sind Ausdruck dieses allgemeinen Rechtsgedanken.7 Diese Vorschriften haben im Schuldrecht einen Modellcharakter für die Beurteilung der Vertragsgemäßheit einer Leistung. Ausgangspunkt der Bestimmung des Leistungsmaßstabs muss der mit der Dienstleistung erkennbar bezweckte Erfolg bzw. der üblicherweise mit derartigen Dienstleistungen bezweckte Erfolg, wenn der Zweck der Leistung dem Dienstverpflichteten nicht bekannt war, sein. Dass dann eine vertragswidrige Leistung Erfüllungswirkung entfalten solle, kann heute nicht mehr ernsthaft vertreten werden: nach dem Wortlaut des § 362 Abs. 1 BGB ist die geschuldete Leistung zu erbringen. Erbracht ist eine Leistung, wenn sie in der durch das Schuldverhältnis bestimmten Art und Weise ausgeführt wurde und der geschuldete Leistungserfolg vollständig eingetreten ist.8 Somit muss die Leistungshandlung ordnungsgemäß erbracht werden, also sowohl hinsichtlich der Qualität als auch der Intensität einem vertraglichen Standard genügen. Sieht man im Dienstvertrag richtigerweise einen Austausch von Geld und Chancenerbringung zur Erreichung des Vertragszwecks9, so liegt der geschuldete Leistungserfolg darin, dass der Schuldner den mit dem Dienstvertrag verfolgten Zweck fördert. In diesem Sinne muss ein konkreter Erfolg auch beim Dienstvertrag eintreten. Die Aussage, dass dort gerade kein Erfolg geschuldet sei10, ist demnach zu relativieren: der Erfolg liegt zwar nicht im Eintritt des mit der Leistung verfolgten Ergebnisses, aber in der Zweckförderung durch Chancenerbringung. Freilich ist dies zunächst nur eine begriffliche Frage, da selbstverständlich auch nach der hier vertretenen Auffassung der Dienstverpflichtete nicht das Risiko des Erreichens des Arbeitsergebnisses11 trägt, was Wesensmerkmal des Dienstvertrages ist. Jedoch sollte auch beim Dienstvertrag wegen der Erfolgsgerichtetheit des geschuldeten Handelns an dem zweigliedrigen Leistungsbegriff bestehend aus Leistungshandlung und Leistungserfolg festgehalten werden. Ebenso ist zu berücksichtigen, dass Beeinträchtigungen dieses schwachen Leistungserfolges beim Dienstvertrag, die aus der Sphäre des Dienstberechtigten herrühren, z.B. durch mangelhafte Weisungen, keine Auswirkungen auf den Vergütungsanspruch haben dürfen. Dies ergibt sich a minori ad maius aus dem Rechtsgedanken des § 645 Abs. 1 BGB und dürfte in der Sache unstreitig sein – denn sogar beim Werkvertrag trägt der Unternehmer nicht die Konsequenzen solcher Beeinträchtigungen. Nach der hier vertretenen Ansicht wird ein Anspruch auf Diensterbringung aus einem Dienstvertrag somit nicht dadurch erfüllt, dass die Leistung zwar der Gattung nach der geschuldeten Leistung entspricht, jedoch nicht die geschuldete Qualität aufweist, zum Beispiel selbst für die Person des Leistenden eine zu wenig konzentrierte und intensive Arbeit darstellt. Zugleich muss geeignetes Handeln vorliegen. Die Leistung muss die Chancen des Gläubigers, seinen Vertragszweck zu erreichen, auch tatsächlich erhöhen, was bei objektiv geeigneter Handlung der Fall ist; selbstverständlich gilt dies nicht, wenn der Gläubiger selbst für das Ausbleiben der Chancenerhöhung verantwortlich ist. Nichtleistung ist gegeben, wenn die Handlung überhaupt nicht zur Erreichung des Vertragszwecks geeignet ist, die geschaffene Mehrchance also null beträgt. Hat die nicht vertragsgemäße Leistung immerhin noch eine Chancenerhöhung unter dem geschuldeten Niveau bewirkt, liegt Schlechtleistung vor. 5 So auch Tillmanns, Strukturfragen des Dienstvertrages, 2007, S. 87 f. 6 Richardi/Fischinger (Fn. 2), § 611 Rn. 716; ähnlich Larenz/ Canaris (Fn. 3), S. 315 f., der das Problem darin sieht, dass es überhaupt „an einem brauchbaren Maßstab“ fehle. 7 Vgl. Weller, Persönliche Leistungen, 2012, S. 472 ff.; Tillmanns (Fn. 5), S. 405. 8 Dennhardt, in: Beck’scher Online-Kommentar zum BGB, Ed. 41, Stand: 1.11.2016, § 362 Rn. 14. 9 Weller (Fn. 7), S. 480 ff. 10 Nachweise siehe Fn. 3. 11 Schreiber (Fn. 1), § 611 Rn. 6. _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 2 Die Minderung im Dienstvertragsrecht – Mut zur Rechtsfortbildung? b) Bestimmung des Leistungsmaßstabs Nach einer weit verbreiteten Ansicht ist der Leistungsmaßstab ein subjektiver.12 Der Umfang der geschuldeten Leistung richte sich nach dem individuellen Leistungsvermögen des Verpflichteten, nicht nach einer durchschnittlichen objektiven Normalleistung. Dabei betont Tillmanns, dass dieser Maßstab ein vertraglicher und kein tatsächlicher sei, dieser müsse durch die Vertragsauslegung bestimmt werden.13 Es wäre widersinnig, wenn ein Schuldner, der sich als in einer bestimmten Weise qualifiziert ausgegeben hat, auch bei vollkommener Unkenntnis vom erforderlichen Handwerk erfüllen könnte. Im Einzelfall ist also nach den allgemeinen Regeln (§§ 133, 157 BGB) zu ermitteln, welchen MindestLeistungsstandard der Gläubiger erwarten kann. Weller führt an, der abstrahierte Leistungsinhalt beim Dienstvertrag sei die Ausübung fehlerfreien Ermessens hinsichtlich der nicht schon vertraglich konkretisierten Leistungsmodalitäten.14 Dabei berücksichtigt er, dass es nicht möglich ist, den Leistungsinhalt vollständig durch Vertragsauslegung zu bestimmen. Der Dienstverpflichtete habe demnach seine Handlungen in der Art und Weise selbstständig zu konkretisieren, dass der Dienstberechtigte eine möglichst große Chance zur Erreichung des bezweckten Erfolges erhält. Für diese selbstständige Konkretisierung sei § 315 BGB anzuwenden.15 Die geschuldete Dienstleistungsqualität lässt sich demnach ermitteln, indem erstens durch Auslegung ein vertragliches Mindestmaß dessen ermittelt wird, was der Gläubiger vom Schuldner erwarten kann und zweitens der Gläubiger im Rahmen pflichtgemäßer Ermessensausübung den Leistungsinhalt konkretisiert. Dem Anwalt, der nach Stundensatz abrechnet und einen Vertrag entwerfen soll, ist es freigestellt, im Rahmen einer insgesamt noch angemessenen Geschwindigkeit zu arbeiten und sich z.B. nach freiem Ermessen währenddessen einen Kaffee aus der Küche zu holen, oder aber mal konzentrierter, mal unkonzentrierter zu arbeiten. Auf weitere detaillierte Ausführungen kann an dieser Stelle verzichtet werden. Insbesondere soll offengelassen werden, ob der Dienstverpflichtete dem Gläubiger möglicherweise eine objektive Normalleistung schuldet.16 Auch bei einem subjektiven Leistungsmaßstab kann der Dienstverpflichtete jedenfalls von dem ihm eingeräumten Ermessen falschen Gebrauch machen, womit er dann pflichtwidrig gehandelt hat und von einer Schlechtleistung zu sprechen ist. 2. Nacherfüllungsanspruch und Vorrang der Nacherfüllung Für den Fall, dass ein Dienstverpflichteter nach der hier vertretenen Ansicht schlecht geleistet hat, seine Leistungshandlung also zur Erreichung des Vertragszwecks nur bedingt 12 Vgl. nur Richardi/Fischinger (Fn. 2), § 611 Rn. 532 m.w.N. 13 Tillmanns (Fn. 5), S. 161 f. 14 Weller (Fn. 7), S. 459 f. 15 Weller (Fn. 7), S. 459 f. 16 Z.B. vertreten bei Singer/Schiffer, JA 2006, 833. ZIVILRECHT geeignet war, stellt sich die Frage, ob er zur Nacherfüllung verpflichtet bzw. zur zweiten Andienung berechtigt ist. a) Auslegung der gesetzlichen Vorschriften Das Dienstvertragsrecht selbst trifft keine Regelungen zur Nacherfüllung und steht damit im Gegensatz zum Kauf- und Werkvertragsrecht, in denen es derartige Vorschriften gibt (§§ 439, 635 BGB). Daraus alleine ist jedoch nicht zu folgen, dass eine Nacherfüllungspflicht im Dienstvertragsrecht nicht besteht:17 Zunächst einmal handelt es sich um einen rechtsmethodisch sehr zweifelhaftes argumentum e contrario, welches bei konsequenter Anwendung die generelle Ablehnung von Analogien implizieren würde. Systematisch setzt das allgemeine Schuldrecht den generellen Vorrang der Nacherfüllung voraus: § 281 Abs. 1 S. 1 BGB sieht vor, dass im Falle einer Schlechtleistung der Gläubiger nur Schadensersatz statt der Leistung verlangen kann, „wenn er dem Schuldner erfolglos eine angemessene Frist zur Leistung oder Nacherfüllung bestimmt hat“. Diese gesetzliche Bestimmung steht im allgemeinen Schuldrecht, ist also prinzipiell auf alle Vertragstypen anzuwenden. Die dahinter stehende gesetzliche Wertung ist, dass der Schuldner generell eine Schadensersatzpflicht durch Nachleistung abwenden können soll. Die Nacherfüllung hat die Stellung eines allgemeinen Rechtsbehelfs. Die Sonderregelungen im Kaufund Werkvertragsrecht bestimmen lediglich spezielle Modifikationen dieses Nacherfüllungsanspruchs.18 Dass § 281 Abs. 1 S. 1 BGB keine Anspruchsgrundlage beinhaltet, ist unerheblich.19 Rechtstechnisch ist ein Nacherfüllungsanspruch ohnehin nicht als ein neuer Gewährleistungsanspruch zu verstehen, sondern als der ursprüngliche (aber modifizierte) Erfüllungsanspruch, der mangels vertragsgemäßer Leistung nicht untergegangen ist.20 Die sogenannte Gewährleistungstheorie21 zum alten Schuldrecht, nach der der ursprüngliche Erfüllungsanspruch auch durch Schlechtleistung erlischt und die Gewährleistungsansprüche unabhängige Sekundäransprüche seien, ist im Hinblick auf die klare Vorstellung des Gesetzgebers der Schuldrechtsmodernisierung22 zumindest für die neue Rechtslage abzulehnen.23 Das allgemein gesetzlich normierte Konzept der Nacherfüllung spricht dafür, eine allgemeine Pflicht zur Nacherfüllung und gleichzeitig eine allgemeine Berechtigung des Schuldners zur zweiten Andienung (resp. den Vorrang des Nacherfüllung) anzuerkennen und diese auf das Dienstver17 Dahingehend jedoch Otto, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2009, § 326 Rn. B 42. 18 Tillmanns (Fn. 5), S. 348. 19 Vgl. jedoch Wendehorst, AcP 206 (2006), 264. 20 H.M. hinsichtlich des neuen Kaufrechts: nur BGH NJW 2008, 2837 (2838 Rn. 18); Faust, in: Beck’scher OnlineKommentar zum BGB, Ed. 41, Stand: 1.8.2014, § 439 Rn. 6; Huber, NJW 2002, 1004 (1005); Saenger, in: Schulze (Fn. 1), § 439 Rn. 1b. 21 Z.B. Larenz/Canaris (Fn. 3), § 41 II e. 22 BT-Drs. 14/6040, S 221. 23 Zum Streitstand Tillmanns (Fn. 5), S. 92 ff. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 3 AUFSÄTZE Philipp Lerch tragsrecht zu übertragen.24 Jedenfalls würde sich ein derartiges Nacherfüllungsrecht gut in die gesetzliche Systematik einfügen. Es entbindet jedoch keineswegs von der Frage, ob ein derartiger Rechtsbehelf in der Sache gerechtfertigt ist, wird dies zumindest von einigen Stimmen verneint. b) Wertungen Wertungsmäßig werden Zweifel an einem solchen Nacherfüllungsanspruch im Dienstvertragsrecht in der Hinsicht geäußert, dass regelmäßig bei einer Neuleistung der Dienste im Zuge der Nacherfüllung der Gläubiger mehr bekommt, als ihm eigentlich nach dem Vertrag zusteht.25 Dies führe zu einer Ausgleichspflicht des Gläubigers entsprechend §§ 635 Abs. 4, 346 Abs. 2 Nr. 1 BGB, dessen Umfang schwer zu bemessen sei. Dem ist entgegenzustellen, dass sich – gerade auch im von Wendehorst genannten Beispiel des Fahrlehrers26 – der Nacherfüllungsanspruch durchaus in zeitlichquantitativer Hinsicht auf das Minus beschränken kann. Der Dienstverpflichtete kann seine Handlung in zeitlicher Hinsicht soweit nacherfüllen, wie es zu einer äquivalenten Deckung der tatsächlich bewirkten Chance auf den Eintritt des Vertragserfolges mit der nach dem Vertrag geschuldeten Mindestchance erforderlich ist. Konkret angewandt auf das Beispiel des Fahrlehrers bedeutet dies: war der Fahrlehrer unkonzentriert und hat den Schüler nicht (noch nie) darauf hingewiesen, dass er an einem Fußgängerüberweg langsamer fahren sollte und auf Fußgänger achten sollte, so liegt eine mangelhafte Leistung vor. Denn die Chance, mit diesem Lernstand die Führerscheinprüfung zu bestehen (und dies ist der vertraglich bezweckte Erfolg), ist vermindert. Das heißt allerdings noch nicht, dass der Fahrlehrer die ganze Stunde wiederholen muss. Ausreichend ist, um die vertraglich geschuldete Chancenerbringung zu leisten, dass der Fahrlehrer sich zusätzliche Zeit nimmt, dem Fahrschüler das Verhalten an Fußgängerüberwegen zu erklären. Zwar hat der Fahrschüler dann fünf Minuten mehr Unterricht erhalten, als ihm nach dem Vertrag zusteht. Seine Chancen auf die Erreichung des Vertragszwecks Fahrerlaubnis haben sich dadurch jedoch nicht erhöht. Die Frage eines Ausgleichsanspruchs wird sich regelmäßig nicht stellen. Man kann gegen einen Nacherfüllungsanspruch in diesem Fall auch nicht anführen, dass der Schuldner über Gebühr hinaus belastet wird: auch der Nachbesserungsanspruch im Kaufrecht kann den Gläubiger deutlich mehr belasten als es vom ursprünglichen Erfüllungsanspruch her abzusehen war.27 Wendehorst führt ferner an, dass ein Nacherfüllungsanspruch im Widerspruch zu § 627 BGB stehen würde, nach dem der Schuldner von Diensten höherer Art jederzeit kündigen kann.28 Dieser Einwand überzeugt nicht. Nur weil durch die Kündigung einseitig eine Leistungspflicht durch den Schuldner aufgehoben werden kann, negiert das Gesetz nicht die Obligation – schließlich kann sich der Schuldner ja auch 24 Weller (Fn. 7), S. 537 f. Wendehorst, AcP 206 (2006), 264 f. 26 Wendehorst, AcP 206 (2006), 264 f. 27 Tillmanns (Fn. 5), S. 348 f. 28 Tillmanns (Fn. 5), S. 348 f. der ursprünglichen Leistungspflicht durch Kündigung entziehen.29 Aus Sicht des Schuldners wäre es nicht sachgerecht, wenn dieser beim Dienstvertrag gegenüber einem Werkunternehmer hinsichtlich seines Rechts zur zweiten Andienung, welches § 281 Abs. 1 S. 1 BGB normiert, benachteiligt wird. Der Werkunternehmer will sich einer strengeren, erfolgsbezogenen Haftung unterwerfen, dagegen ist das Maß der gewollten Haftung beim Dienstvertrag geringer als beim Werkvertrag, da der Dienstverpflichtete nur für einen schwachen Chancenerfolg, nicht für ein bestimmtes Ergebnis einstehen möchte. Daher bestimmt das Gesetz auch Erleichterungen im Dienstvertragsrecht, die von allgemeinen Regeln abweichen, §§ 615, 616, 619a BGB. Dann sollte der Dienstverpflichtete auch nicht schlechter als der Werkunternehmer gestellt werden, wenn es darum geht, eine weitere Chance zu erhalten, einen Schadensersatzanspruch durch Nacherfüllung von sich abzuwenden. Die wertende Betrachtung führt damit zu keinem anderen Ergebnis als die formale Auslegung, womit nach der hier vertretenen Auffassung ein Nacherfüllungsanspruch bei einer Schlechtleistung auf einen Dienstvertrag entsteht. Der Dienstverpflichtete hat somit prinzipiell die Möglichkeit, einen Schadensersatzanspruch durch fristgerechte Nacherfüllung abzuwenden, wenn die Nacherfüllung noch möglich und der Vertragszweck erreichbar ist. Gleichzeitig kann der Gläubiger die Nacherfüllung vom Dienstberechtigten solange verlangen, bis die Dienstleistung unmöglich wird. 3. Zwischenergebnis Für den Dienstvertrag gelten im Wesentlichen die allgemeinen Vorschriften des Schuldrechts. Erfüllung einer Verbindlichkeit setzt ordnungsgemäße Leistungshandlung und Bewirkung des geschuldeten Erfolgs voraus. Dass beim Dienstvertrag kein Arbeitsergebnis geschuldet ist, ist für die Aufrechterhaltung der Voraussetzungen für die Erfüllung im Dienstvertragsrecht unerheblich. Der Erfolg liegt in der Chancenerbringung für den Gläubiger im Rahmen einer pflichtgemäßen Ermessensausübung, der Schuldner trägt nicht das Risiko des Nichterreichens eines bestimmten Arbeitsergebnisses. Ist die geschuldete Handlung mangelhaft erbracht, da ihre Geeignetheit zum Erreichen des Arbeitsergebnisses beeinträchtigt ist, so hat der Dienstberechtigte mangels Erfüllung den vorrangigen Nacherfüllungsanspruch. Erst wenn die Nacherfüllung nicht mehr möglich oder aus anderen Gründen unterblieben ist, stellt sich die Frage der Minderung. III. Verstecktes Minderungsrecht im allgemeinen Schuldrecht? Durchaus möglich ist, dass der Gesetzgeber mit den Vorschriften des allgemeinen Schuldrechts entgegen der herrschenden Auffassung bereits eine Minderung vorgesehen hat. 25 29 Weller (Fn. 7), S. 540 f. _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 4 Die Minderung im Dienstvertragsrecht – Mut zur Rechtsfortbildung? 1. Minderung kraft Gesetzes aufgrund konditionellen Synallagmas (§ 326 Abs. 1 S. 1 BGB) a) Wortlaut Wenn nach einer schlechten Leistung der Dienste die Nacherfüllung z.B. aufgrund des Fixcharakters der Schuld unmöglich ist (sog. qualitative Unmöglichkeit30), stellt sich die Frage, ob nicht wie bei teilweiser quantitativer Unmöglichkeit die Vergütung ex lege um das Leistungsdefizit gemindert wird. § 326 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 BGB legt fest, dass im Falle einer teilweisen Unmöglichkeit der Gegenanspruch um denselben Anteil erlischt wie Unmöglichkeit eingetreten ist. § 326 Abs. 1 S. 2 BGB bestimmt vom Wortlaut her, dass im Falle qualitativer Unmöglichkeit eine solche automatische Minderung nicht stattfinden soll. Dem Wortlaut des Gesetzes zufolge ist eine Ex-lege-Minderung bei Schlechtleistungen für alle Vertragstypen damit ausgeschlossen. b) Teleologische Reduktion des § 326 Abs. 1 S. 2 BGB? Nach einer Einzelmeinung soll der § 326 Abs. 1 S. 2 BGB entgegen dem klaren Wortlaut beim Dienstvertrag keine Anwendung finden.31 Als Grund wird angeführt, dass der Regelungszweck der Norm lediglich darin liege, eine exlege-Minderung in den Fällen zu verhindern, in denen der Gläubiger nach den speziellen Regelungen des Kauf- und Werkvertragsrechts die Minderung durch Erklärung ausüben kann.32 aa) Normzweck In der Tat führt der Gesetzgeber in der Begründung zum Schuldrechtsmodernisierungsgesetz an, dass § 326 Abs. 1 S. 2 BGB bezwecke, den Widerspruch einer automatischen Minderung zu den speziellen Gewährleistungsvorschriften, die eine Minderungserklärung vorsehen, aufzuheben.33 Darüber hinaus werden jedoch auch weitere Gründe genannt: Ob die Voraussetzungen für die Minderung kraft Gesetzes vorlagen, sei für den Gläubiger erstens schwer erkennbar und zweitens für sein Leistungsinteresse unerheblich.34 Dies ist dahingehend zu verstehen, dass es dem Gläubiger gar nicht darauf ankommen wird, aus welchen Gründen die Leistung ausgeblieben ist: „Es kann aber für die Rechte des Käufers keinen Unterschied machen, ob eine Nacherfüllung deshalb fehlschlägt, weil der Verkäufer aus Nachlässigkeit eine ordnungsgemäße Reparatur des verkauften PKW nicht erreicht oder ob das Ausbleiben des Leistungserfolgs daran 30 Z.B. Stadler, in: Jauernig (Fn. 1), § 326 Rn. 26; Ernst, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 326 Rn. 32; Peukert, AcP 205 (2005), 430 (431). 31 Emmerich, Das Recht der Leistungsstörungen, 6. Aufl. 2005, § 10 Rn. 34. 32 Emmerich (Fn. 31), § 5 Rn. 24; dass sich der Normzweck auf dies beschränkt, wird auch noch von vielen weiteren vertreten. Nachweise bei Peukert, AcP 205 (2005), 430 (437). 33 BT-Drs. 14/6040, S. 189. 34 BT-Drs. 14/6040, S. 189. ZIVILRECHT liegt, dass eine Reparatur von vornherein nicht möglich ist.“35 Vielmehr ist für ihn erheblich, dass sie überhaupt trotz Fristsetzung ausgeblieben ist. Schließlich knüpfen die §§ 441, 638 BGB an den Rücktritt an, dessen Voraussetzung gem. § 323 Abs. 1 BGB die ausgebliebene Nacherfüllung ist. Unabhängig davon, ob der Käufer weiß, dass der Schuldner gar nicht mehr nacherfüllen kann, so kann er jedenfalls nach der Fristsetzung endgültig mindern. Von einer Minderung ex lege bei qualitativer Unmöglichkeit könnte der Gläubiger mangels Kenntnis von dieser regelmäßig nicht Gebrauch machen, was der Gesetzgeber mit der Vorschrift berücksichtigt hat. Die Gründe, die der Gesetzgeber vorbringt, erscheinen freilich fragwürdig, weil sich beide auch auf die teilweise Unmöglichkeit übertragen lassen, für welche eine Verminderung des Vergütungsanspruchs ex lege jedoch vorgeschrieben ist. Die Wertung des Gesetzgebers scheint zu sein, dass die qualitative Unmöglichkeit schwerer erkennbar ist als die teilweise Unmöglichkeit. Jedenfalls ist dies als gesetzgeberische Entscheidung zu berücksichtigen. Diese Äußerungen zeigen, dass der Zweck des § 326 Abs. 1 S. 2 BGB im Wesentlichen darin liegt, aus den genannten sachlichen Gründen eine automatische Minderungskonstruktion abzulehnen. Im Folgenden ist der Ansatz Emmerichs auch auf seine Systemkonformität zu untersuchen. bb) Rechtssystematik: Schlechtleistung als Teilnichtleistung? (1) Differenzierung zwischen Schlecht- und Teilnichtleistung Emmerich nimmt an, dass die qualitative Unmöglichkeit einen Unterfall der (quantitativen) Teilunmöglichkeit darstellt.36 In der Tat erscheint es damit konsequent, im Falle der qualitativen Unmöglichkeit eine Minderung ex lege anzunehmen, da § 326 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 BGB dies für die Teilunmöglichkeit normiert. Jedoch besteht nach der weit überwiegenden Ansicht ein struktureller Unterschied zwischen Schlecht- und Teilleistung, wofür die gesetzlichen Differenzierungen auf Tatbestands- und Rechtsfolgenebene zwischen diesen Fällen in den §§ 281 Abs. 1, 323 Abs. 1 und 5 BGB angeführt werden.37 Auch laut der Begründung des Regierungsentwurfes sind Teilnichtleistungen und Schlechtleistungen unterschiedliche Kategorien von Leistungsstörungen.38 Allerdings lässt der Wortlaut des § 326 Abs. 1 BGB auch die entgegengesetzte Deutung zu, da der Gesetzgeber die Fälle nicht behebbarer qualitativer Schlechtleistungen ausdrücklich von den Teilnichtleistungen ausnimmt. Wenn man davon ausgeht, dass der Gesetzgeber mit Vorschriften konstitutiv Regelungen treffen will, liegt der Schluss nahe, dass er von einer gesetzlichen Konzeption, in der eine Schlechtleistung einen Unterfall der Teilleistung darstellt, abweichen wollte, da sonst der Regelungsgehalt der Vorschrift gegen null ginge. 35 BT-Drs. 14/6040, S. 189. Emmerich (Fn. 31), § 5 Rn. 24. 37 Tillmanns (Fn. 5), S. 205 m.w.N.; vgl. auch Ernst (Fn. 30), § 281 Rn. 123; Gsell, in: Soergel, Kommentar zum BGB, 13. Aufl. 2005, § 326 Rn. 26; Grüneberg, in: Palandt (Fn. 1), § 326 Rn. 5. 38 BT-Drs. 14/6040, S. 189. 36 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 5 AUFSÄTZE Philipp Lerch Jedoch wird in der Regierungsbegründung deutlich, dass dem § 326 Abs. 1 S. 2 BGB lediglich deklarative Funktion zukommen soll: „Dem Wortlaut des § 326 Abs. 1 Satz 1 RE könnte zu entnehmen sein, dass sich auch in diesem Fall der Wert der Gegenleistung im Umfang der Unmöglichkeit kraft Gesetzes mindert. § 326 Abs. 1 Satz 3 RE stellt indes klar, dass dies nicht zutrifft […].“39 Der gesetzliche Dualismus zwischen Schlecht- und Teilleistung zeigt deutlich, dass selbst ohne den § 326 Abs. 1 S. 2 BGB der S. 1 keine direkte Anwendung finden würde. Emmerichs Ansatz ist folglich nicht systemgerecht. (2) Schlechtleistung als funktionale Teilnichtleistung Nach Tillmanns kann eine Schlechtleistung, die formal aufgrund eines bestehenden Leistungsdefizits als eine solche anzusehen ist, eine Teilleistung darstellen, womit der § 326 Abs. 1 S.1 Hs. 2 BGB Anwendung finde.40 Man denke an einen Rechtsanwalt, der seinen Mandanten hinsichtlich zweier Ansprüche in einem Prozess vertritt, und dessen schriftliche Ausführungen zum einen Anspruch gegen alle Regeln der juristischen Kunst verstoßen und unbrauchbar sind, hinsichtlich des anderen Anspruchs jedoch als ordnungsgemäß einzustufen sind. Voraussetzung für eine Teilleistung sei nämlich, dass der erbrachten Leistung eine eigenständige Teilfunktion zukomme, was auch bei qualitativen Leistungsdefiziten gegeben sein kann.41 Dies ist wertungsmäßig konsistent und zugleich systemkonform: im Gegensatz zu § 281 Abs. 1 BGB bevorzugt der § 326 Abs. 1 S. 2 BGB den Gläubiger, der eine Teilund keine Schlechtleistung erhält, indem seine Gegenleistungsschuld vermindert wird. Diese Bevorzugung ist an der Stelle nur gerechtfertigt, soweit die in qualitativer Hinsicht defizitäre Leistung keinem eigenständigen vertraglichen Leistungszweck dienlich ist.42 Dies setzt freilich voraus, dass man sich von der rein horizontal-zeitlichen Anschauung des Dienstvertrages löst und in eine vertikal-funktionale überführt. Wie oben dargelegt43 ist die Schuld des Dienstverpflichteten immer auch in ihrem funktionalen Kontext zu beurteilen. Wenn eine Handlung lediglich dazu geeignet ist, eine Teilfunktion zu erfüllen, und daher der schwache Leistungserfolg in Form von Chancenerbringung nur hinsichtlich dieses gegenständlich abtrennbaren Teils eintreten kann, so entspricht dies ebenfalls einer gegenständlichen Teilnichtleistung, wie wenn z.B. nur zwei von vier der geschuldeten Weinflaschen geliefert wurden. 2. Minderung durch Rücktritt Als weitere Möglichkeit, ein Minderungsrecht im Dienstvertrag herzuleiten, wird der Rücktritt nach §§ 323, 326 BGB 39 BT-Drs. 14/6040, S. 189; dies nicht berücksichtigend Schlechtriem/Schmidt-Kessel (Fn. 1), Rn. 556. 40 Tillmanns (Fn. 5), S. 414 ff. 41 Tillmanns (Fn. 5), S. 261 ff. 42 Ähnliches Argument bei Tillmanns (Fn. 5), S. 246 f. 43 Siehe oben III. 1. a). angeführt.44 Hier sind zwei mögliche Ansätze erkennbar: zum einen ist ein Rücktritt lediglich vom Leistungsdefizit (qualitativer Teilrücktritt) nach § 323 Abs. 5 BGB zu erwägen45, zum anderen ein Rücktritt vom ganzen Dienstvertrag in Verbindung mit einer Aufrechnung mit dem nach § 346 Abs. 2 Nr. 1 BGB entstehenden Wertersatzanspruch des Dienstberechtigten.46 a) Isolierter Rücktritt vom Leistungsdefizit aa) Allgemeinschuldrechtliche Zulässigkeit eines „Rücktritts vom Leistungsdefizit“ Sehr fragwürdig ist, ob nach dem allgemeinen Schuldrecht bei einer Schlechtleistung der Gläubiger teilweise, und zwar isoliert vom Leistungsdefizit zurücktreten, ob ein Teilrücktritt also auch vom Minderwert der Leistung erklärt werden kann. Zum Teil wird dies abgelehnt47, zum Teil befürwortet.48 Beispiel: Der Rechtsanwalt arbeitet unkonzentriert (50 % der normalen bzw. geschuldeten Leistung) und der Mandant „tritt“ sozusagen von der halben für ihn geschuldeten Konzentration „zurück“. (1) Wortlaut und Systematik Der Wortlaut des § 323 Abs. 5 S. 2 BGB ist nicht eindeutig und wird verschiedentlich beurteilt. Nach der Vorschrift kann im Falle einer nicht vertragsgemäßen, d.h. schlechten Leistung „der Gläubiger vom Vertrag nicht zurücktreten, wenn die Pflichtverletzung unerheblich ist“. Im Hinblick auf S. 1 der Vorschrift, nach dem der Gläubiger bei einer Teilleistung „vom ganzen Vertrag“ nur zurücktreten kann, wenn er an der Teilleistung kein Interesse hat, wird der Schluss gezogen, dass S. 2 keinen Teilrücktritt zulasse, da dort nur „vom Vertrag“ die Rede ist.49 Allerdings lässt sich dieser Wortlaut auch entgegengesetzt interpretieren: weil S. 2 im Gegensatz zu S. 1 den Rücktritt „vom Vertrag“ und nicht nur „vom ganzen Vertrag“ erlaube, spräche der Wortlaut für einen Teilrücktritt bei der Schlechtleistung.50 Beiden Argumenten ist entgegenzuhalten, dass der § 323 Abs. 5 BGB vom Wortlaut her nicht bestimmt, ob und unter welchen Umständen ein Teilrücktritt zulässig ist. Vielmehr regelt die Vorschrift, unter welchen Umständen bei Teil- und Schlechtleistung der Rücktritt nicht zulässig ist. Es handelt sich um Ausschlussgründe. Daher lässt sich aus dem Wortlaut der Vorschrift die Zulässigkeit oder Nichtzulässigkeit eines Teilrücktritts vom Leistungsdefizit nicht ableiten. 44 Weller (Fn. 7), S. 562 ff.; i.E. ablehnend Tillmanns (Fn. 5), S. 412. 45 Weller (Fn. 7), S. 562 ff. 46 Angedeutet, aber abgelehnt bei Canaris, in: Festschrift für Karsten Schmidt zum 70. Geburtstag, 2009, S. 177 (181). 47 Stadler (Fn. 30), § 323 Rn. 20; Looschelders, Schuldrecht Allgemeiner Teil, 12. Aufl. 2014, Rn. 709; Peukert, AcP 205 (2005), 430 (439). 48 Ernst (Fn. 30), § 323 Rn. 240; Tillmanns (Fn. 5), S. 390; Weller (Fn. 7), S. 562 ff. 49 Peukert, AcP 205 (2005), 430 (440). 50 Weller (Fn. 7), S. 563. _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 6 Die Minderung im Dienstvertragsrecht – Mut zur Rechtsfortbildung? Gegen die Annahme, Rücktritt und Minderung seien wesensgleich, mag man den Wortlaut der §§ 441 Abs. 1, 638 BGB anführen: „statt zurückzutreten“ kann der Gläubiger mindern. Jedoch könnte damit auch gemeint sein „statt vom ganzen Vertrag zurückzutreten, kann der Gläubiger auch einen Teilrücktritt vom Leistungsdefizit erklären“. Auch dieser Wortlaut bietet keinen eindeutigen Hinweis auf die systematischen Erwägungen des Gesetzgebers. (2) Historische und teleologische Auslegung Tillmanns führt an, dass der Gesetzgeber mit dem § 323 Abs. 5 BGB dem UN-Kaufrecht folgen wollte.51 Da sich der Art. 51 Abs. 1 CISG nicht nur auf die Vertragsaufhebung, sondern auch auf die Minderung gem. Art. 50 CISG beziehe, und der Gesetzgeber dieses Konzept umsetzen wollte, sei anzunehmen, dass § 323 BGB auch den Rücktritt vom Leistungsdefizit ermögliche. Dieses Argument überzeugt nicht – in den Gesetzesmaterialien lassen sich für einen solchen Schluss keine hinreichenden Anhaltspunkte finden. Im Hinblick auf die Gesetzesmaterialien wird deutlich, dass der Gesetzgeber sich bewusst gegen ein allgemeines Minderungsrecht entschieden hat: „Dabei ist zunächst die Frage zu behandeln, ob die Minderung als Rechtsbehelf in das allgemeine Leistungsstörungsrecht neben Rücktritt und Schadensersatz eingestellt werden soll. Entscheidend dagegen spricht, dass die Minderung für einzelne Vertragstypen, insbesondere für den Dienstvertrag, als Rechtsbehelf ausgeschlossen bleiben muss. Für den Kauf- und Werkvertrag bedarf es daher einer besonderen Vorschrift über die Minderung.“52 Eine „Minderung durch Teilrücktritt“ wäre dabei nichts anderes als die Minderung im Sinne des besonderen Gewährleistungsrechts – es handelt sich „im Kern um dieselbe Sache“53. § 323 Abs. 5 S. 2 BGB bestimmt, dass der Gläubiger bei einer Schlechtleistung vom Vertrag nicht zurücktreten kann, „wenn die Pflichtverletzung unerheblich ist“. Zweck der Vorschrift ist wohl, dass der Gläubiger daran gehindert werden soll, schon bei jeder kleinsten, unerheblichen Pflichtverletzung vom ganzen Vertrag zurückzutreten, der Rücktritt also verhältnismäßig sein muss.54 Daher liegt es nahe, anzunehmen, dass der Gesetzgeber auch nur den Totalrücktritt vor Augen hatte: unbillig ist lediglich der Totalrücktritt im Falle der Schlechtleistung, nicht die Minderung (vgl. § 441 Abs. 1 S. 2 BGB). Trotzdem differenziert er nicht im Wortlaut, sondern spricht nur „vom Vertrag.“ Die Gesetzesmaterialien bestätigen diesen vom Gesetzgeber intendierten Zweck: zwar findet auch ein möglicher Teilrücktritt im Falle des § 323 Abs. 5 S. 2 BGB Erwähnung, jedoch nur für den Fall einer teilweisen Schlechtleistung, also wenn z.B. von den 100 bestellten Flaschen Wein 20 mindere Qualität aufweisen.55 51 Tillmanns (Fn. 5), S. 390 f. mit Berufung auf Ernst (Fn. 30), § 323 Rn. 199. 52 BT-Drs 14/6040, S. 223. 53 Ernst (Fn. 30), § 323 Rn. 240. 54 Schmidt, in: Beck’scher Online-Kommentar zum BGB, Ed. 41, Stand: 1.11.2016, § 323 Rn. 39. 55 BT-Drs. 14/6040, S. 186. ZIVILRECHT Vor diesem Hintergrund ist es zweifelhaft, mit Weller anzunehmen, Zweck der Vorschrift bzw. des Erheblichkeitserfordernisses im Falle der Schlechtleistung sei, dem Schuldner auch gegen den Teilrücktritt (d.h. die Minderung) eine „freiheitserweiternde Sicherheitszone“ zu schaffen.56 Denn zu diesem Schluss kann man nur gelangen, wenn bereits die Möglichkeit des Teilrücktritts vom Leistungsdefizit bejaht ist. Die Anführung eines solchen Arguments würde eine petitio principi darstellen. bb) Zwischenergebnis Die Auslegung des § 323 Abs. 5 S. 2 BGB lässt nicht darauf schließen, dass diese Vorschrift des allgemeinen Schuldrechts einen isolierten Teilrücktritt vom Leistungsdefizit im Falle einer Schlechtleistung zulassen soll. Allerdings könnten immer noch gute sachliche Gründe für ein solches Recht sprechen. Eine unmittelbare Herleitung des Minderungsrechts aus einem „Teilrücktritt vom Leistungsdefizit“ ist jedenfalls abzulehnen, da dies systemfremd wäre, besteht schließlich zwischen Schlecht- und Teilleistung eine klare gesetzliche Differenzierung und ist doch im Wortlaut des § 323 Abs. 5 S. 2 BGB kein Anhaltspunkt für diese Annahme ersichtlich. b) Rücktritt vom ganzen Vertrag und Aufrechnung mit Wertersatzanspruch Neben dem Teilrücktritt vom Leistungsdefizit ist auch ein Totalrücktritt denkbar, bei dem der Dienstberechtigte durch Aufrechnung seines Vergütungsrückgewähranspruchs (§ 346 Abs. 1 BGB) mit dem Wertersatzanspruch des Dienstverpflichteten (§ 346 Abs. 2 Nr. 1 BGB) funktional mit einem Minderungsrecht ausgestattet wäre.57 Ein Rücktrittsrecht wird jedoch für den bereits (teilweise) vollzogenen Dienstvertrag im Allgemeinen nicht anerkannt.58 Das Rücktrittsrecht werde durch das Kündigungsrecht ersetzt, was auch § 314 BGB zeige.59 Im Hinblick auf das eindeutige Votum des Reformgesetzgebers60 ist dieser Auffassung Recht zu geben. Mit Vollzug des Dauerschuldverhältnisses entfällt das Recht zum Rücktritt vom Vertrag. c) Zwischenergebnis Die Auslegung der Rücktrittsvorschriften ergibt, dass das Rücktrittsrecht bei Dienstverhältnissen keinen adäquaten Rechtsbehelf bietet, die Vergütung zu vermindern. 3. Minderungsrecht durch Rechtsfortbildung – wertungsmäßige Betrachtung der Interessenlage Im folgenden Abschnitt soll eine Abwägung der Interessen des Dienstberechtigten und des Dienstverpflichteten hinsichtlich eines Minderungsrechts vorgenommen werden. 56 Weller (Fn. 7), S. 564. Ähnliches ablehnend Canaris (Fn. 46), S. 181. 58 Vgl. nur Schmidt (Fn. 54), § 323 Rn. 2; Canaris (Fn. 46), S. 181; Ernst (Fn. 30), § 323 Rn. 35; Tillmanns (Fn. 5), S. 397 f. 59 Tillmanns (Fn. 5), S. 398. 60 BT-Drs. 14/6040, S. 177. 57 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 7 AUFSÄTZE Philipp Lerch a) Symmetrie von Vergütungsanpassungen Gegen eine Minderung von Dienstvergütungen wird die fehlende Symmetrie der Vergütungsanpassung angeführt:61 bei einer Besserleistung des Schuldners erhöht sich dessen Vergütung nicht, daher sei eine Minderung der Dienstvergütung nicht billig. Dieses Argument ist jedoch keineswegs überzeugend, erhöht sich der Kaufpreis eines Gutes nicht auch bei Lieferung von Waren besserer als der vereinbarten Qualität. Der Schuldner hat im Gegensatz zum Gläubiger die Macht, die Qualität des Leistungsgegenstands auszusuchen – daher ist er im Gegensatz zu diesem nicht schutzbedürftig. Des Weiteren ist eine Besserleistung im Dienstvertragsrecht schon begrifflich ausgeschlossen, schuldet der Dienstverpflichtete schließlich eine nach seinem Ermessen möglichst gute Leistung.62 Leistet er besser als üblich, dann ist dies lediglich Ausdruck pflichtgemäßen Verhaltens. b) Bemessungsschwierigkeiten Ferner wird gegen ein derartiges Minderungsrecht angeführt, dass der Minderwert der Dienstleistung schwer zu bemessen sei.63 Dieses Problem kann sich im Kaufrecht allerdings auch ergeben, wenn für die minderwertige Sache kein Markt besteht.64 Wenn Maßstab des Wertes einer Dienstleistung die mit ihr einhergehende Chance ist, einen bestimmten vertraglichen Zweck zu erreichen65, so ist bei Dienstleistungen entsprechend § 441 Abs. 3 BGB die Vergütung in dem Verhältnis herabzusetzen, wie der Wert einer vertragsgemäßen Leistung, die dem Dienstberechtigten die Soll-Chancen zur Erreichung des Erfolgs erbracht hätte, zum marktüblichen Wert einer Leistung, welche dem Dienstberechtigten eine zur erbrachten Leistung äquivalenten Chance erbracht hätte, zum Vertragsschluss gestanden hätte. Wird jemand eingesetzt, einen Hof zu kehren, und schafft aufgrund von mangelnder Motivation an diesem Tag nur die Hälfte des Hofs in der für ihn üblichen und einem statistischen Durchschnitt entsprechenden Zeit (z.B. zwei Stunden) zu kehren, so hat dieser nur einen Vergütungsanspruch für eine Stunde, da er dem Dienstberechtigten nur die Hälfte der geschuldeten Chance, einen sauberen Hof zu erhalten, erbracht hat.66 c) Sanktion der Pflichtverletzung und Anreiz Höchst unbefriedigend ist es, wenn der Dienstberechtigte keine Möglichkeit hat, auf die Schlechtleistung des Schuldners zu reagieren und diese zu sanktionieren. Zunächst einmal bleibt dem Gläubiger im Dienstverhältnis zwar das Kündigungsrecht. Dieses kann einen ausreichenden Rechtsbehelf darstellen, wird es jedoch nicht in vielen Fällen. Man denke 61 Lotmar, Der Arbeitsvertrag nach dem Privatrecht des Deutschen Reiches, 1908, Bd. 2, S. 40 ff. 62 Siehe oben I. 1. b). 63 Tillmanns (Fn. 5), S. 402 ff. m.w.N. 64 Weller (Fn. 7), S. 556. 65 Siehe oben I. 1. a). 66 Dabei sei jedoch unterstellt, dass es sich nicht um ein Arbeitsverhältnis handelt. Soziale bzw. arbeitsrechtliche Schutzerwägungen sind nicht Gegenstand dieser Arbeit. sich Fälle, in denen der Rechtsanwalt das schlechte Gutachten fertiggestellt hat und erst dann sich herausstellt, dass eine Schlechtleistung vorliegt. Die Kündigung ist dann ein nutzloser Rechtsbehelf, da sie lediglich ex nunc wirkt. Man mag zwar anführen, dass es in der Risikosphäre des Gläubigers liegen sollte, die Leistung zu überwachen und ggf. einzugreifen und das Abdriften der Leistung zu verhindern. In der Tat kann eine solche Risikoverteilung geboten sein, allerdings auch nur dann, wenn dem Dienstverpflichteten die dafür notwendigen Kontroll- und Überwachungsrechte überhaupt zustehen. Im Arbeitsvertrag ist dies tatsächlich der Fall (vgl. § 106 GewO). Im freien Dienstvertrag sieht dies vollkommen anders aus: der Mandant hat keine betrieblichen Weisungsrechte gegenüber dem Anwalt. Daher ist hier im Gegensatz zum Arbeitsvertrag auch eine andere Risikoverteilung gerechtfertigt. Den Gläubiger freier Dienstverträge trifft keine Überwachungsobliegenheit, womit es nicht gerechtfertigt ist, diesem einen nachträglichen Rechtsbehelf zur Minderung zu verwehren. Außerdem besteht gerade dort, wo der Gläubiger keine Überwachungsmöglichkeiten hat und ein starkes Vertrauensband besteht, die Gefahr des sog. Opportunismus.67 Opportunismus im ökonomischen Sinne ist ein Verhalten, bei dem jemand das Vertrauen eines anderen bricht und anstatt der Vorteile, die er aus einem treuen Verhalten erlangen könnte, lieber die Vorteile aus dem Bruch des Vertrauens, die sog. Opportunismusprämie, zieht.68 Der Anwalt, der lieber schnell und unkonzentriert seine Arbeit für den Mandanten beendet, um sich einem doppelt so rentablen Mandat zuwenden zu können, verhält sich opportunistisch: er verletzt seine Vertragspflichten, um an einem rentableren Projekt zu arbeiten und damit eine höhere Opportunismusprämie, das Mehrhonorar, zu kassieren. Ohne eine Möglichkeit der Minderung würde die Opportunitätsprämie die Vorteile aus einem vertragsgerechten Verhalten („Goodwill“69), z.B. die Aussicht auf einen guten Ruf als Anwalt wegen hervorragender Vertretung, in vielen Fällen übertreffen. Es bestünde ein erheblicher Anreiz zum Vertragsbruch. Eine effiziente Rechtsordnung soll jedoch gerade den Anreiz zu vertragsgemäßem Handeln erhöhen, indem sie die Aussicht auf eine Opportunismusprämie senkt.70 Dies kann bei Arbeitnehmern durch die hohen wirtschaftlich-sozialen Folgen der Kündigung geschehen, bei freien Dienstverträgen jedoch lediglich durch die Anerkennung einer nachträglichen Sanktion in Form der Minderung der Dienstvergütung. IV. Eigene Lösung und Ergebnis Mut zur Rechtsfortbildung! Obwohl eine Auslegung des Gesetzes nicht unmittelbar zu einem Rechtsbehelf führt, der zu einer echten, verschuldensunabhängigen Minderung des Vergütungsanspruchs bei einer Schlechtleistung geeignet ist, 67 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 4. Aufl. 2005, S. 511; vgl. auch Weller (Fn. 7), S. 466 ff. 68 Schäfer/Ott (Fn. 67), S. 511. 69 Schäfer/Ott (Fn. 67), S. 511. 70 Schäfer/Ott (Fn. 67), S. 513. _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 8 Die Minderung im Dienstvertragsrecht – Mut zur Rechtsfortbildung? sprechen gewichtige sachliche Gründe für eine Minderung.71 Problematisch ist jedoch, dass weder eine direkte noch analoge Anwendung des § 326 Abs. 1 BGB auf als Schlechtleistung zu qualifizierende Leistungsstörungen möglich ist, da dies systemfremd wäre.72 Ein systemkonformer und direkt gesetzlich normierter Ansatz jedenfalls ist, Schlechtleistungen als funktionale Teilnichtleistungen zu begreifen, indem von einer rein zeitlich-quantitativen Beurteilung der Reichweite von Dienstleistungen Abstand genommen und in direkter Anwendung des § 326 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 BGB die Vergütung herabgesetzt wird.73 Hieran sind jedoch strenge Maßstäbe anzulegen, damit die Grenzen zwischen Schlecht- und Teilleistung nicht verwischt werden. Die Leistung muss im Hinblick auf die Teilfunktion als Nichtleistung zu qualifizieren sein, darf den abtrennbaren Teilzweck also in keiner Weise fördern. Nicht ausreichend ist, dass die Geeignetheit zur Förderung dieses Teilzwecks lediglich eingeschränkt ist. Für alle anderen Fälle von Schlechtleistung, z.B. bei minderer Arbeitsintensität, mag es zwar systemgerecht sein, die Minderung auszuschließen – in der Sache gerechtfertigt ist dies jedoch nicht. Eine systemkonforme Lösung ist, analog §§ 441 Abs. 1, 638 Abs. 1, 323 BGB dem Gläubiger von Dienstleistungen im freien Dienstvertrag ein Minderungsrecht zu gewähren. Dies setzt entsprechend § 323 Abs. 1 BGB eine erfolglose Nachfristsetzung voraus. Die Minderungserklärung ist weiterhin erforderlich, da § 326 Abs. 1 S. 2 BGB einer exlege-Minderung aus nicht leicht nachvollziehbaren, jedoch zu berücksichtigenden Gründen74 entgegensteht. In der Sache hat die Minderungserklärung dabei immer noch eine Funktion: mit Erklärung der Minderung erlischt der Nacherfüllungsanspruch nämlich endgültig.75 Somit wird für beide Parteien klargestellt, dass die Leistung nicht mehr nachholbar ist und der Vertrag umgestaltet wurde. Vorteil der Lösung ist, dass sie den Wertungen des § 326 Abs. 1 S. 276 gerecht wird und an die erfolglose Fristsetzung ansetzt, welche für den Gläubiger regelmäßig das entscheidende Kriterium sein wird, da die Unmöglichkeit der Nacherfüllung für ihn regelmäßig nicht erkennbar ist. Jedenfalls nach erfolgloser Fristsetzung können beide Parteien dann sicher sein, dass die Voraussetzungen für die Minderung vorlagen. Insbesondere die Rechtsprechung behandelt die Frage der Minderung im Dienstvertragsrecht viel zu formal. Es scheint die Furcht zu überwiegen, dass durch eine Öffnung des Dienstvertragsrechts für Gewährleistungshaftung der soziale Schutz des Arbeitnehmers unterlaufen würde. Viel sachgemäßer ist es, zwischen Dienst- und Arbeitsvertrag an dieser Stelle streng zu differenzieren und im ersten Fall dem Dienstberechtigten ein Minderungsrecht zu gewähren. De lege ferenda wäre es wünschenswert, wenn der Gesetzgeber hierzu eindeutigere Regeln treffen würde, z.B. wie eine all- ZIVILRECHT gemeinschuldrechtliche Minderung durch Erklärung, wie sie Sec. III.-3:601 des Draft Common Frame Of Reference vorsieht. 71 Siehe oben III. 3. Siehe oben III. 2. b) bb) (1). 73 Siehe oben III. 2. b) bb) (2). 74 Siehe oben III. 2. b) aa). 75 Faust (Fn. 20), § 441 Rn. 14; Westermann, in: Münchener Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 2016, § 441 Rn. 17. 76 Siehe oben III. 2. b) aa). 72 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 9 Schadenersatz im Deliktsrecht aus Rechtsökonomischer Perspektive Von stud. iur. Lea Larissa Faltmann, Köln * Der ökonomischen Analyse des Rechts wird an deutschen Universitäten regelmäßig wenig bis keine Beachtung geschenkt. Sie gehört allerdings im anglo-amerikanischen Raum – aus gutem Grund – zu den Standardkursen jedes Jurastudenten. Auch deutsche Gerichte berücksichtigen selbstverständlich rechtsökonomische Überlegungen in deliktsrechtlichen Fragestellungen. Studenten können und sollten rechtsökonomische Argumente in Klausuren heranziehen. Dieser Beitrag bietet eine Einführung in die Thematik. I. Ausgangsfall: „Immer dem Navi nach“ Gerade für Juristen, die sich sehr wahrscheinlich noch nicht mit der ökonomischen Analyse des Rechts geschweige denn ökonomischen Modellen beschäftigt haben, ist es hilfreich, die folgenden Überlegungen an einem kleinen Fall zu veranschaulichen, bevor die notwendigen theoretischen Ausführungen und ihre Anwendung auf das Deliktsrecht folgen: Autofahrer A befährt abends, seinem Navigationsgerät folgend, eine schmale Straße in der nordrhein-westfälischen Gemeinde X. Die Straße ist als Sackgasse ausgeschildert und hat keine Fahrbahnmarkierungen oder Bürgersteige. Der Asphalt ist an einer Stelle in einer Länge von einigen Metern unterbrochen. In der Straßenmitte ist an dieser Stelle ein Sperrpfosten mit Gelenk eingelassen, der nach Bedarf aufgestellt werden kann und dann die Durchfahrt für Autofahrer verhindert. Der Sperrpfosten ist zum fraglichen Zeitpunkt umgelegt, also die Durchfahrt möglich. Rechts und links von diesem Sperrpfosten befinden sich zwei Findlinge. Die Fahrbahndecke neben den Sperrpfosten ist aufgrund ausgespülter bzw. ausgefahrener Spurrinnen abgesenkt. Beim Überfahren dieser Stelle verkantet sich der Motor von As Auto aufgrund der unterschiedlichen Höhe der Fahrbahn am Sperrpfosten. Der Motor wird zerstört; es kommt zu einem wirtschaftlichen Totalschaden.1 Welche Ansprüche des A könnten bestehen? Mangels vertraglicher oder quasivertraglicher Ansprüche, kommen nur deliktische Ansprüche in Frage, insbesondere aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 9a StrWG NRW.2 Die Verkehrssicherungspflicht aus § 9a StrWG NRW umfasst die notwendigen Maßnahmen zur Herbeiführung und Erhaltung eines für den Straßenbenutzer hinreichend sicheren Straßenzustandes. Mangels eines anderen Anspruchsgegners wird A vorbringen wollen, dass das Land NRW eine Pflicht gehabt habe, eine für die Durchfahrt freigegebene Straße in einem solchen Zustand zu erhalten, dass es nicht zu Schäden an den passierenden Kraftfahrzeugen kommt. Das Land könnte diese Verkehrssicherungspflicht verletzt haben. Dann bestünde * Die Autorin studiert englisches und deutsches Recht an der Universität Köln und dem University College London. 1 Vgl. LG Bonn, Urt. v. 6.4.2016 – 1 O 374/15 = BeckRS 2016, 10911. 2 § 839 BGB i.V.m. Art 34 GG – dann liegt im gem. § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 9a StrWG NRW relevanten Unterlassen des Beamten eine Amtspflichtverletzung. eine Haftung wegen schuldhaften Unterlassens, die eine Amtspflichtverletzung darstellt. Hier drängt sich die Überlegung auf, ob es sinnvoll ist, auch bei Straßen, die erkennbar keine Durchfahrtsstraßen sind und auch sonst nur eine geringe Verkehrsbedeutung haben, ständig eine intakte Fahrbahndecke zu gewährleisten. Man könnte, unter Berücksichtigung der Anzahl von Autofahrern, die die Straße nutzen, überlegen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit eines solchen Schadenseintritts ist und wie groß der jeweilige Schaden voraussichtlich ausfallen wird. Diese Überlegung könnte man dann mit den Kosten für Kontrollen und gegebenenfalls notwendigen Fahrbahnerneuerungen vergleichen. Abstrakter wäre zu bedenken, wie eine Norm bzw. deren Anwendung ausgestaltet sein müsste, die Anreize zur Verhinderung von Schäden setzt, ohne jedoch die Kostenüberlegungen zu vernachlässigen. In diesem Beitrag wird gezeigt, dass solche Überlegungen gewinnbringend sind und erläutert, wie diese Herangehensweise aus rechtsökonomischer Sicht begründet wird. Zunächst werden daher die Grundlagen der ökonomischen Analyse des Rechts erläutert (unter II.). Dann wird die lenkende Funktion von Haftungsregeln und die effiziente Ausrichtung des Haftungsrechts am Beispiel des Ausgangsfalls untersucht (unter III.) und zuletzt gezeigt, dass die vorgebrachte Kritik gegen den rechtsökonomischen Ansatz zwar teilweise berechtigt ist, aber die Bedeutung der Erkenntnisse für die Ausgestaltung und Anwendung des Deliktrechts dadurch nicht geschmälert werden sollte (unter IV.). II. Grundlagen der ökonomischen Analyse des Rechts 1. Modell und Methodik Die ökonomische Analyse des Rechts ist ein interdisziplinäres Forschungsgebiet, das sich der Analyse und Bewertung rechtlicher Normen anhand ökonomischer Maßstäbe verschrieben hat. Ziel der Ausgestaltung des Rechts anhand der Erkenntnisse der Rechtsökonomik ist die Wohlfahrtssteigerung, d.h. die Steigerung des gesellschaftlichen Wohlstands im Allgemeinen. Um dieses Ziel durchsetzen zu können, bedarf es einer Vorstellung von den Verhaltensweisen und Reaktionen der Marktteilnehmer. Voraussetzung dafür ist die Annahme, dass alle Menschen gleichartig, jedoch nicht gleich, handeln. Die Rechtsökonomik greift dafür auf das Modell des homo oeconomicus zurück. Dabei geht man davon aus, dass alle Menschen sich grundsätzlich rational und nutzenmaximierend verhalten. Der idealtypische, egoistische Marktteilnehmer entscheidet sich immer für die für ihn vorteilhafteste Option innerhalb der ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten unter Berücksichtigung seiner Handlungsrestriktionen wie z.B. seines Gehalts in bestimmter Höhe (Methodologischer Individualismus).3 Er entscheidet, nachdem er sich Kosten 3 Im Englischen häufig als REMM-Hypothese (resourceful, evaluating, maximizing man) bezeichnet. Vgl. Tietzel, in: Jahrbuch für Sozialwissenschaften, 1981, S. 115 ff., insb. _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 10 Schadenersatz im Deliktsrecht aus Rechtsökonomischer Perspektive und Nutzen seiner Entscheidungsmöglichkeiten vor Augen geführt hat. Die Auswahl, die er trifft, stellt seine persönliche Präferenzordnung4 und, aufgrund seiner vollkommenen Rationalität, auch die effizienteste Auswahlmöglichkeit dar.5 Dies setzt voraus, dass die Präferenzordnung vollständig, transitiv, also übertragbar, unabhängig, widerspruchsfrei und konsistent ist.6 Daher bildet beispielsweise ein Vertragsschluss als privatautonome Lösung idealerweise die effizienteste Ausgestaltung des von den Parteien gewünschten Ergebnisses ab. Aufgrund dieser Annahme kann man Verhaltensweisen der Marktteilnehmer analysieren und prognostizieren, was man positive Ökonomik nennt.7 Über die bloße Beschreibung und Prognose einer Entwicklung hinaus, bedarf es eines Maßstabes, anhand dessen gemessen werden kann, ob eine Entwicklung wünschenswert ist und daher gefördert oder eben unterbunden werden sollte. Diese Bewertung erfolgt anhand des Kaldor-HicksKriteriums.8 Danach stellt ein Zustand dann eine Verbesserung, also eine Steigerung der Effizienz dar, wenn der gesamte Nutzen9 größer ist als die damit verbundenen Nachteile.10 Das bedeutet, man stellt die Gesamtvorteile der Individuen, die von einer Entscheidung profitieren dem Gesamtnachteil aller, denen die Entwicklung Kosten verursacht, gegenüber.11 Effizient ist eine Entwicklung, wenn die Geschädigten potenziell (und hypothetisch) für den Nachteil entschädigt werden könnten und dann immer noch ein Restvorteil verbliebe. Für einen solchen Vergleich kommt es auch nicht auf genaue quantitative Bestimmungen an, sondern die Beantwortung der Frage, ob Kosten oder Nutzen überwiegen, reicht aus.12 Begründet wird dieses Vorgehen, trotz der ausbleibenden Entschädigung im Einzelfall, durch den langfristigen Eintritt S. 125. Zum methodologischen Individualismus vgl. Behrens, Die ökonomischen Grundlagen des Rechts, 1986, S. 34 ff.; Kirchgässner, Homo Oeconomicus, 3. Aufl. 2008. 4 Vgl. Dawes, Rational Choice in an Uncertain World, 1988, S. 64 ff. 5 Behrens (Fn. 3), S. 34 ff. 6 Dawes (Fn. 4), S. 64 ff. 7 Posner, Economic Analysis of Law, 6. Aufl. 2003, S. 24 ff.; Weigel, Rechtsökonomik, 2003, S. 16 f. 8 Das Pareto-Kriterium hingegen ist unvereinbar mit in den Markt eingreifenden Maßnahmen staatlicher Organe, die entscheidend in der modernen Wirtschafts- und Rechtspolitik sind. Staatliches Eingreifen bei der Vermögensumverteilung, beispielsweise durch Subventionen, stören das Marktgleichgewicht, sodass nie ein Pareto-optimaler Zustand erreicht würde, vgl. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl. 2005, S. 48 ff. 9 Unter Berücksichtigung des Gesetzes vom abnehmenden Grenznutzen des Einkommens, das besagt, dass der Einkommensnutzen einer Person mit steigendem Einkommen zwar zunimmt, aber nur unterproportional. 10 Baumann, RNotZ 2007, 297 (298). 11 Posner (Fn. 7), S. 25. 12 Ablehnung des Kardinalismus, zuerst umfassend kritisiert von Robbins, An Essay on the Nature and Significance of Economic Science, 1932. ZIVILRECHT einer Generalkompensation durch die Verbesserung der gesamtwirtschaftlichen Umstände.13 Die Bewertung anhand des Kaldor-Hicks Effizienzkriteriums bezeichnet man als normative Ökonomik. 2. Einführung in ein rechtsökonomisches Verständnis des Deliktsrechts Während man vor allem im Zusammenhang vertraglicher Schuldverhältnisse die Möglichkeit der Herbeiführung des effizientesten Ergebnisses durch privatautonome Verhandlungsmöglichkeiten hat,14 kommt ein solcher Mechanismus im Deliktsrecht naturgemäß nicht in Frage. Schließlich ist es nicht möglich, als Teilnehmer am Straßenverkehr mit möglichen Schädigern bzw. Geschädigten in Verhandlungen zu treten und sich vor dem schädigenden Ereignis auf ein Haftungsregime zu einigen. Unüberschaubar hohe Transaktionskosten verhindern damit den optimalen Zustand des Marktes, den eine Vertragslösung gewährleisten würde.15 In einem solchen Zusammenhang muss die Rechtsordnung Effizienz substituieren und für die bestmögliche Allokation der knappen Ressourcen sorgen.16 Haftungsregeln sollen das Verhalten der von ihnen betroffenen Individuen lenken, also Anreize schaffen, dass sie sich so verhalten, dass es zu einem gesamtgesellschaftlichen Vorteil kommt. Die Überlegung der lenkenden Funktion beruht darauf, dass Rechtsnormen als Nebenbedingungen des menschlichen Handelns, wenn sie eine Sanktion vorsehen, eine ursprünglich billige Handlungsalternative verteuern und diese Handlungsform damit den Marktteilnehmern weniger attraktiv erscheint.17 Der Marktteilnehmer wird also automatisch die zusätzlich anfallenden Kosten in seinen Entscheidungsprozess einbeziehen, was man als Internalisierung von Externalitäten bezeichnet. Sofern sie dadurch im Verhältnis zu den anderen Handlungsoptionen hinsichtlich der KostenNutzen-Relation überwiegt, wird der homo oeconomicus sein Verhalten ändern.18 So soll das Ziel der maximalen Wohlfahrt erreicht werden. Diese ergibt sich aus dem Nutzen des Schädigers aus der relevanten Aktivität abzüglich der Kosten getroffener Sorg13 Ablehnend Eidenmüller (Fn. 8), S. 48. Dieser Annahme liegt zu Grunde, dass Marktteilnehmer als homines oeconomici die für sich effizienteste Lösung erkennen und einen dem entsprechenden Vertrag abschließen. Dies gilt so lange, wie externe Faktoren eine solche Einigung nicht verhindern. 15 Vgl. Coase, The Journal of Law and Economics 1960, 1. 16 Die Wirtschaftswissenschaft unterstellt in all ihren Anwendungsbereichen Knappheit. Danach haben die Menschen prinzipiell unbegrenzte Bedürfnisse, während die Mittel, die ihnen zur Bedürfnisbefriedigung zur Verfügung stehen, nur begrenzt sind. 17 Cooter, Columbia Law Review 1984, 1523. 18 Notwendig werden kann insbesondere eine Neuzuordnung von Verfügungsrechten (property rights), um Handlungsanreize für Individuen zu schaffen und gesellschaftlichen Schaden zu begrenzen, siehe Demsetz, American Economic Review 1967, 347. 14 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 11 AUFSÄTZE Lea Larissa Faltmann faltsmaßnahmen abzüglich der Kosten des erwarteten Schadens. Der erwartete Schaden ergibt sich aus der Multiplikation der Höhe des eintretenden Schadens mit der Wahrscheinlichkeit seines Eintritts.19 Die Kosten eines wirtschaftlichen Gutes sind gleich dem entgangenen Ertrag, den dieses Gut in der bestmöglichen alternativen Verwendung schaffen könnte (Opportunitätskosten).20 Das bedeutet, die Wohlfahrt kann erhöht werden, wenn die Kosten bei einem gegebenen Nutzen verringert werden und Aktivitäten überhaupt nur aufgenommen werden, wenn sie mehr nutzen als kosten. Im Ausgangsfall könnte die Wohlfahrt also erhöht werden, wenn der konkrete Nutzen, die Qualität der Straße, die allen Straßennutzern zu Gute kommt, gegenüber den Kosten für die Instandhaltung und erwarteten Unfallkosten überwiegt. Wohlfahrt = Gesamt-Nutzen - Kosten der Sorgfaltsmaßnahmen - erwarteter Schaden III. Haftungsregeln als Mittel der effizienten Gestaltung des Deliktsrechts Die Minimierung der Kosten verlangt notwendigerweise nach einer Aufstellung der anfallenden Kosten. Zunächst muss eine solche Aufstellung den Wert der Schäden aller Opfer einer Schädigung umfassen (primäre Kosten). Weiterhin sind alle Kosten zu berücksichtigen, die beispielsweise im Zusammenhang mit Versicherungen entstehen (sekundäre Kosten). Zuletzt müssen auch Kosten der Rechtsdurchsetzung, der Verwaltung sowie alle anderen administrativen Kosten einbezogen werden (tertiäre Kosten).21 Diese anfallenden Kosten sollen möglichst weit gesenkt werden, aber nicht über ein sozial nützliches Niveau hinaus. Daher werden im Folgenden die Faktoren der jeweiligen Kosten sowie die Konsequenzen ihrer Umsetzung im Deliktsrecht dargestellt. 1. Beeinflussung primärer Kosten a) Das Ziel der optimalen Sorgfalt Die Sorgfaltsmaßnahmen, d.h. die Kosten, die aufgewendet werden, um die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts oder das Ausmaß des Schadens zu verringern, spielen eine entscheidende Rolle auf der Kosten-Seite. Da sie, genau wie die Schadenshöhe den gesamtwirtschaftlichen Nutzen reduzieren, können die beiden Posten zu Gesamtverlusten addiert werden. Eine Minimierung dieser Kosten kann durch die Ausgestaltung von Rechtsnormen dergestalt erreicht werden, dass die Beteiligten dazu angehalten sind, ihrerseits auf eine Verhinderung des schädigenden Ereignisses hinzuwirken. Ziel ist dabei das Erreichen des optimalen Sorgfaltsmaßsta19 So auch Cooter/Ulen, Law and Economics, 6. Aufl. 2016, S. 199 ff.; Wagner, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2013, Vorb. § 823 Rn. 47 f.; Esser/Weyers, Schuldrecht, Bd. 2, 8. Aufl. 2000, § 55 II 3 d, S. 171. 20 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Aufl. 2012, S. 53 f. 21 Calabresi, 70 YALE L.J. 1961, 499. bes. Wendet man das oben erläuterte Kaldor-Hicks-Kriterium in diesem Zusammenhang an, sind kostenverursachende Präventivmaßnahmen so lange durchzuführen, wie ein Euro an Verhütungsaufwand noch zu einer Schadensreduzierung von mehr als einem Euro führt (Marginalbedingung der optimalen Sorgfalt).22 Zu unterscheiden sind unilaterale, bilaterale und multilaterale Situationen. Unilateral ist eine Situation, in der der Geschädigte selbst sinnvollerweise keine Sorgfaltsmaßnahmen treffen kann. In bilaterale Situationen haben sowohl der Schädiger als auch der Geschädigte Einfluss auf den Eintritt des schädigenden Ereignisses. Multilateral ist eine Situation, wenn mehrere Schädiger und/oder Geschädigten den Eintritt des schädigenden Ereignisses beeinflussen können. Wer Sorgfaltsmaßnahmen treffen kann und somit auch Sorgfaltsaufwand hat, der die Gesamtwohlfahrt vermindert, hat Auswirkungen auf die Marginalbedingung. Letztlich wird das Ziel, die Summe von Schadensvermeidungskosten und Schadenskosten zu minimieren, genau dann erreicht, wenn der zusätzliche Schadensaufwand aller Beteiligten, den erwarteten Schaden gerade um eine Einheit reduziert. Im Beispielsfall ist das schädigende Ereignis die Zerstörung des Motors. Dieser Schaden hätte verhindert werden können, indem die Gemeinde die Straße neu geteert hätte, aber auch indem der A angesichts des schlechten Zustandes einen anderen, möglicherweise auch längeren Weg genommen hätte. Sowohl die Gemeinde als auch der Geschädigte hätten also Einfluss nehmen können. Insofern sind also mögliche Sorgfaltsmaßnahmen des Schädigers und des Geschädigten zu berücksichtigen. Die Sorgfalt des potenziellen Schädigers ist dann optimal, wenn der Schädiger einen wirtschaftlichen Anreiz hat, Schäden zu vermeiden, deren Kosten höher sind als die Kosten möglicher Sorgfaltsmaßnahmen, durch deren Einsatz sie verhindert worden wären.23 Jede Abweichung von diesem Ideal vermindert die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt: Liegen die Sorgfaltsmaßnahmen des potenziellen Schädigers unter dem Idealstandard, treten Schäden ein, die mit geringeren Kosten hätten verhindert werden können; intensiviert der Schädiger die Sorgfaltsmaßnahmen über das Idealmaß hinaus, werden Ressourcen verschwendet, denn ihr Einsatz kostet in diesem Fall mehr als er nutzt. Entsprechend dieser Gegenüberstellung von Sorgfaltskosten und Wahrscheinlichkeit und Höhe des potenziellen Schadenseintritts wird der Sorgfaltsmaßstab, an den sich der Schädiger zu halten hat, bestimmt. Der amerikanische Richter Learned Hand führte schon 1947 aus: „Possibly it serves to bring this notion into relief the state in algebraic terms: if the probability be called P; the injury, L; and the burden, B; liability depends upon whether B is less than L multiplied by P: i.e., whether B < PL.”24 Im Ausgangsfall sind hier also die hypothetischen Kosten der Gemeinde zu berücksichtigen, die die Zerstörung des Motors 22 Brown, Journal of Legal Studies, 1973, S. 323. Wagner (Fn. 19), Vorb. § 823 Rn. 45 ff. 24 United States v Caroll Towing Co. 159 F. 2 d 169 (2 d Cir. 1947) – tatsächlich hätte Hand allerdings die Marginalbedingungen und nicht die absoluten Kosten vergleichen müssen. 23 _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 12 Schadenersatz im Deliktsrecht aus Rechtsökonomischer Perspektive verhindert hätten. Eine Verschwendung von Ressourcen läge beispielsweise dann vor, wenn von einer Gemeinde erwartet würde, jeden Tag alle Straßen in ihrem Gemeindegebiet zu kontrollieren und entsprechend viele Arbeitnehmer angestellt und Maschinen angeschafft werden müssten. Hinzu treten in einem bilateralen Fall typischerweise mögliche Sorgfaltsmaßnahmen des Geschädigten. Auch diese Kosten müssen, um die Gesamtwohlfahrt zu steigern, minimiert werden. Allerdings wird ein potenziell Geschädigter ohne Anreize kaum seine Ressourcen für Sorgfaltsmaßnahmen einsetzen. Ein solcher Anreiz kann und sollte aber insbesondere bei der Gefährdungshaftung durch die Verankerung einer Mitverschuldensklausel geschaffen werden. Hier sind solche Maßnahmen zu berücksichtigen, die der A hätte vornehmen können, um den Schaden zu verhindern und die damit verbundenen Kosten. Neben der Möglichkeit, sein Auto höher legen zu lassen, wäre auch schlicht in Betracht gekommen, einfach eine andere Straße zu nehmen, die in einem besseren Zustand ist. Dabei wären nur, wenn überhaupt, geringe Kosten durch Benzinverbrauch, Abnutzung und ggf. Zeitverlust eingetreten. Es wäre auch keine Nachforschung notwendig gewesen, schließlich deutete der Sperrpfosten durchaus offensichtlich auf eine eingeschränkte Befahrbarkeit hin. Sich auf ein Navigationsgerät zu verlassen, kann an dieser Stelle auch nicht überzeugen. Dessen Nutzung kann nicht dazu führen, dass ein Autofahrer seine Umgebung nicht mehr beobachten und einschätzen muss. In diesem Zusammenhang spricht also schon vieles gegen eine Pflichtverletzung auf Seite der Gemeinde. Es kommen typischerweise zwei verschiedene Haftungsmodelle in Frage, nämlich Verschuldens- und Gefährdungshaftung. Setzt man voraus, dass der potenzielle Schädiger selbst die notwendigen Kosten/Nutzen-Abwägungen vornimmt, kommt man zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass es irrelevant ist, ob eine Verschuldens- und Gefährdungshaftung besteht.25 Wird vom Schädiger ein bestimmter Sorgfaltsmaßstab erwartet, wird er versuchen, diesen einzuhalten, denn dann hat er nicht für etwaige Schäden zu haften. Der Umfang der Sorgfaltspflicht ergibt sich aus einer Kosten/NutzenAbwägung, insbesondere der Kosten potenzieller Sorgfaltsmaßnahmen, der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts und des Umfangs eines dann entstehenden Schadens. Auch bei der Gefährdungshaftung wird der Schädiger nur so lange Maßnahmen treffen, wie sie geringer sind als der zu erwartende Schaden. In beiden Fällen muss durch die Gerichte eine Kontrolle des Verhaltens des Schädigers (bei Verschuldenshaftung) und zusätzlich des Opfers (Gefährdungshaftung) durchgeführt werden, um die Einhaltung des effizientesten Maßstabes zu gewährleisten. Das deutsche Deliktsrecht sieht im Zusammenhang des § 823 BGB eine Verschuldenshaftung kombiniert mit der Mitverschuldensklausel des § 254 BGB vor. ZIVILRECHT b) Das Ziel des optimalen Aktivitätsniveaus Zu berücksichtigen ist neben dem Sorgfaltsmaßstab auch das Aktivitätsniveau. Selbst wenn beispielsweise ein LKWFahrer immer die bestmögliche Sorgfalt anwendet, steigt mit jedem gefahrenen Kilometer die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls an. Bei allen Wohlfahrtsüberlegungen muss daher auch das optimale Aktivitätsniveau berücksichtigt werden. Da auch das Aktivitätsniveau dem Kaldor-HicksKriterium genügen soll, ist das optimale Aktivitätsniveau dann erreicht, wenn die Tätigkeit möglichst viel Nutzen im Verhältnis zu ihren potenziellen Kosten bringt. Das heißt, das Aktivitätsniveau einer schädigenden Aktivität soll – optimale Sorgfalt unterstellt – nur so lange ausgedehnt werden, wie der dadurch verursachte zusätzliche Nutzen gerade gleich dem zusätzlich zu erwartenden Schaden ist (Marginalbedingung für das optimale Aktivitätsniveau).26 Zu berücksichtigen sind bei dieser Überlegung und vor allem bei ihren Auswirkungen hinsichtlich der Gestaltung der Rechtsordnung zwei Punkte: Erstens kann nicht in jedem Fall das Aktivitätsniveau in seinem Umfang beeinflusst werden und zweitens gibt es wiederum Fälle, in denen sowohl der Schädiger als auch der Geschädigte Einfluss auf das Aktivitätsniveau haben. An dieser Stelle stößt man allerdings im Ausgangsfall auf ein Problem: Die schädigende Aktivität müsste nach dem Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit das Unterlassen der Gemeinde sein, die Straße in einem befahrbaren Zustand zu erhalten. Bei Unterlassen kann man aber schon rein logisch kein Aktivitätsniveau einhalten. Bezieht man sich auf das eigentlich notwendige Sorgfaltsniveau, nähert man sich zu stark dem verlangten Sorgfaltsniveau an, sodass eine Unterscheidung zwischen Sorgfalts- und Aktivitätsniveau nicht sinnvoll wäre. Alternativ wäre es möglich, das Autofahren des A als schädigende Handlung einzuordnen. Dies führte dann aber dazu, dass folgerichtig lediglich ein Mitverschulden der Gemeinde zu prüfen wäre. Hier überzeugt der Maßstab des optimalen Aktivitätsniveaus nicht. c) Das Ziel der Gewährleistung des positiven Nettonutzens Neben der Gewährleistung des optimalen Sorgfalts- und Aktivitätsniveaus soll das Schadensrecht auch so gestaltet sein, dass in jedem Fall ein positiver Nettonutzen verbleibt.27 Dies ist dann der Fall, wenn der Nutzen der gefährlichen Aktivität abzüglich der vom Schädiger (und ggf. vom Geschädigten) aufgewandten Sorgfaltsmaßnahmen und des noch entstehenden erwarteten Schadens größer als Null bleibt. Ist dies nicht der Fall, kann die Aktivität nicht effizient sein, denn sie kostet in jedem Fall mehr als sie nutzt und verringert damit die Wohlfahrt. Im Ausgangsfall ist davon auszugehen, dass grundsätzlich die Fortbewegung mit einem Auto erhebliche Vorteile mit sich bringt und entsprechend auch ein positiver Nettonutzen, 25 Adams, Ökonomische Analyse der Gefährdungs- und Verschuldenshaftung, 1985, S. 77; Cooter/Ulen (Fn. 19), S. 211 f.; Shavell, The Journal of Legal Studies 1980, 2 (6 ff.). 26 Schäfer/Ott (Fn. 20), S. 156 ff. Finsinger/Randow, in: Ökonomische Probleme des Zivilrechts, 1991, S. 87. 27 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 13 AUFSÄTZE Lea Larissa Faltmann auch gemessen an der Wahrscheinlichkeit eines Schadens und des Umfangs desselben, verbleibt. 2. Sekundäre Kosten – Effiziente Risikoverteilung und Versicherungsschutz Versicherungen dienen der Streuung von Schäden, denn jeder Versicherungsnehmer trägt nur einen kleinen Betrag, die Versicherungsprämie, der demjenigen ausgezahlt wird, bei dem ein Schaden tatsächlich entsteht. Auch Versicherungslösungen können zur Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrt beitragen, sofern sie effizient sind. Versicherungen sind aber nur effizient, wenn die Marktteilnehmer bereit sind, bei voller Kenntnis aller Risiken zur Versicherung eines nur wahrscheinlichen, nicht aber sicheren in der Zukunft eintretenden Schadens, Versicherungsprämien zu bezahlen, die den später eintretenden Schaden mindestens decken können (inkl. der Verwaltungskosten der Versicherung).28 Wenn die Schäden nicht gedeckt werden können, laufen Versicherungen ins Leere und erhöhen letztlich die Kosten, was zu einer Verringerung der Wohlfahrt führt. Zudem kann eine Versicherung nur dann effizient sein, wenn, neben der Deckung des zu erwartenden Schadens, auch die Prämie, die ja eine Bindung des Einkommens des Versicherungsnehmers bedeutet und ihm die Summe daher nicht mehr zur Verfügung steht, für ihn mehr Nutzen bedeutet, als wenn er selbst die durch erwartete Schäden einstehenden Einbußen selbst zu tragen hat. Liegen diese beiden Voraussetzungen nicht vor, wird auch die Versicherung nicht über den Markt zustande kommen. Dies muss, um das Ziel der Wohlfahrtssteigerung zu erreichen, sowohl bei freiwilligen Versicherungen als auch bei verpflichtenden Versicherungen gewährleistet sein.29 Teilweise wird allerdings von einer Problemlösung über den Markt, also mittels einer Verschuldens- oder Gefährdungshaftung auch ganz abgewichen und stattdessen mit einer verwaltungsrechtlichen Lösung substituiert. Dies ist insbesondere bei der Sozialversicherung der Fall, wird hier aber nicht weiter ausgeführt.30 Vorliegend werden die versicherungsbezogenen Fragen mangels ausreichender Informationen nicht beleuchtet. 3. Tertiäre Kosten Bei jedem Ausgleichsvorgang, bei dem der Geschädigte einen Ausgleichsanspruch gegen den Schädiger erhält, entstehen Kosten z.B. zum Zwecke der Rechtsdurchsetzung und aufgrund anderer, administrativer Begleiterscheinungen. 28 M.w.N. Arrow, American Economic Revue 1963, 941; Becker/Ehrlich, Journal of Political Economy 1972, 623. 29 Siehe u.a. gesetzlicher Versicherungszwang für Kernkraftwerksbetreiber (§ 19 UmwelthaftungsG), Rechtsanwälte (§ 51 BRAO), Wirtschaftsprüfer (§ 54 WirtschaftsprüferO). 30 Es handelt sich vor allem um eine Reaktion auf den im Rahmen der Sozialen Frage entscheidenden, in den 1880er Jahren aber noch nicht zur Verfügung stehenden funktionierenden Haftpflichtversicherungsmarkt, der den Arbeitgebern die Versicherbarkeit möglicher Betriebsunfälle etc. erlaubt hätte. Diese Ressourcen gehen dann im Ergebnis für alternative Zwecke verloren, die sozial günstiger gewesen wären. Solche Kosten begründen, dass es für eine Schadensverlagerung vom Geschädigten auf dem Schädiger, also eine Abweichung vom Grundsatz, dass der Geschädigte seinen Schaden selbst zu tragen hat, eines „besonderen Grundes“ bedarf. Völlig eliminieren könnte man diese Kosten nur, indem jeder Geschädigte den ihm entstandenen Schaden selbst tragen muss. 4. Schadenszurechnung Haftungsregeln bestimmen, wann ein Schädiger für von ihm verursachte Schäden haften muss. Daher bedarf es in jedem Fall der genauen Ausgestaltung des Schutzbereiches, sowie der Feststellung der haftungsbegründenden Kausalität. Im Fall der Verschuldenshaftung tritt noch das Erfordernis einer Pflichtverletzung hinzu, während die Gefährdungshaftung an die Realisierung eines dem Schädiger zugewiesenen Risikos anknüpft. Zusätzlich ist noch die schadensausfüllende Kausalität zu beachten. Die Ausgestaltung der Zurechenbarkeitskriterien bzw. ihre Anwendung im Einzelfall sollte ebenfalls dem Effizienzkriterium entsprechen. Hier ist also hinsichtlich des Ausgangsfalls die Frage, wer den entstandenen Schaden zu tragen hat. Das kann entweder das Land NRW sein oder der A. Die Rechtsordnung hat grundsätzlich die Pflicht zur Instandhaltung der Straßen dem Land NRW zugewiesen. Es kann allerdings, unter Berücksichtigung der vorhergehenden Ausführungen, nicht effizient sein, alle irgendwie zugänglichen Straßen und Wege in NRW täglich zu überprüfen und unmittelbar kleinere Unebenheiten im Asphalt zu beseitigen. Damit würden extrem hohe Kosten einhergehen und es bestünde dennoch weiterhin die Möglichkeit, dass ein Schaden durch noch nicht entdeckte Beschädigungen der Straßendecke entstünde. Zwar ist die beschädigte Straße ein Grund für den Schaden und damit kausal nach der conditio sine qua non Formel, aber der A scheint sich nach den Gesamtumständen in einer deutlich besseren Position befunden zu haben, den Schaden durch die Wahl einer anderen Route zu verhindern. Insofern ist der Schaden der Gemeinde nicht zurechenbar, sofern man nicht schon eine Haftung in Ermangelung einer Pflichtverletzung ablehnt. 5. Zusammenfassung der Erkenntnisse Im Ergebnis soll eine effiziente Ausgestaltung der Haftungsregeln eine Verringerung der primären, sekundären und tertiären Kosten erreichen. Dabei dürfen die Kostenfaktoren nicht einzeln betrachtet werden, sondern ihr Zusammenhang muss berücksichtigt werden. So müsste bei einem idealen Niveau der tertiären Kosten, der Geschädigte ineffizient hohe Summen für Sorgfaltsmaßnahmen aufwenden, was auch zu einem nicht effizienten Gesamtergebnis führte. Sekundäre Kosten könnten durch eine allgemeine Volksversicherung ausgeschlossen werden; dies führte aber zu einem Wegfall von Sorgfaltsanreizen und kann schon deshalb nicht effizient sein. Zuletzt könnte die Reduktion primärer Schäden durch den Ersatz aller Schäden, unabhängig von Zurechnungsfragen erreicht werden. Folge wäre eine ausufernde und völlig ungleiche potenzielle Haftbarkeit, was auch dazu führte, dass Private gar nicht mehr für die von ihnen im weitesten Sinne _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 14 Schadenersatz im Deliktsrecht aus Rechtsökonomischer Perspektive verursachten Schäden aufkommen könnten und die Versicherbarkeit mit sehr hohen Kosten verbunden wäre. Daher muss gewährleistet sein, dass Sorgfaltsniveaus der Beteiligten, Aktivitätsniveau, der positive Nettonutzen, Zurechenbarkeitskriterien, Risikostreuungsmechanismen und administrative Kosten bei der Normgestaltung und im konkreten Fall Berücksichtigung finden. Ergebnis wäre in Anwendung dieser Grundsätze auf den Ausgangsfall, dass die Gemeinde X, wie erläutert, nicht für den Schaden des A haften muss. IV. Kritik Zwar wird kaum ein Absolutheitsanspruch der rechtsökonomischen Erkenntnisse geltend gemacht, aber dennoch wurde und wird der Ansatz der ökonomischen Analyse stark kritisiert. Im Folgenden werden insbesondere die Präventivfunktion im Zivilrecht, Informationsprobleme, beschränkte Rationalität der Marktteilnehmer und am Rande verfassungsmäßige Einwände dargestellt und ausgewertet. 1. Präventivfunktion des Schadenersatzes Die Rechtsökonomik geht davon aus, dass das Schadensrecht vor allem der Prävention schädigenden Verhaltens dienen soll. Es ist daher zu fragen, ob dieser Präventionsgedanke so vom BGB auch vorgesehen ist und, falls nicht, ob dem Schadensrecht nicht eine Präventionsfunktion zukommen sollte. a) Zugrundeliegende Präventionsfunktion der §§ 249 ff. BGB Richtigerweise macht das BGB zum Zweck der Ziele, die mit der Gewährung von Schadenersatzansprüchen verfolgt werden, keine ausdrücklichen Aussagen. Allerdings lässt sich an einigen Stellen, wie schon in § 249 Abs. 1 BGB, erkennen, dass der Schadenersatz grundsätzlich so weit reichen soll, dass der Zustand hergestellt wird, der ohne das schädigende Ereignis bestanden hätte (Restitution). Das Gesetz geht also zumindest von einer Ausgleichsfunktion des Schadenersatzes aus. Das Schadensrecht knüpft dort an, wo bereits ein Schaden entstanden ist, d.h. es zu einem entsprechenden Nutzenverlust gekommen ist. Da der Schaden nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, kommt allenfalls eine Verlagerung des Schadens in Betracht. Der Nutzenverlust wird auf den Schadenersatzpflichtigen verlagert, sodass es nur zu einer Umverteilung von Schäden bzw. des Nutzenverlustes kommt. Dass das Gesetz selbst positiv den Umfang des Schadenersatzes am Ausgleich des erlittenen Schadens bemisst, lässt keine absoluten Aussagen über die Funktion des Schadenersatzes zu. Vor allem im Zusammenhang mit dem Deliktsrecht bedarf es der Berücksichtigung weiterer Funktionen, denn die entscheidende Frage ist, ob überhaupt ein entstandener Schaden ersetzt werden soll. Dies erfolgt durch die Bestimmung der Voraussetzungen, unter denen Schadenersatz zu leisten ist31. Daher sind auch die Abgrenzung von Handlungsspielräumen und Freiheitsbereichen, die Steuerung des Regresses kollektiver Schadensträger und distributive Überlegungen zu 31 Kötz/Wagner, Deliktsrecht, 12. Aufl. 2013, S. 29. ZIVILRECHT berücksichtigen. Ob auch der Präventionsgedanke in diese Aufzählung aufzunehmen ist, ist umstritten. Einige Stimmen verweisen darauf, dass der Präventionsgedanke vielmehr dem Straf- als dem Zivilrecht zuzuordnen sei und deshalb die Rechtsökonomik mit ihrer starken Ausrichtung an einer lenkenden Funktion von Normen nicht mit den Grundsatzentscheidungen des BGB vereinbar sei. Andere gestehen dem Präventionsgedanken zu, zumindest ein „erwünschtes Nebenprodukt“32 des Schadensrechts zu sein, nicht aber eine seiner Hauptfunktionen. Einigkeit besteht wohl dahingehend, dass Unfälle grundsätzlich von der Rechtsordnung unerwünscht sind. Allein das deutet schon darauf hin, dass mit der Ausgestaltung von Haftungsregeln auch diesem Gedanken Rechnung getragen wird. Sofern man aber trotzdem mit der Ansicht sympathisiert, der Präventionsgedanke sei dem Strafrecht, nicht aber dem Zivilrecht zuzuordnen, muss man sich wohl vor allem eines fragen: Wieso wurde das Haftungsrecht (hinsichtlich Unfällen) nicht längst durch ein Versicherungssystem ersetzt? Kommt es nur auf eine Schadensverlagerung an, verursacht der Ausgleich durch den Schädiger vor allem Umverteilungskosten, insbesondere auch aufgrund notwendiger Rechtsdurchsetzung und der Anwendung komplexer Regeln, die unproblematisch durch den Abschluss von Eigenversicherungen umgangen werden könnten. Vor diesem Hintergrund hätte seit Einführung des BGB das Versicherungsrecht erstarken und das Haftungsrecht zurückgedrängt werden müssen, was aber bisher nicht zu erkennen ist. Dies ist nur zu erklären, wenn man die Ausgleichsfunktion nicht zu einseitig betont. Daher kann schon das BGB nicht nur die Ausgleichsfunktion bezwecken. Zudem erklärt auch die Rechtsprechung vor allem im Zusammenhang mit dem Schutz des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts bereits jetzt verstärkt die Höhe des Schadenersatzes mit der Präventivfunktion, die damit einhergehe, weil andere wirksame Sanktionen fehlten und geringere Summen für große Verlagshäuser mit hohen Auflagen zu einem Inkaufnehmen der Prozesse führten.33 b) Einbeziehung des Präventionsgedankens in das Schadensrecht Unabhängig davon, ob man die zentrale Rolle der Präventivfunktion bereits im Schadensrecht verankert sieht oder nicht, geht es nach dem rechtsökonomischen Verständnis gerade um die effiziente Ausgestaltung von Rechtsnormen, d.h. die Beurteilung, wie eine wünschenswerte Entwicklung auszusehen hat, und nicht den Nachweis, dass sich die Rechtsordnung bereits an ihren Grundsätzen orientiert. Es stellt sich daher die Frage, ob es nicht jedenfalls geboten ist, die Präventivfunktion stärker zu betonen. 32 Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. 1, 14. Aufl. 1987, § 27 I. 33 BGHZ 26, 349 (Herrenreiter); BGHZ 35, 363 (Ginseng); BGH NJW 1995, 861; BGH NJW 1996, 984; BGH NJW 2005, 215; Hans. OLG Hamburg NJW 1996, 2870; OLG Hamburg OLGR 2001, 139 (Caroline von Monaco). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 15 AUFSÄTZE Lea Larissa Faltmann Das ist insbesondere dann der Fall, wenn der Grundgedanke der Prävention, dass die Marktteilnehmer auf wirtschaftliche Anreize reagieren, belegt werden kann. Es erscheint wenig einleuchtend, wenn der Gesetzgeber, obwohl Schadenseintritt und -umfang vermindert werden könnten, sich dennoch aus dogmatischen Gesichtspunkten gegen eine solche Möglichkeit der Wohlfahrtssteigerung entscheiden würde. Dogmatische Überlegungen können einer real bestehenden Möglichkeit der Schadenseindämmung vernünftigerweise nicht vorgehen. Dass die Rechtssubjekte auf vom Gesetz vorgegebene Anreize reagieren, setzt die Rechtsordnung selbst voraus. Viele, gerade als lenkend vorgesehene Maßnahmen z.B. Subventionen, wären sinnlos, wenn der Gesetzgeber davon ausginge, dass die Bevölkerung aufgrund solcher Anreize nicht ihr Verhalten entsprechend anpasste. Insofern spricht also schon das grundsätzliche Verständnis der Rechtsordnung selbst von den Rechtssubjekten nicht gegen eine Präventivfunktion des Schadensrechts, die ja vor allem darin besteht, dass das Individuum selbst Kosten und Nutzen abwägt und der Abwägung entsprechend handelt. Zudem zeigen Studien, die sich mit den Auswirkungen der Änderung von Haftungsregimes beschäftigt haben, dass Marktteilnehmer sehr wohl auf normative Anpassungen reagieren. So wurde gezeigt, dass die Einführung von hohen Beitragszuschlägen und Rückerstattungen durch die Berufsgenossenschaft in der Zuckerindustrie zu einem Rückgang der Unfälle von einem Drittel führte.34 Der Übergang von Verschuldenshaftung zu einem no fault System, also einem reinen Versicherungssystem für Autounfälle, führte in Quebec zu einer erheblichen Zunahme von tödlichen Unfällen.35 Dies zeigt sehr deutlich, wie Änderungen des Haftungsregimes tatsächlich das Verhalten der Marktteilnehmer beeinflussen: Der Wegfall von Anreizen zur Vornahme von Vorsichtsmaßnahmen wurde durch die Einführung des verschuldensunabhängigen Versicherungssystems erzeugt, was zu einer stärkeren Belastung der Allgemeinheit, also Wohlfahrtseinbußen führte. Vor diesem Hintergrund ist es nicht überzeugend, sich aus dogmatischen Gründen gegen den Präventionsgedanken zu stellen. Sofern man diesen nicht schon dem BGB inhärent entnehmen kann, wäre es zumindest geboten, sich die bestehende lenkende Funktion von Rechtsnormen im Schadensrecht zu Nutzen zu machen. Insbesondere gilt dies in Fällen, in denen Schutzlücken der §§ 249 ff. BGB bestehen, weil bestimmte Schäden nicht erfasst sind, wodurch die Aus34 Vgl. Kötz/Schäfer, International Review of Law and Economics 1993, 19 (31). 35 Nach dieser Untersuchung führte der Übergang zum „no fault system“ in Quebec zur Erhöhung tödlicher Unfälle um 9,62 %. Das entspricht jährlich 149 Toten. Die jährliche Zahl der Verletzten nahm um 4.292 und die Zahl der Unfälle mit Sachschaden um 7.456 als Folge der reinen Versicherungslösung zu, Devlin, International Review of Law and Economics 1990, 193 (201); umfassend McEwin, No-fault compensation systems, abrufbar unter: http://encyclo.findlaw.com/3600book.pdf (23.1.2017). gleichsfunktion leerläuft. Hier sollte ein stärkerer Fokus auf die Präventionsfunktion gelegt werden. Ein Beispiel dafür sind Verletzungen des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts, so man allein mit der Ausgleichsfunktion dem Schaden keine Rechnung tragen kann.36 2. Informationsprobleme Vor allem bei der Verschuldenshaftung müssen die Richter, um die Einhaltung des vorgesehenen Verschuldensmaßstabes zu überprüfen, in der Lage sein, die Höhe der Kosten der notwendigen Sorgfaltsmaßnahmen sowie die Wahrscheinlichkeit und den genauen Umfang des eingetretenen Schadens zu bestimmen. Das setzt die Kenntnis der Gerichte voraus. Deshalb wird kritisiert, die benötigten „harten Zahlen“ seien von den Gerichten nicht bestimmbar. Zwar gibt es solche Informationsprobleme unstrittigerweise. Allerdings bestehen Probleme der Schadensberechnung auch unabhängig von der rechtsökonomischen Analyse, insbesondere im Bereich immaterieller Schäden oder bei Schattenpreisen, wenn entstandene Schäden nicht geltend gemacht und dann auch nicht berücksichtigt werden. Zudem kommt es, wie schon Learned Hand festgestellt hat, gar nicht auf quantitative Exaktheit an, sondern vielmehr darauf, ob im konkreten Fall das schadensträchtige Verhalten das erforderliche Sorgfaltsniveau unter- oder überschritten hat, also auf ein qualitatives Urteil. Das heißt, in der Praxis wird zunächst bestimmt, welche Sorgfaltsmaßnahmen den eingetretenen Schaden hätte verhindern und anschließend überprüft, ob diese dem Schädiger unter Kosten/Nutzen-Gesichtspunkten zumutbar gewesen wären. Insofern unterscheidet sich auch die gängige Rechtspraxis mit ihren Interessenabwägungen gar nicht vom vorgeschlagenen Modell der Rechtsökonomik, sondern ist in ihrem Kern faktisch eine reichtumsmaximierende Effizienzethik.37 3. Beschränkte Rationalität Grundvoraussetzung der Rechtsökonomik ist die Annahme eines homo oeconomicus, als einem rationalen und egoistischen Nutzenmaximierer. Diese Modellannahme wird stark kritisiert, stimmt sie doch offensichtlich nicht umfassend mit der Realität überein. Allerdings ist es inhärent in einer Modellannahme, dass sie nicht die Realität in ihren Einzelheiten spiegelt. Viele Individuen werden auch nicht bewusst innehalten und eine Kosten/Nutzen-Rechnung durchführen, aber wissen intuitiv, wie sie sich zu verhalten haben.38 Die Kritik, dass nicht jedem Marktteilnehmer alle für ihn relevanten Information zur Verfügung stehen, ist zwar berechtigt, aber für ein Modell muss 36 Wagner, AcP 206 (2006), 352. Ott, Allokationseffizienz in der Rechtsordnung, 1989, S. 25 ff.; Kübler, in: Festschrift für Ernst Steindorff zum 70. Geburtstag am 13. März 1990, 1990, S. 687. 38 „Rationality does not, however, imply that the agent is conscious of the choices“, Schäfer/Ott, The Economic Analysis of Civil Law, 2005, S. 52. 37 _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 16 Schadenersatz im Deliktsrecht aus Rechtsökonomischer Perspektive eine Annäherung an die Realität ausreichen, also dass sie im „Großen und Ganzen“ stimmt.39 Allerdings haben zahlreiche Experimente Ungereimtheiten aufgezeigt. Beispielsweise wurden sogenannte Heuristiken festgestellt, wonach das Subjekt sich unter Zeitdruck an ihm leicht zugänglichen Informationen und stark vereinfachten Entscheidungsregeln orientiert, was dazu führen kann, dass ein Individuum sich irrt. Insbesondere relevant für das Deliktsrecht ist der systematische Überoptimismus des Einzelnen, d.h. Individuen überschätzen ihre eigenen Fähigkeiten und ihr Gefahrensteuerungspotenzial, während sie den Eintritt relativ unwahrscheinlicher Szenarien unterschätzen. Nachteile werden immer im Zusammenhang des status quo bewertet (framing). Diese Probleme legen nahe, dass es die rechtsökonomischen Überlegungen zwar nicht systemfremd sind, aber ihre grundsätzliche Voraussetzung, das Verständnis der rationalen Marktteilnehmer, nicht mit der Realität übereinstimmt, und das sogar außerhalb des Informationsdefizits des Einzelnen.40 Allerdings sollten diese Überlegungen nicht zu einer Ablehnung der rechtsökonomischen Sichtweise führen. Eine Rechtsordnung muss zwangsläufig davon ausgehen, dass sich Individuen rational verhalten.41 Wäre dies nicht der Fall und würden sich Individuen systematisch irrational verhalten, wäre schon der Versuch, überhaupt Verhalten mit Rechtsnormen zu beeinflussen, verfehlt. Nur weil eine Modellannahme nicht ideal erfüllt ist, bedeutet dies nicht, dass sie nicht dennoch gegenüber anderen Ansichten die vorzugswürdige ist, weil sie trotz gewisser Einschränkungen letztlich zu besseren Ergebnissen führt. Deshalb sollte langfristig versucht werden, die Ungereimtheiten in das Modell einzuflechten, aber es auf dem derzeitigen Stand dennoch zu übernehmen und den Effizienzgedanken bei der Rechtsnormgestaltung und der gerichtlichen Beurteilung im Einzelfall aufzunehmen. 4. Verfassungsrechtliche Einwände Teilweise wird kritisiert, dass der homo oeconomicus mit seinem rein rationalen und nach Kosten-Nutzen-Rechnungen ausgerichteten Verhalten „nicht der Mensch eines verfassungsgestalteten Privatrechts in einer Gesellschaft der Grundrechtsdemokratie“42 sei. Dies spielt darauf an, dass eine Sanktion lediglich als Erhöhung der Kosten einer Handlungsalternative erkannt wird, es aber sein kann, dass ein verbotenes Verhalten sich als die günstigste Alternative erweist und sich als mit den größeren Vorteilen verbunden herausstellt als ein Festhalten an der Rechtsordnung. Eine solche Analyse mit einer Missachtung der Rechtsordnung als effizienteste 39 Vgl. Tietzel, in: Jahrbuch für Sozialwissenschaft, Bd. 32, 1989, S. 115. 40 Im Einzelnen Faure, Behavioural Accident Law and Economics, 2009, abrufbar unter: https://www.researchgate.net/publication/43439118_Behavio ural_Accident_Law_and_Economics (23.1.2017). 41 So beispielsweise im Fall von Subventionen, im Steuerrecht oder im Strafrecht. 42 Fezer, JZ 1986, 817 (822). ZIVILRECHT Lösung, könne nicht in Einklang mit dem Grundgesetz gebracht werden. Bei dieser Kritik wird allerdings übersehen, dass sich der Modellmensch keineswegs so verhalten soll, dass er gegen die geltenden Normen verstößt. Es handelt sich bei der Analyse um eine reine positive Bestimmung des tatsächlichen Verhaltens der Menschen, nicht jedoch des „Sollens“. Ein solches Verständnis beruht insbesondere auch auf der Vorstellung, dass die ökonomische Analyse des Rechts immaterielle Güter nicht ernst genug nähme. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: Es müssen nämlich auch immaterielle Güter in eine umfassende Kosten/Nutzen-Überlegung eingeschlossen werden. Dies führt, abgesehen vom Problem der Bemessung, die in jedem Fall bestünden, dazu, dass immaterielle Güter viel stärker berücksichtigt werden und es beispielsweise auch zu höheren Schmerzensgeldbeträgen kommt. Daher kommt es, entgegen der Behauptung der Kritiker, eher zu einer Stärkung dieser Rechtsgüter, nicht zu deren Vernachlässigung. Zudem sind auch im ökonomischen Verständnis Abwägungsverbote akzeptiert. Dies betrifft vor allem Freiheitsrechte, unter denen auch unveräußerliche Rechte sind. Sie sind nicht mit den Grundrechten des GG identisch, aber greifen die darin garantierten Rechte auf. Es erfolgt eine Abstufung zwischen Rechten, in die eingegriffen werden kann, ohne andere zu schädigen, bis hin zu solchen wie der Menschenwürde, die unveräußerlich sind und auf die entsprechend auch das Kaldor-Hicks-Kriterium nicht anwendbar ist.43 Insofern kann die plakative Kritik der Unvereinbarkeit mit den Werten des GG nicht überzeugen. Ein durchaus valides Argument ist allerdings ein mit der Rechtsökonomik grundsätzlich einhergehendes Gewaltenteilungsproblem. Letztlich ist die Idee am common law und viel weiteren Befugnissen der Richter orientiert. Dieses Problem ist aber im Deliktsrecht beispielsweise hinsichtlich des Sorgfaltsmaßstabes, nicht sehr relevant, da die Beurteilungen sowieso stark einzelfallabhängigen erfolgen müssen und eher fallbasiert erfolgen. V. Ergebnis Die ökonomische Analyse des Deliktsrechts fordert eine Ausrichtung der Haftungsregeln sowie der Umverteilungskosten und administrativen Kosten am Kriterium der Effizienz. In den vergangenen Jahren hat sich immer mehr eine Berücksichtigung ökonomischer Kriterien in den Entscheidungen sowie Gesetzesentwürfen gezeigt. Dennoch verdient die Rechtsökonomik eine noch stärkere, auch methodische Anerkennung, selbst wenn sie aufgrund gewisser Unsicherheiten des Modells durchaus kritisiert werden kann. Nicht festhalten sollte man an der Ansicht, das Zivilrecht dürfe keine Präventivfunktion verfolgen. Letztlich darf nicht eine insgesamt vorteilhafte Überlegung an nicht nachweisbaren dogmatischen Ansichten scheitern. Im Ausgangsfall hat das LG Bonn eine Pflichtverletzung des Landes NRW abgelehnt. Richtigerweise wurde ausge43 Vgl. Seidl, in: Effiziente Verhaltenssteuerung und Kooperation im Zivilrecht, 1997, S. 1. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 17 AUFSÄTZE Lea Larissa Faltmann führt: „Er [der Verkehrssicherungspflichtige] schuldet also die Vorkehrungen, für die ein echtes Sicherungsbedürfnis besteht und die im Rahmen der berechtigten Sicherheitserwartungen des in Betracht kommenden Verkehrs im Rahmen des wirtschaftlich Zumutbaren geeignet sind, Gefahren von Verkehrsteilnehmern abzuwehren.“ Bei der Frage, ob das Land hätte die Fahrbahn kontrollieren und intakt halten müssen oder die Durchfahrt bereits in die Sphäre des achtlos passierenden Autofahrers fällt, hat das Gericht richtigerweise implizit genau nach den hier dargestellten ökonomischen Überlegungen entschieden. _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 18 Rechtsbehelfe von Umweltverbänden: Die Aufgabe des Individualrechtsschutzsystems in Deutschland? Von stud. rer. oec./stud. iur. Marvin Pötsch, LL.B, Hamburg/Essen* I. Einleitung Die zunehmende Europäisierung1 des deutschen Verwaltungsrechts ist ein facettenreiches Phänomen, das bereits mehrfach als unumstößlich geltende nationale Rechtsprinzipien aufgelöst hat.2 Das in dazu enger Konnexität stehende Verwaltungsprozessrecht kann sich diesem Einfluss auch im Rahmen der nachfolgenden Ausarbeitung nicht gänzlich entziehen. Der deutsche Verwaltungsrechtsschutz wird maßgeblich durch die verfassungsrechtliche Verankerung des Individualrechtsschutzes in Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG geprägt, er wird als ihre „zentrale Funktion“3 gesehen. Die folgende Ausarbeitung setzt das grundlegende Verständnis für das Verhältnis von Individualrechtsschutz und überindividuellem Rechtsschutz, wie auch dem Modell der Interessenten- und Verletztenklage, voraus. Gemäß § 42 Abs. 2 Hs. 2 VwGO erhält nur derjenige Zugang zu Gericht, der substantiiert geltend machen kann, durch den Verwaltungsakt oder seine Ablehnung oder Unterlassung in seinen Rechten verletzt (worden) zu sein.4 Die Subjektivierung des Verwaltungsrechtsschutzes richtet sich hierbei, der h.M. folgend, nach den engen Voraussetzungen der Schutznormlehre5, die zentraler Ausfluss und Ausdruck der deutschen Systementscheidung für den subjektiv-rechtlichen Individualrechtsschutz ist. Man hat sich in Deutschland demzufolge für das Modell der Verletztenklage entschieden. Eben diese Lehre zielt (auch) darauf ab, Klagen zu blockieren, die quivis ex populo erheben kann. Daneben eröffnet das Gesetz durch § 42 Abs. 2 Hs. 1 VwGO die originär verfahrensrechtliche Potenzialität, dem Einzelnen unter nachdrücklichem Verzicht auf ein möglicherweise verletztes subjektives öffentliches Recht Zugang zum Rechtsschutz zu verschaffen und dient insofern als verwaltungsprozessualer Anknüpfungspunkt für eine Verbandsklage. Von einigen gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben abgesehen, besteht aber keinerlei Verpflichtung, derartige Ausnahmen zuzulassen.6 Gerade im Bereich des Umweltrechts wurden die Grenzen des Rechtsschutzes offenbar, hier stoßen die unterschiedlichen Konzepte von verwaltungsgerichtlichem * Der Autor studiert Wirtschaftsrecht an der Hochschule Hamburg und Betriebswirtschaftslehre an der FOM Hochschule für Ökonomie und Management in Essen. Der Beitrag geht im Wesentlichen auf eine Arbeit zurück, die im Rahmen eines Seminars von Herrn Prof. Dr. Marc Röckinghausen (FHöV NRW) angefertigt wurde. 1 Vgl. Hölscheidt, EuR 2001, 376 (377). 2 Vgl. EuGH NVwZ 1990, 647; EuGH NVwZ 1998, 45; EuGH NuR 1998, 190. 3 Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, 72. Aufl. 2014, Art. 19 IV Rn. 8; Schenke, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 151. Aufl. 2012, Art. 19 IV Rn. 25. 4 Wahl, DVBl 1996, 641 (642). 5 BVerwG NJW 1996, 1297; BVerwG NJW 1994, 1604; BVerwG NVwZ 1989, 1157. 6 BVerwG NuR 1996, 523 (525). Rechtsschutz der Europäischen Union aufeinander. Viele Umweltschutznormen, die keine subjektiv öffentlichen Rechte enthielten, blieben in ihrer Durchsetzung der zu diesem Zwecke berufenen hoheitlichen Exekutiven überlassen.7 Dies führte zu der Annahme eines Vollzugsdefizits.8 Eine Verbandsklage ist geeignet, eine solche Lücke zu schließen, wenn und weil durch sie Umweltverbänden die Möglichkeit eröffnet wird, losgelöst von eigenen Rechten oder den Rechten von Verbandsmitgliedern, Verwaltungsentscheidungen anzugreifen, die unter Verstoß gegen objektives Umweltrecht ergangen sind.9 Umweltverbände haben im Verlaufe der letzten 2 Jahrzehnte erhebliche Ausweitungen ihrer Rechtsbehelfsmöglichkeiten erfahren. Man betrachte nur exemplarisch die (defizitäre) Rechtssituation 1988.10 II. Die Aarhus-Konvention Maßgeblichen Anteil11 an dieser Entwicklung hat die AarhusKonvention12, deren Unterzeichner neben der Europäischen Union selbst auch alle EU-Mitgliedsstaaten waren, es handelt sich wegen der inhaltlichen Berührung der Kompetenzbereiche sowohl von europäischer Union, als auch von Mitgliedsstaaten um ein gemischtes Übereinkommen. In Art. 9 Abs. 2 und Abs. 3 statuiert diese Konvention maßgebliche Anforderungen an den Zugang der Öffentlichkeit, einschließlich von Umweltverbänden, zu den Gerichten. Die europäische Union und all ihre Mitglieder hatten diese Konvention unterzeichnet. Die Richtlinien der EU zur Umsetzung dieser Konvention haben insbesondere den EuGH viele innerstaatliche Rechtsbestimmungen als ungenügend beurteilen lassen. Dies begründete vermehrte Gesetzesänderungen, um eine Adaption des deutschen Rechts an unionale und völkerrechtliche Vorgaben zu erreichen. Die folgende Ausarbeitung erfordert eine konzise Differenzierung des Abs. 2 und des Abs. 3 des Artikels 9 der AK. Diese ist jedoch nur begrenzt möglich: Auch wenn beide Absätze verschiedene Gegenstände behandeln und sowohl Unions- als auch Nationalebene unterschiedlich an die Absätze angepasst sind, ist es unstrittig, dass in gewissen Teilbereichen Kongruenz besteht. Es genügt dem Zwecke der weiteren Ausarbeitungen die allgemeine Aussage, dass sich Art. 9 Abs. 2 der AK den Rechtsbehelfen gegen Verwaltungsentscheidungen widmet, für die ein Verfahren 7 Wegener, ZUR 2011, 363 (364). Gellermann, DVBl 2013, 1341 (1342); Maske, NWVBl 2013, 232 (236). 9 Murswiek, JuS 2011, 1147 (1148). 10 VG Hamburg NVwZ 1988, 1058 – die auch als „Seehundein-der-Nordsee“ – Entscheidung bezeichnet wird. 11 Vgl. Maske, NWVBl 2013, 232 (233). 12 Übereinkommen über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten, unter http://www.unece.org/fileadmin/DAM/env/pp/documents/cep 43g.pdf (9.1.2017) abrufbar; im Folgenden kurz: AK. 8 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 19 AUFSÄTZE Marvin Pötsch mit Öffentlichkeitsbeteiligung vorgeschrieben ist, wohingegen Art. 9 Abs. 3 AK Rechtsbehelfe zum Gegenstand hat, die die Verletzung von innerstaatlichen Umweltvorschriften geltend machen. Art. 9 Abs. 3 AK zielt demnach gerade darauf, den Zugang zu einer Überprüfung der nicht von Art. 9 Abs. 2 AK erfassten Entscheidungen zu gewährleisten, sofern Bestimmungen des Umweltrechts verletzt werden (könnten).13 1. Art. 9 Abs. 2 der Aarhus-Konvention – seine Umsetzung durch das Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz Art. 9 Abs. 2 der AK gehört der 3. Säule der Konvention an, die den Zugang zu Rechtsschutzregelungen zur effektiven Durchsetzung regelt, reicht jedoch auch partiell in die 2. Säule hinein, die das Recht der Öffentlichkeit auf Beteiligung an behördlichen Verfahren bestimmt, es besteht insofern ein sachlicher Bezug. Vornehmlich geht es hierbei um Projekte, die der Pflicht einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterliegen. Auf unionsrechtlicher Ebene sind zwei Bereiche zu Umsetzung zu differenzieren. Zum einen die Seite der Rechtsbehelfe in den Mitgliedsstaaten, zum anderen die Seite der Rechtsbehelfe gegen Tätigkeiten von Organen der Europäischen Union, die aufgrund der Eigenschaft der AK als gemischtes Übereinkommen notwendig wurden. Zur Umsetzung der AK in den Mitgliedstaaten der EU wurde die sogenannte Öffentlichkeitsbeteiligungs-Richtlinie14 erlassen. Hierauf begründet wurden dann Vorschriften über den Zugang zu Gerichten in die IVU-Richtlinie15 und die UVPRichtlinie16 implementiert, deren Wortlaut dem der AarhusKonvention sehr ähnelt. Rechtsbehelfe gegen Handlungen der Organe auf unionsrechtlicher Ebene wurden in Art. 10 ff. der Verordnung (EG) Nr. 1367/2006 integriert. 2006 wurde in Deutschland das neben die Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) tretende Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz verabschiedet, damit sollte das deutsche Rechtssystem an die unionalen 13 Vgl. Schröer/Kullick, NZBau 2013, 690 (691). Richtlinie 2003/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.5.2003 über die Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Ausarbeitung bestimmter umweltbezogener Pläne und Programme und zur Änderung der Richtlinien 85/337/EWG und 96/61/EG des Rates in Bezug auf die Öffentlichkeitsbeteiligung und den Zugang zu Gerichten (ABl. EG 2003 Nr. L 156, S. 17). 15 Richtlinie 96/61/EG des Rates vom 24.9.1996 über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung (ABl. EG 1996 Nr. L 257, S. 26); heute als Industrieemmissionsrichtlinie bezeichnet und abgefasst in Richtlinie 2010/75/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24.11.2010 über Industrieemissionen (integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung – Neufassung) = ABl. EU 2012 Nr. L 26, S. 1. 16 Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27.6.1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABl. EWG 1985 Nr. L 175, S. 4048); jetzt in: Richtlinie 2011/92/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABl. EU 2012 Nr. L 26, S. 1). 14 Vorgaben aus der IVU17- und UVP-Richtlinie angepasst werden. Zum einen wurde die Zahl der Verbände, deren Klagemöglichkeiten erweitert werden sollten, erhöht. Zum anderen war eine viel größere Zahl von Behördenentscheidungen gerichtlich überprüfbar. Der Schwerpunkt dieses neuen Gesetzes galt der Herausbildung von Rechtsbehelfen für Umweltverbände. Die mit ähnlicher Intention und Wirkungsweise bereits 2002 geschaffene Norm des § 64 BNatSchG betraf aber nur sehr eng abgegrenzte Fälle, die enumerativ aufgeführt sind und war zur Adaption des deutschen Rechts an unionale Vorgaben in dem Gesamtbild seiner Erscheinung ungeeignet18. Das Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz ist in seiner originären Fassung aber ebenfalls in ganz grundlegenden Teilen unvereinbar mit unions- und völkerrechtlichen Vorgaben gewesen. Die chronologischen Anpassungen und deren Anlässe werden im Folgenden strukturiert dargestellt, dabei wird im Sinne eines Rechtsbehelfes in Zulässigkeit und Begründetheit segmentiert. a) Die Zulässigkeit von Umwelt-Rechtsbehelfen § 2 Abs. 1 UmwRG, der die Grundlage für die Zulässigkeit von einzulegenden Rechtsbehelfen eines Umweltverbandes bildet, knüpft an diverse Prämissen an. Nach der ursprünglichen Fassung des § 2 Abs. 1 UmwRG konnten Verbände nur Rechtsbehelfe gegen Verletzungen von „[Rechtsvorschriften, die] Rechte Einzelner begründen“ einlegen. Diese mit der Formulierung einhergehende Kategorisierung der Vereine in die Rolle eines „Prozessstandschafters“ für Privatpersonen wurde zunächst durch die Literatur scharf kritisiert.19 In einem gemäß Art. 267 AEUV vom OVG Münster dem EuGH vorgelegten Streitfall kam es zur entscheidenden Wendung: In seinem „Trianel-Urteil“20 sah der EuGH diese Formulierung21 als unionsrechtswidrig an.22 Diese Einengung in Form einer „Schutznormakzessorietät“23 verstößt nach seiner Auffassung gegen Unionsrecht, das auf das allgemeine, vom Individualrechtsgüterschutz gerade losgelöste Interesse am Umweltschutz zielt (indem eben eine Forderung auf weiten Gerichtszugang formuliert wird) und unter diesem Gesichtspunkt Umweltschutzvereinigungen unmittelbar24 eine rügefähige Rechtsposition vermittelt. Die deutsche Ausgestaltung war demzufolge mit dem „effet utile“25 Grundsatz unvereinbar.26 Durch das Gesetz zur Änderung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes wurde das Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz am 17 Vgl. Wahl, NVwZ 2000, 502 (508) – der im Übrigen eine systematische Erläuterung bietet. 18 Kment, NVwZ 2007, 274 (275). 19 Vgl. Ziekow, NVwZ 2007, 259 (260); Guckelberger, NuR 2008, 78; Kment, NVwZ 2007, 274 (277); Koch, NVwZ 2007, 380. 20 EuGH NJW 2011, 2779. 21 „[Rechtsvorschriften, die] Rechte Einzelner begründen“. 22 Meitz, NuR 2011, 420; Bunge, NuR 2011, 420. 23 Lau, NVwZ 2014, 637 (638). 24 Maske, NWVBl 2013, 232 (234). 25 Vgl. etwa Potacs, EuR 2009, 465 (466). 26 EuGH NJW 2011, 2779 (2781); BVerwG NVwZ 2012, 176 (177); Maske, NWVBl 2013, 232 (234). _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 20 Rechtsbehelfe von Umweltverbänden 21.1.2013 novelliert. Dabei entfiel die beanstandete Wendung.27 Simultan wurde dann aber ein neuer § 4a UmwRG eingefügt, der prozessuale Restriktionen, vornehmlich in Form von Begründungsdruck28, festlegte. Darüber hinaus wurden auch Normen des rein nationalen Ursprungs für klagefähig erklärt.29 Dies war in der Literatur, nicht zuletzt aufgrund einer Urteilsformulierung des EuGH, strittig.30 Zentraler Inhalt ist die 6 Wochen-Frist bei der Klagebegründung. Dies ist in der Literatur umstritten.31 Kritisiert wird auch die insofern trotz Novellierung beibehaltene Formulierung des § 2 Abs. 1 Nr. 1 UmwRG, der eine Begrenzung der Rügemöglichkeiten auf Normen, „die dem Umweltschutz dienen“, vornimmt.32 Sowohl in EU-Richtlinien, als auch in der AK findet sich keine derartige Formulierung. Insbesondere das BVerwG sieht diese Regelung aber im Einklang mit Unionsund völkerrechtlichen Vorgaben, da sowohl die AK als auch die Richtlinien das Ziel des Umweltschutzes haben und nicht eine Vollüberprüfung angefochtener Verwaltungsentscheidungen verlangen.33 Die Literatur sieht dies kritisch: Schon durch die Norm über den Anwendungsbereich des UmwRG in § 1 Abs. 1 UmwRG sei sichergestellt, dass Verbandsrechtsbehelfe nur gegen die dort aufgeführten Entscheidungen richten könne.34 Darüber hinaus sei die Begrenzung der Klagebefugnis in § 3 UmwRG als ausreichende Beschneidung anzusehen. Auch über die reine Zuständigkeitsregelung hinaus ist diese Formulierung zu kritisieren: Ein Verstoß gegen eine – jedenfalls primär – nicht umweltschützende Norm, kann ebenso die Umwelt beeinträchtigen wie ein anderer Verstoß gegen Umweltschutzvorschriften. Diese Diskussion ist aber von dem zeitlich nachgelagerten, jetzigen Zeitpunkt aus gesehen, nicht mehr notwendig. Die 5. Tagung der Aarhus Vertragsparteien hat 2014 bereits einstimmig festgestellt, dass die Vorgabe des § 2 Abs. 1 Nr. 1 UmwRG der Regelung des Art. 9 Abs. 2 AK widerspreche.35 Zwar wurde dies nur in Form einer Änderungsempfehlung geäußert, die Einstimmigkeit bedeutet aber eine unwiderlegbare Auslegung der AK, der sich die Bundesrepublik Deutschland als Vertragspartei nicht – ohne dem Vorwurf einer Vertragsverletzung ausgesetzt zu sein – widersetzen kann.36 De lege ferenda wäre daher eine Einbeziehung dieser Empfehlung im Bereich des Notwendigen. Die – für deutsche Rechtsverhältnis27 Vgl. Seibert, NVwZ 2013, 1040. Vgl. Schlacke, ZUR 2013, 195 (200). 29 Vgl. Schlacke, ZUR 2013, 195. 30 Wegener, ZUR 2011, 363 (365). 31 Schlacke, ZUR 2013, 195 (200). 32 Ziekow, NVwZ 2007, 259 (262) – der trotz zeitlicher Vorlagerung immer noch gültige Kritik äußert. 33 BVerwG NVwZ 2014, 515 (516); a.A. Berkemann, DVBl 2015, 389. 34 Bunge, NuR 2011, 611; Berkemann, NuR 2011, 785; a.A. Schink, DVBl 2012, 198. 35 Sauer, ZUR 2014, 195 (198) – der den vorhergehenden Ablauf schildert. 36 Vgl. BVerwG NVwZ 2014, 64 (66); Sauer, ZUR 2014, 195 (197) – die Ausführungen des BVerwG als ungewöhnlich herausstellend. ÖFFENTLICHES RECHT se – übliche37 Präklusionsvorschrift des § 2 Abs. 3 UmwRG war seit ihrer Einführung ebenfalls Ziel von Kritik, hier geht es vor allem um die Präklusionsfrist und die im Gegensatz zu Privaten hohen Substantiierungsanforderungen38 an Umweltverbände.39 Besonders deutlich wird die Existenzberechtigung dieser Kritik in einem Urteil vom 15.10.2009 des EuGH40, demnach Mitglieder der betroffenen Öffentlichkeit die Möglichkeit der Anfechtung einer staatlicherseits getroffenen Entscheidung haben müssen, unabhängig davon „welche Rolle sie in dem Verfahren über den Genehmigungsantrag vor dieser Stelle durch ihre Beteiligung an und ihre Äußerung in diesem Verfahren spielen konnten“. Teile der Literatur41 beschieden eine potenzielle Nutzung dieses Urteils des EuGH als Vehikel gegen die deutschen Präklusionsvorschriften mit nur geringen Erfolgsaussichten. Nach Urteilen des Bundesverwaltungsgerichtes ist die Präklusionsnorm § 2 Abs. 3 UmwRG aber unionsrechtskonform42, und dient auch der Herstellung von Rechtssicherheit43. Zwischenzeitlich hat sich jedenfalls in faktischer Hinsicht etwas getan: Durch ein von der europäischen Kommission eingeleitetes Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland – neben weiteren Normen wurde § 2 Abs. 3 UmwRG beanstandet – hat der EuGH diese Norm im Sinne der Kommission als unionsrechtswidrig betrachtet und insofern die Regelungen im Bereich der materiellen Präklusion im Anwendungsbereich der UVP- und IE-Richtlinie eindeutig verworfen.44 Im Vorfeld des Urteils war schon von einer möglichen Revolution die Rede.45 Eine solche ist aber – insbesondere mit Blick auf andere prozessrechtliche Normen – insgesamt ausgeblieben. Das Bundesverwaltungsgericht hielt der Europäischen Kommission ein falsches Verständnis der deutschen Rechtsregelungen vor.46 Der EuGH beanstandet, dass die Gründe, auf die ein Umweltverband seinen Rechtsbehelf stützen könne, durch die Präklusionsvorschrift beschränkt werde, was weder unionsrechtlich noch völkerrechtlich haltbar sei. Hier wird das deutsche System in einer Art Treppenaufbau betrachtet: Dem Erfordernis der Rechtssicherheit und der Effizienz von verwaltungsbehördlichen und gerichtlichen Verfahren seien die Klagefristen dienlich genug, eine weitere Stufe, wie sie die Präklusionsvorschrift darstellt, sei nicht erforderlich und wirke unnötig belastend. Insbesondere der Grundsatz der Rechtssicherheit könne zur Rechtfertigung nicht herangezogen werden, da „keineswegs erwiesen (sei), 28 37 Sauer, ZUR 2014, 195 (198). BVerwG NVwZ 2004, 861 (863). 39 BVerwG NVwZ 2012, 176 – in dem klar differenzierte Substantiierungsanforderungen herausgearbeitet werden. 40 EuGH NVwZ 2009, 1553 (1554). 41 Gatz, jurisPR 2010, Rn. D. 42 BVerwG NVwZ 2010, 1225; BVerwG NVwZ 2011, 364; BVerwG ZNER 2011, 460; BVerwG NVwZ 2012, 180. 43 BVerwG NVwZ 1997, 489; BVerfG NJW 1982, 2173 – mit für diese Arbeit unbeachtlichen Äußerungen zu der inzwischen außer Kraft getretenen Atomanlagen-Verordnung. 44 EuGH NVwZ 2015, 1665 (1671). 45 Fellenberg, NVwZ 2015, 1721. 46 BVerwG NuR 2014, 633 (638). 38 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 21 AUFSÄTZE Marvin Pötsch dass eine umfassende gerichtliche Kontrolle […] abträglich sein könnte“. Präklusionsregelungen als essentieller Bestandteil eines funktionsfähigen Rechtsschutzsystems sind nicht denkbar, andere EU-Mitgliedsstaaten kommen jedenfalls ohne eine materielle Präklusion aus.47 Als unmittelbare Folge des Urteils sind die Präklusionsvorschriften zunächst auf Anforderungen des unionsrechtlich determinierten Umweltrechts unanwendbar. De lege ferenda muss die Präklusionsvorschrift daher im Anwendungsbereich der UVP- und IERichtlinie entfallen, da sich deren Ziel, einen weitreichenden Gerichtszugang zu gewähren, ansonsten nicht erreichen lässt. Unbestreitbar besteht hier eine enge Konnexität zum § 2 Abs. 1 Nr. 3 UmwRG, der, auf der Zulässigkeitsseite eines möglichen Rechtsbehelfs wirkend, ebenfalls geändert werden müsste. Die Schlacht um die Präklusion ist jedenfalls verloren.48 b) Die Begründetheit von Umwelt-Rechtsbehelfen Die Rahmenbedingungen für die Begründetheit, wie sie sich aus § 2 Abs. 5 ergeben, weisen einen engen Zusammenhang mit denen der Zulässigkeit aus §§ 2 Abs. 1 Nr. 1, 2 UmwRG auf. Eindrucksvoll belegt das schon das „Trianel Urteil“, dessen Konsequenzen der deutsche Gesetzgeber, im Urteil zunächst nur bezogen auf die Zulässigkeit, dann auch sachlogisch auf die Begründetheit ausgedehnt hat. Eine ähnliche Wechselwirkung wird auch durch die bereits angesprochene Kritik an § 2 Abs. 1 Nr. 1 UmwRG deutlich: Wird die Passage der dem Umweltschutz dienenden Vorschriften wie von verschiedenen Seiten gefordert49 ersatzlos gestrichen, muss dies auch zugleich auf dieselbe Formulierung in § 2 Abs. 5 UmwRG wirken. Umstritten sind – und bleiben – darüber hinaus die Mängel bei Umweltverträglichkeitsprüfungen50. UVP-Recht galt lange Zeit als reines Verfahrensrecht und besaß dieserhalb ebenso lange keine maßgebliche Relevanz. Gemäß ständiger Rechtsprechung war die Umweltverträglichkeitsprüfung nur von Relevanz, wenn das Defizit bei der UVP zu einer anderen Behördenentscheidung geführt hat, als es bei korrekter Durchführung der Fall gewesen wäre. Insofern wurde eine Kausalität zwischen dem Verfahrensfehler und der Entscheidung hergestellt, die nicht rein abstrakttheoretischer Natur war: Es ging stets um die Betrachtung des Einzelfalles. Diese auf § 46 VwVfG basierende Argumentation konnte nach Inkrafttreten der unionsrechtlichen UVPRichtlinie nicht weiter aufrechterhalten werden. Die Anpassung des deutschen Rechtssystems und die zugleich erforderliche Implementation war maßgebliche Grundlage für § 4 UmwRG. Die zunächst beschlossene Form des § 4 UmwRG sollte einen Anspruch nur begründen, wenn wesentliche Verfahrensvorschriften verletzt sind und der Verfahrensfehler nicht geheilt werden kann. Die Position und die Bedeutung dieser Norm ist in der Literatur sehr umstritten51, bis heute 47 Die im frz. Rechtsgebiet anzutreffende „forclusion“ ist beispielsweise kein Äquivalent. 48 Otto, NVwZ 2016, 292. 49 Sauer, ZUR 2014, 195 (198). 50 Im folgenden kurz UVP. 51 Kment, NVwZ 2007, 274 (276). gibt es keinen Abschluss. Mit der bereits angesprochenen Novelle vom 21.1.2013 wurde ebendiese Norm ausgedehnt, sodass die Aufhebung der Entscheidung dann verlangt werden kann, wenn die Vorprüfung darüber hinaus nicht den Anforderungen des § 3a UVPG genügt. Insofern begründet § 4 Abs. 1 S. 1 UmwRG einen absoluten Verfahrensfehler.52 Der Umgang mit Verfahrensfehlern im Umweltrecht allgemein ist nicht unproblematisch53. Grundsätzlich kann nämlich im nationalen Rechtsgefüge – im Gegensatz zum Unionsrecht – kein subjektives (öffentliches) Recht aus einer Verfahrensvorschrift abgeleitet werden, was für Individualklagen essentiell ist.54 Es kann jedoch § 4 UmwRG mittlerweile auch für Individualklagen eine eigene Rechtsbehelfsbefugnis entnommen werden.55 Dies wirft abschließend die Frage auf, wie UVP-Fehler zu behandeln sind, die nicht explizit in § 4 Abs. 1 UmwRG genannt sind. Bis 2011 wurde nach Rechtsprechung des BVerwG der § 4 Abs. 1 UmwRG als abschließende Aufzählung gesehen, alle anderen Fehler wurden über § 46 VwVfG behandelt.56 In der Literatur wurden hier defizitäre57 Tendenzen gesehen. An diesem Punkt setzt das „Altrip“- Urteil58 an. Der Gerichtshof der EU sollte auf Bitte des BVerwG klarstellen, ob die gerade geschilderte Systematik aus Perspektive des Bundesverwaltungsgerichtes mit Unionsrecht, insbesondere mit dem Artikel 11 der UVP-Richtlinie vereinbar sei. Der Gerichtshof nahm dabei segmentiert Stellung, wobei nur ein Segment betrachtet wird, da die Rechtsnorm des § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO keinerlei Relevanz für den Bereich der Rechtsbehelfe von Umweltverbänden besitzt, die sich auf § 2 UmwRG stützen können (zumal die Unionsrechtswidrigkeit, wie sie der Generalanwalt sah, nicht gegeben sein kann: Art. 9 Abs. 2 AK lässt den Unterzeichnern die Wahl zwischen Interessentenklage- und Verletztenklagemodell59). Der EuGH judizierte, dass die Kausalität zwischen Fehler und abschließender Entscheidung in seinem Wesensgehalt nicht zu beanstanden sei.60 Zum einen solle aber § 4 Abs. 1 UmwRG nicht als abschließende Aufzählung betrachtet werden, dies gebiete schon die UVP-Richtlinie. Auch soll eine Form der Nachweislastumkehr stattfinden: Es sei nicht Aufgabe des Klägers, die Kausalität nachzuweisen, dies sei von Seiten des Gerichtes zu prüfen. Auch müsse das Gericht bei seiner Kausalitätsbeurteilung den Grad der Schwere des geltend gemachten Fehlers berücksichtigen. Diese Überlegung vermag indes nicht zu überzeugen. Die europäische 52 Held, NVwZ 2012, 465; Haug/Schadtle, NVwZ 2014, 275. Appel/Singer, JuS 2007, 913 (915). 54 Schmidt-Preuß, NVwZ 2005, 489 (494); Fellenberg, NVwZ 2015, 1721 (1723). 55 OVG Münster NuR 2015, 493 m.w.N; BT-Drs. 17/10957, S. 17; a.A. BVerwG NVwZ 2012, 573; Maske, NWVBl 2013, 232 (235); Schlacke, Überindividueller Rechtsschutz, 2008, S. 299 m.w.N. 56 VGH Mannheim NuR 2014, 875. 57 Kment, NVwZ 2007, 274 (277). 58 EuGH NJW 2014, 991. 59 EuGH (Generalanwalt), Schlussanträge v. 16.12.2010 – C196/09 = ZUR 2011, 79; Maske, NWVBl 2013, 232 (233). 60 Siegel, NJW 2014, 973 (975). 53 _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 22 Rechtsbehelfe von Umweltverbänden Kommission hatte jedoch mittlerweile ein Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH angestrengt, um die Anwendung des § 46 VwVfG, wie im Übrigen auch des hier nicht zu beachtenden § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO, zu beanstanden. Der Generalanwalt folgte der Kommission: Es gehe vor dem Hintergrund des Art. 11 der UVP-Richtlinie bei der Prüfung von Zulässigkeit und Begründetheit einer Klage eines Umweltverbandes nicht um die Kausalität von Verfahrensfehler und Verwaltungsentscheidung. Ausnahmsweise könne dies nur bei marginalen Fehlern angenommen werden, die das Recht auf Information und Beteiligung der Öffentlichkeit im Sinne der Richtlinie nicht beeinträchtigen. In seinem Urteil61 hat der EuGH dann dieser Ansicht folgend ausgeführt, dass die in § 4 Abs. 1 UmwRG konstruierte Beschränkung der Nichtanwendung von § 46 VwVfG auf das völlige Fehlen einer Umweltverträglichkeitsprüfung unionsrechtswidrig sei.62 § 46 VwVfG könne im Übrigen nur unionsrechtskonform ausgelegt werden, wenn der Kläger nicht beweisbelastet sei. ÖFFENTLICHES RECHT 2. Art. 9 Abs. 3 der Aarhus-Konvention Art. 9 Abs. 3 AK stellt ein Instrument mit weitem Anwendungsbereich dar: Jegliche Handlungen, Duldungen oder Unterlassungen von Privaten und Behörden, die eventuell umweltbezogene Bestimmungen beschneiden oder verletzen, können angefochten werden. Diese Norm dient maßgeblich dem Abbau des bereits genannten Vollzugdefizits63. Der gerichtlichen Kontrolle sollen hierbei auch Normen des rein objektiven Rechts unterliegen. Bislang ist Artikel 9 Abs. 3 AK weder auf nationaler noch auf unionaler64 Ebene umgesetzt worden. Es finden sich lediglich partielle Implementationen auf unionaler Ebene. Im nationalen Recht ist ein Ansatz lediglich in § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 UmwRG zu finden, der aus dem Umweltschadensgesetz gründet und der Umsetzung des Art. 13 der Richtlinie 2004/35/EG diente.65 Im strengen Gegensatz dazu hat der Gesetzgeber schon 2006 geäußert, dass die Vorgaben des Art. 9 Abs. 3 AK sowohl auf unionaler als auch auf nationaler Ebene hinreichend umgesetzt worden seien.66 Sowohl Bundesverwaltungsgericht67 als auch Literatur68 sind dieser Auffassung aber spätestens69 seit dem Urteil des EuGH im Fall des slowakischen Braunbären entgegengetreten. Der EuGH hat in seinem Braunbären Urteil judiziert, dass Art. 9 Abs. 3 der AK aufgrund des dort enthaltenen Ausgestaltungsvorbehaltes nicht unmittelbar wirke.70 Innerstaatliches Prozessrecht müsse aber rechtsschutzfreundlich ausgelegt werden (und zwar ausdrücklich mit Hinblick auf die Position des Art. 9 Abs. 3 AK)71, um den Umweltschutzorganisationen die Möglichkeit zu bieten, Entscheidungen am Ende eines Verwaltungsverfahrens, die möglicherweise im Widerspruch zum unionalen Umweltrecht stehen, anzufechten.72 Basierend auf diesem Urteil hat das Bundesverwaltungsgericht 2013 einem Umweltverband „prokuratorische Rechtsstellung“73 attestiert und eine Klagebefugnis auf Basis des § 42 Abs. 2 Hs. 2 VwGO (i.V.m. § 47 Abs. 1 BImSchG und § 27 der 39. Verordnung zur Durchführung des BImSchG) gestützt, dabei wurde § 3 UmwRG als „Transmissionsriemen“74 herangezogen.75 Eine Klagebefugnis ließ sich weder auf § 42 Abs. 2 Hs. 1 VwGO noch auf § 64 BNatSchG oder gar auf analoge Anwendung des UmwRG stützen, hierzu mangele es schon an einer Regelungslücke.76 Wird behördlicherseits eine auf unionales Recht zurückgehende Umweltschutzvorschrift nicht oder falsch angewendet, so könne sich eine Verbandsklage eben auf § 42 Abs. 2 Hs. 2 VwGO stützen.77 Problematisch ist, dass sich der Umweltverband auf das sog. Feinstaub-Urteil78 bezog und damit ein subjektives Recht auf Aufstellung oder Änderung eines Luftreinhalteplanes in der Rechtsposition des Umweltverbandes strahlte. Der Umweltverband, der die Aufnahme einer Umweltzone in den Luftreinhalteplan begehrte, stützte sich aber schwerpunktmäßig auf die objektive, gemeinwohlorientierte Schutzrichtung der Norm des § 47 Abs. 1 BImSchG. Dies lässt die Interpretation des § 42 Abs. 2 Hs. 2 VwGO durch das Bundesverwaltungsgericht verschwimmen, denn es wird nicht deutlich, ob generell die Stützung auf § 42 Abs. 2 Hs. 2 VwGO für eine gerichtliche Überprüfung rein objektiv-rechtlicher Umweltvorschriften ermöglicht werden soll.79 Ein anderer Senat des BVerwG ist der Ansicht, dass auch unter dem Gesichtspunkt des soeben angesprochenen Urteils nur drittschützende Normen beanstandet werden können, vollzieht insofern aber die Etappen des 7. Senates des Bundesverwaltungsgerichtes 61 70 EuGH NJW 2015, 3495. Fellenberg, NVwZ 2015, 1721 (1723). 63 Schrader/Hellenbroich, ZUR (2007), 294; Maske, NWVBl 2013, 232 (236). 64 Bunge, ZUR 2014, 3. 65 Schröer/Kullick, NZBau 2013, 690. 66 BT-Drs. 16/2497, S. 46. 67 Vgl. BVerwG NVwZ 2014, 64. 68 Sauer, ZUR 2014, 195 (201); Gärditz, NVwZ 2014, 6; Berkemann, DVBl, 2013, 1137 (1144); Gellermann, DVBl 2013, 1341 (1342); Schlacke, ZUR 2011, 312; a.A. mit Blick auf eine unzulässige richterliche Rechtsfortbildung Schink, DÖV 2012, 622 (627). 69 Eine mangelnde Umsetzungsverpflichtung vor dem „slowakischen Braunbären“ attestierend etwa: v. Danwitz, NVwZ 2004, 272 (276); Epiney, ZUR 2003, 176 (180); Seelig/ Gündling, NVwZ 2002, 1033 (1040). 62 EuGH ZUR 2011, 317; a.A.: VGH Kassel NVwZ 2012, 1056; VG München ZUR 2012, 699 – die eine direkte Anwendung des Art. 9 Abs. 3 AK befürworten. 71 Vgl. BVerwG NVwZ 2014, 64 (67). 72 Sauer, ZUR 2014, 195 (196). 73 Vgl. BVerwG NVwZ 2014, 64 (68); Schlacke, DVBl 2015, 929 (934); Lau, NVwZ 2014, 637 (638). 74 Vgl. Schlacke, DVBl 2015, 929 (932); Lau, NVwZ 2014, 637 (639). 75 BVerwG NVwZ 2014, 64 (67 m.w.N.). 76 Bunge, ZUR 2014, 3 (5). 77 Sauer, ZUR 2014, 195 (197). 78 EuGH ZUR 2008, 418. 79 Dies vor dem Hintergrund des „slowakischen Braunbären“ bejahend: OVG Rheinland-Pfalz AbfallR 2013, 148; a.A.: OVG Niedersachsen NVwZ-RR 2013, 917; OVG RheinlandPfalz NVwZ 2013, 881; Lau, NVwZ 2014, 637 (639). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 23 AUFSÄTZE Marvin Pötsch vollständig nach.80 Jedoch bezieht er sich nur auf prokuratorische subjektive Rechte, die sich zumindest mittelbar auf personelle Rechtsgüter im engeren Sinne beziehen, was vor allem mit Blick auf die Trianel Entscheidung und die Entscheidung zum slowakischen Braunbären sehr kritisch zu hinterfragen ist.81 Art. 9 Abs. 3 der AK hat sich demzufolge bisher vornehmlich durch Richterrecht auf unionaler und nationaler Ebene entwickelt.82 III. Fazit Der deutsche Gesetzgeber hat die völkerrechtlichen und unionalen Vorgaben für Rechtsbehelfe von Umweltverbänden nur sehr zögerlich umgesetzt, es besteht weiterhin ein hoher Entwicklungsbedarf der deutschen Normen, um eine Angleichung an europa- und völkerrechtliche Vorgaben zu erreichen. Die durchaus auch als Appell zu verstehende Formulierung der Generalanwältin Sharpston für den Anwendungsbereich des Art. 9 Abs. 2 AK: „Fish cannot walk into Court“83, sollte ebenso für die Frage einer innerstaatlichen und auch unionalen Umsetzung des Art. 9 Abs. 3 der AK gelten: Die – gerade innerstaatliche – Tendenz zur beschneidenden und einhegenden Auslegung von Vorgaben im Bereich der Verbandsrechtsbehelfe aus (offensichtlichen – und bisher unbegründeten) Sorgen heraus, das Modell der Verletztenklage aufgeben zu müssen und einer erheblichen Zahl neuer Umweltverbandsklagen entgegenzusehen, trägt nicht zur Rechtssicherheit bei und wird letztlich auch durch die Rechtsprechung immer wieder abgelehnt oder in großen Teilen modifiziert. Das Ergebnis sind immer neue Novellierungen des UmwRG (und auch weiterer Normen) die durch einmalige enge Anlegung unionaler und völkerrechtlicher Maßstäbe eher unwahrscheinlich84 geworden wären. Die bisher aber starre Geisteshaltung führt zu dem Schluss, dass die Novellierung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes im Jahre 2015 nicht die Letzte sein wird. Den schon in Art. 3 Abs. 1 AK formulierten Anforderungen eines „transparenten und einheitlichen Rahmens“ zur Durchführung „dieses Übereinkommens“ wurde bisher zumindest innerstaatlich nicht ansatzweise Rechnung getragen. Weitere Entwicklungen, wie ein aktueller85 Gesetzesentwurf zur Anpassung des UmweltRechts-behelfsgesetzes, bleiben abzuwarten. 80 BVerwG ZUR 2015, 233; BVerwG NVwZ 2015, 656. Schlacke, DVBl 2015, 929 (933). 82 Schlacke, DVBl 2015, 929 (933). 83 EuGH (Generalanwalt), Schlussanträge v. 16.12.2010 – C196/09 = ZUR 2011, 79. 84 Schlacke, ZUR 2013, 195 (202). 85 BT-Drs. 18/9526. 81 _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 24 Sonstige häufig wiederkehrende Tathandlungen im Medienstrafrecht Beiträge zum Medienstrafrecht – Teil 7* Von Prof. Dr. Manfred Heinrich, Kiel Neben den schon dargestellten, medienstrafrechtlich besonders bedeutsamen Tathandlungen des „Verbreitens“ (vgl. ZJS 2016, 569), des „Zugänglichmachens“ (ZJS 2016, 698) und des „öffentlich“ Begehens (ZJS 2016, 698 [707 ff.]) finden sich im Rahmen des Medienstrafrechts noch verschiedene andere in jeweils mehreren Delikten in gleicher Bedeutung1 wiederkehrende Verhaltensbeschreibungen, die nachfolgend kurz vorgestellt werden sollen: § § § § § § § § § § das (öffentliche) Ausstellen, Anschlagen und Vorführen (unten I.), das (individuelle) Anbieten und Überlassen (unten II.), das Herstellen, Beziehen, Liefern und Vorrätighalten (unten III.), das (feilbietende) Anbieten, Ankündigen, Anpreisen und Bewerben (unten IV.), das Einführen und Ausführen (unten V.), das Sich-Verschaffen (unten VI.), das Mitteilen bzw. die Mitteilung (unten VII. 1.), das Offenbaren (unten VII. 2.), das Gelangenlassen (unten VII. 3.) sowie das Öffentlich-Bekanntmachen (unten VII. 4.). Wie schon bei den im Rahmen der beiden vorherigen Beiträge besprochenen Tathandlungen erscheint es auch bei den hier zur Sprache gebrachten nutzbringend, zunächst noch unabhängig von der Betrachtung der einschlägigen Delikte auch diese Begehensformen in tatbestandsübergreifender Weise bereits vorab zu behandeln, um die daraus zu erlangenden Erkenntnisse bei der Betrachtung jener Delikte dann als ohne Weiteres abrufbar zugrunde legen zu können. * Dieser Beitrag ist der siebente einer Reihe von Beiträgen des Autors zum Medienstrafrecht, die sukzessive in der ZJS erscheinen. Die vorhergehenden Beiträge waren den Besonderheiten der Verjährung im Presse-, Rundfunk- und Telemedienstrafrecht (ZJS 2016, 17, 414), der Verbreitung von Pornografie gem. § 184 StGB (ZJS 2016, 132, 197) sowie den medienstrafrechtlich besonders relevanten Tathandlungen des „Verbreitens“ (ZJS 2016, 569), des „Zugänglichmachens“ (ZJS 2016, 698) und des „öffentlich“ Begehens (ZJS 2016, 698 [707 ff.]) gewidmet. Hieran schließt sich nunmehr die Darstellung weiterer im Rahmen medienstrafrechtlich relevanter Tatbestände immer wiederkehrender Tathandlungen in tatbestandsübergreifender Weise an. Auf dieser Grundlage soll dann in weiteren Beiträgen die Behandlung einzelner medienstrafrechtlich relevanter Tatbestände (zunächst aus dem Bereich der Staats- und Friedensschutzdelikte) angeschlossen werden. 1 Vgl. nur Schäfer, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 3, 2 Aufl. 2012, § 130 Rn. 74: „Die Tathandlungen […] entsprechen denjenigen etwa des […]“. I. Das (öffentliche) Ausstellen, Anschlagen und Vorführen Bis zur Verkürzung auf das nunmehr für sich allein stehende Merkmal „(der Öffentlichkeit) zugänglich macht“ durch das 49. StÄG2 wurde in einer ganzen Reihe wichtiger Verbreitungsdelikte (§§ 130 Abs. 2 Nr. 1 lit. b, 130a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, 131 Abs. 1 Nr. 2, 184 Abs. 1 Nr. 2, 184a Nr. 2, 184b Abs. 1 Nr. 2, 184c Abs. 1 Nr. 2 StGB a.F.) bestraft, wer Schriften im Sinne des § 11 Abs. 3 StGB „(öffentlich) ausstellt, anschlägt, vorführt oder sonst zugänglich macht“. Doch dies ist mittlerweile Geschichte, der Gesetzgeber befand das Merkmal des „Zugänglichmachens“ hier für ausreichend und hat die beispielhafte Nennung des „Ausstellens, Anschlagens, Vorführens“ gestrichen. Noch immer aber findet sich jene Formulierung in § 74d Abs. 4 StGB sowie (freilich nur in Form von Bußgeldtatbeständen) in §§ 119 Abs. 3, 120 Abs. 1 Nr. 2 OWiG, noch immer regelt § 27 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 15 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 JuSchG Entsprechendes für Trägermedien und noch immer sind Einzelnennungen von „Ausstellen“, „Anschlagen“ und „Vorführen“ auch in anderen Zusammenhängen anzutreffen (wie etwa in § 134 StGB)3. Nach wie vor erscheint es also sinnvoll, sich an dieser Stelle (zumindest kurz) mit dem Ausstellen, Anschlagen und Vorführen zu beschäftigen. Mit diesen drei Begehensbeschreibungen sind – und darin ist dem Gesetzgeber des 49. StÄG auch gar nicht zu widersprechen – Sonderfälle des oberbegrifflichen (öffentlich) Zugänglichmachens bezeichnet4. Sie handeln allesamt davon, dass ohne Weitergabe der Sache selbst (der Schrift, des Trägermediums etc.) deren geistiger Inhalt sinnlich wahrnehmbar der vor Ort erfolgenden5 Kenntnisnahme anderer zugänglich gemacht wird6, wobei es – wie auch sonst beim „Zugänglichmachen“7 – nur auf die Ermöglichung der Kenntnisnahme, nicht aber auf die Kenntnisnahme selbst ankommt. 2 BGBl. I 2015, S. 10, in Kraft seit 27.1.2015. Vgl. im Einzelnen die Nennungen in Fn. 8, 17, 23. 4 Eisele, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl. 2014, § 184 Rn. 26 („Modalitäten“); B. Heinrich, in: Wandtke/Ohst (Hrsg.), Medienrecht, Bd. 4, 3. Aufl. 2014, Rn. 178, 179, 180; Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 64. Aufl. 2017, § 74d Rn. 6. – Näher zum „(öffentlich) Zugänglichmachen“ M. Heinrich, ZJS 2016, 698 (699 ff.: öffentliches Zugänglichmachen, 702 ff.: einfaches Zugänglichmachen, 707: sonstige Fälle). 5 Dies Merkmal erscheint zwar nirgendwo im Schrifttum, sein Vorliegen erscheint mir aber evident. 6 In diesem Sinne wohl auch Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 15; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 178, 179, 180. 7 Vgl. M. Heinrich, ZJS 2016, 698 (700). 3 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 25 AUFSÄTZE Manfred Heinrich 1. Das (öffentliche) Ausstellen8 Beim Ausstellen geht es um die optische Wahrnehmbarkeit9 gerade der inkriminierten Inhalte10, so dass die freie Präsentation eines Pornohefts am Kiosk, im Verkaufsregal der Tankstelle oder im Schaufenster des Sex-Shops11, wie auch das offene Auslegen eines Buchs mit volksverhetzendem Inhalt in der Buchhandlung12 oder die zur ungehinderten Betrachtung vorgenommene Platzierung einer Plastik13 im Museum erfasst sind, nicht aber das diskrete Vorhalten in einem Schaufenster oder einer verschlossenen Vitrine, bei dem die betreffenden Inhalte angesichts von vornherein unbedenklicher äußerer Gestaltung (neutraler Buchdeckel)14 oder aufgrund gezielt angebrachter Abdeckung15 nicht den Blicken preisgegeben sind. Ebenso wenig tatbestandsrelevant ist etwa auch das Einstellen von in teilverdeckende Plastikfolie eingeschweißten Pornografika in das Verkaufsregal einer Tankstelle16. 2. Das (öffentliche) Anschlagen17 Auch hier geht es um die optische Wahrnehmbarkeit der betreffenden Inhalte18. Sie wird in dieser Begehensvariante erzielt durch das Versetzen der Schrift in eine mehr oder minder feste Verbindung mit einem anderen Gegenstand, um sie auf diese Weise den Blicken zugänglich zu machen19 – 8 Von „öffentlich ausgestellt“ spricht auch § 243 Abs. 1 Nr. 5 StGB. Gemeint ist damit „eine Sache, die gerade um ihrer Besichtigung willen allg. zugänglich gemacht ist“ (Kindhäuser, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen [Hrsg.], Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 3, 4. Aufl. 2013, § 243 Rn. 34). § 134 StGB erwähnt den Fall, dass „ein amtliches Schriftstück […] öffentlich […] ausgelegt“ ist. 9 Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 26; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 178; siehe auch Wolters, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 2, 9. Aufl. 2016, § 74d Rn. 5, der das „Ausstellen“ (ganz richtig) gleichsetzt mit „den Blicken zugänglich machen“. 10 RGSt 14, 397 (399); OLG Karlsruhe NJW 1984, 1975 (1976); Heger, in: Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, Kommentar, 28. Aufl. 2014, § 184 Rn. 6. 11 Hörnle, in: Joecks/Miebach (Fn. 1), § 184 Rn. 37. 12 Vgl. (wenn auch zu pornografischen Inhalten) Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 26. 13 Vgl. Wolters (Fn. 9), § 74d Rn. 5. 14 Heger (Fn. 10), § 184 Rn. 6; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 26; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 37. 15 RGSt 14, 397 (399); Fischer (Fn. 4), § 74d Rn. 6; siehe auch Laufhütte/Roggenbuck, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/ Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 6, 12. Aufl. 2009, § 184 Rn. 21. 16 OLG Karlsruhe NJW 1984, 1975 (1976); Schreibauer, Das Pornographieverbot des § 184 StGB, 1999, S. 210. 17 Von „öffentlich anschlagen“ (eines „dienstlichen Schriftstücks“) ist auch die Rede in § 134 StGB. 18 Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 26; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 179. 19 Vgl. Schreibauer (Fn. 16), S. 211. man denke an das Aufhängen eines Plakats20 oder das Anbringen eines Aufklebers21. Nicht kommt es dabei darauf an, ob der betreffende Gegenstand mobil (z.B. ein Kraftfahrzeug) oder immobil (ein Baum, eine Litfaßsäule, eine Hauswand) ist22 – so dass Aufkleber am Auto oder Abziehbilder am Fenster ebenso erfasst sind wie Filmplakate auf einer Werbefläche oder an einen Baum genagelte Handzettel. 3. Das (öffentliche) Vorführen23 Das „Vorführen“ betrifft nicht allein das optische, sondern auch das akustische Wahrnehmbarmachen24, wobei dies beim Vorführen eines Films – dessen insoweit dualer Natur nach zu verstehen als „die Ermöglichung, […] die auf einem Bildund Tonträger gespeicherten Töne optisch und akustisch wahrzunehmen“25 – in aller Regel (d.h. außer im Falle eines Stummfilms) sogar zusammenfällt. Aber nicht nur Filme, sondern auch reine Tonaufzeichnungen26 sowie Abbildungen27 jeglicher Art können Gegenstand eines „Vorführens“ sein (Beispiele: Dia-Vortrag28, Hochhalten eines Transparents, Vorzeigen eines Bildes). Nicht erfasst werden jedoch – da es eben um das Vorführen von Schriften (bzw. bei § 27 Abs. 1 Nr. 1 JuSchG von Trägermedien) geht – vor Ort stattfindende Live-Darbietungen29. II. Das (individuelle) Anbieten und Überlassen Verschiedentlich wird mit Strafe bedroht, wer eine Schrift im Sinne des § 11 Abs. 3 StGB einer anderen Person „anbietet, überlässt oder zugänglich macht“ – so in §§ 130 Abs. 2 Nr. 1, 131 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 lit. b (siehe auch Abs. 4), 184 Abs. 1 Nr. 1 (siehe auch Abs. 2) StGB – bzw. sie diesem „anbietet oder überlässt“ – wie in § 184 Abs. 1 Nrn. 3 und 3a StGB. Vgl. aber auch (für Trägermedien) § 27 Abs. 1 Nr. 1 (siehe auch Abs. 4) i.V.m. § 15 Abs. 1 Nrn. 3 und 4, Abs. 2 JuSchG 20 BGHSt 19, 308 (310); Fischer (Fn. 4), § 74d Rn. 6; Wolters (Fn. 9), § 74d Rn. 5; Schreibauer (Fn. 16), S. 211. 21 Fischer (Fn. 4), § 74d Rn. 6. 22 Schreibauer (Fn. 16), S. 211. 23 Von „öffentlicher Filmvorführung“ spricht § 184 Abs. 1 Nr. 7 StGB, vom „Vorführen eines Werbefilms oder eines Werbeprogramms“ der Bußgeldtatbestand des § 28 Abs. 1 Nr. 14a JuSchG. 24 B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 180; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 26; Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184 Rn. 21. 25 Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184 Rn. 36; dem folgend KG NStZ 1985, 220. 26 Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 26; Fischer (Fn. 4), § 184 Rn. 6. 27 Fischer (Fn. 4), § 184 Rn. 6. 28 Das Dia erwähnt Wolters (Fn. 9), § 74d Rn. 5. 29 Wolters, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 3, 136. Lfg., Stand: Oktober 2012 § 184 Rn. 30; ebenso Hörnle ([Fn. 11], § 184 Rn. 37), die (zu Recht) eine „merkwürdige Inkonsistenz“ rügt, da Live-Shows damit selbst bei fehlenden Eingangskontrollen nicht erfasst sind. _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 26 Sonstige häufig wiederkehrende Tathandlungen im Medienstrafrecht sowie (als Bußgeldtatbestand und in Bezug auf Bildträger) § 28 Abs. 1 Nr. 16 JuSchG; weitere (Einzel-)Nennungen finden sich noch in anderen – meist medienfernen – Tatbeständen30. 1. Das (individuelle) Anbieten31 Das „Anbieten“ in dem hier zu besprechenden Zusammenhang ist strikt von dem – zumeist durch die Handlungsweise des „Bewerbens“ flankierten – feilbietenden „Anbieten“ etwa im Sinne des § 184 Abs. 1 Nr. 5 StGB zu trennen32. Während jenes nur überindividuelle Angebote an mehrere Personen, also eben die an einen unbestimmten Personenkreis gerichtete Werbung meint (vgl. unten IV. 1. a), geht es hier – letztlich ja als unmittelbare Vorstufe eines höchst zielgerichteten „Überlassens“ – ausschließlich um das individuelle Anbieten33, ist also ein konkretes Angebot gegenüber einem bzw. mehreren bestimmten Adressaten erforderlich34. Nicht genügen damit etwa ein Zeitungsinserat35 oder das bloße Auslegen an einem Verkaufsstand, im Schaufenster oder im Verkaufsregal36 (ggf. aber § 184 Abs. 1 Nr. 5 StGB). Das Angebot muss dabei nach herrschender und richtiger Auffassung37 auf das körperliche Überlassen des betreffenden Gegenstandes (Schrift, Trägermedium, Bildträger) im Sinne einer Gewahrsamsübertragung38 gerichtet sein, während mit- 30 Vgl. hierzu die Auflistung der entsprechenden Vorschriften in Fn. 31, 55. 31 Von „Anbieten“ in diesem Sinne sprechen auch §§ 108b Abs. 1, 176 Abs. 5, 287 Abs. 1, 299 Abs. 2, 333 Abs. 1, Abs. 2, 334 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3, 337 StGB, § 28 Abs. 1 Nrn. 11 und 13 JuSchG, § 96 Nr. 18 AMG, § 69 Abs. 3 Nr. 21, Abs. 4 Nr. 3 BNatSchG. 32 BGHSt 34, 94 (98); Schreibauer (Fn. 16), S. 188, 247; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 27. 33 Schreibauer (Fn. 16), S. 247; siehe auch Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 27; Hilgendorf, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar, 3. Aufl. 2017, § 184 Rn. 14. 34 BGHSt 34, 94 (98); OLG Düsseldorf MDR 1987, 604; Laubenthal, Handbuch Sexualstrafrecht, Die Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung, 2012, Rn. 937; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 14; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 185; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 27 zu § 184 Abs. 1 Nr. 1 StGB (anders aber zu Unrecht Rn. 64 zu § 184 Abs. 1 Nr. 3a StGB); siehe auch Eckstein, wistra 1997, 47 (51) zu § 184 Abs. 1 Nr. 3 StGB. 35 OLG Düsseldorf MDR 1987, 604; Eckstein, wistra 1997, 47 (51); Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 14. 36 Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 14; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 27; Laubenthal (Fn. 34), Rn. 937; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 185. 37 Vgl. Krauß, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 5, 12. Aufl. 2009, § 130 Rn. 92; Heger (Fn. 10), § 184 Rn. 5; Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 18; Fischer (Fn. 4), § 184 Rn. 10; Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184 Rn. 17; Hilgendorf (Fn. 33), § 184 Rn. 14. 38 Von „Besitzübertragung“ sprechen u.a. Krauß (Fn. 37), § 130 Rn. 92; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 14, und B. Heinrich STRAFRECHT unter – aufgrund teleologischer Überlegungen, sprich: angesichts in diesen Fällen nicht minder bestehender „konkreter Kontaktgefahr“39 – dafür plädiert wird, auch das In-AussichtStellen bloß unkörperlichen Zugänglichmachens des geistigen Inhalts (der Schrift etc.) genügen zu lassen40. Der Anbietende muss (explizit oder konkludent) seine Bereitschaft zum (entgeltlichen oder unentgeltlichen) Überlassen (bzw. – soweit man dies genügen lässt – zum Zugänglichmachen) bekunden41, ohne dass darin aber ein zivilrechtliches Vertragsangebot zu liegen braucht42 – so dass das Fehlen eines Rechtsbindungswillens beim Anbietenden nicht schadet43. Der Angesprochene muss das Angebot als solches verstehen44 (nicht jedoch dessen spezifischen, z.B. pornografischen, Inhalt45), braucht aber nicht darauf zu reagieren, und auf eine Annahme oder gar Umsetzung kommt es erst recht nicht an46. Strittig ist, ob das angebotene Überlassen (bzw. – soweit man dies genügen lässt – das angebotene Zugänglichmachen) gleich und ohne Weiteres an Ort und Stelle möglich sein muss. Während einige Autoren dies verlangen47, begnügen sich andere damit, dass der betreffende Gegenstand „tatsächlich verfügbar“ ist48, auch wenn der (ggf. abwesende) Täter ihn erst heranschaffen muss49 (so dass telefonische Angebote eines nicht vor Ort befindlichen Anbieters genügen50) und halten wiederum andere es sogar für ausreichend, wenn der Täter von vornherein nur anbietet, den Gegenstand zu be(Fn. 4), Rn. 185, was jedoch aus den unten im Text unter 2. (bei Fn. 62) genannten Gründen nicht ganz korrekt ist. 39 Schreibauer (Fn. 16), S. 187 f. 40 So mit ausführlicher Begründung Schreibauer (Fn. 16), S. 187 f.; ohne Weiteres ebenso Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 27. 41 Vgl. nur Krauß (Fn. 37), § 130 Rn. 92; Heger (Fn. 10), § 184 Rn. 5; siehe auch Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 27. 42 Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 14; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 185; Laubenthal (Fn. 34), Rn. 936; Schreibauer (Fn. 16), S. 188 Fn. 674. 43 Schreibauer (Fn. 16), S. 188 Fn. 674. 44 Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 18; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 27; Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184 Rn. 17. 45 Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 14; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 27; Heger (Fn. 10), § 184 Rn. 5; Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 18; so auch Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184 Rn. 17; Laubenthal (Fn. 34), Rn. 937, die aber (anders als die Vorgenannten) zumindest Erkennbarkeit fordern (dagegen ausführlich und richtig Schreibauer [Fn. 16], S. 189 f.). 46 Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 18; Krauß (Fn. 37), § 130 Rn. 92; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 27; Laubenthal (Fn. 34), Rn. 936. 47 So Schreibauer (Fn. 16), S. 190. 48 Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 14; siehe auch Eckstein, wistra 1997, 47 (51); Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 18. 49 Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 27; zum „Angebot an einen Abwesenden“ Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 14. 50 Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 27; a.A. mangels „unmittelbarer Kontaktgefahr“ Schreibauer (Fn. 16), S. 190. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 27 AUFSÄTZE Manfred Heinrich schaffen51. Ersteres (an Ort und Stelle) greift jedoch zu kurz – schon deswegen, weil damit der vom Gesetz gesehenen Möglichkeit des „Anbietens“ im Versandhandel (§ 184 Abs. 1 Nr. 3 StGB) von vornherein der Boden entzogen wäre52 –, und Letzteres geht zu weit, da damit die Grenze zur Werbung verschwimmt (vgl. zum „feilbietenden“ Anbieten unten IV. 1. a). So ist mit der mittleren Auffassung zu verlangen, dass der Gegenstand mit dem Anbieten bereits „in tatsächliche Abgabebeziehung [zu dem Angesprochenen] […] gebracht wird“53, was zumindest erfordert, dass er sich schon „in der Verfügungsgewalt des Täters befindet“54. 2. Das Überlassen55 Erfasst das „Anbieten“ schon das Bereiterklären zur Überlassung (vgl. oben 1., bei Fn. 41), geht es beim „Überlassen“ selbst um den Übertragungsakt als solchen56. Gemeint ist die (entgeltliche oder unentgeltliche57) Übertragung eigenen Gewahrsams an dem Gegenstand auf einen anderen zu eigener Verfügung oder zumindest eigenem Gebrauch58, ohne dass es auf Kenntnis oder Erkennbarkeit des Inhalts ankäme59. Wenn dabei mitunter von „Verschaffung“ des Gewahrsams die Rede ist60, so greift dies insofern zu weit, als „Überlassen“ nur das Verschaffen zuvor eigenen Gewahrsams meint61. Ebenso ist es insofern nicht korrekt, von Übertragung/Verschaffung „des Besitzes“ zu sprechen62, als es beim körperlichen Überlassen „nicht auf den zivilrechtlichen Besitz mit seinen Fiktionsmöglichkeiten, sondern nur auf die tatsächliche Möglichkeit des Zugriffs auf die Sache ankommen kann“63; entscheidend ist die Übertragung tatsächlicher 51 Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 27; a.A. Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 14; Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 18. 52 Vgl. hierzu ganz richtig Eckstein, wistra 1997, 47 (51); vgl. aber auch Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 61. 53 Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 18. 54 Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 18. 55 Von „Überlassen“ sprechen auch §§ 87 Abs. 1 Nr. 3, 149 Abs. 1, 202c Abs. 1, 263a Abs. 3, 275 Abs. 1, 276 Abs. 1 Nr. 2, 281 Abs. 1 StGB, §§ 127 Abs. 1, 128 Abs. 1 Nr. 2 OWiG; zu weiteren (medienfernen) Normen vgl. B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 181 Fn. 492. 56 Schreibauer (Fn. 16), S. 190 f. 57 Schreibauer (Fn. 16), S. 191; Hilgendorf (Fn. 33), § 184 Rn. 14. 58 In dieser Vollständigkeit letztlich nur Schreibauer (Fn. 16), S. 191; siehe auch Eisele, Computer- und Medienstrafrecht, 2013, 6/10. 59 Schreibauer (Fn. 16), S. 191 f.; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 15; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 31. 60 So bei Hilgendorf (Fn. 33), § 184 Rn. 14; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 31; siehe auch Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 15, und B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 181 („Verschaffung des Besitzes“). 61 So explizit BGHSt 28, 294: „Das folgt schon aus dem Wortlaut dieser Tätigkeitsbeschreibung“. 62 So Krauß (Fn. 37), § 130 Rn. 92; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 15; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 181. 63 Schreibauer (Fn. 16), S. 191 Fn. 688; siehe auch Hilgendorf (Fn. 33), § 184 Rn. 14 („tatsächliche Sachherrschaft“) Gewalt64. Zu kurz greift es schließlich, wenn bloß die „eigene Verfügung“, nicht aber der „eigene Gebrauch“ erwähnt wird65, da mit Letzterem (zu Recht) auch der Fall erfasst ist, dass der Gegenstand nur zur vorübergehenden Nutzung überlassen (z.B. verliehen, vermietet) wird66. Nicht genügt es, wenn der andere den Gegenstand weder „zu eigener Verfügung“ (z.B. als Käufer) noch „zu eigenem Gebrauch“ (etwa leih- oder mietweise) ausgehändigt bekommt, sondern nur als Überbringer (d.h. als Bote) für einen Dritten67 – man denke an die Abholung eines neutral verpackten Pornoheftes für den Vater68 –, da ihm hier der Gegenstand zwar übergeben, nicht aber überlassen wird69. Insofern ist es zumindest irreführend, wenn mitunter „Überlassen“ in abschließender Kürze nur mit Übertragung bzw. Verschaffung von Gewahrsam umschrieben wird70. III. Das Herstellen, Beziehen, Liefern und Vorrätighalten Vielfach macht sich auch strafbar, wer eine Schrift im Sinne des § 11 Abs. 3 StGB „herstellt, bezieht, liefert, vorrätig hält“ – so in §§ 130 Abs. 2 Nr. 3, 131 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 184 Abs. 1 Nr. 8, 184a S. 1 Nr. 2, 184b Abs. 1 Nr. 4, 184c Abs. 1 Nr. 4 StGB. Eine ebensolche Regelung trifft § 27 Abs. 1 Nr. 2 JuSchG in Bezug auf Trägermedien. Weitere Nennungen dieser Tathandlungen (einzeln oder in verschiedenen Kombinationen) finden sich noch in zahlreichen anderen (meist medienfernen) Tatbeständen71. In den eben explizit genannten Tatbeständen bewegen sich diese Tathandlungen im Vorfeld der im jeweiligen Delikt benannten „eigentlichen“ Verbreitensstrafbarkeit (Verbreiten, Zugänglichmachen etc.), womit denn auch das jeweils im Tatbestand vermerkte Erfordernis einer entsprechenden Verwendungsabsicht korrespondiert – die freilich nicht auf die den Gegenstand der Vorfeldhandlung bildenden Schriften bezogen sein muss, sich vielmehr auch auf „aus ihnen gewonnene Stücke“ beziehen kann (vgl. die oben genannten Vorschriften). Daraus ergibt sich, dass auch das Herstellen etc. von Drucksätzen, Negativen und anderen „Mutterstücken“72 sowie insbesondere auch von Manuskripten73 er64 Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184 Rn. 18. So bei Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 31; Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 18. 66 So denn auch Krauß (Fn. 37), § 130 Rn. 92; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 15; i.E. auch Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 31. 67 RG GA 59 (1912), 314; Schreibauer (Fn. 16), S. 191; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 15; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 181. 68 Ähnlich gelagert war der Fall RG GA 59 (1912), 314 (Abholung durch 16-Jährigen für den Käufer). 69 So ganz richtig Schreibauer (Fn. 16), S. 191; in der Sache ebenso bereits RG GA 59 (1912), 314. 70 So Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184 Rn. 18; Heger (Fn. 10), § 184 Rn. 5; dazu Schreibauer (Fn. 16), S. 191. 71 Vgl. hierzu die Auflistung der entsprechenden Vorschriften in Fn. 74, 87, 97 und 107. 72 Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 60; Eschelbach, in: Matt/Renzikoswki (Hrsg.), Strafgesetzbuch Kommentar, 2013, § 184 Rn. 68; Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1042; Schreibauer (Fn. 16), S. 277. 65 _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 28 Sonstige häufig wiederkehrende Tathandlungen im Medienstrafrecht fasst ist, die ja nicht selbst verbreitet, sondern nur als Quelle aus ihnen zu „gewinnender“ Stücke dienen sollen. 1. Das Herstellen74 Die Tathandlungsbezeichnung des „Herstellens“ bezieht sich häufig auf Schriften, so neben den gerade zuvor erfolgten Nennungen auch in §§ 74d Abs. 1 S. 2, 86 Abs. 1 (i.V.m. Abs. 2), 184c Abs. 4 StGB, aber bisweilen auch auf Tonaufnahmen (§ 201 Abs. 1 Nr. 2 StGB) oder Bildaufnahmen (§ 201a Abs. 1 Nrn. 1-4, Abs. 3 Nr. 1 StGB), auf Computerprogramme (§§ 202c Abs. 1 Nr. 2, 263a Abs. 3 StGB), auf Trägermedien (§ 27 Abs. 1 Nr. 2 JuSchG) sowie auf andere – in aller Regel medienferne – Gegenstände75. Dabei umfasst „Herstellen“ (wie das RG schon im Jahre 1908 dargelegt hat) „alles von Menschen unmittelbar oder mittelbar bewirkte Geschehen, das ohne weiteres oder in fortschreitender Entwicklung ein bestimmtes körperliches Ergebnis zustande bringt“76. Aufgrund dessen ist jeder am Herstellen beteiligt, „der in irgendeiner Phase der Entwicklung bewusst zur Fertigstellung beigetragen hat“77, wie der Verfasser des Manuskripts bzw. Drehbuchs, der Fotograf, der Verleger, der Drucker etc.78, ebenso ein (Porno-)Darsteller. Auch das Anfertigen eines Vervielfältigungsstücks (Kopie) ist stets ein „Herstellen“79. Andererseits aber wird – obwohl dies vom Wortlaut nicht zwingend vorgegeben ist80 – das „Herstellen“ nicht tätig- 73 So speziell zum Herstellen (in § 131 Abs. 1 Nr. 4 StGB a.F.) BGHSt 32, 1 (2 f.); Eschelbach (Fn. 72), § 184 Rn. 68; dem zustimmend und dabei den Gedanken – richtigerweise – auch auf die übrigen Vorfeldhandlungen erweiternd Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 60; Schreibauer (Fn. 16), S. 278; Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1040 f. 74 Von „Herstellen“/„Herstellung“ sprechen auch §§ 86 Abs. 1, 184c Abs. 4, 201 Abs. 1 Nr. 2, 201a Abs. 1, Abs. 3 Nr. 1, 202c Abs. 1, 206 Abs. 3 Nr. 3, 263a Abs. 3 StGB, § 4 i.V.m. § 3 Nr. 1 ZKDSG, §§ 127 Abs. 1, 128 Abs. 1, Abs. 2 OWiG, aber auch § 74d Abs. 1 S. 2 StGB (kein Tatbestand); zu weiteren (medienfernen) Normen vgl. B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 182 Fn. 495. 75 Vgl. die entsprechenden Nennungen in Fn. 74 sowie bei B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 182 Fn. 495. 76 RGSt 41, 205 (207); Heger (Fn. 10), § 184 Rn. 5; Güntge, in: Schönke/Schröder (Fn. 4), § 86 Rn. 11; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 182. 77 Heger (Fn. 10), § 184 Rn. 5; Laufhütte/Kuschel, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 4, 12. Aufl. 2007, § 86 Rn. 30; Steinmetz, in: Joecks/Miebach (Fn. 1), § 86 Rn. 32. 78 Vgl. Laufhütte/Kuschel (Fn. 77), § 86 Rn. 30; Fischer (Fn. 4), § 184 Rn. 21; siehe auch Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 92. 79 Laufhütte/Kuschel (Fn. 77), § 86 Rn. 30; Fischer (Fn. 4), § 184 Rn. 21; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 61. 80 So ganz richtig Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 92; Schreibauer (Fn. 16), S. 278. STRAFRECHT keits-, sondern erfolgsbezogen verstanden81, um den Anwendungsbereich der in aller Regel sowieso als Vorfeldtatbestand (etwa eines „Verbreitens“) fungierenden Begehensweise nicht ausufern zu lassen82. Damit ist das „Herstellen“ erst mit Vorliegen des im Tatbestand beschriebenen Endprodukts vollendet83, ein ergebnisloses Produktionsgeschehen nur (strafloser) Versuch84. Ein bloßes Manuskript, aus dem gemäß den zuvor (oben vor 1.) genannten Tatbeständen etwaige später zu verbreitende bzw. sonst tatbestandsgemäß zu verwendende Stücke erst noch (durch Drucklegung) „gewonnen“ werden müssen (vgl. schon oben vor 1.), ist – um nicht in einer der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 GG widerstreitenden Weise bereits das noch intern bleibende Verfertigen eines Manuskripts zu erfassen85 – „erst dann hergestellt […], wenn die Gefahr jederzeit möglicher Verbreitung bereits ganz nahe gerückt ist“, wenn also „der zu veröffentlichende Inhalt feststeht und der Weg zur technischen Vervielfältigung freigegeben ist“, d.h. – wenn das Manuskript an einen Verlag gegeben ist –, „der für die Schriftleitung Zuständige der Veröffentlichung […] zugestimmt hat“86. 2. Das Beziehen87 Das „Beziehen“ (einer Schrift oder eines Trägermediums, vgl. oben vor 1.) wird mitunter umschrieben als „das Erlangen tatsächlicher eigener Verfügungsgewalt durch abgeleiteten Erwerb […] von einem anderen“88. Zu bevorzugen ist aber die Formel, es „beziehe“ (z.B. eine Schrift), „wer durch einverständliches Zusammenwirken mit dem früheren Gewahrsamsinhaber […] eigenen Gewahrsam erlangt“89; denn damit ist – nachdem der Gewahrsamswechsel nicht auf Dauer angelegt sein muss90 – klargestellt, dass auch die Fälle des Anmietens bzw. Entleihens erfasst sind91. 81 Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 92; Güntge (Fn. 76), § 86 Rn. 11; Steinmetz (Fn. 77), § 86 Rn. 32. 82 Näher hierzu Schreibauer (Fn. 16), S. 278 f. 83 Güntge (Fn. 76), § 86 Rn. 11; Heger (Fn. 10), § 184 Rn. 5; Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (Fn. 4), § 86a Rn. 9b. 84 Laufhütte/Kuschel (Fn. 77), § 86 Rn. 30; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 92; Steinmetz (Fn. 77), § 86 Rn. 32. 85 Ausführlich und lesenswert hierzu BGHSt 32, 1 (7); siehe auch Schreibauer (Fn. 16), S. 278 f. 86 Alle drei vorstehenden Zitate BGHSt 32, 1 (S. 8/Leitsatz/ S. 8), Hervorhebung von mir; siehe auch Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 92. 87 Das „Beziehen“ (von Arzneimitteln) findet sich auch in §§ 95 Abs. 1 Nr. 5, 97 Abs. 2 Nr. 12 AMG. 88 Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 62 (Hervorhebung von mir); Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1043; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 194. 89 Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 93 (Hervorhebung von mir); siehe auch Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184 Rn. 42; Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 69. 90 So ganz richtig Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 93, sowie (wenngleich zum „Liefern“) B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 183. 91 So explizit zur Vermietung Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 93. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 29 AUFSÄTZE Manfred Heinrich Mangels abgeleiteten Erwerbs bzw. einverständlichen Zusammenwirkens nicht erfasst ist der Fall eigenmächtigen Sich-Verschaffens92, etwa durch Diebstahl93. Ob das Erlangen entgeltlich oder unentgeltlich erfolgt, ist hingegen gleichgültig94, nicht aber genügt der bloße Abschluss eines (Kauf-) Vertrags ohne gleichzeitige tatsächliche Verschaffung von tatsächlicher Verfügungsgewalt bzw. Gewahrsam95. Auch die bloße Entgegennahme unverlangt zugesendeter Waren genügt nicht96. 3. Das Liefern97 Das dem „Überlassen“ (oben II. 2.) ähnliche98 „Liefern“ ist gewissermaßen das Spiegelbild zum „Beziehen“ (soeben 2.)99. Wie dort wird es denn auch als „Übergabe der Sache zur eigenen Verfügungsgewalt des Bestellers“ beschrieben100 bzw., was vorzuziehen ist – um wieder (vgl. schon soeben unter 2. zur nur vorübergehenden Einräumung von Gewahrsam101) der Einbeziehung von Miete und Leihe102 eine sichere Grundlage zu geben –, mit den Worten, es „liefere“ (die Schrift, das Trägermedium etc.), „wer durch beiderseitiges Zusammenwirken dem anderen den Gewahrsam verschafft“103. Auch beim „Liefern“ bedarf es also beiderseitigen Einvernehmens104, so dass es nicht vorliegt, wenn jemand dafür sorgt, dass der Gegenstand unaufgefordert an den anderen 92 Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 62; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 93; Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 69. 93 RGSt 77, 113 (118); Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 93; Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 69; Fischer (Fn. 4), § 184 Rn. 21. 94 Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 62; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 93; Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1043. 95 B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 194; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 62. 96 Vgl. Fischer (Fn. 4), § 184 Rn. 21, der von „unverlangter Entgegennahme“ spricht. 97 Von „Liefern“ ist neben den Nennungen oben im Text vor 1. die Rede in §§ 99 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, 109e Abs. 2, 312 Abs. 1 StGB. 98 Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 69, der allerdings zu weitgehend von „gleichem Inhalt“ spricht. 99 Vgl. B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 183 („Gegenstück“); Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1043; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 63. 100 Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1043 (Hervorhebung von mir); Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 63; ähnlich B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 183. 101 Dass sie genügt, erklären Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 93, und B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 183. 102 Eine solche ohne Weiteres bejahend BGHSt 29, 68 (69); ebenso Schreibauer (Fn. 16), S. 279; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 93; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 183; a.A. aber Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 63. 103 Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 93 (Hervorhebung von mir); entsprechend Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184 Rn. 42; Schreibauer (Fn. 16), S. 279; siehe auch Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 69; Fischer (Fn. 4), § 184 Rn. 21. 104 So explizit B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 183; siehe auch Schreibauer (Fn. 16), S. 279; Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 69. gelangt105. Auf eine Entgeltlichkeit kommt es hingegen nicht an106 – so dass eine Schenkung ebenso genügt, wie eine unentgeltliche Leihe. Nicht ausreichend ist wieder (siehe bereits soeben unter 2.) der Abschluss eines zur Verschaffung verpflichtenden Vertrags, entscheidend ist allein das Verschaffen selbst. 4. Das Vorrätighalten Im medialen Kontext107 bezieht sich das Merkmal „Vorrätighalten“ auf Schriften (so neben den oben vor 1. genannten Tatbeständen108 auch in § 86 Abs. 1 – i.V.m. Abs. 2 – StGB), auf Trägermedien (§ 27 Abs. 1 Nr. 2 JuSchG) und auf Gegenstände gem. § 86a Abs. 1 Nr. 2 StGB. Oft einem zuvor geschehenen „Herstellen“ oder „Beziehen“ nachfolgend109 meint das „Vorrätighalten“ den Besitz oder Gewahrsam110 (bzw. das Bereithalten111) zu einem bestimmten Verwendungszweck112, nicht selten dem des „Verbreitens“ (vgl. insbesondere §§ 86 Abs. 1, 86a Abs. 1 Nr. 2 StGB). Ob der Zweck immer in einer körperlichen „Abgabe“ des Gegenstandes bestehen muss113 (etwa im Sinne eines Verkaufens, Vermietens oder Verschenkens), erscheint zweifelhaft; sinnvoll ist es, die Formen unkörperlichen „Zugänglichmachens“ mit einzubeziehen114. Nicht jedoch genügt der Besitz als solcher bzw. der Besitz in der Absicht, den Gegenstand zu vernichten, den Behörden auszuhändigen oder dem Hersteller zurückzugeben (etwa im Zuge einer Reklamation) oder auch der Besitz in Unschlüssigkeit über die weitere Verwendung115. Eines Vorrats bedarf es nicht, bereits das Vorhalten nur eines Stücks reicht aus116; insbesondere genügt das Speichern 105 Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 63; Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 69; Fischer (Fn. 4), § 184 Rn. 21. 106 Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 69. 107 § 69 Abs. 3 Nr. 21, Abs. 4 Nr. 3 BNatSchG sanktionieren das „Vorrätighalten“ u.a. von Tieren und Pflanzen. 108 §§ 130 Abs. 2 Nr. 3, 131 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 184 Abs. 1 Nr 8, 184a S. 1 Nr. 2, 184b/c Abs. 1 Nr. 4 StGB. 109 Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 64. 110 So ganz richtig Horn, NJW 1977, 2329 (2331); nur von Besitz sprechen die in Fn. 112 Genannten. 111 So, das finale Element klarer aufzeigend, Heger (Fn. 10), § 184 Rn. 5. 112 RGSt 42, 209 (210); Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 64; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 184; Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1044. 113 So offenbar Horn, NJW 1977, 2329 (2331); Heger (Fn. 10), § 184 Rn. 5; Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1044. 114 So i.E. auch RGSt 47, 223 (226 f.): Vorrätighalten einer Schallplatte zum Zwecke des Vorspielens. 115 So ganz richtig Horn, NJW 1977, 2329 (2331); Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 69. 116 RGSt 42, 209 (210); 47, 223 (227); 62, 396 ff.; Laufhütte/ Kuschel (Fn. 77), § 86 Rn. 31; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 64; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 93; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 184; siehe auch Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1044. _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 30 Sonstige häufig wiederkehrende Tathandlungen im Medienstrafrecht auch nur einer Datei auf einer Festplatte, wenn dabei an ein Verbreiten117 bzw. Zugänglichmachen gedacht ist118. Auch mittelbarer Besitz kommt in Betracht119, unverzichtbar ist aber die eigene Verfügungsgewalt des Besitzenden im Sinne zumindest einer Mitbestimmungsmacht120 – so dass wiederum das bloße Verwahren für einen anderen nicht hinreicht121. IV. Das (feilbietende) Anbieten, Ankündigen, Anpreisen und Bewerben Bis zum Eingreifen des 49. StÄG (vgl. oben I., bei und in Fn. 2) war in zahlreichen Verbreitungsdelikten auch für denjenigen Strafe angedroht, der – im Sinne des Betreibens von Werbung122 – eine Schrift im Sinne des § 11 Abs. 3 StGB „anbietet, ankündigt, anpreist“ (so in §§ 130 Abs. 2 Nr. 1 lit. d, 131 Abs. 1 Nr. 4, 184 Abs. 1 Nr. 5, 184a Nr. 3, 184b Abs. 1 Nr. 3, 184c Abs. 1 Nr. 3 StGB a.F.). Dies hat der Gesetzgeber – ohne damit aber sachlich etwas ändern zu wollen123 – im Zuge seiner Bemühungen um „vorsichtige Neuordnung und redaktionelle Bereinigung der §§ 130, 131, 184 bis 184c StGB“124 dahingehend umgeformt, dass sich strafbar macht, wer eine Schrift „anbietet oder bewirbt“ (vgl. §§ 130 Abs. 2 Nr. 3, 131 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 184 Abs. 1 Nr. 5, 184a S. 1 Nr. 2, 184b Abs. 1 Nr. 4, 184c Abs. 1 Nr. 4 StGB, wobei in § 184 Abs. 1 Nr. 5 die Strafbarkeit auf bestimmte Vorgehensweisen beschränkt ist). Von „anbietet, ankündigt, anpreist“ ist jedoch noch immer die Rede in § 27 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 15 Abs. 1 Nr. 6, Abs. 2 JuSchG, wenn auch nur in Bezug auf Trägermedien125; und 117 Zur Problematik des Übermittelns von Dateien über das Internet als „Verbreiten von Schriften“ ausführlich M. Heinrich, ZJS 2016, 569 (578 ff.); ders., in: Hefendehl (Hrsg.), Streitbare Strafrechtswissenschaft, Festschrift für Bernd Schünemann zum 70. Geburtstag am 1. November 2014, 2014, S. 597. 118 Schreibauer (Fn. 16), S. 280 f.; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 184; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 93; Fischer (Fn. 4), § 184 Rn. 21. 119 Laufhütte/Kuschel (Fn. 77), § 86 Rn. 31; Heger (Fn. 10), § 184 Rn. 5; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 93. 120 Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 64; Schreibauer (Fn. 16), S. 279; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 184; Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1044. 121 Wie Fn. 120; siehe auch Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 93; Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 69; a.A. Fischer (Fn. 4), § 184 Rn. 21. 122 Vgl. Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184 Rn. 31; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 70; Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1004. 123 BT-Drs. 18/2601, S. 24: „Ohne inhaltliche Bedeutung und lediglich eine redaktionelle Änderung ist die Ersetzung der Wörter ‚ankündigen und anpreisen‘ durch das Wort ‚bewerben‘.“ 124 BT-Drs. 18/2601, S. 3 (siehe auch S. 2, 16, 23). 125 Dabei ist aus der Zusammenschau „anbietet, überlässt, zugänglich macht“ in § 27 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 JuSchG nicht etwa zu schließen, dass nur das individuelle Anbieten (vgl. oben im Text Abschnitt II.) gemeint wäre; durch die Inbezug- STRAFRECHT auch in § 219a Abs. 1 StGB sowie den Bußgeldtatbeständen der §§ 119 Abs. 1, 2, 120 Abs. 1 Nr. 2 OWiG wird dieser Begehenstrias noch Erwähnung getan – hier nun zwar im Zusammenhang u.a. mit öffentlichem Begehen bzw. dem Verbreiten oder Zugänglichmachen von Schriften, gerichtet aber jeweils auf andere Bezugsgegenstände – wie z.B. auf zum Schwangerschaftsabbruch geeignete Mittel bzw. auf Gegenstände (§ 219a Abs. 1 Nr. 2 StGB) oder auf die Gelegenheit zu sexuellen Handlungen (§§ 119 Abs. 1, 120 Abs. 1 Nr. 2 OWiG). 1. Die einzelnen Werbeverbote126 a) Das (feilbietende) Anbieten Das Anbieten im hier verstandenen Sinn meint nicht den Fall des – schon zuvor (oben in Abschnitt II. 1.) besprochenen – individuellen Anbietens im Sinne eines konkreten Angebots auf Überlassen bzw. Zugänglichmachen des betreffenden Gegenstands gegenüber einem bzw. mehreren bestimmten Adressaten127. Es erfasst vielmehr (nur) das überindividuelle Angebot an eine Personenmehrheit, also das (nicht unbedingt öffentliche128) an einen unbestimmten Personenkreis gerichtete Feilbieten129 – z.B. durch Plakate, Lautsprecher- oder Rundfunkwerbung, Werbebroschüren, Aufstellen eines Automaten, Ausstellen im Schaufenster bzw. im frei zugänglichen Verkaufsraum oder aber auch durch Auflistung eines entsprechenden Sortiments im Internet130. Letztlich geht es um die Aufforderung an eine Mehrzahl noch nicht individualisierter potentieller Kunden, von sich aus ein Kauf- oder Mietangebot zu machen131, stellt es mithin – zivilrechtlich gesprochen – eine invitatio ad offerendum dar. b) Das Ankündigen132 „Ankündigen“ ist nach gängiger Formulierung jede Kundgabe, durch die auf eine – in jedenfalls nicht allzu ferner Zu- nahme von § 15 Abs. 1 Nr. 6 JuSchG ist ersichtlich auch das feilbietende Anbieten erfasst. 126 Zu dieser Bezeichnung (noch zur damaligen Begriffstrias „anbietet, ankündigt, anpreist“) BVerwG NJW 1977, 1411; BGHSt 34, 94 (98); Heger (Fn. 10), § 184 Rn. 6b. 127 Zur Notwendigkeit des Unterscheidens vgl. bereits die Nachweise oben in Fn. 32. 128 Vgl. Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 47 (geschlossener Jugendclub); siehe auch § 184 Abs. 1 Nr. 5 StGB, der das Zusatzerfordernis des „öffentlich“ Anbietens denn auch explizit nennt. 129 Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 71; Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 47; siehe auch Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 47. 130 Vgl. diese und weitere Beispiele bei den soeben in Fn. 129 Genannten. 131 So hier und nachfolgend Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 71; siehe auch Meier, NStZ 1985, 341 (342): „Vorschlag“. 132 Von „Ankündigen“ spricht neben den oben im Text vor 1. genannten Normen auch § 28 Abs. 1 Nr. 4 JuSchG. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 31 AUFSÄTZE Manfred Heinrich kunft liegende133 – Gelegenheit zum Bezug (wenn ein Überlassen des Gegenstands angestrebt ist) oder (wenn es nur um das Zugänglichmachen, etwa eines Films, geht) zur Besichtigung aufmerksam gemacht wird134. Essentiell ist also, dass – in werbender Form – über Bezugsquellen bzw. Betrachtungsmöglichkeiten informiert wird135, wobei die rein sachliche Darbietung der Informationen, frei von Befürwortung oder Lob, bereits genügt136. Anders verhält es sich freilich, mangels werbenden Charakters, bei erkennbar kritischer, gar ablehnender Positionierung137 (näher hierzu noch nachfolgend unter 2.). Gerade im Hinblick auf das Aufzeigen von Möglichkeiten zum Bezug eines Gegenstandes (anders als bei der ja per se zukunftsorientierten Ankündigung einer Filmvorführung138) wird jedoch unterschiedlich beurteilt, ob von „Ankündigen“ nur bei erst künftiger, derzeit noch nicht bestehender Greifbarkeit des beworbenen Gegenstands zu sprechen ist139 (wie in Fall 1: „In Kürze ist bei uns das neue Porno-Magazin X erhältlich!“140), oder auch dann, wenn der Gegenstand bereits jetzt zu bekommen ist141 (wie in Fall 2: „Das neue PornoMagazin X ist hier erhältlich! Jetzt zugreifen!“). Schon angesichts des natürlichen Wortsinnes von „Ankündigen“ im Sinne des Hinweisens auf ein in der Zukunft liegendes Ereignis142, nicht zuletzt aber auch, um eine sachgerechte Abgrenzung zum Merkmal „Anbieten“ zu ermöglichen, das in Fällen bereits bestehender Verschaffbarkeit sowieso gegeben ist und das bei entsprechend weiter Auslegung von „Ankündigen“ ohne eigenständige Bedeutung bliebe143, erscheint die engere 133 Üblicherweise ist denn auch von „naher Zukunft“ die Rede, vgl. nur Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 47. – Zur Frage einer Beschränkung überhaupt auf die erst künftige Gelegenheit vgl. gleich nachfolgend oben im Text. 134 RGSt 37, 142 (143); Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184 Rn. 32; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 45; Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1006; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 186; Hilgendorf (Fn. 33), § 184 Rn. 39. 135 B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 186; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 72. 136 So explizit Hilgendorf (Fn. 33), § 184 Rn. 39. 137 Siehe noch Fn. 159 sowie Hilgendorf (Fn. 33), § 184 Rn. 39; Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184 Rn. 32. 138 Bei der die Kundgabe eines Vorführtermins allemal genügt, vgl. Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 72. 139 So Meier, NStZ 1985, 341 (342); Schreibauer (Fn. 16), S. 247 f.; in diesem Sinne auch Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 47, sowie Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 72 („erst zu einem späteren Zeitpunkt überlassen werden können“). 140 Beispiele (Fall 1 und Fall 2) von Schreibauer (Fn. 16), S. 248. 141 So, wie aus den von ihnen gewählten Formulierungen ersichtlich wird, die in Fn. 134 Genannten. 142 So (unter Hinweis auf den Duden) zu Recht Meier, NStZ 1985, 341 (342); siehe auch Schreibauer (Fn. 16), S. 248. 143 So überzeugend Meier, NStZ 1985, 341 (342): „Unterfall des Ankündigens“; Schreibauer (Fn. 16), S. 247 f. Sichtweise überzeugend, in Fall 1 (nur) ein „Ankündigen“ und in Fall 2 (nur) ein „Anbieten“ zu bejahen144. c) Das Anpreisen145 Unter „Anpreisen“ ist die lobende oder empfehlende Erwähnung bzw. Beschreibung entsprechender Schriften, Trägermedien, Mittel etc. (vgl. oben vor 1.) zu verstehen146, die Hervorhebung von Vorzügen, die Anerkennung günstiger Wirkungen, die rühmende Darstellung sowie die Beimessung hohen Wertes147. Weder kommt es dabei darauf an, ob der Anpreisende vor hat, etwaigen Interessenten den Gegenstand später dann zu verschaffen oder zugänglich zu machen148 (da es dem Gesetz ja nur darum geht, ein positives Interesse an dem Gegenstand zu verhindern149), noch ist es nötig, dass ein Hinweis auf mögliche Bezugsquellen gegeben wird150. Erst in Fällen fehlender Angabe einer Bezugsquelle erlangt das „Anpreisen“ einen gegenüber dem „Anbieten“ und dem „Ankündigen“ eigenständigen Anwendungsbereich151. d) Das Bewerben Wie sich aus den Gesetzesmaterialien ergibt, ist mit „Bewerben“ in den durch das 49. StÄG neu gestalteten §§ 130 Abs. 2 Nr. 3, 131 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 184 Abs. 1 Nr. 5, 184a S. 1 Nr. 2, 184b Abs. 1 Nr. 4, 184c Abs. 1 Nr. 4 StGB (siehe schon oben vor 1.) erklärtermaßen nichts anderes gemeint, als zuvor in diesen Vorschriften durch die Begriffe „Ankündigen“ und „Anpreisen“ zum Ausdruck gebracht war: „Ohne inhaltliche Bedeutung und lediglich eine redaktionelle Änderung ist die Ersetzung der Wörter ‚ankündigen und anpreisen‘ durch das Wort ‚bewerben‘“152. Ging es dem Gesetzgeber (wie bei anderen Maßnahmen, etwa der Streichung des „Ausstellens, Anschlagens, Vorführens“, vgl. oben I.) auch bei dieser Ersetzung lediglich um eine „vorsichtige Neuordnung und redaktionelle Bereinigung 144 Vgl. auch die Überlegungen von Meier, NStZ 1985, 341 (342) zur geänderten Gesetzeslage. 145 Vom „Anpreisen“ einer Schrift im Sinne des § 11 Abs. 3 StGB spricht auch § 91 Abs. 1 Nr. 1 StGB. 146 Vgl. RGSt 37, 142 (143); OLG Hamburg NStZ 2007, 487; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 73; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 45; Hilgendorf (Fn. 33), § 184 Rn. 39; Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1006; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 187. 147 So die weiteren von RGSt 37, 142 (143); OLG Hamburg NStZ 2007, 487 genannten Kriterien. 148 OLG Hamburg NStZ 2007, 487; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 73; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 45; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 187; a.A. Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 47; Laufhütte/ Roggenbuck (Fn. 15), § 184 Rn. 32. 149 So zum Normzweck ganz richtig Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 73; siehe auch OLG Hamburg NStZ 2007, 487. 150 OLG Hamburg NStZ 2007, 487; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 45; Fischer (Fn. 4), § 184 Rn. 16. 151 Näher OLG Hamburg NStZ 2007, 487; siehe auch Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1006. 152 BT-Drs. 18/2601, S. 24. _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 32 Sonstige häufig wiederkehrende Tathandlungen im Medienstrafrecht der §§ 130, 131, 184 bis 184c StGB“153, gibt es keinen Grund, in dem neu geschaffenen „Bewerben“ etwas anderes zu sehen, als eben eine Zusammenfassung von „Ankündigen“ und „Anpreisen“ in einem Wort. 2. Gemeinsame Erfordernisse Die soeben benannten Werbeverbote – unter Einschluss auch des (feilbietenden) „Anbietens“ (vgl. soeben 1. a) – bestehen unabhängig vom Vorliegen einer Gewinnerzielungsabsicht154. Sie setzen aber nicht nur voraus, dass der betreffende Gegenstand auch tatsächlich pornografisch, jugendgefährdend etc. ist155, sondern auch, dass mit dem Anbieten, Ankündigen, Anpreisen, Bewerben „das wohlwollende Interesse des Publikums am Gegenstand der Werbung geweckt oder gefördert werden soll“156. Entscheidend ist also, dass „der angesprochene Gegenstand nicht in einer Weise dargestellt und erörtert wird, die gegenläufige Ziele erkennen lässt“157 – so dass Beiträge, die sich erkennbar (und nicht nur im Sinne eines Deckmantels158) kritisch mit dem Gegenstand befassen, auch dann kein Anbieten, Ankündigen, Anpreisen oder Bewerben darstellen, wenn sie objektiv geeignet sind, Interesse an ihm zu wecken159. Fraglos muss der beworbene Gegenstand (z.B. die Schrift, das Trägermedium oder das Mittel im Sinne des § 219a Abs. 1 Nr. 2 StGB) als solcher hinreichend konkretisiert sein160 – sei es nun durch Nennung des Titels von Schrift oder Trägermedium bzw. der Bezeichnung des Mittels, sei es (ohne Titelnennung) nur durch Angabe von Ort und Zeit einer Filmvorführung bzw. durch (ggf. neutral verpacktes) Ausstellen im Verkaufsregal. Diskutiert wird aber, ob unter dieser Voraussetzung auch eine ihrem Inhalte nach bloß neutrale Werbung genügt161, d.h. eine Werbung ohne aus sich selbst heraus gegebene Erkennbarkeit des pornografischen, gewaltverherrlichenden, volksverhetzenden oder jugendgefährdenden Charakters der 153 BT-Drs. 18/2601, S. 3. Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 46; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 73 a.E.; siehe auch BGHSt 34, 218 (219 f.). 155 OLG Hamburg MDR 1978, 506; Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1007; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 46. 156 BGHSt 34, 218 (220); siehe auch Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 46; Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 45; Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1007; speziell zum „Ankündigen“ ebenso Krauß (Fn. 37), § 131 Rn. 39 a.E. 157 BGHSt 34, 218 (220); ebenso Laubenthal, Sexualstraftaten, 2000, Rn. 811 mit anschaulichem Beispiel. 158 Näher hierzu BGHSt 34, 218 (220). 159 BGHSt 34, 218 (220); OLG Hamburg NStZ 2007, 487; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 46; Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1007; speziell zum „Ankündigen“ ebenso Krauß (Fn. 37), § 131 Rn. 39; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 186. 160 In diesem Sinne auch BGHSt 34, 94 (98): „Das Objekt, für das geworben wird, muss in Erscheinung treten“; OLG München NJW 1987, 453 (454): „genügend individualisiert“; siehe auch Meier, NStZ 1985, 341 (342). 161 So noch RGSt 57, 359 (360); OLG München NJW 1987, 453; Schreibauer (Fn. 16), S. 243 ff. 154 STRAFRECHT Schrift bzw. des Trägermediums – oder der abortiven Wirkung des zum Schwangerschaftsabbruch geeigneten Mittels. In der Regel wird dies verneint162: Es müsse vielmehr jener Charakter „aus der Formulierung oder der Gestaltung von Angebot, Ankündigung oder Anpreisung erkennbar sein“163; erforderlich sei, dass er „für den durchschnittlich interessierten und informierten Betrachter aus der Schrift selbst heraus erkennbar gemacht wird und von diesem deshalb auch so verstanden werden muss“164. Nicht also genüge es, wenn sich – wie bei der Erwähnung lediglich des per se unverfänglichen Titels einer Schrift – jener Charakter „nur für denjenigen erschließt, der mit dem Inhalt bereits vertraut ist“165, oder wenn auf ihn nur aufgrund zusätzlichen Wissens zu schließen ist166 – etwa bei der Werbung für einen Film mit unverfänglichem Titel aufgrund der Kenntnis, dass in dem betreffenden Kino regelmäßig Pornofilme gespielt werden167. Dem ist in der Sache prinzipiell zuzustimmen. Bei genauerem Hinsehen stellt sich die Frage nach der Strafbarkeit auch neutraler Werbung jedoch nicht bereits im Hinblick auf die Merkmale „Anbieten, Ankündigen, Anpreisen, Bewerben“, sondern handelt es sich bei ihr (erst) um das darüber hinausgehende, weitere Problem der intendierten Reichweite des jeweiligen Tatbestandes: Wird eine Film-DVD mit neutralem Titel in unverfänglicher Weise in Zeitungsanzeigen als Objekt möglichen Erwerbs präsentiert, gar mit Worten wie „Gelegenheit! unbedingt kaufen!“ (zweifellos) beworben, so ist dies, auch ohne dass es auf die Frage der Erkennbarkeit des jeweiligen (etwa jugendgefährdenden) Inhalts der DVD nur irgend ankäme, so oder so ein „Anbieten, Ankündigen, Anpreisen, Bewerben“168. Ob dann freilich ein solches in neutraler Form erfolgendes „Anbieten, Ankündigen, Anpreisen, Bewerben“ auch zur Verwirklichung des jeweiligen Tatbestandes genügt, ist eine andere Frage und hängt von dessen jeweiliger Zielsetzung ab. Deutlich tritt diese „Zweistufigkeit“ in § 219a Abs. 1 Nr. 2 StGB vor Augen, ist es dort doch die eine Voraussetzung, dass jemand „Mittel, Gegenstände oder Verfahren, die zum Abbruch der Schwangerschaft geeignet sind, […] anbietet, ankündigt, anpreist“ (etwa durch mediale Präsentation des 162 BGHSt 34, 94 (98 f.); BGH NJW 1977, 1695 (1696); 1989, 409; ausführlich Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1007 f.; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 46; siehe auch Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184 Rn. 17, 32; Heger (Fn. 10), § 184 Rn. 5; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 74; Hilgendorf (Fn. 33), § 184 Rn. 39; Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 48. 163 Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 74, mit näheren Ausführungen in Rn. 75; siehe auch Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 46. 164 Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 46; vgl. bereits BGHSt 34, 94 (97, 99 f.); BGH NJW 1989, 409. 165 Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 74. 166 Vgl. Fn. 167 sowie Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 74; Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184 Rn. 32. 167 BGH NJW 1989, 409; Perron/Eisele, in: Schönke/ Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 28. Aufl. 2010; § 184 Rn. 31; siehe auch Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1008 f. 168 In diesem Sinne – speziell zum „Anbieten“ – auch Meier, NStZ 1985, 341 (342). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 33 AUFSÄTZE Manfred Heinrich Präparats xy zum Erwerb), und eine davon zu trennende zweite, dass dies geschieht „unter Hinweis auf diese Eignung“. Ein Fehlen des Hinweises (und damit der unvermittelten Erkennbarkeit abortiver Wirkung) invalidiert nicht das „Anbieten, Ankündigen, Anpreisen“ des – anhand der neutralen Bezeichnung „xy“ hinreichend konkretisierten (vgl. oben bei Fn. 160) und damit für Eingeweihte als Abortivum identifizierbaren – Präparats im Sinne eines den Tatbestand verwirklichenden feilbietenden Bewerbens. In diesem Lichte betrachtet ist auch die vielfach kritisierte169 Rechtsprechung des BGH zu nach § 18 JuSchG indizierten Trägermedien, nach welcher in Bezug auf diese auch neutrale Werbung gem. § 27 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. 15 Abs. 1 Nr. 6 JuSchG strafbar sein soll170 – während im Rahmen der in §§ 130, 131, 184, 184a, 184b/c, 219a StGB enthaltenen Werbeverbote eine Strafbarkeit neutraler Werbung nicht bestehe –, jedenfalls hinsichtlich der Ausfüllung der Merkmale „Anbieten, Ankündigen, Anpreisen, Bewerben“ nicht widersprüchlich: Hier wie dort spricht nichts dagegen, auch neutrale Werbung unter diese Merkmale zu subsumieren. Die inhaltliche Ungleichbehandlung neutraler Werbung hier als strafbar und dort als straflos171, mag in der Sache fragwürdig erscheinen172, vor allem auch im Hinblick darauf, mit ihr zwar bei den unter § 15 Abs. 1 JuSchG fallenden indizierten einfach jugendgefährdenden Trägermedien die Strafbarkeit auch neutraler Werbung anzunehmen, nicht aber bei den über § 15 Abs. 2 JuSchG auch ohne Indizierung erfassten (und deshalb nicht indizierungsbedürftigen) schwer jugendgefährdenden173; sie ist aber allein den Überlegungen notwendigen Rechtsgüterschutzes geschuldet und ändert nichts am Vorliegen eines „Anbietens, Ankündigens, Anpreisens, Bewerbens“ in allen Fällen. V. Einführen und Ausführen In einigen Tatbeständen wird sanktioniert, wer eine Schrift im Sinne des § 11 Abs. 3 StGB „einführt oder ausführt“ bzw. „einzuführen oder auszuführen unternimmt“ – so in §§ 86 Abs. 1 (i.V.m. Abs. 2) bzw. 130 Abs. 2 Nr. 3, 131 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 184a S. 1 Nr. 2, 184b/c Abs. 1 Nr. 4 StGB. Entsprechende Regelungen finden sich bezüglich anderer Objekte auch in §§ 86a Abs. 1 Nr. 2, 328 Abs. 1 StGB, 127 Abs. 1, 128 Abs. 1 Nr. 2 OWiG bzw. in §§ 275 Abs. 1, 276 Abs. 1 Nr. 1 StGB. Bezogen auf Schriften sprechen auch § 184 Abs. 1 Nrn. 4 und 8 StGB von „einzuführen unternimmt“ bzw. § 184 Abs. 1 Nr. 9 StGB von „auszuführen 169 Vgl. nur Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 46; Fischer (Fn. 4), § 184 Rn. 16; siehe auch Schreibauer (Fn. 16), S. 244 f. 170 BGHSt 33, 1 (zu § 5 Abs. 2 GjS a.F.); 34, 94 (99); ebenso bereits BVerwG NJW 1977, 1411. 171 Zur Verfassungsgemäßheit trotz bestehender „Ungereimtheit“ vgl. BVerfG NJW 1986, 1241 (1243). 172 So die überwiegende Auffassung im Schrifttum, vgl. Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 46 („wenig einleuchtende Differenzierung“); Fischer (Fn. 4), § 184 Rn. 16; kritisch auch Schreibauer (Fn. 16), S. 245 f. 173 Vgl. Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 74; kritisch dazu insbesondere Schreibauer (Fn. 16), S. 244 f. unternimmt“, und im Hinblick auf Trägermedien ist in § 27 Abs. 1 Nr. 1, 2 JuSchG von „einführen“ die Rede. Weitere Nennungen dieser Tathandlungen (sei es nun gemeinsam oder einzeln) sind noch in zahlreichen anderen – meist freilich medienfernen174 – Tatbeständen zu verzeichnen175. 1. Das Einführen „Einführen“ meint in den soeben vor 1. genannten Normen das Verbringen des betreffenden Gegenstands in das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland176. Da es diesen Vorschriften nicht um den Schutz wirtschaftlicher Interessen zu tun ist, geht es bei ihnen auch nicht (anders als in § 4 Abs. 2 Nr. 6 AWG) um das Verbringen in das Wirtschaftsgebiet der BRD, das (gem. § 4 Abs. 1 Nr. 1, 2 AWG) einen anderen räumlichen Zuschnitt aufweist177, sondern um den räumlichen Geltungsbereich deutschen Strafrechts im Sinne des § 3 StGB („Inland“)178. „Verbringen“ meint „die von menschlichem Willen gesteuerte tatsächliche Beförderung […] über die Grenze“179; es genügt, wenn jemand bewirkt, dass der Gegenstand die Grenze überschreitet180. Ein „Einführen“ kann also bei dem gegeben sein, der den Gegenstand selbst über die Grenze bringt oder von einem anderen bringen lässt, bei dem, der ihn vom Ausland ins Inland versandt hat, sowie bei dem, der durch Bestellung das Bringen bzw. das Versenden ins Inland initiiert hat181. Nicht per se am Merkmal „Einführen“ liegt es, wenn in § 184 Abs. 1 StGB beim Versandhandel Nr. 4 nur (als Versender) den an den Endverbraucher liefernden ausländischen Versandhändler erfassen soll, Nr. 8 dagegen nur (als Besteller) den inländischen Zwischenhändler bzw. (als Versender) den ihn beliefernden Versandhändler, keine der beiden Nor- 174 Medienrelevant sind aber §§ 4 i.V.m. 3 Nr. 1 ZKDSG, die von „einführen“ handeln; siehe auch § 372 Abs. 1 AO. 175 Vgl. hierzu die einschlägigen Nennungen bei B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 188 Fn. 513 und Rn. 189 Fn. 515. 176 Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 69; Hilgendorf (Fn. 33), § 184 Rn. 37; siehe auch BGHSt 34, 252 (254); OLG Schleswig NJW 1971, 2319; Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184 Rn. 30; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 188. 177 Durch Einbeziehung auch zweier österreichischer Gebiete (siehe § 4 Abs. 1 Nr. 1 AWG) bzw. Ausschluss des Gebiets der deutschen Gemeinde Büsingen (§ 4 Abs. 1 Nr. 2 AWG). – In diesem Sinne auch B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 188. 178 Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184 Rn. 30; Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 41; siehe auch BGHSt 34, 252 (254). 179 Diemer, in: Erbs/Kohlhaas (Hrsg.), Strafrechtliche Nebengesetze, Kommentar, 210. Lfg, Stand: September 2016, § 4 AWG Rn. 10 (siehe auch Rn. 14: durch menschliches Zutun); Schreibauer (Fn. 16), S. 237. 180 Steinmetz (Fn. 77), § 86 Rn. 34. 181 Eben diese drei Varianten nennen auch Laufhütte/Kuschel (Fn. 77), § 86 Rn. 33; siehe auch Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1045. _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 34 Sonstige häufig wiederkehrende Tathandlungen im Medienstrafrecht STRAFRECHT men aber auch den jeweiligen Endverbraucher182. Dies beruht vielmehr darauf, dass aufgrund der jeweiligen Zielsetzung der beiden Normen jeweils nur bestimmte Fälle des „Einführens“ als für sie relevant erachtet werden183. Das „Einführen“ ist vollendet, wenn der Gegenstand die Grenze überschreitet184, und zwar schon beim Erreichen einer vorgeschobenen Grenzstelle185. Beendigung tritt hingegen erst ein mit seiner Ankunft am Bestimmungsort bzw. beim Adressaten186. Bei der Durchfuhr durch das Bundesgebiet ist – schon im Sinne begrifflicher Voraussetzung187 – auch eine Einfuhr (ein „Einführen“) gegeben188. Ob auch der ins Inland gerichtete Datentransfer per Internet als „Einführen“ begreifbar ist, mag mangels körperlichen Verbringens zweifelhaft erscheinen189. Zu bejahen190 ist es aber nicht zuletzt angesichts der – auch auf § 184 Abs. 1 Nr. 4 StGB übertragbaren191 – Entscheidung des Gesetzgebers, zum einen in § 1 Abs. 4 JuSchG den Begriff des „Versandhandels“ auch auf die Fälle des „elektronischen Versands“ zu erweitern und zum anderen dann in § 15 Abs. 1 Nr. 5 JuSchG vom „Einführen im Wege des Versandhandels“ zu sprechen192. Aufgrund der Ähnlichkeit mit dem „Verbreiten“ von Schriften lässt sich dabei aber beim „Einführen“ (wie auch beim „Ausführen“, vgl. nachfolgend 2.) die Erstreckung auf bloße Datenübertragung m.E. nur dann schlüssig begründen, wenn man – wie ich andernorts bereits für das „Verbreiten“ von Schriften dargelegt habe193 – maßgeblich auf den Aspekt des „Erzeugens eines Duplikats beim Empfänger“ abstellt. Anders verhält es sich aber jedenfalls hinsichtlich der grenzüberschreitenden Ausstrahlung einschlägigen Materials über Rundfunk oder Fernsehen: Hierin liegt kein „Einführen“194, da hier eben von vornherein kein körperliches Duplikat beim Empfänger erzeugt wird. Soweit bereits das „Unternehmen“ des Einführens unter Strafe gestellt ist195 (wie dies in §§ 130 Abs. 2 Nr. 3, 131 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 184 Abs. 1 Nrn. 4 und 8, 184a S. 1 Nr. 2, 184b Abs. 1 Nr. 4, 184c Abs. 1 Nr. 4, 275 Abs. 1, 276 Abs. 1 Nr. 1 StGB der Fall ist), genügt – wie bei jedem Unternehmensdelikt (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 6 StGB) – bereits der Versuch der Einfuhr zur Tatbestandsverwirklichung und damit zur Vollendungsstrafbarkeit196, so dass z.B. ein Abfangen beim Zoll die Strafbarkeit nicht hindert197. Bereits das Aufgeben im Ausland zur Versandstelle (Post) genügt198, ebenso das In-Bewegung-Setzen des Gegenstands von einem grenznahen Ort aus in Richtung Grenze199. 182 195 Vgl. OLG Hamm NJW 2000, 1965 f.; Hilgendorf (Fn. 33), § 184 Rn. 38; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 68, 94. 183 Näher hierzu bereits M. Heinrich, ZJS 2016, 297 (301, 312). 184 BGHSt 31, 252 (254); 34, 180 (181); Steinmetz (Fn. 77), § 86 Rn. 34; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 42. 185 König, NStZ 1995, 1 (2); Steinmetz (Fn. 77), § 86 Rn. 34. 186 Laufhütte/Kuschel (Fn. 77), § 86 Rn. 33; Steinmetz (Fn. 77), § 86 Rn. 34. 187 OLG Schleswig NJW 1971, 2319; Steinmetz (Fn. 77), § 86 Rn. 34. 188 Vgl. Fn. 187 sowie Heger (Fn. 10), § 184 Rn. 5; a.A. Laufhütte/Kuschel (Fn. 77), § 86 Rn. 33. 189 Abl. daher (wenn auch inkonsequent mit Versandhandel argumentierend) Schreibauer (Fn. 16), S. 239 f. 190 So auch Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 67. 191 Vgl. (zu § 184 Abs. 1 Nr. 3 StGB) OLG München NJW 2004, 3344 (3346); Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 56. 192 Vgl. hierzu bereits bereits M. Heinrich, ZJS 2016, 297 (301). 193 M. Heinrich, ZJS 2016, 569 (583). 194 Insoweit i.E. richtig Schreibauer (Fn. 16), S. 239 f. 2. Das Ausführen „Ausführen“ – als Gegenstück zum „Einführen“ (soeben 1.) – meint das „Verbringen aus dem Hoheitsgebiet der Bundesrepublik über die Grenze in ein fremdes Hoheitsgebiet“200, sei es nun im Zuge persönlichen Außer-Landes-Bringens oder durch Versenden ins Ausland201. Vollendung tritt ein mit dem Grenzübertritt in ein Nachbarland der Bundesrepublik202, auch wenn dies noch nicht das Bestimmungsland ist203. Bei sog. Durchfuhr durch das Bundesgebiet ist immer auch eine Ausfuhr gegeben204. Steht bereits das „Unternehmen“ des Ausführens unter Strafe (wie in §§ 130 Abs. 2 Nr. 3, 131 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 184 Abs. 1 Nr. 9, 184a S. 1 Nr. 2, 184b Abs. 1 Nr. 4, 184c Abs. 1 Nr. 4, 275 Abs. 1, 276 Abs. 1 Nr. 1 StGB), genügen – als Versuch des „Ausführens“ (siehe § 11 Abs. 1 Nr. 6 StGB) – schon alle Handlungen, „die bei ungestörtem Fortgang unmittelbar zur Ausfuhr führen sollen oder die in unmittelbarem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang zu ihr stehen“205, wie insbesondere die Aufgabe zum Versand bzw. Übergabe an das Beförderungsunternehmen206. Im Anschluss an die entsprechende Erweiterung des Verständnisses von „Einführen“ aufgrund der Erstreckung des Begriffs „Versandhandel“ auch auf den „elektronischen VerZu Recht kritisch hierzu Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 43. Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 41; Hilgendorf (Fn. 33), § 184 Rn. 37; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 69. 197 Hilgendorf (Fn. 33), § 184 Rn. 37. 198 Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 42; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 69; Wolters (Fn. 29), § 184 Rn. 41. 199 BGHSt 36, 249 (250); Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184 Rn. 30; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 69. 200 B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 189; Steinmetz (Fn. 77), § 86 Rn. 35; Laufhütte/Kuschel (Fn. 77), § 86 Rn. 34; Fischer (Fn. 4), § 184 Rn. 22; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 67; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 97; Hilgendorf (Fn. 33), § 184 Rn. 45. 201 Fischer (Fn. 4), § 184 Rn. 22. 202 Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184 Rn. 45; Schreibauer (Fn. 16), S. 283. 203 Sondern nur Durchfuhr-Land; vgl. Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184 Rn. 45; Fischer (Fn. 4), § 184 Rn. 22. 204 OLG Schleswig NJW 1971, 2319; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 67; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 189. 205 Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184 Rn. 45; siehe auch Schreibauer (Fn. 16), S. 283; Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1049. 206 Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 97. 196 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 35 AUFSÄTZE Manfred Heinrich sand“ (§ 1 Abs. 4 JuSchG, vgl. soeben unter 1.), wird man konsequenterweise auch beim „Ausführen“ die Fälle der Datenübermittlung per Internet mit einbeziehen müssen207, wobei das fehlende „körperliche Verbringen“ durch das „Erzeugen eines Duplikats beim Empfänger“ kompensiert wird (vgl. auch hierzu bereits soeben unter 1.). Nicht erfasst wird (mangels jenes Duplizierens) wiederum die Ausstrahlung einschlägigen Materials über Rundfunk oder Fernsehen. VI. Das Sich-Verschaffen In einer Reihe von Tatbeständen ist das „Sich-Verschaffen“ unter Strafe gestellt, in vielen Fällen das „Sich-Verschaffen“ von (ganz unterschiedlichen) Gegenständen (in §§ 87 Abs. 1 Nr. 3, 89a Abs. 2 Nrn. 2 und 3, 91 Abs. 1 Nr. 2, 96 Abs. 1, Abs. 2, 100a Abs. 2, 146 Abs. 1 Nrn. 2 und 3, 148 Abs. 1 Nr. 2, 149 Abs. 1, 152a Abs. 1 Nr. 2, 184b/c Abs. 3, 201a Abs. 3 Nr. 2, 259 Abs. 1, 261 Abs. 2 Nr. 1, 275 Abs. 1, 276 Abs. 1 Nr. 2, 310 Abs. 1, 316c Abs. 4 StGB, § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG, § 374 Abs. 1 Nr. 1 AO, §§ 127 Abs. 1, 128 Abs. 1 Nr. 2 OWiG), in anderen Fällen von Kenntnis bzw. Kenntnissen (so in §§ 96 Abs. 1, 2, 107c, 202 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2, 206 Abs. 2 Nr. 1 StGB) und in wieder anderen Fällen von Daten (§ 202b StGB) bzw. dem Zugang zu Daten (§ 202a Abs. 1 StGB), von Computerprogrammen (§§ 202c Abs. 1 Nr. 2, 263a Abs. 3 StGB), von Passwörtern oder sonstigen Sicherheitscodes (§ 202c Abs. 1 Nr. 1 StGB) sowie von Vermögensvorteilen (§§ 263 Abs. 1, 263a Abs. 1 StGB) und von Versicherungsleistungen (§ 265 Abs. 1 StGB). Was speziell das „Sich-Verschaffen“ von Gegenständen betrifft, ist darunter die Herbeiführung eines tatsächlichen Herrschaftsverhältnisses zu verstehen208. Wenn in diesem Zusammenhang gelegentlich von „Inbesitznahme“ die Rede ist209 (gar im Gesetzestext der §§ 184b Abs. 3, 184c Abs. 3 StGB von „Verschaffen des Besitzes“), so ist damit letztlich nichts anderes gemeint, wenn man sich nur dessen bewusst ist, dass damit nicht auf den zivilrechtlichen Besitzbegriff210, sondern auf die Erlangung tatsächlicher Sachherrschaft (d.h. Gewahrsam) abgestellt sein soll211. Die Erlangung von unmittelbarem Besitz (und von Besitzdienerschaft im Sinne des § 855 BGB212) ist stets erfasst, der Erwerb mittelbaren Besitzes jedoch nur, wenn man ungehinderten Zugang zu dem 207 So i.E. auch Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 97; Laue, in: Dölling/Duttge/Rössner (Hrsg.), Handkommentar, Gesamtes Strafrecht, 3. Aufl. 2013, § 184 Rn. 15; a.A. Schreibauer (Fn. 16), S. 285. 208 B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 194; siehe auch Eisele (Fn. 4), § 184b Rn. 15; Hörnle (Fn. 11), § 184b Rn. 34, 28. 209 Sternberg-Lieben (Fn. 83), § 96 Rn. 4. 210 Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184b Rn. 7; Hilgendorf (Fn. 33), § 184b Rn. 17 211 Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1097; siehe auch Hilgendorf (Fn. 33), § 184b Rn. 17; Lampe/Hegmann, in: Joecks/Miebach (Fn. 1), § 96 Rn. 3. 212 So die in Fn. 213 Genannten und Hilgendorf (Fn. 33), § 184b Rn. 18; a.A. Wolters (Fn. 29), § 184b Fn. 44. Gegenstand erlangt und ohne Weiteres über ihn verfügen kann213. Auf die Entgeltlichkeit kommt es nicht an214, und auch nicht-rechtsgeschäftliches Erlangen (etwa durch Diebstahl, Unterschlagung, Erpressung) kommt als sog. einseitiges Verschaffen in Betracht215. Ebenso ist das Herstellen des betreffenden Gegenstandes (etwa die Aufnahme eines kinderpornografischen Fotos) als „Verschaffen durch Anfertigen“ relevant216. „Sich-Verschaffen“ bedeutet mehr als bloß das vorsätzliche Herbeiführen eines tatsächlichen Herrschaftsverhältnisses. Ihm ist vielmehr ein finales Moment zu eigen: Der Täter muss es gerade auf die Erlangung des betreffenden Gegenstandes (etwa in § 184b Abs. 3 StGB der kinderpornografischen Schrift) abgesehen haben217. VII. Auf Wissensvermittlung gerichtete Tathandlungen Neben den bisher besprochenen finden sich noch eine Reihe anderer im Gesetz mehrfach wiederkehrender mediendeliktisch konnotierter Tathandlungen, bei denen es nun aber von vornherein nicht um den Umgang mit per se bemakelten Inhalten geht – seien diese nun pornografisch, hetzerisch, jugendgefährdend oder ähnliches –, sondern um die Vermittlung von (zumeist218 nicht für jedermanns Ohren bestimmtem) Wissen im Rahmen von Mitteilungs-, Offenbarungsoder sonstigen Preisgabedelikten. 1. Das Mitteilen, bzw. die Mitteilung In einigen Vorschriften des StGB ist die Rede von „mitteilen“ (§§ 94 Abs. 1 Nr. 1, 97a S. 1, 99 Abs. 2 S. 2, 265b Abs. 1 Nr. 2 StGB) bzw. „Mitteilung“ (§§ 98 Abs. 1 Nr. 1, 99 Abs. 1 Nr. 1, 206 Abs. 1, 4, 241a Abs. 2, Abs. 4 StGB) oder von „öffentlich mitteilen“ (§§ 201 Abs. 2 S. 1 Nr. 2, 353d Nr. 3 StGB) bzw. „öffentlicher Mitteilung“ (§§ 201 Abs. 2 S. 2 und 3, 353d Nr. 1 StGB). Erfolgt die Mitteilung auf medialem Wege – was freilich nicht notwendig der Fall sein muss (man denke an die Übergabe einer als „Staatsgeheimnis“ im Sinne des § 93 Abs. 1 213 Eisele (Fn. 4), § 184b Rn. 15; Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1097; Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184b Rn. 7. 214 Eisele (Fn. 4), § 184b Rn. 14; Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1094; siehe auch Fischer (Fn. 4), § 184b Rn. 22 (zum Besitz). 215 Eisele (Fn. 4), § 184b Rn. 14; Lampe/Hegmann (Fn. 211), § 96 Rn. 4; Hörnle (Fn. 11), § 184b Rn. 34. 216 BGHSt 43, 366 (368); Eisele (Fn. 4), § 184b Rn. 14; Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 15), § 184b Rn. 11. 217 Grundlegend hierzu M. Heinrich, NStZ 2005, 361 (365 f.); siehe auch Hörnle (Fn. 11), § 184b Rn. 34; Schmidt, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Fn. 77), § 96 Rn. 3, § 100a Rn. 8; Paeffgen, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 2, 4. Aufl. 2013, § 96 Rn. 5, § 100a Rn. 12; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 194. 218 Keine Rolle spielt der Geheimhaltungsaspekt beim Mitteilen in §§ 241a Abs. 2, Abs. 4, 265b Abs. 1 Nr. 2 StGB. _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 36 Sonstige häufig wiederkehrende Tathandlungen im Medienstrafrecht StGB anzusehenden neuartigen Waffe, das Nicht-Mitteilen von „Verschlechterungen“ gem. § 265b Abs. 1 Nr. 2 StGB oder die Mitteilung im Rahmen eines persönlichen Gesprächs, einer öffentlichen Rede oder einer Versammlung) –, so ist mit „mitteilen“ bzw. „Mitteilung“ letztlich nichts anderes gemeint, als dass dem Adressaten Kenntnis über den Inhalt vermittelt wird219 – etwa des (Staats-)Geheimnisses in §§ 94 Abs. 1 Nr. 1, 97a S. 1, 98 Abs. 1 Nr. 1 StGB, der Tatsache in §§ 99 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 S. 2, 206 Abs. 1, Abs. 4 StGB, des nichtöffentlich gesprochenen Wortes in § 201 Abs. 2 StGB oder des Schriftstückes in § 353d Nrn. 1 und 3 StGB. Ob die Mitteilung mündlich oder schriftlich erfolgt oder auf sonstige Weise – etwa mittels Übergabe, Vorzeigens oder auch bloßen (Kenntnisnahme ermöglichenden) Liegenlassens220 des betreffenden Gegenstands, z.B. des Schriftstücks –, ist letztlich egal221; der Begriff des „Mitteilens“ ist insofern weit zu verstehen222. Wenn freilich „öffentliches Mitteilen“ verlangt wird, ist – wie beim Öffentlich-zugänglich-Machen223 und beim öffentlich Begehen224 – zur Bejahung des Merkmals „öffentlich“ erforderlich, dass die Mitteilung „von einem größeren, individuell nicht feststehenden oder jedenfalls durch persönliche Beziehungen nicht verbundenen Personenkreis wahrgenommen werden kann“225. In Frage kommt hier, neben der Mitteilung im Rahmen einer Menschenansammlung226, vor allem ein „Veröffentlichen“227 in Presse, Rundfunk oder Fernsehen bzw. im Internet. 2. Das Offenbaren Wenn in einigen Vorschriften des StGB von „offenbaren“ die Rede ist (so in der Überschrift des § 95 StGB sowie in §§ 96 Abs. 2, 203 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 2a, 205 Abs. 2 S. 3, 353b Abs. 1, 353d Nr. 2, 355 Abs. 1 StGB), so ist dies durchweg 219 Vgl. nur Sternberg-Lieben (Fn. 83), § 94 Rn. 6; Altvater, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Fn. 15), § 206 Rn. 27; Perron, in: Schönke/Schröder (Fn. 4), § 353d Rn. 9. 220 Fischer (Fn. 4), § 94 Rn. 3; siehe auch Vogler, in: Satzger/ Schluckebier/Widmaier (Fn. 33), § 94 Rn. 3 („durch garantenpflichtwidriges Unterlassen“). 221 Vgl. Sternberg-Lieben (Fn. 83), § 94 Rn. 6; Lampe/Hegmann (Fn. 211), § 94 Rn. 5; Vogler (Fn. 220), § 94 Rn. 3; Altvater (Fn. 219), § 206 Rn. 27; Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder (Fn. 4), § 206 Rn. 10. 222 Vogler (Fn. 220), § 94 Rn. 3; siehe auch Fischer (Fn. 4), § 94 Rn. 3: „durch Tun oder Unterlassen“ (siehe schon Fn. 220). 223 Vgl. M. Heinrich, ZJS 2016, 698 (700 f.). 224 Vgl. M. Heinrich, ZJS 2016, 698 (707 f.). 225 Perron (Fn. 219), § 353d Rn. 46; Graf, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 4, 2 Aufl. 2012, § 201 Rn. 36; Schünemann, in: Laufhütte/ Rissing-van Saan/Tiedemann (Fn. 15),§ 201 Rn. 26. 226 Vgl. Lenckner/Eisele (Fn. 221), § 201 Rn. 26: „Eine Veröffentlichung ist […] nicht erforderlich“. 227 Perron (Fn. 219), § 353d Rn. 9; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 190. STRAFRECHT im Sinne der Preisgabe eines Geheimnisses zu verstehen – sei es nun eines Staatsgeheimnisses (§§ 95, 96 Abs. 2 StGB), nur einfach eines Geheimnisses (§§ 203 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 2a, 205 Abs. 2 S. 3, 353b Abs. 1 StGB), eines Steuergeheimnisses (§ 355 Abs. 1 StGB) oder auch von im Sinne des Bestehens einer Schweigepflicht geheimzuhaltender Tatsachen (§ 353d Nr. 2 StGB). Was letztlich damit gemeint ist, ergibt sich im Grunde unmittelbar aus § 95 Abs. 1 StGB, der das in der Überschrift der Norm genannte „Offenbaren“ umschreibt mit228: „an einen Unbefugten gelangen läßt oder öffentlich bekanntmacht“229 (siehe nachfolgend 3. und 4.). Wenn dies nicht selten verkannt bzw. verkürzt wird auf Formulierungen wie: „Ein Geheimnis offenbart, wer einem anderen Kenntnis davon verschafft“230, oder: „Offenbaren ist jede Mitteilung über die geheimzuhaltende Tatsache […] an einen Dritten“231, oder in geradezu poetischer Weise überhöht wird zu: „Offenbaren ist jede Hinausgabe von Tatsachen aus dem Kreis der Wissenden oder der zum Wissen Berufenen“232, so liegt das (mit) auch am Fehlen entsprechend normübergreifenden Betrachtens233. Ein Wesensmerkmal des „Offenbarens“ ist, dass das Geheimnis dem (ggf. einzigen234) Empfänger noch unbekannt ist235, wobei bereits gehegte Vermutungen oder im Umlauf befindliche Gerüchte des nämlichen Inhalts nicht schaden236 228 In diesem Sinne ist auch in § 96 Abs. 2 StGB von „[…] offenbaren (§ 95) […]“ die Rede. 229 In diesem Sinne denn auch Sternberg-Lieben (Fn. 83), § 96 Rn. 6 („Offenbarung i.S.v. § 94 Abs. 1 Nr. 2“); Fischer (Fn. 4), § 353b Rn. 15; Bosch, in: Schönke/Schröder (Fn. 4), § 353b Rn. 6 sowie insb. 7 a.E.; siehe auch Vormbaum, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 13, 12. Aufl. 2009 § 353b Rn. 17. 230 Kuhlen, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Fn. 8), § 353b Rn. 19; Hoyer, in: Wolter (Fn. 9), § 353b Rn. 7. 231 Heger (Fn. 10), § 203 Rn. 17; ähnlich Fischer (Fn. 4), § 203 Rn. 30; Bosch (Fn. 229), § 203 Rn. 31; Hoyer (Fn. 230), § 353d Rn. 19; Eisele (Fn. 58), 5/6; siehe auch B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 191 („an einen Dritten gelangen lässt“). 232 Schünemann (Fn. 225), § 203 Rn. 41. 233 Gelegentlich finden sich aber immerhin einzelne Bezugnahmen auf andere Normen; so etwa bei Heger (Fn. 10), § 353b Rn. 8, § 353d Rn. 3, § 355 Rn. 5 auf die Kommentierung in § 203 Rn. 17. 234 Hoyer (Fn. 230), § 353d Rn. 19, § 355 Rn. 11. 235 Lenckner/Eisele (Fn. 221), § 203 Rn. 19a; Hoyer, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, 56. Lfg, Stand: Mai 2003, § 203 Rn. 3; ders. (Fn. 230), § 353b Rn. 7, § 353d Rn. 19, § 355 Rn. 11; ebenso mit ausführlicher und überzeugender Begründung Vormbaum (Fn. 229), § 353b Rn. 21. 236 Lenckner/Eisele (Fn. 221), § 203 Rn. 19a; Hoyer (Fn. 235), § 203 Rn. 31; ders. (Fn. 230), § 353b Rn. 7. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 37 AUFSÄTZE Manfred Heinrich – so dass ein „Offenbaren“ nur bei schon bestehender sicherer Kenntnis scheitert237. Bei mündlichen Mitteilungen ist die tatsächliche Kenntnisnahme erforderlich238, wobei die bloße Wahrnehmung, auch ohne intellektuelles Verstehen, ausreicht239, bei verkörperten Erklärungen (insbesondere Schriftstücken) genügt schon die Erlangung bzw. das Verschaffen des Gewahrsams240 und bei Dateien die Gewährung des Zugangs241 mit jeweils der damit verbundenen Möglichkeit zur Kenntnisnahme242. Auf das Bestehen einer Schweigepflicht des Empfängers kommt es nicht an243. Fraglich ist aber, ob auch Mitteilungen erfasst sind, die letztlich „im Innenbereich“ – man denke an die internen Arbeitsabläufe im Rahmen einer Arztpraxis bzw. einer Anwaltskanzlei (zu § 203 Abs. 1 Nr. 1, 3 StGB) oder einer Behörde (zu § 353b Abs. 1 StGB) – verbleiben und nicht „nach außen getragen“ werden244. Gerade angesichts des für den Begriff des „Offenbarens“ relevanten, insoweit einschränkenden Gesetzestextes des § 95 Abs. 1 StGB („an einen Unbefugten gelangen läßt“) ist dies zu verneinen245 – und im Zuge eines dergestalt „institutionellen Offenbarensbegriffs“246 das „Offenbaren“ also als abhängig von der „Hinausgabe von Tatsachen aus dem Kreis der Wissenden oder der zum Wissen Berufenen“ zu begreifen247, wobei zu diesem Kreis insbesondere auch derjenige zählt, der „in bestimmten Funktionen (Kanzlei, Praxis, Behörde) als Bediensteter Zugang [zu dem Geheimnis] hat“248. 237 Schünemann (Fn. 225), § 203 Rn. 41; Hoyer (Fn. 235), § 203 Rn. 31, ders. (Fn. 230), § 353b Rn. 7; Fischer (Fn. 4), § 203 Rn. 30. 238 Lenckner/Eisele (Fn. 221), § 203 Rn. 19; Hoyer (Fn. 235), § 203 Rn. 31; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 191. 239 Heger (Fn. 10), § 203 Rn. 17; in diesem Sinne bereits RGSt 51, 184 (189). 240 Schünemann (Fn. 225), § 203 Rn. 41; Lenckner/Eisele (Fn. 221), § 203 Rn. 19; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 191. 241 Bosch (Fn. 229), § 203 Rn. 31; ausführlich zu ggf. nötigen Einschränkungen Schünemann (Fn. 225), § 203 Rn. 41. 242 RGSt 51, 184 (189); Lenckner/Eisele (Fn. 221), § 203 Rn. 19; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 191. 243 Schünemann (Fn. 225), § 203 Rn. 41, 42, 43; Fischer (Fn. 4), § 203 Rn. 30b; Kuhlen (Fn. 230), § 353b Rn. 19. 244 Dies bejahend etwa – mit guter Begründung – Hoyer (Fn. 235), § 203 Rn. 33 ff. 245 So auch die h.M., vgl. nur Schünemann (Fn. 225), § 203 Rn. 41, 43; Heger (Fn. 10), § 203 Rn. 17; Bosch (Fn. 229), § 353b Rn. 6; ausführlich hierzu auch Vormbaum (Fn. 229), § 353b Rn. 22. 246 So (in Abgrenzung zu einem nicht auf funktionelle Zusammenhänge abstellenden „rein personalen Offenbarensbegriff“) die treffende Bezeichnung bei Hoyer (Fn. 235), § 203 Rn. 34 f. 247 Eben so umschreibt Schünemann (Fn. 225), § 203 Rn. 41 das „Offenbaren“; siehe auch Fischer (Fn. 4), § 203 Rn. 30b. 248 Schünemann (Fn. 225), § 203 Rn. 41; siehe auch Heger (Fn. 10), § 203 Rn. 17 (bestimmte Funktionseinheiten). 3. Das Gelangenlassen Das in §§ 94 Abs. 1 Nr. 2, 95 Abs. 1, 97 Abs. 1, Abs. 2, 100a Abs. 1, Abs. 2, 109g Abs. 1, Abs. 2, Abs. 4, 184 Abs. 1 Nr. 6, 353b Abs. 2 StGB explizit genannte und in jenen Tatbeständen, die ein „Offenbaren“ verlangen (d.h. in §§ 95 – Überschrift –, 96 Abs. 2, 203 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 2a, 205 Abs. 2 S. 3, 353b Abs. 1, 353d Nr. 2, 355 Abs. 1 StGB), in Ausfüllung eben dieses Merkmals der Sache nach mit enthaltene (vgl. oben 2.) „Gelangenlassen“ (das sich übrigens einzig in § 184 Abs. 1 Nr. 6 StGB auf Schriften im Sinne des § 11 Abs. 3 StGB bezieht) bedeutet bei körperlichen Gegenständen (in Form von Staatsgeheimnissen in §§ 94 Abs. 1 Nr. 2, 95 Abs. 1, 97 Abs. 1, Abs. 2, Abbildungen in § 109 Abs. 1, Abs. 2, 4, Schriften in § 184 Abs. 1 Nr. 6 oder Gegenständen in §§ 100a Abs. 1, Abs. 2 bzw. 353b Abs. 2 StGB) entsprechend dem „Zugehen“ im Sinne des BGB249 das „Überführen […] in den Verfügungsbereich eines anderen, sodass dieser davon Kenntnis nehmen kann“250 – wobei es nicht darauf ankommt, dass eine Kenntnisnahme auch tatsächlich erfolgt251. Das „Gelangenlassen“ erfordert letztlich also, dass der Empfänger Gewahrsam am Gegenstand erlangt252 (sodass bloßes Vorlesen, Vorlegen, Vorzeigen oder Vorführen nicht genügt253) – was auch durch Unterlassen (unbeaufsichtigtes Liegenlassen) geschehen kann254. Demgegenüber ist in allen anderen Konstellationen des „Gelangenlassens“, d.h. bei körperlosen Staatsgeheimnissen (sprich: geheimzuhaltenden Tatsachen und Erkenntnissen, vgl. § 93 Abs. 1 StGB) in §§ 94 Abs. 1 Nr. 2, 95 Abs. 1, 97 Abs. 1, Abs. 2 StGB, bei Behauptungen und Nachrichten in § 101a Abs. 1 StGB oder bei Nachrichten in § 353b Abs. 2 StGB, jedes Tun oder Unterlassen einschlägig, durch das ein anderer denn auch tatsächlich die entsprechende Kenntnis erlangt255 (ebenso zum „Offenbaren“ bereits oben 2.). 249 Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 52; B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 192; Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1017. 250 B. Heinrich (Fn. 4), Rn. 192; siehe auch BGH NStZ 2005, 688; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 52; Laubenthal (Fn. 34), Rn. 1017; siehe auch Paeffgen (Fn. 217), § 100a Rn. 6; Wohlers/Kargl, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Fn. 217), § 109g Rn. 3; Perron (Fn. 219), § 353b Rn. 17. 251 Rudolphi/Pasedach/Wolter, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, 145. Lfg, Stand: Mai 2014, § 94 Rn. 11; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 82; Perron (Fn. 219), § 353b Rn. 17. 252 Rudolphi/Pasedach/Wolter (Fn. 251), § 94 Rn. 11; Schroeder, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Fn. 77), § 109g Rn. 7; Vormbaum (Fn. 229), § 353b Rn. 19. 253 Müller, in: Joecks/Miebach (Fn. 1), § 109g Rn. 15; Hörnle (Fn. 11), § 184 Rn. 81; Hilgendorf (Fn. 33), § 184 Rn. 41. 254 Sternberg-Lieben (Fn. 83), § 94 Rn. 9; Lohse, in: Satzger/ Schluckebier/Widmaier (Fn. 33), § 109g Rn. 5. 255 Vgl. Sternberg-Lieben (Fn. 83), § 94 Rn. 9; Schmidt (Fn. 217), § 100a Rn. 4; Perron (Fn. 219), § 353b Rn. 17. _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 38 Sonstige häufig wiederkehrende Tathandlungen im Medienstrafrecht 4. Das Öffentlich-Bekanntmachen Dem „Gelangenlassen“ (soeben 3.) ist nicht selten das „Öffentlich-Bekanntmachen“ zur Seite gestellt – wie jenes letztlich ein Aspekt des in weiteren Delikten (vgl. die Aufzählung oben unter 2.) mitunter genannten „Offenbarens“. Zu nennen sind hier §§ 94 Abs. 1 Nr. 2, 95 Abs. 1, 97 Abs. 1 (nicht aber Abs. 2), 100a Abs. 1, Abs. 2, 353b Abs. 2 StGB. Dabei ist das „Öffentlich-Bekanntmachen“ nichts anderes als ein Sonderfall des „Gelangenlassens an Unbefugte“256 bzw. überhaupt des „Gelangenlassens“257. Das „Öffentlich-Bekanntmachen“ umfasst jedes Verhalten, das „einer unbestimmten Vielzahl von Personen die Kenntnisnahme ermöglicht“258, wobei es – nicht anders als beim Öffentlich-zugänglich-Machen259, beim öffentlichen Begehen260 oder beim öffentlichen Mitteilen (oben 1.) – bei einem größeren, aber zahlenmäßig begrenzten Personenkreis darauf ankommt, dass „dieser Kreis nicht durch besondere persönliche oder sonst eine gewisse Vertrautheit begründende wechselseitige Beziehungen zusammengehalten wird“261. Die Bekanntgabe an einzelne genügt auch dann nicht, wenn mit der Weitergabe an eine Personenvielzahl gerechnet wird bzw. zu rechnen ist262. Hinreichend sind aber für Dritte wahrnehmbare Äußerungen (z.B. am Handy) in vollbesetzten öffentlichen Verkehrsmitteln263. Egal ist, in welcher Weise das „Öffentlich-Bekanntmachen“ erfolgt, ob mündlich, schriftlich oder in sonstiger Weise264 (bspw. durch öffentliches Ausstellen265) – wobei zwar auch die Präsentation unter körperlich Anwesenden in Betracht kommt266, gerade aber die „unverschlüsselte Mitteilung in Massenkommunikationsmitteln“267, die Veröffentli- STRAFRECHT chung in den Medien268, insbesondere in Presse269 und Internet270, von Bedeutung ist. Es kommt auch nicht darauf an, ob tatsächlich jemand Kenntnis nimmt bzw. gar den Inhalt des Offenbarten geistig erfasst271. 256 Vormbaum (Fn. 229), § 353b Rn. 20; Paeffgen (Fn. 217), § 94 Rn. 18; Schmidt (Fn. 217), § 100a Rn. 4. 257 Paeffgen (Fn. 217), § 100a Rn. 7. 258 Schmidt (Fn. 217), § 94 Rn. 6, § 100a Rn. 4; siehe auch Vogler (Fn. 220), § 94 Rn. 8; Paeffgen (Fn. 217), § 94 Rn. 18, § 100a Rn. 7; Hoyer (Fn. 230), § 353b Rn. 12; Vormbaum (Fn. 229), § 353b Rn. 20; Kuhlen (Fn. 230), § 353b Rn. 47. 259 Vgl. M. Heinrich, ZJS 2016, 698 (700 f.). 260 Vgl. M. Heinrich, ZJS 2016, 698 (707 f.). 261 Schmidt (Fn. 217), § 94 Rn. 6; ebenso Lampe/Hegmann (Fn. 211), § 94 Rn. 11. 262 Schmidt (Fn. 217), § 94 Rn. 6; Paeffgen (Fn. 217), § 94 Rn. 18 (mit Hinweis auf ggf. ein „Gelangenlassen“). 263 Arndt, ZStW 66 (1954), 41 (62); Schmidt (Fn. 217), § 94 Rn. 6; Paeffgen (Fn. 217), § 94 Rn. 18. 264 Vogler (Fn. 220), § 94 Rn. 8; Schmidt (Fn. 217), § 94 Rn. 6; Lampe/Hegmann (Fn. 211), § 94 Rn. 11. 265 Perron (Fn. 219), § 353b Rn. 17; Schmidt (Fn. 217), § 94 Rn. 6 („körperliche Zurschaustellung“). 266 Vgl. Sternberg-Lieben (Fn. 83), § 94 Rn. 11; Lampe/Hegmann (Fn. 211), § 94 Rn. 11 (öffentliche Vorführungen). 267 Fischer (Fn. 4), § 94 Rn. 4; nicht hingegen die verschlüsselte, vgl. Lampe/Hegmann (Fn. 211), § 94 Rn. 11. 268 Vgl. Paeffgen (Fn. 217), § 94 Rn. 18, § 101a Rn. 7; Vormbaum (Fn. 229), § 353b Rn. 20. 269 Lampe/Hegmann (Fn. 211), § 94 Rn. 11; Schmidt (Fn. 217), § 94 Rn. 6, § 100a Rn. 4. 270 Lampe/Hegmann (Fn. 211), § 101a Rn. 6 (mit Blick auf „öffentlich“ unscharf: „Verbreiten im Internet“). 271 Schmidt (Fn. 217), § 94 Rn. 6, § 100a Rn. 4; Perron (Fn. 219), § 353b Rn. 17; siehe aber: Hoyer (Fn. 230), § 353b Rn. 12. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 39 Bericht über einen Moribunden: Das Privatklageverfahren Rechtliches, Rechtstatsächliches, Reform- und Zukunftsperspektiven – Teil 1* Von Jun.-Prof. Dr. Tillmann Bartsch, Tübingen Dieser Beitrag soll über das Privatklageverfahren informieren, das – je nach Prüfungsordnung – im Staatsexamen, jedenfalls aber in kriminalwissenschaftlichen/straf(prozess-) rechtlichen Schwerpunktbereichen Gegenstand von Prüfungen sein kann. Bei dem Privatklageverfahren handelt es sich um eine spezielle Art des Strafverfahrens, das eine besonders intensive Beteiligung des Verletzten ermöglicht und bereits in der 1879 in Kraft getretenen Reichsstrafprozessordnung (RStPO) enthalten war. Zu Beginn wird – nach kurzen Ausführungen zur Entstehungsgeschichte (I.) – ein Überblick zu Ziel, Eigenart, rechtlichen Voraussetzungen und Ablauf des Privatklageverfahrens gegeben (II.). Daran schließt sich im zweiten Teil ein empirischer Abschnitt, der einen Einblick in die Rechtswirklichkeit dieses Verfahrens geben soll, an (I. im zweiten Teil). Dieser offenbart einen stetig zunehmenden Bedeutungsverlust in der gerichtlichen Praxis, der vornehmlich auf die gesetzliche Ausgestaltung des Privatklageverfahrens zurückzuführen sein dürfte. Vor diesem Hintergrund wird im abschließenden Ausblick (II. im zweiten Teil) nach Reform- und Zukunftsperspektiven für diese besondere Verfahrensart gefragt. I. Entstehungsgeschichte Vor Einführung der RStPO wurde lange Zeit darüber diskutiert, in welcher Form die Privatklage Eingang in dieses Gesetzeswerk finden sollte. Erörtert wurden im Wesentlichen zwei Modelle: Zum einen zog man die Einführung einer sog. subsidiären Privatklage in Betracht. Sie sollte es dem Verletzten oder – in Form einer sog. Popularklage1 – sogar der Allgemeinheit erlauben, immer dann Anklage zu erheben, wenn die Staatsanwaltschaft von der Erhebung einer öffentlichen Klage abgesehen hatte.2 Dahinter standen eine gewisse Skepsis gegenüber dem Anklagemonopol einer weisungsgebundenen Staatsanwaltschaft3 und konkret der Gedanke, dass die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft überwacht und den Bürgern ein * Für wertvolle Unterstützung bei der Zusammenstellung statistischer Daten danke ich Frau Ref. iur. Isabell Härer. 1 Ein prominenter Anhänger dieser Idee war Franz v. Liszt; siehe ders., in: v. Liszt (Hrsg.), Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. 1, 1871-1891, S. 29 ff. 2 Ausführlich hierzu Kircher, Die Privatklage. Eine strafprozessuale und kriminalpolitische Studie zur Möglichkeit einer Begrenzung des Strafrechts auf prozessualem Weg, 1971, S. 86 ff.; Koewius, Die Rechtswirklichkeit der Privatklage, 1974, S. 19 ff.; Lütz-Binder, Rechtswirklichkeit der Privatklage und Umgestaltung zu einem Aussöhnungsverfahren, 2010, S. 33; Muttelsee, Die Sicherung des Rechtsfriedens im Bereich der Privatklagedelikte, 1991, S. 11 ff.; Weigend, Deliktsopfer und Strafverfahren, 1989, S. 118 ff. 3 Grebing, GA 1984, 1 (3 f.); Velten, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung, GVG und EMRK, Bd. 8, 4. Aufl. 2013, vor § 374 Rn. 3. wirksames Mittel zum Schutz vor Justizverweigerung an die Hand gegeben werden müsse.4 Zum anderen wurde über die Einführung der sog. prinzipalen Privatklage diskutiert. Im Unterschied zur subsidiären Privatklage sollten Privatpersonen hier bei bestimmten (Bagatell-)Delikten ohne vorherige Anrufung der Staatsanwaltschaft selbständig bei Gericht Klage erheben können.5 Die Staatsanwaltschaft sollte zur Verfolgung dieser Delikte grundsätzlich nicht verpflichtet sein. Die prinzipale Privatklage basierte mithin vor allem auf der Idee, das ansonsten damals noch strikt geltende Legalitätsprinzip (Vorschriften im Sinne der heutigen §§ 153 ff. StPO existierten damals noch nicht; § 153 StPO wurde 1924 durch die sog. „Emminger-Verordnung“6 eingeführt, § 153a StPO erst 19747) in Bagatellfällen einzuschränken,8 um die Staatsanwaltschaften zu entlasten. Diese sollten sich um Quisquilien nicht kümmern müssen;9 die Entscheidung über die Strafverfolgung sollte in solchen Fällen dem Verletzten überantwortet werden. Der Entwurf über die Einführung der RStPO beinhaltete zunächst sowohl einen Abschnitt über die prinzipale als auch über die subsidiäre Privatklage.10 Im Rahmen der Beratungen der Reichstagskommission entschied man sich jedoch dafür, die Kontrolle der Staatsanwaltschaften nicht durch die subsidiäre Privatklage, sondern durch das Klageerzwingungsverfahren zu gewährleisten.11 Eingeführt wurde daher lediglich die prinzipale Privatklage – und dies auch nur für Fälle der Beleidigung und der einfachen Körperverletzung. Dass gerade bei diesen beiden Delikten das Legalitätsprinzip durchbrochen wurde, begründete man damit, dass Beleidigungen und 4 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 28. Aufl. 2014, § 63 Rn. 1. 5 Ausführlich Koewius (Fn. 2), S. 26 ff.; Muttelsee (Fn. 2), S. 13; Weigend (Fn. 2), S. 122 ff. 6 Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege v. 4.1.1924, RGBl. I 1924, S. 23. 7 Eingeführt durch das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch v. 9.3.1975, BGBl. I 1974, S. 508 f. 8 Koewius (Fn. 2), S. 27. 9 Siehe dazu die Motive des Entwurfs einer RStPO bei Hahn (Hrsg.), Die gesammten Materialien zur Strafprozeßordnung und dem Einführungsgesetz zu derselben vom 1. Februar 1977, 1. Abt., 1880, S. 277. Vgl. auch Velten (Fn. 3), vor § 374 Rn. 3. 10 Siehe den dritten Entwurf der RStPO von 1874, der in den §§ 335 ff. Regelungen zur subsidiären Privatklage vorsah und in den §§ 356 ff. Normen über die prinzipale Privatklage. Siehe dazu auch Hilger, in: Erb u.a. (Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 8, 26. Aufl. 2009, vor § 374 Rn. 1, und Weigend (Fn. 2), S. 141 f. 11 Dazu ausführlich Maiwald, GA 1970, 33 (46 f.) und Muttelsee (Fn. 2), S. 15. Siehe auch Grebing, GA 1984, 1 (4); Lütz-Binder (Fn. 2), S. 35. _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 40 Bericht über einen Moribunden: Das Privatklageverfahren leichte Misshandlungen „alltägliche Vorkommnisse [sind], die das allgemeine Wohl der bürgerlichen Gesellschaft meistens wenig oder gar nicht [berühren] und selbst für die Beteiligten […] in der Regel eine viel zu geringe Bedeutung [haben], als daß ein rechtliches oder sittliches Bedürfnis vorläge, stets eine Bestrafung herbeizuführen“.12 In den nachfolgenden Jahren wurde der Anwendungsbereich der Privatklage deutlich erweitert. Zahlreiche Delikte aus dem Kern- und Nebenstrafrecht kamen hinzu.13 Dabei erstreckte sich der Anwendungsbereich der Privatklage vorübergehend sogar auf die gefährliche Körperverletzung (vormals: § 223a StGB, heute: § 224 StGB).14 Jedoch entschied sich der Gesetzgeber im Rahmen des 6. Strafrechtsreformgesetzes15 im Jahr 1998 dazu, diesen qualifizierten Körperverletzungstatbestand wieder den Offizialdelikten zuzuordnen, um den Unrechtsgehalt solcher Taten klarer herauszustellen.16 Zuletzt wurde der Katalog der Privatklagedelikte wieder erweitert, und zwar um bestimmte Fälle des § 323a StGB, um den Grundtatbestand der Nachstellung (§ 238 Abs. 1 StGB) sowie um § 201a Abs. 1 und 2 StGB. 17 Hinweis 1: Aller Voraussicht nach wird die Nachstellung sehr bald kein Privatklagedelikt mehr sein. Am 15.12. 2016 hat der Bundestag das „Gesetz zur Verbesserung des Schutzes gegen Nachstellung“, dessen Art. 2 die Streichung des § 238 Abs. 1 StGB aus dem Katalog der Privatklage beinhaltet, verabschiedet (zum Hintergrund dieser Reform siehe II. im zweiten Teil).18 Zum Zeitpunkt der 12 Motive des Entwurfs einer RStPO bei Hahn (Fn. 9), S. 277. Einen ausführlichen Überblick geben Hilger (Fn. 10), § 374, S. 19 f. (Entstehungsgeschichte) und Koewius (Fn. 2), S. 44. 14 Auf die gefährliche Körperverletzung wurde der Anwendungsbereich erstreckt durch das Gesetz zur Entlastung der Gerichte v. 11.3.1921, RGBl. I 1921, S. 231. 15 Sechstes Gesetz zur Reform des Strafrechts v. 26.1.1998, BGBl. I 1998, S. 164. 16 Siehe dazu auch BT-Drs. 13/8587, S. 54. 17 Die Erweiterung des Katalogs der Privatklagedelikte um bestimmte Fälle des § 323a StGB geschah durch das das Erste Gesetz zur Modernisierung der Justiz v. 24.8.2004, BGBl. I 2004, S. 2203. Der Grundtatbestand der Nachstellung (§ 238 Abs. 1 StGB) wurde in den Katalog der Privatklagedelikte durch das Gesetz zur Strafbarkeit beharrlicher Nachstellungen v. 22.3.2007, BGBl. I 2007, S. 354 f., eingefügt. § 201a Abs. 1 und 2 StGB kam als Privatklagedelikt hinzu aufgrund des Neunundvierzigsten Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Umsetzung europäischer Vorgaben zum Sexualstrafrecht v. 21.1.2015, BGBl. I 2015, S. 10 ff. 18 Siehe dazu den von der Bundesregierung vorgelegten Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes gegen Nachstellungen v. 12.10.2016, BT-Drs. 18/9946. Der Gesetzentwurf wurde vom Bundestag in einer vom Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz noch geänderten Fassung (BTDrs. 18/10654) angenommen (vgl. den Stenografischen Bericht der 209. Sitzung des Deutschen Bundestages, Plenar13 STRAFRECHT Fertigstellung dieses Beitrags war dieses Gesetz jedoch noch nicht in Kraft getreten. II. Das Privatklageverfahren: Ziel und Eigenart, Voraussetzungen, Ablauf 1. Ziel und Eigenart Das Privatklageverfahren ist im fünften Buch der StPO (Beteiligung des Verletzten am Verfahren) in den §§ 374-394 StPO geregelt. Es handelt sich um ein Strafverfahren, das darauf abzielt, gegen den Beschuldigten eine echte Kriminalstrafe zu verhängen.19 Allerdings zeigen mehrere der in den §§ 374 ff. StPO enthaltenen Regelungen (etwa die Vorschaltung eines Sühneverfahrens oder die gegenüber dem Offizialverfahren erweiterten Möglichkeiten der Klagerücknahme)20, dass vor Verhängung einer Strafe zunächst versucht werden soll, den Konflikt zwischen den Verfahrensbeteiligten gütlich beizulegen.21 Mit dem Privatklageverfahren wird nicht nur das Legalitätsprinzip (s.o.), sondern auch das Offizialprinzip durchbrochen22, da es sich um ein Strafverfahren handelt, das nicht von Amts wegen, sondern aufgrund der Klage einer Privatperson erfolgt.23 Im Privatklageverfahren stehen sich also zwei Privatpersonen gegenüber: die eine als Privatkläger, die andere als Beschuldigter/Angeklagter (siehe Hinweis 2). Gleichwohl stellt das Privatklageverfahren kein echtes Parteiverfahren dar,24 weil auch hier der Ermittlungsgrundsatz25 gilt: So ergibt sich aus § 384 Abs. 3 StPO, dass das Gericht auch in nämlichem Verfahren den Tatsachenstoff in eigener Verantwortung zusammentragen muss. Es ist jedoch nicht zu verkennen, dass das Privatklageverfahren zumindest Züge eines Parteiverfahrens trägt,26 weil der Privatkläger im Geprotokoll 18/209, 20976 (C) und (D). Die von vorstehendem Ausschuss vorgenommenen Änderungen betrafen allerdings nicht die beabsichtigte Streichung des § 238 Abs. 1 StGB aus dem Katalog der Privatklagedelikte. 19 Hilger (Fn. 10), § 374 Rn. 5; Schorn, Das Recht der Privatklage, 1967, S. 19. 20 Siehe dazu unten II. 2. e) und II. 3. d) aa). 21 Kühne, Strafprozessrecht. Eine systematische Darstellung des deutschen und europäischen Strafverfahrensrechts, 9. Aufl. 2015, § 11 Rn. 253; siehe auch Rössner, in: Wassermann (Hrsg.), Alternativkommentare, Kommentar zur Strafprozeßordnung, Bd. 3, 1996, vor § 374 Rn. 7 und § 380 Rn. 1. 22 Grebing, GA 1984, 1 (4); Heger, Strafprozessrecht, 2013, Rn. 163, 216; Kindhäuser, Strafprozessrecht, 4. Aufl. 2016, § 26 Rn. 61; Kramer, Grundlagen des Strafverfahrensrechts. Ermittlung und Verfahren, 8. Aufl. 2014, Rn. 271. 23 Peters, Strafprozeß, 4. Aufl. 1985, S. 573. 24 Roxin/Schünemann (Fn. 4), § 63 Rn. 2; Volk/Engländer, Grundkurs StPO, 8. Aufl. 2013, § 39 Rn. 4. A.A. wohl Kühne (Fn. 21), § 11 Rn. 253, der meint, man könne von einem Parteiprozess sprechen. 25 Siehe zum Ermittlungsgrundsatz etwa Beulke, Strafprozessrecht, 13. Aufl. 2016, Rn. 21. 26 Roxin/Schünemann (Fn. 4), § 63 Rn. 2. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 41 AUFSÄTZE Tillmann Bartsch gensatz zur Staatsanwaltschaft nicht zur Objektivität verpflichtet ist27 und er nach § 391 Abs. 1 S. 1 StPO die Privatklage grundsätzlich28 in jeder Lage des Verfahrens, d.h. von der Zeit der Klageerhebung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens,29 zurücknehmen kann. Hinweis 2: Das Gesetz bezeichnet denjenigen, der die Privatklage erhebt, als „Privatkläger“ oder auch nur als „Kläger“ und denjenigen, gegen den sich die Privatklage richtet, bis zum Beschluss über die Eröffnung des Hauptverfahrens als „Beschuldigten“ und ab ergangenem Eröffnungsbeschluss als „Angeklagten“. Einen „Angeschuldigten“ kennt das Privatklageverfahren hingegen nicht, da diese Bezeichnung nach § 157 StPO nur auf Beschuldigte Anwendung findet, gegen die die öffentliche Klage erhoben ist. 2. Voraussetzungen a) Privatklagefähiges Delikt Voraussetzung eines Privatklageverfahrens ist, dass es sich bei der in Rede stehenden Straftat um ein Privatklagedelikt handelt. Die hierzu zählenden Straftatbestände werden in § 374 Abs. 1 Nr. 1 bis 8 StPO abschließend aufgezählt. Dabei enthalten die Nrn. 1 bis 6 verschiedene Delikte aus dem Kernstrafrecht. Im Einzelnen handelt es sich um den Hausfriedensbruch (§ 123 StGB), die Beleidigung (§§ 185-189 StGB), wenn sie nicht gegen eine der in § 194 Abs. 4 StGB genannten politischen Körperschaften gerichtet ist, die Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen (201a Abs. 1 und 2 StGB), die Verletzung des Briefgeheimnisses (§ 202 StGB), die einfache vorsätzliche sowie die fahrlässige Körperverletzung (§§ 223, 229 StGB), die Nachstellung (§ 238 Abs. 1 StGB; siehe dazu oben Hinweis 1), die Bedrohung (§ 241 StGB), die Bestechlichkeit sowie die Bestechung im geschäftlichen Verkehr (§ 299 StGB), die Sachbeschädigung (§ 303 StGB) und den Vollrausch (§ 323a StGB), sofern die im Rausch begangene Tat eines der vorgenannten Vergehen ist. Zudem kann die Privatklage nach den Nrn. 7 und 8 des § 374 Abs. 1 StPO im Fall bestimmter nebenstrafrechtlicher Straftatbestände erhoben werden. Konkret werden darin bestimmte Wettbewerbsvergehen sowie patent-, urheber-, warenzeichen-, gebrauchsund geschmacksmusterrechtliche Vergehen aufgeführt.30 Gemeinsam haben die in § 374 Abs. 1 Nr. 1 bis 8 StPO genannten Straftatbestände, dass es sich jeweils um Vergehen im Sinne des § 12 Abs. 2 StGB handelt. Darüber hinaus sind Merkmale, die all diese Privatklagedelikte kennzeichnen, kaum zu finden. So werden hierdurch zwar häufig, aber nicht ausschließlich Individualrechtsgüter geschützt. Eine Aus27 Kindhäuser (Fn. 22), § 26 Rn. 62. Siehe allerdings zur Zustimmungspflicht des Angeklagten nach Vernehmung des Angeklagten in der Hauptverhandlung unten II. 3. d) aa). 29 Meyer-Großner, in: Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, Kommentar, 59. Aufl. 2016, § 391 Rn. 5. 30 Vgl. Roxin/Schünemann (Fn. 4), § 63 Rn. 5. 28 nahme bildet etwa § 299 StGB, der zwar auch dem Schutz von Individualinteressen dient, nach ganz h.M. jedoch in erster Linie den Schutz eines Kollektivrechtsguts31, namentlich den Schutz des freien und fairen Wettbewerbs, bezweckt.32 Darüber hinaus handelt es sich bei den in § 374 Abs. 1 StPO genannten Tatbeständen zwar jeweils zumeist, aber eben nicht durchgängig § um Vorsatztaten (Ausnahme: § 229 StGB), § um Vergehen, bei denen eine Strafandrohung ohne erhöhtes Mindestmaß vorliegt (Ausnahme: § 188 Abs. 1 und 2 StGB), § und um Delikte, deren Verfolgung (grundsätzlich) nur auf Antrag (§§ 77 ff. StGB) zulässig ist (Ausnahmen: § 241 StGB, § 16 Abs. 1 UWG, § 144 Abs. 1 und 2 Markengesetz, § 323a StGB, wenn die im Rausch begangene Tat eine Bedrohung war). Auch die in der Literatur geäußerten Auffassungen, dass die Privatklagedelikte sämtlich „klassische leichte Vergehen“ des Strafrechts darstellten,33 es sich um Straftatbestände handele, deren Begehung die Allgemeinheit typischerweise wenig berühre,34 und/oder es Delikte seien, denen häufig persönliche Konflikte zwischen Personen in enger z.B. nachbarschaftlicher, beruflicher oder geschäftlicher Beziehung zugrunde lägen,35 wissen nicht vollends zu überzeugen. So ist es erstens fraglich, ob man etwa Taten nach § 188 StGB, für deren Begehung der Gesetzgeber eine Mindestfreiheitsstrafe von drei (§ 188 Abs. 1 StGB) bzw. sogar sechs Monaten (§ 188 Abs. 2 StGB) vorgesehen hat, tatsächlich als „leichte Verge- 31 Heine/Eisele, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl. 2014, § 299 Rn. 2; Rogall, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, 131. Lfg., Stand: März 2012, § 299 Rn. 7. Darüber hinaus bezweckt auch § 323a StGB in erster Linie den Schutz eines Kollektivrechtsguts, nämlich den Schutz der Allgemeinheit vor den von berauschten Personen erfahrungsgemäß ausgehenden Gefahren. Der Gesetzgeber meinte jedoch, dass die Strafverfolgung im Einzelfall nicht zwingend im öffentlichen Interesse liegen müsse, wenn im Rauschzustand ein Privatklagedelikt nach § 374 Abs. 1 Nrn. 1 bis 6 begangen worden sei. Daher sei die (teilweise) Einordnung des § 323a StGB in den Katalog der Privatklagedelikte gerechtfertigt (vgl. BTDrs. 15/1508, S. 27). 32 BGHSt 49, 214 (229); Heine/Eisele (Fn. 31), § 299 Rn. 2; Heinrich, in: Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht, Besonderer Teil, 3. Aufl. 2015, § 49 Rn. 51; Rosenau, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier (Hrsg.), Strafprozeßordnung, Kommentar, 2. Aufl. 2015, § 299 Rn. 4; Rogall (Fn. 31), § 299 Rn. 7. 33 Rössner (Fn. 21), vor § 374 Rn. 2. 34 Grebing, GA 1984, 1 (2). 35 Hirsch, in: Warda/Waider/v. Hippel/Meurer (Hrsg.), Festschrift für Richard Lange zum 70. Geburtstag, 1976, S. 815 (832). _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 42 Bericht über einen Moribunden: Das Privatklageverfahren hen“ einstufen kann.36 Zweitens lässt sich zumindest heutzutage für Fälle der vorsätzlichen Körperverletzung nach § 223 StGB bezweifeln, dass solche Taten die Allgemeinheit nur wenig berühren. Denn mittlerweile ist eine erhöhte Sensibilität gegenüber jedweder Form von körperlicher Gewalt in unserer Gesellschaft zu beobachten,37 die sich in gesetzlichen Neuerungen zur Verhinderung nämlicher Gewalt (siehe etwa das Gewaltschutzgesetz oder § 1631 Abs. 2 BGB) ebenso widerspiegelt wie in zahlreichen Präventionsmaßnahmen und -programmen, die in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen jegliche Form von körperlicher Gewalt zurückdrängen sollen.38 Schließlich ist auch kaum anzunehmen, dass die Privatklagedelikte allesamt dadurch gekennzeichnet wären, dass ihr Ursprung häufig in persönlichen Konflikten von Personen in engen Beziehungen zu suchen sei. Zumindest auf fahrlässige Körperverletzungen dürfte dies nicht zutreffen, da solche Taten naturgemäß lediglich auf Sorgfaltspflichtverletzungen beruhen, die sich im alltäglichen Umgang miteinander regelhaft ohne vorhergehenden Konflikt ereignen dürften. Im Ergebnis ist daher festzustellen, dass sich zwar viele Kriterien finden lassen, die „zumeist“ auf die Privatklagedelikte zutreffen, aber fast keine (Ausnahme: Vergehen), die für alle gelten. Ein klares, fest umrissenes Schema, in das die Privatklagedelikte sich allesamt einfügen, ist mithin nicht zu erkennen.39 Darüber hinaus wird in der Literatur durchaus zu Recht danach gefragt, warum gerade die in § 374 Abs. 1 StPO genannten Vergehen – und nicht (auch) andere, die ebenfalls eines oder mehrere der „zumeist“-Kriterien erfüllen – als Privatklagedelikte ausgestaltet wurden.40 STRAFRECHT einschlägigen Privatklagedelikts richtet.42 Dementsprechend ist etwa beim Hausfriedensbruch der Inhaber des Hausrechts als Verletzter anzusehen,43 und bei der Sachbeschädigung sind der Eigentümer der Sache sowie deren unmittelbare oder mittelbare Besitzer verletzt.44 bb) Sonstige Berechtigte Nach § 374 Abs. 2 S. 1 StPO sind im Falle der Verwirklichung einer Tat, die nur auf Antrag verfolgt wird, auch diejenigen Personen zur Erhebung der Privatklage befugt, die neben dem Verletzten oder an seiner Stelle berechtigt sind, Strafantrag zu stellen. Neben dem Verletzten zur Stellung eines Strafantrags befugt ist bspw. der Dienstvorgesetzte im Falle einer Beleidigung oder einer Körperverletzung nach § 223 oder § 229 StGB, die gegen einen Amtsträger während der Ausübung seines Dienstes begangen wurde (vgl. §§ 194 Abs. 3 S. 1, 230 Abs. 2 S. 1 StGB).45 Anstelle des Verletzten sind nach dessen Tod in bestimmten Fällen die in § 77 Abs. 2 S. 1 und 2 StGB genannten Personen (in erster Linie: Ehegatten, Lebenspartner und Kinder; danach: Eltern, Geschwister und Enkel) strafantragsberechtigt. cc) Mehrere Berechtigte Steht wegen derselben Straftat, d.h. derselben Tat im prozessualen Sinne (§ 264 StPO)46, mehreren Personen das Recht zur Privatklage zu, ist nach § 375 Abs. 1 StPO jeder einzelne zur Erhebung der Privatklage befugt. Ein solcher Fall einer mehrfachen Klageberechtigung kann zum einen eintreten, wenn durch dieselbe Straftat mehrere Personen verletzt wurden. b) Privatklageberechtigung aa) Verletzter Zur Erhebung der Privatklage ist nach § 374 Abs. 1 StPO grundsätzlich der Verletzte berechtigt. Hierunter versteht man denjenigen, der durch die behauptete Tat, ihre tatsächliche Begehung unterstellt, unmittelbar in seinen rechtlich geschützten Interessen beeinträchtigt ist,41 wobei sich die konkrete Beurteilung jeweils nach dem Rechtsgut des jeweils Beispiel 1: A wirft nach einem Streit mit B und C in einer Gaststätte wütend den Tisch um, an dem die drei gesessen haben. Wie von A gewollt, werden hierdurch nicht nur der Tisch des Gastwirts G, sondern auch die darauf liegenden Smartphones von B und C beschädigt. Zur Privatklage berechtigt sind in diesem Fall B, C und G. 42 36 Freilich wird die Staatsanwaltschaft in den Fällen des § 188 StGB zumeist das öffentliche Interesse bejahen, die Durchführung eines Privatklageverfahrens dürfte bei solchen Taten also die Ausnahme sein, vgl. hierzu auch Nr. 229 Abs. 1 S. 2 RiStBV. 37 Brettel, in: Göppinger/Bock, Kriminologie, 6. Aufl. 2008, § 28 Rn. 20. 38 Schwind, Kriminologie und Kriminalpolitik. Eine praxisorientierte Einführung mit Beispielen, 23. Aufl. 2016, § 2 Rn. 28. 39 Koewius (Fn. 2), S. 55. 40 So etwa Rössner (Fn. 21), § 374 Rn. 3. Siehe auch Jung, ZStW 93 (1981), 1147 (1168 f.). 41 Kindhäuser (Fn. 22), § 26 Rn. 66; Rössner, in: Dölling/ Duttge/Rössner (Hrsg.), Handkommentar, Gesamtes Strafrecht, 3. Aufl. 2013, § 374 Rn. 7. Jofer, in Satzger/Schluckebier/Widmaier (Fn. 32), § 374 Rn. 5; Rössner (Fn. 41), § 374 Rn. 7. 43 Hilger (Fn. 10), § 374 Rn. 4; Kurth/Weißer, in: Julius u.a. (Hrsg.), Heidelberger Kommentar zur Strafprozessordnung, 5. Aufl. 2012, § 374 Rn. 2. 44 Kurth/Weißer (Fn. 43), § 374 Rn. 3. 45 Darüber hinaus besitzen im Fall von Taten nach § 299 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Nr. 1 StGB bestimmte Verbände und Kammern – neben dem unmittelbar Verletzten – ein selbständiges Strafantragsrecht (vgl. § 301 Abs. 2 StGB i.V.m. § 8 Abs. 3 Nrn. 2 und 4 UWG). 46 Unter der Tat im prozessualen Sinne versteht die Rechtsprechung einen einheitlichen geschichtlichen Vorgang, der sich von anderen ähnlichen oder gleichgelagerten unterscheidet und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll; siehe nur BGH StV 1991, 245; BGH StV 2015, 675. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 43 AUFSÄTZE Tillmann Bartsch Zum anderen ergibt sich eine Klageberechtigung mehrerer Personen dann, wenn zwar nur ein Verletzter existiert, daneben jedoch noch eine weitere Person nach § 374 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 StPO privatklageberechtigt ist. zur Erhebung der Privatklage durch den gesetzlichen Vertreter wahrgenommen (§ 374 Abs. 3 StPO)51. Dieser wird dadurch allerdings nicht selbst zum Privatkläger, sondern er erhebt diese nur im Namen des Verletzten.52 Beispiel 2: Autofahrer Z beleidigt den Polizisten P im Rahmen einer Verkehrskontrolle mit den Worten „Du Scheißbulle“47. Zur Erhebung der Privatklage ist in diesem Fall der Verletzte, also P, nach § 374 Abs. 1 StPO berechtigt. Daneben ist gemäß § 374 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 StPO aber auch dessen Dienstvorgesetzter zur Erhebung der Privatklage befugt, weil dieser nach § 194 Abs. 3 S. 1 StGB neben P berechtigt ist, Strafantrag zu stellen. c) Kein Ausschluss der Privatklage In manchen Fällen ist die Erhebung der Privatklage – trotz Verwirklichung eines Privatklagedelikts – ausgeschlossen. Da bei der Ausübung des Rechts zur Privatklage jeder Privatklageberechtigte von dem anderen unabhängig ist (vgl. § 375 Abs. 1 StPO), muss diese Klage von den Berechtigten nicht gemeinsam erhoben werden. Haben im obigen Beispiel 1 also B und C kein Interesse an einer Privatklage, kann G diese auch allein erheben. Hat aber einer der Berechtigten Privatklage erhoben, können die übrigen kein weiteres Privatklageverfahren mehr einleiten, sondern sich nur noch an dem bereits eingeleiteten Verfahren im Wege des Beitritts beteiligen; dabei treten sie dem Verfahren in der Lage bei, in dem es sich zur Zeit der Beitrittserklärung befindet (§ 375 Abs. 2 StPO). Schließlich bestimmt § 375 Abs. 3 StPO, dass jede in der Privatklagesache selbst ergangene Entscheidung ihre Wirkung zugunsten des Beschuldigten auch gegenüber denjenigen Berechtigten äußert, die keine Privatklage erhoben haben. Hat etwa im obigen Beispiel 1 nur G Privatklage erhoben und ist A rechtskräftig freigesprochen worden, weil er nach § 20 StGB schuldunfähig war, wirkt dieses rechtskräftige Urteil nicht nur gegenüber G, sondern auch gegenüber B und C dergestalt, dass die Erhebung einer erneuten Privatklage wegen derselben Tat ein Verfahrenshindernis (Verbrauch der Strafklage) entgegensteht. Hinweis 3: Sowohl § 375 Abs. 2 StPO als auch § 375 Abs. 3 StPO sind Ausprägungen des Grundsatzes ne bis in idem, weil beide Regelungen darauf abzielen, mehrere Verfahren und Verurteilungen wegen derselben Straftat zu verhindern. dd) Vertretung durch gesetzlichen Vertreter Der Privatkläger muss außerdem prozessfähig sein, was sich implizit aus § 374 Abs. 3 StPO ergibt.48 Ob die Prozessfähigkeit gegeben ist, beurteilt sich nach den §§ 51, 52 ZPO.49 Fehlt sie, weil es sich bei dem Verletzten bspw. um einen Minderjährigen oder um eine juristische Person (denkbar etwa im Fall der Beleidigung) handelt,50 wird die Befugnis 47 Zum beleidigenden Charakter des gegenüber einem im Dienst befindlichen Polizisten verwendeten Ausdrucks „Scheißbulle“ OLG Oldenburg JR 1990, S. 127 f. m. Anm. Otto, JR 1990, 128 f. 48 Vgl. Rössner (Fn. 21), § 374 Rn. 11. 49 Meyer-Großner (Fn. 29), § 374 Rn. 8. 50 Roxin/Schünemann (Fn. 4), § 63 Rn. 13. aa) Vorliegen des öffentlichen Interesses Die Erhebung einer Anklage im Fall eines Privatklagedelikts ist kein exklusives Recht der im Gesetz genannten Privatklageberechtigten.53 Vielmehr bleibt der Staat neben dem Privatkläger zur Erhebung der öffentlichen Klage befugt. Macht die Staatsanwaltschaft von dieser Befugnis Gebrauch, ist die Privatklage ausgeschlossen.54 Allerdings erhebt die Staatsanwaltschaft die öffentliche Klage bei Privatklagedelikten gemäß § 376 StPO nur, wenn ein „öffentliches Interesse“ gegeben ist. Das ist der Fall, wenn aus spezial- und/oder generalpräventiven Gründen die Durchsetzung des materiellen Strafrechts geboten ist.55 Zur (weiteren) Auslegung des Begriffs „öffentliches Interesse“ muss die Staatsanwaltschaft einige Vorschriften der Richtlinien über das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV) heranziehen. Insoweit bestimmt Nr. 86 Abs. 2 S. 1 RiStBV, dass bei Privatklagesachen ein öffentliches Interesse „in der Regel“ vorliegen wird, „wenn der Rechtsfrieden über den Lebenskreis des Verletzten hinaus gestört und die Strafverfolgung ein gegenwärtiges Anliegen der Allgemeinheit ist“. Aber auch wenn der Rechtsfrieden des Verletzten über den Lebenskreis des Verletzten hinaus nicht gestört worden ist, kann nach Nr. 86 Abs. 2 S. 2 RiStBV ein öffentliches Interesse zu bejahen sein, „wenn dem Verletzten wegen seiner persönlichen Beziehung zu dem Täter nicht zugemutet werden kann, die Privatklage zu erheben, und die Strafverfolgung ein gegenwärtiges Anliegen der Allgemeinheit ist“. Zusätzlich zu diesen allgemein geltenden Formeln enthält die RiStBV für einzelne Privatklagedelikte spezielle Richtlinien zur Bestimmung des öffentlichen Interesses. So legt etwa Nr. 233 S. 1 RiStBV für die Verfolgung von Körperverletzungen fest, dass das öffentliche Interesse „vor allem dann zu bejahen [ist], wenn eine rohe Tat, eine erhebliche Misshandlung oder eine erhebliche Verletzung vorliegt“.56 51 Zur teils zu eng, teils zu weit geratenen Formulierung des § 374 Abs. 3 StPO Hilger (Fn. 10), § 374 Rn. 35. 52 Jofer (Fn. 42), § 374 Rn. 7. 53 Peters (Fn. 23), S. 573; Roxin/Schünemann (Fn. 4), § 63 Rn. 7; Volk/Engländer (Fn. 24), § 39 Rn. 8. 54 Roxin/Schünemann (Fn. 4), § 63 Rn. 7. 55 Jofer (Fn. 42), § 376 Rn. 1 i.V.m. § 153 Rn. 10; Hilger (Fn. 10), § 376 Rn. 2; Meyer-Großner (Fn. 29), § 376 Rn. 1 i.V.m. § 153 Rn. 7. 56 Weitere „Hilfen“ zur Auslegung des Begriffes „öffentliches Interesse“ sind bspw. enthalten in Nr. 229 Abs. 1 RiStBV für die Beleidigung, in Nr. 232 RiStBV für die Be- _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 44 Bericht über einen Moribunden: Das Privatklageverfahren bb) Zusammentreffen mit einem Offizialdelikt Ausgeschlossen ist die Privatklage überdies, wenn ein Privatklagedelikt mit einem Offizialdelikt im Rahmen einer prozessualen Tat (§ 264 StPO)57 zusammentrifft, wobei es unerheblich ist, ob die Delikte in Ideal- oder Realkonkurrenz stehen. In diesen Fällen hat die Staatsanwaltschaft das Privatklagedelikt stets gemeinsam mit dem Offizialdelikt zu verfolgen; auf die Frage, ob ein öffentliches Interesse an der Verfolgung des Privatklagedelikts besteht, kommt es dann nicht an.58 Beispiel 3: A hat eine Auseinandersetzung mit dem Gastwirt G, weil ihm (A) das Bier, das G ihm in einem Glas serviert hat, zu warm ist. Im Verlauf des Streits nimmt A das Bierglas und schlägt damit ohne Tötungsvorsatz auf den Kopf des G. Das Glas zerspringt, G erleidet eine Schnittwunde. In diesem Fall ist eine Privatklage des G ausgeschlossen, da das Privatklagedelikt Sachbeschädigung im Rahmen derselben prozessualen Tat mit einem Offizialdelikt – gefährliche Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 und u.U. auch Nr. 5 StGB – (tateinheitlich) zusammentrifft und daher auch offiziell, d.h. durch die Staatsanwaltschaft, verfolgt werden muss. Der Grundsatz, dass beim Zusammentreffen eines Offizialund eines Privatklagedelikts im Rahmen derselben strafprozessualen Tat das Privatklageverfahren ausgeschlossen ist, gilt auch, wenn die Staatsanwaltschaft sich dazu entschließt, das eingeleitete Offizialverfahren einzustellen. Stellt die Staatsanwaltschaft also beispielsweise ein Offizialverfahren wegen einer strafprozessualen Tat, innerhalb derer der Beschuldigte eine Nötigung (Offizialdelikt) und eine Bedrohung (Privatklagedelikt) begangen haben soll, gemäß § 170 Abs. 2 StPO ein, kann der Verletzte keine Privatklage erheben, sondern lediglich im Wege des Klageerzwingungsverfahrens (§ 172 StPO) gegen die Einstellung insgesamt vorgehen.59 Ebenso ist die Einleitung eines Privatklageverfahrens bei einem Zusammentreffen von Offizial- und Privatklagedelikt ausgeschlossen, wenn die Staatsanwaltschaft aus Opportunitätsgründen nach § 153 Abs. 1 oder § 153a Abs. 1 StPO von der Verfolgung der Tat abgesehen hat.60 leidigung von Justizangehörigen, in Nr. 235 RiStBV für Körperverletzungen, die als Kindesmisshandlungen einzustufen sind, in Nr. 260 RiStBV für Straftaten nach § 299 StGB und für Taten nach dem UWG sowie in Nr. 261 RiStBV für in § 374 Abs. 1 Nr. 8 StPO genannte nebenstrafrechtliche Tatbestände. 57 Siehe zum Begriff der prozessualen Tat Fn. 46. 58 Kindhäuser (Fn. 22), § 26 Rn. 65; Meyer-Großner (Fn. 29), § 376 Rn. 9. 59 OLG Koblenz, Urt. v. 14.12.1988 – 1 Ws 676/88 (juris); siehe auch Rössner (Fn. 41), § 376 Rn. 4. 60 Hilger (Fn. 10), § 374 Rn. 25; Meyer-Großner (Fn. 29), § 376 Rn. 11; Rössner (Fn. 21), § 376 Rn. 9. Gegen eine solche Einstellung aus Opportunitätsgründen kann sich der STRAFRECHT cc) Begehung des Privatklagedelikts durch einen Jugendlichen Nicht in Betracht kommt ein Privatklageverfahren auch, wenn das Privatklagedelikt von einem Jugendlichen im Sinne des § 1 Abs. 2 JGG begangen wurde (§ 80 Abs. 1 S. 1 JGG). Das bedeutet freilich nicht, dass Jugendliche überhaupt nicht strafrechtlich verfolgt werden könnten, wenn sie ein Privatklagedelikt verübt haben. Denn an die Stelle der strafrechtlichen Verfolgung durch den Privatklageberechtigten tritt bei solchen Tätern eine erweiterte Befugnis zur Verfolgung von Amts wegen: Nach § 80 Abs. 1 S. 2 JGG hat die Staatsanwaltschaft Privatklagedelikte bei Jugendlichen auch dann von Amts wegen zu verfolgen, wenn entweder Gründe der Erziehung oder ein berechtigtes Interesse des Verletzten, das dem Erziehungszweck nicht entgegensteht, es erfordern. Auf Heranwachsende findet § 80 JGG keine Anwendung (vgl. §§ 109, 112 JGG). Für sie gelten daher die §§ 374 ff. StPO uneingeschränkt (§ 2 Abs. 2 JGG). d) Keine Fristbindung, aber ggf. Strafantragserfordernis Die Erhebung der Privatklage ist grundsätzlich an keine Frist gebunden. Sie kann also grundsätzlich noch Jahre nach der Tat eingeleitet werden, sofern die Tat nicht mittlerweile verjährt ist.61 Handelt es sich aber um ein Delikt, dessen Verfolgung einen Strafantrag voraussetzt, muss dieser rechtzeitig (vgl. § 77b StGB) gestellt worden sein.62 e) Teilweise: Erfolglose Durchführung eines Sühneverfahrens Bei bestimmten Taten aus dem Katalog des § 374 Abs. 1 StPO besteht eine besondere Voraussetzung für die Erhebung der Privatklage gemäß § 380 Abs. 1 StPO darin, dass der Kläger zuvor einen sog. Sühneversuch vor einer Vergleichsbehörde erfolglos (!) unternommen und dies dem Gericht durch eine sog. Sühnebescheinigung nachgewiesen hat. Ein solcher Versuch einer Aussöhnung mit dem Beschuldigten ist in § 380 Abs. 1 StPO für die meisten kernstrafrechtlichen Privatklagedelikte vorgeschrieben. Der Sinn und Zweck dieses Sühneverfahrens besteht darin, übereilte Privatklagen zu verhindern, um die Gerichte zu entlasten. Außerdem dient dieses Verfahren dazu, möglichst einen gütlichen Ausgleich zwischen den Parteien herzustellen.63 Die zuständige Behörde, vor der der Sühneversuch durchzuführen ist, ist landesrechtlich geregelt. Zumeist sind hierfür die sog. Schiedsämter zuständig.64 Die Regelungen Verletzte auch nicht mittels des Klageerzwingungsverfahrens wehren, vgl. § 172 Abs. 2 S. 3 StPO. 61 Roxin/Schünemann (Fn. 4), § 63 Rn. 9 f. 62 Zum Streit darüber, ob der Privatkläger den Strafantrag gestellt haben muss oder ob auch ein Strafantrag genügt, der von einem Dritten innerhalb der Frist des § 77b StGB gestellt wurde, Rieß, NStZ 1989, 103 ff. 63 Rössner (Fn. 21), § 380 Rn. 1. 64 Siehe dazu die Überblicke bei Hilger (Fn. 10), § 380 Rn. 622 und Meyer-Großner (Fn. 29), § 380 Rn. 3. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 45 AUFSÄTZE Tillmann Bartsch über die Durchführung des Sühneverfahrens finden sich ebenfalls in speziellen Landesgesetzen. Sie sind in den einzelnen Bundesländern zwar teils unterschiedlich, im Kern jedoch ähnlich ausgestaltet. Der Ablauf eines solchen Sühneverfahrens soll nachfolgend grob am Beispiel des einschlägigen Hessischen Schiedsamtsgesetzes dargestellt werden: Für das Sühneverfahren sind in Hessen die Schiedsämter, die von jeder Gemeinde einzurichten sind, zuständig.65 Die Schiedspersonen sind ehrenamtlich tätig.66 Eingeleitet wird das Sühneverfahren auf Antrag des Verletzten.67 Daraufhin bestimmt das Schiedsamt Ort und Zeit der Verhandlung und lädt die beiden Parteien (nachfolgend auch: Antragsteller und Gegenpartei) zu einem Sühneversuch im Rahmen eines Schlichtungsverfahrens.68 Die beiden Parteien sind verpflichtet, in dem anberaumten Termin zu erscheinen.69 Kommt der Antragsteller dieser Pflicht ohne ausreichende Entschuldigung nicht nach, gilt der Antrag auf Einleitung des Sühneverfahrens als zurückgenommen.70 Erscheint hingegen die Gegenpartei ohne ausreichende Entschuldigung nicht, wird gegen sie ein Ordnungsgeld verhängt.71 Außerdem trifft die Schiedsperson (u.U. auch erst nach erneutem Ausbleiben in einem weiteren Termin)72 die in diesem Zusammenhang wichtige Feststellung, dass sich die Gegenpartei auf die Schlichtungsverhandlung nicht einlassen will.73 In der Folge bescheinigt das Schiedsamt dem Antragsteller nach Ablauf einer bestimmten Frist die Erfolglosigkeit des Sühneversuchs und erteilt (nach einem weiteren Antrag) die sog. Sühnebescheinigung,74 womit die Voraussetzung für die Einreichung der Privatklage geschaffen wird. Erscheinen beide Parteien (ggf. in Begleitung eines Rechtsanwalts oder eines sonstigen Beistands)75 im Termin, findet eine mündliche, nicht öffentliche Verhandlung statt.76 In dieser erörtert die Schiedsperson die Streitsache mit den Parteien und wirkt auf eine einvernehmliche Beilegung des Konflikts, sprich: einen Vergleich, hin.77 Schließen die Parteien einen Vergleich oder erzielen sie eine sonstige Einigung, wird diese in das Protokoll über die mündliche Ver- 65 §§ 1 und 30 des Hessischen Schiedsamtsgesetzes (HSchAG). 66 § 2 S. 2 HSchAG. 67 § 31 Abs. 1 i.V.m. § 14 Abs. 1 S. 1 HSchAG. 68 § 31 Abs. 1 i.V.m. § 17 Abs. 1 HSchAG. 69 § 31 Abs. 1 i.V.m. § 18 Abs. 1 S. 1 HSchAG. 70 § 31 Abs. 1 i.V.m. § 18 Abs. 10 HSchAG. 71 § 31 Abs. 1 i.V.m. § 18 Abs. 4 HSchAG. 72 Bei Parteien, die in derselben Gemeinde wohnen, muss vor der hier maßgeblichen Feststellung zunächst ein weiterer Termin anberaumt werden. Erst wenn die Gegenpartei auch in diesem weiteren Termin ausbleibt, darf die Feststellung getroffen werden, dass diese sich nicht auf die Schlichtungsverhandlung einlassen will (§ 35 S. 2 HSchAG). 73 § 35 i.V.m. § 18 Abs. 11 HSchAG. 74 § 36 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. §§ 35, 18 Abs. 11 HSchAG. 75 § 31 Abs. 1 i.V.m. § 21 HSchAG. 76 § 31 Abs. 1 i.V.m. § 22 Abs. 1 S. 1 HSchAG. 77 § 31 Abs. 1 i.V.m. § 22 Abs. 2 HSchAG. handlung aufgenommen.78 Zu einem Privatklageverfahren kommt es in diesem Fall nicht mehr, da der Sühneversuch erfolgreich war. Können sich die Parteien hingegen nicht einigen, wird im Protokoll festgehalten, dass eine Vereinbarung zwischen den Parteien nicht zustande gekommen ist.79 Auch in diesem Fall wird dem Antragsteller die sog. Sühnebescheinigung, die ihm die Erhebung der Privatklage ermöglicht, auf seinen (weiteren) Antrag hin erteilt.80 Die Kosten des Sühneverfahrens hat grundsätzlich der Antragsteller zu tragen.81 Im Falle eines Vergleichs werden die Kosten jedoch von jeder Partei zur Hälfte übernommen, sofern im Rahmen der Einigung nicht eine andere Vereinbarung über die Kosten getroffen wurde.82 Die erfolglose Durchführung des Sühneversuchs ist in den in § 380 Abs. 1 StPO genannten Fällen eine Klagevoraussetzung.83 Die Sühnebescheinigung ist daher gemeinsam mit der Privatklage beim zuständigen Gericht einzureichen (§ 380 Abs. 1 S. 3 StPO). Geschieht dies nicht, ist die Privatklage durch Beschluss zurückzuweisen.84 Da mit der Zurückweisung nach h.M. jedoch kein Verbrauch der Strafklage einritt, kann der Sühneversuch nachgeholt und die Privatklage erneut erhoben werden.85 3. Ablauf des Verfahrens a) Einleitung des Privatklageverfahrens Im Fall eines Privatklagedelikts bestehen für den Privatklageberechtigten zwei mögliche Vorgehensweisen:86 Zum einen kann er wegen dieses Delikts Anzeige erstatten sowie den ggf. erforderlichen Strafantrag stellen und sodann abwarten, ob die Staatsanwaltschaft das öffentliche Interesse bejaht und die öffentliche Klage erhebt. Wird das öffentliche Interesse verneint, stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren nach § 170 Abs. 2 StPO wegen Vorliegens eines Verfahrenshindernisses für das Offizialverfahren ein87 und verweist den Antragsteller auf den Privatklageweg, den dieser dann (erforderlichenfalls nach Durchführung eines vorhergehenden Sühneverfahrens) beschreiten kann. Zum anderen kann der Privatklageberechtigte auch sofort selbst tätig werden und das Verfahren – ggf. wiederum nach vorhergehendem Sühneverfahren – von sich aus durch Ein78 § 31 Abs. 1 i.V.m. § 24 Abs. 2 Nr. 4 HSchAG. § 31 Abs. 1 i.V.m. § 24 Abs. 2 Nr. 4 HSchAG. 80 § 36 Abs. 1 Nr. 1 HSchAG. 81 § 38 Abs. 1 HSchAG. 82 § 38 Abs. 4 HSchAG. 83 OLG Hamburg NJW 1956, 522; LG Aachen NJW 1956, 1611; Heinrich, NJW 1964, 1087; Hilger (Fn. 10), § 380 Rn. 32; Roxin/Schünemann (Fn. 4), § 63 Rn. 17. A.A. Schröder/Verrel, Strafprozessrecht, 6. Aufl. 2014, § 42 Rn. 245: „Eröffnungsvoraussetzung“. 84 LG Neubrandenburg NStZ 1995, 149. 85 OLG Hamm NJW 1984, 249; LG Neubrandenburg NStZ 1995, 149; Hilger (Fn. 10), § 380 Rn. 28; Roxin/Schünemann (Fn. 4), § 63 Rn. 17; a.A. LG Bonn NJW 1964, 417. 86 Beulke (Fn. 25), Rn. 591. 87 Beulke (Fn. 25), Rn. 591. 79 _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 46 Bericht über einen Moribunden: Das Privatklageverfahren reichung einer Privatklage beim zuständigen (siehe Hinweis 4) Gericht in Gang bringen. Da die Staatsanwaltschaft von solchen Privatklagen regelmäßig keine Kenntnis erhält88 – sie ist auch zur Mitwirkung am Privatklageverfahren nicht verpflichtet (§ 377 Abs. 1 S. 1 StPO) –, besteht in diesem Fall allerdings folgende Gefahr: Der Privatkläger könnte eine Tat zur Anklage bringen, deren Verfolgung an sich der Staatsanwaltschaft obliegt, weil bspw. ein öffentliches Interesse an der Verfolgung besteht oder es sich tatsächlich nicht um ein Privatklage-, sondern um ein Offizialdelikt handelt. Auch um dies zu verhindern, bestimmt § 377 Abs. 1 S. 2 StPO, dass das Gericht verpflichtet ist, dem Staatsanwalt die Akten vorzulegen, wenn es die Übernahme der Verfolgung durch ihn für geboten hält. Zugleich ist die Staatsanwaltschaft nach § 377 Abs. 2 S. 1 StPO berechtigt, die Strafverfolgung in jeder Lage des Verfahrens bis zum Eintritt der Rechtskraft des Urteils durch ausdrückliche Erklärung – auch gegen den Willen des Privatklägers89 – zu übernehmen.90 Macht die Staatsanwaltschaft von diesem Recht Gebrauch, wird das Privatklageverfahren in der Lage, in der es sich befindet, als Offizialverfahren weitergeführt.91 Hinweis 4: Sachlich zuständig ist für das Privatklageverfahren gegen Erwachsene in erster Instanz stets das Amtsgericht und dort der Strafrichter (§ 25 Nr. 1 GVG). Die örtliche Zuständigkeit richtet sich nach den §§ 7 ff. StPO. Bei Privatklagen, die gegen Heranwachsende erhoben werden, ist nach § 108 Abs. 2 JGG i.V.m. § 25 Nr. 1 GVG der Jugendrichter sachlich zuständig, wenn die Anwendung des allgemeinen Strafrechts zu erwarten ist. Eingeleitet wird das Privatklageverfahren durch Erhebung der Klage. Dies kann nach § 381 S. 1, 3 StPO mündlich zu Protokoll der Geschäftsstelle oder schriftlich durch Einreichung einer Anklageschrift samt zweier Abschriften geschehen. Inhaltlich muss die Privatklage den (hohen) Anforderungen des § 200 Abs. 1 StPO entsprechen (§ 381 S. 2 StPO). Dem Privatklageberechtigten, bei dem es sich in aller Regel um einen Rechtsunkundigen handelt, legt das Gesetz also die Pflicht auf, einen Anklagesatz zu formulieren.92 Darüber hinaus muss er die Beweismittel und das Gericht, vor dem 88 Hilger (Fn. 10), § 377 Rn. 1; Meyer-Großner (Fn. 29), § 377 Rn. 1. 89 Meyer-Großner (Fn. 29), § 377 Rn. 5. 90 Eine Pflicht zur Vorlage an die Staatsanwaltschaft gemäß § 377 Abs. 1 S. 2 StPO besteht für das Gericht indes nicht nur, wenn der Privatklageberechtigte die Privatklage unmittelbar selbst erhoben hat, sondern auch dann, wenn die Staatsanwaltschaft diesen zunächst auf den Privatklageweg verwiesen hatte und das Gericht zu der Einschätzung gelangt, dass die Übernahme des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft gleichwohl geboten ist. 91 Meyer-Großner (Fn. 29), § 377 Rn. 11. 92 Genannt werden müssen darin der Beschuldigte, die Tat, die ihm zur Last gelegt wird, Zeit und Ort ihrer Begehung, die gesetzlichen Merkmale der Straftat und die anzuwendenden Strafvorschriften, vgl. § 200 Abs. 1 S. 1 StPO. STRAFRECHT die Hauptverhandlung stattfinden soll, angeben. Damit wird ihm eine Leistung abverlangt, deren Erbringung angehenden Juristen in aller Regel erst nach Absolvierung des Studiums und einer gewissen Zeit im Referendariat möglich ist.93 Zwar wird in der Literatur94 und vereinzelt auch in der Rechtsprechung95 darauf hingewiesen, dass man die durch § 381 S. 2 i.V.m § 200 Abs. 1 StPO begründeten Anforderungen an die Anklageschrift bei juristisch nicht vorgebildeten Privatklageberechtigten nicht zu streng handhaben dürfe.96 In der Praxis zeigt sich aber, dass diese Anforderungen eine hohe Hürde errichten, die von einem nicht anwaltlich vertretenen Privatklageberechtigten kaum zu überwinden ist.97 b) Zwischenverfahren Nach Erhebung der Privatklage folgt das Zwischenverfahren.98 Hier teilt das Gericht zunächst dem Beschuldigten die vorschriftsmäßig erhobene Privatklage unter Bestimmung einer Frist zur Erklärung mit (§ 382 StPO). Nach deren Eingang bzw. nach Ablauf der Frist wird über die Eröffnung des Hauptverfahrens nach Maßgabe der für das Offizialverfahren geltenden Vorschriften, also der §§ 199 ff. StPO, entschieden (§ 383 Abs. 1 S. 1 StPO). Das Gericht muss in diesem Verfahrensstadium prüfen, ob die allgemeinen Verfahrensvoraussetzungen (z.B. Gerichtsbarkeit, Zuständigkeit, Strafantrag, Verjährung, Prozessfähigkeit des Beschuldigten), die besonderen Privatklagevoraussetzungen (privatklagefähiges Delikt, Klageberechtigung, Sühnebescheinigung) und der hinreichende Tatverdacht (§ 383 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 203 StPO) eines Privatklagedelikts gegeben sind.99 Um Letztgenanntes zu beurteilen, muss das Gericht die Privatklage einer Schlüssigkeits- und Wahrscheinlichkeitsprüfung unterziehen.100 Liegen diese Voraussetzungen vor, wird das Hauptverfahren mittels eines Beschlusses eröffnet, in dem das Gericht den Angeklagten und die ihm zur Last gelegte Tat bezeichnet (§ 383 Abs. 1 S. 2 StPO). Andernfalls weist es die Privatklage durch Beschluss zurück (§ 383 Abs. 1 S. 1 StPO). Daneben eröffnet § 383 Abs. 2 S. 1 StPO dem Gericht die Möglichkeit, das Verfahren bei geringer Schuld des Täters einzustellen. Diese spezielle Norm verdrängt die Regelungen über die gerichtliche Einstellung des Verfahrens nach §§ 153 Abs. 2, 153a Abs. 2 StPO.101 c) Besonderheiten der Hauptverhandlung Die Hauptverhandlung in einem Privatklageverfahren entspricht im Grundsatz derjenigen eines Offizialverfahrens 93 In diesem Sinne auch Bohlander, NStZ 1994, 420. Bohlander, NStZ 1994, 420; Hilger (Fn. 10), § 382 Rn. 4. 95 LG Krefeld NJW 2005, 3438 f. 96 Bohlander, NStZ 1994, 420; Hilger (Fn. 10), § 382 Rn. 4. 97 Siehe dazu im zweiten Teil I. 1. 98 Kindhäuser (Fn. 22), § 26 Rn. 70. Ausführlich dazu Nierwetberg, NStZ 1989, 212 ff. 99 Rössner (Fn. 21), § 383 Rn. 1. 100 Jofer (Fn. 42), § 383 Rn. 4; Peters (Rn. 23), S. 575. 101 Hilger (Fn. 10), § 383 Rn. 20. 94 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 47 AUFSÄTZE Tillmann Bartsch (§ 384 Abs. 1 S. 1 StPO).102 Jedoch sind einige gewichtige Besonderheiten zu beachten,103 die sich aus den §§ 384 ff. StPO und aus der Mitwirkung des Privatklägers anstelle der Staatsanwaltschaft ergeben:104 § Die Stellung des Staatsanwalts wird weitgehend durch den Privatkläger übernommen (§ 385 Abs. 1 StPO). Allerdings kann dieser nicht selbst Akteneinsicht nehmen, sondern dieses Recht nur durch einen Rechtsanwalt ausüben lassen (§ 385 Abs. 3 S. 1 StPO). § Zu Beginn des Verfahrens wird nicht der Anklagesatz (vgl. für das Offizialverfahren § 243 Abs. 3 S. 1 StPO), sondern der Eröffnungsbeschluss verlesen. Obwohl der Privatkläger weitgehend die Position der Staatsanwaltschaft einnimmt, obliegt die Verlesung nicht ihm, sondern dem Gericht (§ 384 Abs. 2 StPO). § Sowohl der Privatkläger als auch der Angeklagte können im Beistand eines Rechtsanwalts erscheinen oder sich durch einen solchen vertreten lassen (§§ 387 S. 1, 387 Abs. 1 StPO).105 Das Gesetz lässt beiden Beteiligten also grundsätzlich die Wahl, ob sie in der Hauptverhandlung anwesend sein oder sich vertreten lassen wollen. Da jedoch das Gericht nach § 387 Abs. 3 StPO befugt ist, das persönliche Erscheinen beider Beteiligter anzuordnen, und die Gerichte hiervon in der Praxis zumeist Gebrauch machen,106 bleibt von dieser Wahlfreiheit tatsächlich nicht viel übrig. Um die Erscheinenspflicht durchzusetzen, kann das Gericht den Angeklagten nach vorgenannter Norm auch vorführen lassen. § Die Beweisaufnahme erfolgt hinsichtlich der Schuld- und Straffrage wie im Offizialverfahren nach den Regeln des Strengbeweises.107 Auch gilt der Ermittlungsgrundsatz (s.o.). Allerdings wird der Umfang der Beweisaufnahme im Privatklageverfahren im besonderen Maße durch das Gericht bestimmt, da dieses nach der Spezialregelung des § 384 Abs. 3 StPO nicht an die strengen Regeln über die Ablehnung von Beweisanträgen (§ 244 Abs. 3 bis 5 StPO) gebunden ist. Daher können Privatkläger und Angeklagter zwar „Beweisanträge“ stellen. Tatsächlich handelt es sich dabei aber nur um Beweisanregungen, denen das Gericht nur folgen muss, wenn dies zur Aufklärung des Sachverhalts nach § 244 Abs. 2 StPO erforderlich ist.108 102 Vgl. Hellmann, Strafprozessrecht, 2. Aufl. 2005, § 23 Rn. 984; Roxin/Schünemann (Fn. 4), § 63 Rn. 20. 103 Hellmann (Fn. 102), § 23 Rn. 984. 104 Meyer-Großner (Fn. 29), § 384 Rn. 1. 105 Nach § 387 Abs. 2 StPO kann unter den Voraussetzungen des § 139 StPO sowohl die Vertretung des Privatklägers als auch die des Angeklagten auf einen Rechtsreferendar übertragen werden. 106 Koewius (Fn. 2), S. 162; Lütz-Binder (Fn. 2), S. 92. 107 Meyer-Großner (Fn 29), § 384 Rn. 13. 108 Meyer-Großner (Fn. 29), § 384 Rn. 14. 108 BayObLGSt 1953, 27. § Der Privatkläger kann nach ganz h.M. kein Zeuge in seinem eigenen Verfahren sein.109 Das bedeutet freilich nicht, dass die Ausführungen des Privatklägers zum Verfahrensgegenstand unbeachtlich wären: Denn auch wenn der Privatkläger nicht als Zeuge einzustufen ist, kann das Gericht dessen Erklärungen – ebenso wie die des Angeklagten – entgegennehmen und sie der Entscheidung über das Ergebnis der Beweisaufnahme nach § 261 StPO zugrunde legen.110 § Auch im Privatklageverfahren muss der Angeklagte auf eine Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes hingewiesen und ihm Gelegenheit zur Verteidigung gegeben werden (§ 265 Abs. 1 StPO). Jedoch steht ihm nicht das Recht zu, die Aussetzung der Hauptverhandlung gemäß § 265 Abs. 3 StPO zu verlangen (§ 384 Abs. 4 StPO). § Da dem Geschehen, das den Gegenstand des Privatklageverfahrens bildet, verschiedentlich wechselseitig begangene Straftaten zugrunde liegen,111 sieht § 388 StPO die Möglichkeit zur Erhebung einer Widerklage vor. Hiernach kann der Beschuldigte bis zur Beendigung des letzten Wortes im ersten Rechtszug (vgl. § 258 Abs. 2 HS 2 StPO) mittels einer Widerklage die Bestrafung des Privatklägers112 beantragen, wenn er von diesem gleichfalls durch eine Straftat verletzt worden ist. Voraussetzung ist allerdings, dass es sich auch bei dieser Straftat um ein Privatklagedelikt handelt. Außerdem muss sie mit der Straftat, die bislang den einzigen Gegenstand der Privatklage bildete, in Zusammenhang stehen (§ 388 Abs. 1 StPO). Da § 388 StPO dazu dienen soll, die Durchführung weiterer, separater Privatklageverfahren zwischen den beiden Parteien zu verhindern, ist dieses Zusammenhangerfordernis weit auszulegen.113 Es genügt daher bereits, dass die gemeinsame Verhandlung der Taten zweckmäßig erscheint.114 Handelt es sich bei dem Privatkläger um einen Jugendlichen im Sinne des § 1 Abs. 2 JGG, kann – in Abweichung von dem Grundsatz, dass Privatklagen gegen Jugendliche unzulässig sind (s.o.) – auch gegen diesen die Widerklage erhoben werden (§ 80 Abs. 2 S. 1 JGG). Jedoch darf der Richter in diesem Fall nur auf Erziehungsmaßregeln sowie Zuchtmittel und nicht auf Jugendstrafe erkennen (§ 80 Abs. 2 S. 2 JGG). 109 Hilger (Fn. 10), § 384 Rn. 13; Lütz-Binder (Fn. 2), S. 245; Meyer-Großner (Fn. 29), vor § 374 Rn. 6; Peters (Fn. 23), S. 577; a.A. Lorenz, JR 1950, 105 (109). 110 Meyer-Großner (Fn. 29), vor § 374 Rn. 6. 111 Kindhäuser (Fn. 22), § 26 Rn. 73; Schröder/Verrel (Fn. 83), § 42 Rn. 346. 112 Beachte: Ausnahmsweise kann sich die Widerklage auch gegen eine Person richten, die bislang am Privatklageverfahren noch nicht beteiligt war. Das ist dann möglich, wenn der Privatkläger nicht zugleich der Verletzte im Sinne des § 374 Abs. 1 StPO ist, die Privatklage also von einer Person erhoben wurde, die neben dem Verletzten zur Erhebung der Privatklage befugt ist (§ 374 Abs. 2 S. 1 StPO). 113 Vgl. BGHSt 17, 194 (197), wonach ein „loser Zusammenhang“ genügt. 114 Jofer (Fn. 42), § 388 Rn. 6. _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 48 Bericht über einen Moribunden: Das Privatklageverfahren § Endlich enthält § 384 Abs. 1 S. 2 StPO eine (weitere) spezielle Bestimmung über die Verhängung von Rechtsfolgen im Privatklageverfahren. Hiernach dürfen Maßregeln der Besserung und Sicherung – gleich ob stationärer oder ambulanter Art – nicht angeordnet werden. d) Beendigung des Verfahrens Wie das Offizialverfahren kann auch das Privatklageverfahren mit einer Verurteilung des Angeklagten oder einem Freispruch enden. Im Übrigen weisen die Regelungen über den Verfahrensabschluss jedoch einige Besonderheiten auf: aa) Rücknahme der Privatklage/Vergleich Die Privatklage kann in jeder Lage des Verfahrens, also auch noch nach Eröffnung des Hauptverfahrens,115 zurückgenommen werden (§ 391 Abs. 1 S. 1 StPO). Allerdings bedarf die Rücknahme nach Beginn der Vernehmung des Angeklagten zur Sache in der Hauptverhandlung des ersten Rechtszugs der Zustimmung des Angeklagten (§ 391 Abs. 1 S. 2 StPO), weil dieser bei so später Rücknahme ein gewichtiges Interesse daran haben kann, dass die gegen ihn erhobenen Vorwürfe auf- und rechtskräftig geklärt werden.116 Gesetzlich nicht geregelt, aber allgemein anerkannt ist, dass ein Privatklageverfahren auch durch gerichtlichen Vergleich abgeschlossen werden kann.117 In diesem Fall wird das Verfahren einvernehmlich, d.h. im Wege gegenseitigen Nachgebens, im Wege der Einstellung beendet: So bittet bspw. der Angeklagte um Entschuldigung oder verpflichtet sich zur Leistung von Schadensersatz, während der Privatkläger im Gegenzug die Klage und ggf. zusätzlich den Strafantrag zurücknimmt.118 Zudem wird in dem Vergleich häufig eine Regelung über die Kosten des Verfahrens getroffen.119 Darüber hinaus wird die Rücknahme der Privatklage in den in § 391 Abs. 2 StPO genannten Fällen mit der Folge der Einstellung des Verfahrens fingiert. Dies geschieht etwa dann, wenn der Privatkläger in der Hauptverhandlung ausbleibt, obwohl das Gericht das persönliche Erscheinen gemäß § 387 Abs. 3 StPO angeordnet hatte, oder er eine Frist nicht einhält, die ihm unter Androhung der Einstellung des Verfahrens gesetzt war. Ist die Privatklage zurückgenommen oder deren Rücknahme fingiert worden, kann sie nicht von neuem erhoben werden (§ 392 StPO). 115 Im Offizialverfahren darf die öffentliche Anklage nur bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens zurückgenommen werden, vgl. § 156 StPO. 116 Meyer-Großner (Fn. 29), § 391 Rn. 6. 117 Kühne (Fn. 21), § 11 Rn. 253; Schröder/Verrel (Fn. 83), § 42 Rn. 347; Volk/Engländer (Fn. 24), § 39 Rn. 12. Siehe zum ebenfalls möglichen außergerichtlichen Vergleich Volk/ Engländer (Fn. 24), § 39 Rn. 12. 118 Kühne (Fn. 21), § 11 Rn. 253; Roxin/Schünemann (Fn. 4), § 63 Rn. 23. 119 Göbel, Strafprozess, 8. Aufl. 2013, S. 314; Roxin/ Schünemann (Fn. 4), § 63 Rn. 23. STRAFRECHT bb) Einstellung wegen Geringfügigkeit § 383 Abs. 2 StPO gibt dem Gericht die Möglichkeit, das Privatklageverfahren in jeder Lage wegen Geringfügigkeit durch Beschluss einzustellen. Einer Zustimmung des Privatklägers, der bis zur Einstellung möglicherweise schon ein Sühneverfahren erfolglos durchlaufen und auch sonst Zeit und Kosten investiert hat, bedarf es nicht. Er kann den Einstellungsbeschluss des Gerichts lediglich gemäß § 383 Abs. 2 S. 3 StPO mit der sofortigen Beschwerde anfechten, dies gilt jedoch nicht bei einer Einstellung im Berufungsverfahren (§ 390 Abs. 5 S. 2 StPO). cc) Einstellung bei Tod des Privatklägers Stirbt der Privatkläger, wird das Verfahren eingestellt (§ 393 Abs. 1 StPO), wenn nicht eine der Personen, die nach § 374 Abs. 2 StPO neben oder anstelle des Verletzten zur Erhebung der Privatklage berechtigt ist (s.o.), das Verfahren fortsetzt (§ 393 Abs. 2 StPO). dd) Einstellung wegen Nichtanwendbarkeit des Privatklageverfahrens Stellt sich nach Verhandlung der Sache heraus, dass diese nicht privatklagefähig ist – etwa weil tatsächlich eine gefährliche und nicht nur eine einfache Körperverletzung begangen wurde –, hat das Gericht das Verfahren durch Urteil einzustellen und die Akten an die Staatsanwaltschaft zu geben (§ 389 StPO).120 Dass ein Privatklageverfahren auch dadurch enden (bzw. sich in ein Offizialverfahren „verwandeln“) kann, dass die Staatsanwaltschaft es gemäß § 377 Abs. 2 StPO übernimmt, wurde bereits oben dargestellt. e) Kosten aa) Gebührenvorschuss/Sicherheitsleistung/Prozesskostenhilfe Hinsichtlich der Kosten des Verfahrens ergibt sich zunächst aus § 16 GKG, dass der Privatkläger verpflichtet ist, einen Prozesskostenvorschuss zu leisten (vgl. auch § 379a StPO). Vor Zahlung dieses Vorschusses soll das Gericht grundsätzlich keine Handlung vornehmen (§ 379a Abs. 2 StPO). Unter den in § 379 StPO i.V.m. §§ 108 bis 113 ZPO beschriebenen Voraussetzungen hat der Privatkläger überdies Sicherheit für diejenigen Kosten zu leisten, die dem Beschuldigten voraussichtlich erwachsen werden.121 Prozesskostenhilfe kann dem Privatkläger nach den Vorschriften, die in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten gelten (§§ 114 ff. ZPO), bewilligt werden (§ 379 Abs. 3 StPO). bb) Kostenentscheidung Für die vom Gericht abschließend zu treffende Kostenentscheidung im Privatklageverfahren enthält § 471 StPO eine besondere Vorschrift. Die allgemeinen Kostenbestimmungen 120 Siehe auch – mit weiterem Beispiel – Roxin/Schünemann (Fn. 4), § 63 Rn. 24. 121 Ausführlich dazu Göbel (Fn. 119), S. 380. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 49 AUFSÄTZE Tillmann Bartsch (§§ 464 ff. StPO) gelten daher nur, wenn in § 471 StPO keine spezielle Regelung getroffen ist.122 Im Zusammenspiel dieser Regelungen ergibt sich für Kostenentscheidungen im Privatklageverfahren im Wesentlichen Folgendes: Wird der Angeklagte verurteilt, hat er nicht nur die Kosten des Verfahrens zu tragen (§ 465 Abs. 1 StPO), sondern auch die dem Privatkläger erwachsenen notwendigen Auslagen (§ 471 Abs. 1 StPO), worunter nach § 464a Abs. 2 StPO u.a. die Entschädigung für eine notwendige Zeitversäumnis sowie die Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts fallen.123 Erfolgt keine Verurteilung, fallen zumeist dem Privatkläger die Kosten des Verfahrens und überdies die notwendigen Auslagen des Beschuldigten zur Last. Dies gilt nach § 471 Abs. 2 StPO, wenn die Klage gegen den Beschuldigten zurückgewiesen wird, wenn ein Freispruch ergeht oder wenn das Verfahren endgültig eingestellt124 wird. Dabei hat der Privatkläger die Kosten des Verfahrens selbst dann zu tragen, wenn das Verfahren nach § 389 Abs. 1 StPO durch Urteil eingestellt wird, weil sich im Lauf des Verfahrens herausgestellt hat, dass zum Nachteil des Privatklägers zwar kein Privatklage-, aber ein von der Staatsanwaltschaft zu verfolgendes Offizialdelikt begangen wurde.125 In Abweichung von den vorgenannten Grundsätzen eröffnet die Ermessensregelung des § 471 Abs. 3 StPO dem Gericht die Möglichkeit, in bestimmten, abschließend aufgezählten Fällen (Nr. 1 bis 3) die Verfahrenskosten und die notwendigen Auslagen der Beteiligten zwischen diesen angemessen zu verteilen oder sie einem Beteiligten aufzuerlegen. Dies gilt bspw. für Fälle, die wegen Geringfügigkeit nach § 383 Abs. 2 StPO eingestellt wurden (Nr. 2).126 Der Privatkläger trägt daher stets das vor Einleitung des Privatklageverfahrens kaum abschätzbare Risiko, dass das Gericht die Schuld des Täters als gering einstuft, in der Folge das Verfahren einstellt und ihm die Kosten ganz oder zum Teil auferlegt. f) Rechtsmittel Der Privatkläger kann gemäß § 390 Abs. 1 S. 1 StPO auf diejenigen Rechtsmittel zurückgreifen, die im Offizialverfahren der Staatsanwaltschaft zustehen. Anders als die Staats122 OLG Stuttgart NJW 1974, 512 (513). Vgl. Meier, in: Dölling/Duttge/Rössner (Fn. 41), § 472 Rn. 1. 124 Beispiele: Klagerücknahme, § 391 Abs. 1 StPO; fingierte Klagerücknahme, § 391 Abs. 2 StPO; Tod des Privatklägers ohne Fortführung des Verfahrens, § 393 Abs. 1 StPO. 125 BayObLG NJW 1959, 2274; Meier (Fn. 123), § 471 Rn. 2; krit. Traub, NJW 1960, 710 ff. 126 Zu der Frage, ob und inwieweit es mit der Unschuldsvermutung zu vereinbaren ist, wenn dem Angeklagten aus Anlass einer Einstellung wegen Geringfügigkeit nach § 383 Abs. 2 StPO in einem Privatklageverfahren Kosten auferlegt werden, obwohl das Verfahren nicht bis zur Schuldspruchreife gediehen war BVerfG NJW 1991, 829 f.; BVerfG NJW 1992, 1611; Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin NStZRR 2001, 203 f. 123 anwaltschaft kann er von den Rechtsmitteln jedoch nicht zugunsten des Beschuldigten Gebrauch machen.127 Ein vom Privatkläger eigennützig eingelegtes Rechtsmittel hat aber nach § 390 Abs. 1 S. 3 i.V.m. § 301 StPO trotzdem die Wirkung, dass die angefochtene Entscheidung zugunsten des Beschuldigten abgeändert oder aufgehoben werden kann. 4. Zwischenfazit Betrachtet man die Regelungen über das Privatklageverfahren in der Gesamtschau, muss man mit Roxin/Schünemann feststellen, dass der Gesetzgeber „der Privatklage nicht freundlich gegenüber [steht]“128. Um eine Verurteilung des Beschuldigten zu erreichen, muss der Privatklagewillige erhebliche Lasten tragen, hohe Hürden überwinden und nicht unerhebliche (Kosten-)Risiken in Kauf nehmen. Knapp lassen sich diese Erschwernisse und Risiken wie folgt zusammenfassen: § Der Privatkläger muss die gesamte Arbeit leisten, die ansonsten von der Staatsanwaltschaft erbracht wird.129 Er verfügt allerdings weder über deren Machtstellung noch über deren Hilfsapparat in Form der Polizei.130 Auch muss er die Beweise zusammenstellen, damit die Klage zum Hauptverfahren zugelassen wird, obwohl er in der Regel gar nicht weiß, wie das geht.131 Akteneinsicht kann er nur über einen Rechtsanwalt nehmen. § Der Privatkläger muss eine den Maßgaben des § 200 Abs. 1 StPO entsprechende Anklageschrift erstellen, obwohl ihm dazu regelhaft das juristische Rüstzeug fehlt. § Bei bestimmten Privatklagedelikten ist eine Privatklage erst zulässig, nachdem vor einer Vergleichsbehörde ein erfolgloser Sühneversuch stattgefunden hat. Die Kosten sind, jedenfalls wenn der Sühneversuch erfolglos bleibt, vom antragstellenden Privatklageberechtigten zu tragen. § Der Privatkläger muss in der Regel einen Prozesskostenvorschuss und außerdem u.U. für die dem Beschuldigten voraussichtlich erwachsenden Kosten Sicherheit leisten, wobei das Gericht die Höhe der Sicherheitsleistung nach seinem freien Ermessen (§ 108 ZPO) bestimmen kann. § In der Hauptverhandlung übernimmt der Privatkläger die Stellung des Staatsanwalts, steht aber deutlich schlechter als dieser, weil Beweisanträge nur als Anregungen aufzufassen sind und das Gericht nicht an die Beweisablehnungsgründe gebunden ist.132 Auch kann er wegen seiner Stellung als Ankläger nicht Zeuge sein. 127 OLG Hamburg NJW 1958, 1313; Beulke (Fn. 25), Rn. 592; Kindhäuser (Fn. 22), § 26 Rn. 76; a.A. Kühne (Fn. 21), § 11 Rn. 252. 128 Roxin/Schünemann (Fn. 4), § 63 Rn. 3. 129 Kindhäuser (Fn. 22), § 26 Rn. 61. 130 Kühne (Fn. 21), § 11 Rn. 251. Zur Anwendbarkeit von strafprozessualen Zwangsmaßnahmen im Privatklageverfahren Hilger, in: Weßlau (Hrsg.), Festschrift für Gerhard Fezer zum 70. Geburtstag am 29. Oktober 2008, 2008, S. 577 ff. 131 Koewius (Fn. 2), S. 116 f. 132 Schröder/Verrel (Fn. 83), § 42 Rn. 343. _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 50 Bericht über einen Moribunden: Das Privatklageverfahren STRAFRECHT § Weist das Gericht die Privatklage im Zwischenverfahren zurück, stellt es das Verfahren ein oder spricht den Angeklagten frei, muss der Privatkläger in aller Regel nicht nur die Kosten des Verfahrens, sondern auch die dem Beschuldigten erwachsenen notwendigen Auslagen tragen. Ein besonderes Kostenrisiko besteht für den Privatkläger überdies deshalb, weil das Gericht das Verfahren in jeder Lage auch wegen Geringfügigkeit einstellen und dem Privatkläger die gesamten Kosten auferlegen kann. § Schließlich kann ein Rechtsmittel des Privatklägers, das dieser eigennützig eingelegt hat, auch zu Gunsten des Beschuldigten wirksam werden. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 51 Fortgeschrittenenklausur: Der abgeschleppte Sattelauflieger – Folgen eines Notrufs Von Rechtsanwältin Dr. Simona Liauw, Düsseldorf* Die vorliegende Klausur richtet sich an fortgeschrittene Studierende. Inhaltlich stehen die Geschäftsführung ohne Auftrag und das – bei den meisten Studierenden eher unbeliebte – Eigentümer-Besitzer-Verhältnis im Vordergrund. Daneben sind bereicherungsrechtliche Ansprüche zu prüfen. Der Sachverhalt ist angelehnt an das Urteil des OLG Nürnberg vom 19.3.2013 – 14 U 613/12.1 Sachverhalt E ist Eigentümer eines Sattelaufliegers. Im Jahr 2013 überlässt er diesen im Rahmen eines wirksam geschlossenen Leasingvertrags dem L zur Nutzung. L verwendet das Fahrzeug im Rahmen seines Speditionsbetriebs. Gemäß den Bestimmungen des Leasingvertrags trägt er das Risiko für den Erhalt des Fahrzeugs. Am frühen Nachmittag des 1.9.2015 setzt der bei L angestellte Fahrer F einen polizeilichen Notruf ab, weil er mit dem Sattelauflieger auf der Autobahn liegen geblieben ist. Daraufhin verbringt der von der Polizei hinzugezogene B, der ein Bergungs- und Abschleppunternehmen betreibt, den Sattelauflieger von der Autobahn auf sein Betriebsgelände. Dort ist das Fahrzeug seitdem abgestellt. Anfang Oktober 2015 kündigt E den Leasingvertrag mit L wegen ausstehender Leasingraten fristlos. Die Kündigung ist wirksam. Weil L inzwischen insolvent ist, wendet E sich am 20.10.2015 selbst an B und verlangt die Herausgabe des Sattelaufliegers. B weigert sich, das Fahrzeug „einfach so“ an E herauszugeben. Er möchte von E zumindest die bisher angefallenen Standkosten ersetzt haben. Diese beziffert er auf 20 € pro Tag, insgesamt also auf 1.000 €. Den Betrag von 20 € pro Tag stellt er nämlich üblicherweise in Rechnung, wenn er – was häufiger vorkommt – auf seinem Betriebsgelände Stellplätze vermietet. Aufgabenstellung Kann E von B am 20.10.2015 die Herausgabe des Sattelaufliegers verlangen? Lösungsvorschlag I. Anspruch E gegen B aus §§ 681 S. 2, 667 BGB E könnte gegen B ein Anspruch auf Herausgabe des Sattelaufliegers aus §§ 681 S. 2, 667 BGB zustehen. Es müssten hierfür die Voraussetzungen der berechtigten Geschäftsführung ohne Auftrag im Verhältnis des E zu B gegeben sein. Interessenkreis eines anderen gehört.2 Das Verbringen des Sattelaufliegers von der Autobahn oblag an sich nicht der Sorge des B. Zwar hatte er als Inhaber eines Bergungs- und Abschleppunternehmens (auch) ein eigenes wirtschaftliches Interesse an der vorgenommenen Handlung; er erhoffte sich Einnahmen für seinen Betrieb. Jedoch erfüllt selbst ein sog. „auch-fremdes Geschäft“ die Kriterien eines fremden Geschäfts, wenn – wie hier – das Handeln seiner äußeren Erscheinung nach nicht allein dem Handelnden, sondern auch einem anderen zugutekommt.3 2. Geschäft des E Fraglich ist jedoch, ob B ein Geschäft des E wahrgenommen hat. Um eine berechtigte Geschäftsführung ohne Auftrag im Verhältnis zweier Personen annehmen zu können, ist nämlich nicht nur erforderlich, dass der Geschäftsführer überhaupt ein fremdes Geschäft wahrgenommen hat. Vielmehr muss er gerade ein Geschäft desjenigen wahrgenommen haben, den er nach den §§ 683 S. 1, 677 BGB als Geschäftsherrn in Anspruch nehmen will. Wer als Geschäftsherr anzusehen ist, bestimmt sich nicht (subjektiv) nach den Vorstellungen des Geschäftsführers bei Vornahme der Handlung, sondern danach, wen das Geschäft objektiv angeht. Das folgt schon aus § 686 BGB. Vorliegend kommen zwei Personen als Geschäftsherrn in Betracht: E und L. Beide waren bei objektiver Betrachtung daran interessiert, dass der Sattelauflieger unversehrt von der Autobahn verbracht wird. E war als Eigentümer am Erhalt seiner Sache gelegen; L nutzte das Fahrzeug im Rahmen seines Speditionsbetriebs und war (insbesondere) deshalb daran interessiert, es im einwandfreien und fahrtauglichen Zustand zu erhalten. Allerdings ist regelmäßig, wenn zwei Personen als Geschäftsherrn in Frage kommen, letztlich derjenige als Geschäftsherr anzusehen, der die Gefahr trägt.4 Das ist hier L, dem vertraglich das Risiko für den Erhalt des Sattelaufliegers übertragen war. Damit ist die Bergung dem Rechtskreis des L zuzurechnen.5 Die nur mittelbare Beziehung zu den Interessen des E als Leasinggeber reicht nicht aus, um darin auch die Besorgung seines Geschäfts zu sehen. Andernfalls würden die Regeln der Geschäftsführung ohne Auftrag unangemessen ausgeweitet.6 Mithin ist E nicht als Geschäftsherr anzusehen. Hinweis: Hier ist eine andere Ansicht gut vertretbar.7 2 1. Fremdes Geschäft B müsste zunächst ein fremdes Geschäft besorgt haben. Hierrunter versteht man eine Tätigkeit, die zum Rechts- oder * Die Autorin ist Rechtsanwältin in Düsseldorf. 1 OLG Nürnberg NJW-RR 2013, 1325. Sprau, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 75. Aufl. 2016, § 677 Rn. 4. 3 Sprau (Fn. 2), § 677 Rn. 6. 4 Dornis, in: Erman, Kommentar zum BGB, 14. Aufl. 2014, § 677 Rn. 5. 5 So auch OLG Nürnberg NJW-RR 2013, 1325. 6 Vgl. auch BGHZ 54, 157. 7 So sehen Seiler (in: Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 4, 6. Aufl. 2012, § 677 Rn. 36, 38) und Bergmann (in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2006, § 686 Rn. 2) den _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 52 Fortgeschrittenenklausur: Der abgeschleppte Sattelauflieger – Folgen eines Notrufs 3. Ergebnis Die Voraussetzungen einer berechtigten Geschäftsführung ohne Auftrag im Verhältnis des E zu B liegen also nicht vor. II. Anspruch des E gegen B aus § 985 BGB 1. Vindikationslage Es müsste eine Vindikationslage bestehen. Das erfordert, dass E Eigentümer des Sattelaufliegers ist und B dessen Besitzer, wobei B zum Besitz nicht berechtigt sein dürfte. a) Eigentum des E E ist Eigentümer des Sattelaufliegers.8 b) Besitz des B Indem B den Sattelauflieger auf sein Betriebsgelände verbracht und ihn dort aufbewahrt hat, hat er die tatsächliche Sachherrschaft über ihn erlangt und ist damit unmittelbarer Besitzer im Sinne von § 854 Abs. 1 BGB geworden. c) Kein Recht zum Besitz B dürfte kein Recht zum Besitz gem. § 986 BGB zustehen. aa) Eigenes Besitzrecht (§ 986 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB) (1) Aus Geschäftsführung ohne Auftrag Hinweis: Nur wer unter dem Prüfungspunkt I. die Geschäftsführung ohne Auftrag bejaht hat, muss sich an dieser Stelle dazu äußern, ob hieraus ein Recht zum Besitz folgt. Ihm könnte ein eigenes Recht zum Besitz aufgrund berechtigter Geschäftsführung ohne Auftrag nach §§ 677, 683 S. 1 BGB zustehen. Grundsätzlich kann eine berechtigte Geschäftsführung ohne Auftrag ein Recht zum Besitz geben. Allerdings ist der Geschäftsführer verpflichtet, dem Eigentümer den Besitz zurückzugewähren (vgl. §§ 681 S. 2, 667 BGB). Das Besitzrecht kann also allenfalls bis zum berechtigten Herausgabeverlangen des Geschäftsherrn bestehen. Eine Einrede gegenüber dem dinglichen Herausgabeanspruch aus § 985 BGB kann es mithin nicht begründen.9 (2) Aufgrund eines Zurückbehaltungsrechts B könnte ein Zurückbehaltungsrecht nach § 1000 S. 1 BGB wegen der Standkosten zustehen. Fraglich ist jedoch, ob ein solches Zurückbehaltungsrecht ein Besitzrecht im Sinne von Eigentümer in der Regel als Geschäftsherrn an. Mansel (in: Jauernig, Kommentar zum BGB, 16. Aufl. 2015, § 677 Rn. 3) bezeichnet hier die Abgrenzung als „oft zweifelhaft“. 8 Dass E als Leasinggeber bei wirtschaftlicher Betrachtung seine aus § 903 BGB folgende Herrschaftsmacht über den Sattelauflieger weitgehend an L übertragen hat, ist unschädlich (vgl. Ebbing, in: Erman [Fn. 4], § 985 Rn. 6). 9 OLG Nürnberg NJW-RR 2013, 1325; Ehlers, in: juris PraxisKommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 986 Rn. 6. ZIVILRECHT § 986 BGB gewährt. Das ist umstritten: Nach einer Ansicht10 können Zurückbehaltungsrechte ein Recht zum Besitz begründen. Nach anderer Ansicht11 führen Zurückbehaltungsrechte allein zu einer (bloßen) Zug-um-Zug-Verurteilung, geben aber kein Besitzrecht im Sinne von § 986 BGB. Bedenkt man, dass Zurückbehaltungsrechte regelmäßig keine über die Zurückbehaltung hinausgehenden Rechte oder Pflichten des Besitzers begründen,12 was sich etwa aus §§ 274 Abs. 1, 322 Abs. 1 BGB ergibt, überzeugt allein die zweite Ansicht. Das gilt insbesondere für das Zurückbehaltungsrecht aus § 1000 BGB: Die Vorschrift setzt das Fehlen einer Besitzberechtigung gerade voraus.13 Zudem führte andernfalls die erstmalige Vornahme einer nach §§ 994 ff. BGB erstattungsfähigen Verwendung durch den unrechtmäßigen Besitzer zum Wegfall der Vindikationslage.14 Daher steht B auch nicht aufgrund eines etwaig bestehenden Zurückbehaltungsrechts ein Recht zum Besitz zu. bb) Abgeleitetes Besitzrecht (§ 986 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB) Die Besitzberechtigung des B könnte sich aus dem zwischen E und L bestehenden Leasingvertrag ergeben, der L gegenüber E zum Besitz berechtigt. Allerdings hat E den Vertrag Anfang Oktober wirksam gekündigt. Im Zeitpunkt der Geltendmachung des Herausgabeverlangens – also am 20.10.2015 – kann sich aus dem Leasingvertrag damit weder für L noch für B ein Besitzrecht herleiten.15 d) Zwischenergebnis Es besteht eine Vindikationslage. 2. Zurückbehaltungsrecht des B Möglicherweise kann E die Herausgabe nach § 274 Abs. 1 BGB nur Zug um Zug verlangen. B könnte wegen der Standkosten i.H.v. 1.000 € gem. § 1000 S. 1 BGB ein Zurückbehaltungsrecht zustehen. Voraussetzung dafür wäre ein Verwendungsersatzanspruch des B gegen E. Ein solcher könnte sich aus § 994 Abs. 1 BGB ergeben. a) Vindikationslage Dafür müsste zunächst eine Vindikationslage im Verhältnis zwischen B und E bestehen. Das wurde für den Zeitpunkt des 10 BGH NJW 1955, 340 (341); BGH NJW 1975, 1121; BGH NJW 1998, 2045 (2046); OLG Celle OLGR 1995, 65 (66). 11 OLG Dresden DtZ 1994, 252; Baldus, in: Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 6, 6. Aufl. 2013, § 986 Rn. 32; Gursky, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2012, § 986 Rn. 28 m.w.N. So wohl auch OLG Brandenburg, Urt. v. 11.6.2003 – 3 U 22/00. 12 Baldus (Fn. 11), § 986 Rn. 32. 13 Pikart, in: Reichsgerichtsräte-Kommentar zum BGB, Bd. 3, 1. Teil, 12. Aufl. 1979, § 986 Rn. 16; Schreiber, Jura 2005, 30 (33). 14 Seidel, JZ 1993, 180 (182 m.w.N.). 15 Dass B im Zeitpunkt der Begründung seines Besitzes ein von L abgeleitetes Recht zum Besitz zustand (siehe unten), spielt keine Rolle (vgl. Ehlers [Fn. 9], § 986 Rn. 17). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 53 ÜBUNGSFÄLLE Simona Liauw Herausgabeverlangens des E bereits bejaht (siehe oben). B hatte jedoch zumindest im September von L abgeleiteten, berechtigten Fremdbesitz: Der Leasingvertrag berechtigte L seinerzeit zum Besitz gegenüber E, B besaß für L16 und er war aufgrund der berechtigten Geschäftsführung ohne Auftrag ihm gegenüber besitzberechtigt. Damit hatte er jedenfalls während des ersten Monats der Standzeit ein Besitzrecht auch gegenüber E, sodass es während dieses Zeitraums an einer Vindikationslage fehlte. Ob in einer Fallkonstellation, in welcher der Besitzer zunächst berechtigt war und später zum unberechtigten Besitzer wird (sog. „nicht mehr berechtigter Besitzer“), §§ 987 ff. BGB anzuwenden sind, ist umstritten.17 Nach einer Ansicht18 genügt es für die Anwendung der Vorschriften des Eigentümer-Besitzer-Verhältnisses (EBV), wenn die Vindikationslage erst später entsteht. Im Hinblick auf den Verwendungsersatzanspruch aus § 994 Abs. 1 BGB reicht es danach aus, dass sie nach Vornahme der Verwendungen entsteht. Nach anderer Ansicht19 sind die §§ 987 ff. BGB erst ab dem Zeitpunkt anwendbar, ab dem eine Vindikationslage besteht; der „nicht mehr berechtigte Besitzer“ kann daher allenfalls für die ab dem Zeitpunkt des Wegfalls des Besitzrechts gemachten Verwendungen Ersatz verlangen. Die Vertreter einer dritten Ansicht20 verneinen die Anwendbarkeit der §§ 987 ff. BGB auf ursprünglich rechtmäßige Besitzverhältnisse insgesamt. Folgte man der zuerst genannten Ansicht, wäre § 994 Abs. 1 BGB zugunsten des B für den gesamten Zeitraum, in dem er den Sattelauflieger auf seinem Betriebsgelände geparkt hat, anwendbar. Hielte man die zweite Ansicht für richtig, wäre die Vorschrift nur für einen Teil des Zeitraums einschlägig. Bejahte man die zuletzt genannte Auffassung, käme § 994 Abs. 1 BGB nicht zur Anwendung. Daher muss der Meinungsstreit entschieden werden. Zunächst sprechen der Wortlaut und die Systematik der §§ 987 ff. BGB dafür, jedenfalls nicht auf die gesamte Besitzzeit die Vorschriften über das EBV anzuwenden.21 Durch sie soll nämlich vor allem der gutgläubige unberechtigte Besitzer geschützt werden. Wer jedoch zunächst berechtigterweise besitzt, wird nicht rückwirkend zum unberechtigten Besitzer, nur weil zu einem späteren Zeitpunkt sein Besitzrecht ex nunc erlischt.22 Aus dem gerade genannten Zweck der §§ 987 ff. BGB ergibt sich jedoch das letztlich überzeugende Argument für die erste Ansicht: Der vormals berechtigte Besitzer würde schlechter gestellt als ein von Anfang an unberechtigter, verneinte man die Anwendung der Vorschriften des EBV. Er würde also gerade nicht privilegiert. Das liefe dem Zweck der §§ 987 ff. BGB zuwider. Daher muss es 16 OLG Nürnberg NJW-RR 2013, 1325 (1326). Vgl. zum Streit Medicus, Bürgerliches Recht, 22. Aufl. 2009, Rn. 587 ff.; Vierhuß, NJ 2003, 91. 18 BGHZ 34, 122 (129 ff.); BGH NJW 2002, 2875. 19 Baldus (Fn. 11), Vor §§ 987-1003 Rn. 13; Berg, JuS 1970, 12 (14 f.); Gursky (Fn. 11), Vor §§ 994-1003 Rn. 30 ff. m.w.N. 20 Ebbing (Fn. 8), Vor §§ 987-993 Rn. 44. 21 Vierhuß, NJ 2003, 91. 22 Ebbing (Fn. 8), Vor §§ 987-993 Rn. 44. 17 auch unerheblich sein, wann die Verwendungen erfolgt sind, ob also der Besitzer die Verwendungen bereits zu einem Zeitpunkt vorgenommen hat, als er noch rechtmäßig besessen hat, oder ob dies erst nach Eintritt der Vindikationslage geschehen ist. Wann die Verwendungen vorgenommen werden, ist nämlich oftmals zufallsabhängig. Entscheidend ist mithin im Ergebnis allein, dass Verwendungen vom Besitzer vorgenommen worden sind und er zur Zeit der Geltendmachung des Verwendungsersatzanspruchs einem Herausgabeanspruch des Eigentümers ausgesetzt ist.23 § 994 Abs. 1 BGB ist folglich anwendbar. Hinweis: Eine andere Ansicht ist hier gut vertretbar. b) Verwendungen im Sinne von § 994 Abs. 1 BGB B müsste zunächst Verwendungen auf den Sattelauflieger gemacht haben. Unter Verwendungen versteht man Vermögensaufwendungen, die zumindest auch der Sache selbst zugutekommen, indem sie ihrer Wiederherstellung, ihrer Erhaltung oder ihrer Verbesserung dienen.24 B hat das Fahrzeug auf seinem Betriebsgelände verwahrt. Das ordnungsgemäße Abstellen eines Fahrzeugs trägt dazu bei, es vor den Zugriffen Dritter zu schützen, und beugt einem eventuell drohenden Einschreiten der Ordnungsbehörden wegen verkehrswidrigen Dauerparkens vor. Damit dient es dem Erhalt der Sache.25 Üblicherweise wird für die längerfristige Zurverfügungstellung eines Abstellplatzes ein Entgelt verlangt; insbesondere pflegte B, Raum auf seinem Betriebsgelände häufig derart zu vermieten. Deshalb liegt eine vermögenswerte Aufwendung vor. c) Notwendigkeit der Verwendungen im Sinne von § 994 Abs. 1 BGB Die Verwendungen müssten auch notwendig gewesen sein. Das wäre der Fall, wenn sie zur Erhaltung oder zur ordnungsgemäßen Bewirtschaftung des Sattelaufliegers nach objektiven Maßstäben zur Zeit ihrer Vornahme erforderlich gewesen wären, der Eigentümer sie also – hätte der Besitzer sie nicht gemacht – selbst hätte treffen müssen.26 Ob das hinsichtlich des Abstellens des Sattelaufliegers auf einem privaten Stellplatz zu bejahen ist, erscheint fraglich. Als Alternative wäre möglicherweise das Abstellen im öffentlichen Verkehrsraum in Betracht gekommen. Allerdings ist der Sattelauflieger sehr groß. Es wäre also bereits nicht einfach gewesen, einen ausreichend großen Parkplatz zu finden. Zudem ist es straßenverkehrsrechtlich nicht erlaubt, Fahrzeuge im öffentlichen Verkehrsraum dauerhaft an derselben Stelle abzustellen; der öffentliche Verkehrsraum soll nicht als Lager- und Abstellfläche missbraucht werden.27 Daher wäre 23 BGHZ 34, 122 (131 f.); BGH NJW 2002, 2875. BGHZ 131, 220; OLG Brandenburg BeckRS 2007, 05063. 25 Vgl. hierzu auch AG Bremen BeckRS 2008, 22167. 26 Vgl. BGH NJW 1996, 921 (922); Bassenge, in: Palandt (Fn. 2), § 994 Rn. 5. 27 Die Nutzung des öffentlichen Verkehrsraums als Lagerplatz bewegt sich regelmäßig außerhalb des straßenrechtli24 _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 54 Fortgeschrittenenklausur: Der abgeschleppte Sattelauflieger – Folgen eines Notrufs – wenn E sich nicht in regelmäßigen, kurzen Abständen mit einigem Aufwand um eine Umsetzung des Fahrzeugs hätte bemühen wollen – mit einer ordnungsrechtlichen Sanktion zu rechnen gewesen. Mithin war das Abstellen des Sattelaufliegers auf einer öffentlichen Verkehrsfläche wegen der Größe des Fahrzeugs keine Alternative.28 E hätte sich, bei Unterstellung rechtmäßigen Verhaltens, um die Anmietung eines Stellplatzes auf einem Privatgelände bemühen müssen. Damit waren die Verwendungen des B im Ergebnis notwendig. Hinweis: Hier ist eine andere Ansicht mit entsprechender Argumentation gut vertretbar. 3. Ergebnis E steht ein Herausgabeanspruch aus § 985 BGB Zug um Zug gegen Befriedigung des B wegen der Standkosten i.H.v. 1.000 € zu. III. § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB E könnte gegen B einen Anspruch auf Herausgabe aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB haben. 1. Etwas erlangt B müsste etwas im Sinne von § 812 Abs. 1 S. 1 BGB erlangt haben. Hierunter versteht man jeden Vermögensvorteil.29 Erfasst sind mithin der Erwerb von Rechten, die Erlangung einer vorteilhaften Rechtsstellung, die Befreiung von einer Verbindlichkeit sowie die Ersparung von Aufwendungen.30 Der Erwerb des Besitzes ist vorteilhaft; bereits die bloße Innehabung des Besitzes gewährt dem Besitzer nach §§ 859 ff. BGB besondere Rechte. B hat unmittelbaren Besitz an dem Sattelauflieger erhalten. Mithin hat er etwas erlangt. 2. Durch Leistung B müsste den Besitz von E durch eine Leistung des E im Sinne von § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB erlangt haben. Unter einer Leistung versteht man eine bewusste und zweckgerichtete Mehrung fremden Vermögens.31 Hier war E an der Besitzerlangung durch B nicht beteiligt: Weder hat er selbst an B den Sattelauflieger übergeben noch hat er eine auch nur mittelbare Rolle bei der Besitzerlangung gespielt. E wusste vielmehr Anfang September überhaupt nicht, dass sein Fahrzeug in den Herrschaftsbereich des B gelangt war. Von einer bewussten Vermögensmehrung kann daher keine Rede sein. Es fehlt mithin an einer Leistung vonseiten des E. 3. Ergebnis E hat gegen B keinen Herausgabeanspruch aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB. chen Widmungszwecks und stellt damit keinen Gemeingebrauch mehr, sondern eine Sondernutzung dar. 28 So auch OLG Nürnberg NJW-RR 2013, 1325 (1326). 29 BGH NJW 1995, 53. 30 Vgl. Sprau (Fn. 2), § 812 Rn. 8 ff. 31 BGH NJW 2013, 2519 (2520). ZIVILRECHT IV. § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB E könnte gegen B jedoch einen Herausgabeanspruch aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB haben. 1. Etwas erlangt B hat mit dem Besitz am Sattelauflieger etwas erlangt (siehe oben). 2. In sonstiger Weise Der Bereicherungsvorgang müsste sich in sonstiger Weise vollzogen haben. Das ist der Fall, wenn der Bereicherungsgegenstand dem Empfänger von niemandem geleistet wurde.32 Vonseiten des E liegt – wie bereits erörtert – keine Leistung an B vor. L könnte eine Leistung an B vorgenommen haben. Jedoch wäre auch hier nach den soeben genannten Anforderungen an eine Leistung im Sinne von § 812 Abs. 1 BGB erforderlich, dass L dem B den Besitz an dem Sattelauflieger bewusst zugewandt hat. Insoweit gilt im Ergebnis das Gleiche wie in Bezug auf E: L war als Speditionsunternehmer nicht Fahrer des Sattelaufliegers. Er selbst hat B nicht zur Hilfe gerufen, als das Fahrzeug von der Autobahn verbracht werden sollte; den Notruf hat F abgesetzt. L wusste Anfang September nicht einmal, dass B die Sachherrschaft erlangt hatte. An einer bewussten Vermögensübertragung fehlt es mithin. In Betracht kommt jedoch auch eine Leistung der Polizei an B. Dem Abschleppvorgang und der anschließenden Gewahrsamsbegründung durch B ging ein polizeilicher Notruf voraus. B nahm das Fahrzeug also nicht aus eigenem Antrieb in Besitz, sondern allein aufgrund der polizeilichen Aufforderung hierzu. Die Polizei hat ihm mithin bewusst die aus ihren gefahrenabwehrrechtlichen Befugnissen abgeleitete Erlaubnis erteilt, sich die tatsächliche Sachherrschaft zu verschaffen. Der Zweck der Erteilung dieser Erlaubnis bestand jedoch darin, der polizeilichen Pflicht zur Gefahrenabwehr nachzukommen. Einen im Rahmen der §§ 812 ff. BGB anerkannten Leistungszweck verfolgte die Polizei damit nicht: Weder wollte sie – wie es für condictio indebiti und condictio ob causam finitam erforderlich wäre – eine Verbindlichkeit gegenüber B erfüllen. Noch bestand zwischen B und der Polizei ein Rechtsgeschäft, das – wie bei der condictio ob rem – seinem Inhalt nach einen bestimmten, im Ergebnis verfehlten Zweck voraussetzte. Es liegt also auch keine Leistung der Polizei an B vor. Damit hat B den Besitz durch seine eigene Handlung, also in sonstiger Weise erlangt. 3. Ohne Rechtsgrund Es dürfte kein Rechtsgrund zugunsten des B bestehen. Im Rahmen der Nichtleistungskondiktion ist insoweit entscheidend, ob nach der Rechtsordnung für das Verhältnis zwischen dem Bereicherten und dem Inhaber des beim Bereichungsvorgang berührten Vermögens – also den Parteien der Nichtleistungskondiktion – kein Grund dafür besteht, dass der 32 BGH NJW 2005, 60; Hüffer, JuS 1981, 263. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 55 ÜBUNGSFÄLLE Simona Liauw Bereicherte den Vorteil behalten darf.33 Es kommt also nicht darauf an, ob der Bereicherte den Vorteil auf rechtswidrige Weise erhalten hat; daher spielt auch insbesondere ein etwaiges Verschulden keine Rolle.34 Vielmehr ist entscheidend, ob der Bereicherte ihn behalten darf. Im vorliegenden Fall ist also zu klären, wem die Rechtsordnung den konkreten Vermögenswert „Besitz am Sattelauflieger“ zuweist. Das ist nach § 903 BGB in Verbindung mit § 985 BGB E. Ihm steht als Eigentümer die Sache in ihrer Gesamtheit zu. Etwas anderes könnte allenfalls unter Berücksichtigung der Tatsache gelten, dass B Verwendungen auf das Fahrzeug gemacht hat. Ein ihm deshalb (gegebenenfalls) zustehendes Zurückbehaltungsrecht könnte derart verstanden werden, dass ihm die Rechtsordnung – solange er wegen der Verwendungen noch nicht befriedigt ist – ein Recht zum Behalten zugesteht. Allerdings wird man dies aus den gleichen Erwägungen ablehnen müssen, die im Rahmen des § 986 BGB zur Frage nach dem Zurückbehaltungsrecht als Recht zum Besitz angestellt wurden. Ein Zurückbehaltungsrecht gibt kein dauerhaftes Recht zum Haben, sondern nur das Recht, die Herausgabe Zug-um-Zug gegen Befriedigung der eigenen Ansprüche zu erreichen. B ist mithin rechtsgrundlos bereichert. 4. Zwischenergebnis E steht gegen B ein Herausgabeanspruch aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB zu. 5. Zurückbehaltungsrecht Möglicherweise kann E nach § 274 Abs. 1 BGB die Herausgabe nur Zug um Zug verlangen. B könnte ein Zurückbehaltungsrecht nach § 273 Abs. 2 BGB zustehen. Nach § 994 Abs. 1 BGB steht B ein fälliger Verwendungsanspruch gegen E zu (siehe oben). Sein Zurückbehaltungsrecht wäre nach § 273 Abs. 2 Hs. 2 BGB jedoch ausgeschlossen, wenn er den Besitz am Sattelauflieger durch eine vorsätzlich begangene unerlaubte Handlung im Sinne des §§ 823 ff. BGB erlangt hätte. Dafür wäre Voraussetzung, dass B rechtswidrig gehandelt hat, als er den Sattelauflieger in Besitz nahm. Rechtswidrig ist eine Handlung, wenn sie ein deliktisch geschütztes Rechtsgut verletzt, sofern nicht ausnahmsweise ein Rechtfertigungsgrund eingreift. Letzteres ist angesichts des polizeilichen Notrufs, der B zum Abschleppen und der anschließenden Verwahrung des Fahrzeugs veranlasste, der Fall: Die Polizei handelte aufgrund ihrer Befugnisse zur Gefahrenabwehr und bediente sich des B dazu in diesem Rahmen. Mithin fehlt es an der Widerrechtlichkeit und damit an einer unerlaubten Handlung. § 273 Abs. 2 BGB ist also anwendbar. 6. Ergebnis E kann Zug um Zug gegen Zahlung der Standkosten die Herausgabe des Sattelaufliegers von B verlangen. 33 OLG Rostock OLGR 2006, 945 (947); Buck-Heeb, in: Erman (Fn. 4), § 812 Rn. 64. 34 Sprau (Fn. 2), § 812 Rn. 41; vgl. auch Hüffer, JuS 1981, 263. _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 56 Schwerpunktbereichsklausur: Der kontrollfreudige Minderheitsaktionär Von Oberregierungsrat Dr. Michael Hippeli, LL.M., MBA (MDX), Frankfurt a.M.* Der dem Schwerpunktbereich Unternehmens- und Gesellschaftsrecht zuzuordnende Fall behandelt im Gewand einer Beschlusskontrolle ein derzeit sehr aktuelles Thema, nämlich die in den letzten Jahren verstärkt auftretende Einberufung der Hauptversammlung der AG aufgrund Minderheitsverlangens im Sinne des § 122 AktG sowie in der Folge die Bestellung eines Sonderprüfers im Sinne des § 142 AktG und die Geltendmachung von Ersatzansprüchen im Sinne des § 147 AktG durch einen besonderen Vertreter.1 Ebenso sind verstärkt dazu korrespondierende Versuche der betroffenen Gesellschaftsorgane zu beobachten, die Geltendmachung dieser Minderheitsrechte mit allerlei taktischem Vorgehen im Umfeld der Hauptversammlung (rechtmäßig oder unrechtmäßig) zu verhindern. Sachverhalt2 Die Climatic Seats AG (C-AG) ist als Automobilzulieferer tätig, ihre 10.000.000 Aktien zu einem Nennwert von je 1,Euro sind als sog. MDax-Wert im Geregelten Markt mehrerer deutscher Wertpapierbörsen gelistet. Mittlerweile gibt es 1.700 Mitarbeiter. Ursprünglich wurde die C-AG 1995 von den drei Jungunternehmern Klaus Konrad (K), Bernd Bungert (B) und Ingo Irrweg (I) in der Rechtsform einer GmbH gegründet. Der Absatz eines bahnbrechenden neuen Produkts (schmutzabweisende und sich an die Jahreszeiten klimatisch anpassende Sitzbezüge) verlief derart erfolgreich, dass bereits 2001 eine Umwandlung in eine AG erfolgte, um als solche 2002 den Börsengang (IPO) zu wagen. Im Rahmen des IPO wurden allerdings nur 4.000.000 Aktien an Anleger ausgegeben. Die übrigen 6.000.000 Aktien halten jeweils zu 1/3 K, B und I. Von den ausgegebenen Aktien hält die Alpha-Invest Lux S.A. (A), ein Private-Equity Fonds, durch einige börsliche Erwerbe seit Anfang 2011 insgesamt 2.000.000 Aktien. Die übrigen im Handel befindlichen 2.000.000 Aktien sind dem Streubesitz zuzuordnen. * Der Autor ist Mitarbeiter der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) in Frankfurt am Main und Lehrbeauftragter an zwei Hochschulen. Er gibt ausschließlich seine persönlichen Auffassungen wieder. 1 Vgl. zur Aktualität und Brisanz des Gesamtthemas etwa die zur Thematik passenden Aufsätze der letzten drei Jahre von Bayer/Scholz/Weiß, ZIP 2014, 1; Habersack/Mülbert, ZGR 2014, 1; Grunewald, AG 2015, 689; Schatz, AG 2015, 696; Lochner/Beneke, ZIP 2015, 2010; Schüppen/Tretter, ZIP 2015, 2097; Lieder, NZG 2016, 81; Cziupka/Kraack, DNotZ 2016, 15; Kocher/Lönner, ZIP 2016, 653; Hippeli, DZWIR 2016, 408; Bayer, AG 2016, 637. 2 Der Sachverhalt ist als Melange an mehrere gesellschaftsrechtliche Judikate der Jahre 2015 und 2016 angelehnt, insbesondere an BGH, Urt. v. 28.4.2015 – II ZR 63/14; BGH, Urt. v. 30.6.2015 – II ZR 142/14 und OLG Hamburg, Urt. v. 22.1.2016 – 11 U 287/14. K und B sind seit jeher die einzigen Vorstände der B-AG. Ferner ist I seit jeher Vorsitzender des aus 15 Personen bestehenden Aufsichtsrats. Der Aufsichtsrat besteht mehrheitlich aus K, B und I nahestehenden Personen (Bekannte, Studienfreunde, beratende Rechtsanwälte) sowie darüber hinaus aus vier entsendeten Vertretern der beiden die C-AG maßgeblich kreditierenden Banken, die ebenfalls Aktionäre sind. Bei A herrscht Unmut über die Zustände in der C-AG, in Tageszeitungen werden ihre Vertreter meist mit Aussagen wie „Vetternwirtschaft bei der C-AG“ oder „intransparente Geschäftspolitik des Vorstands der C-AG“ zitiert. A hat im Nachgang zur ordentlichen Hauptversammlung 2016 folgende Erkenntnisse gewonnen, die Fundament ihres Unmuts sind: Das Vergütungssystem sieht so aus, dass die C-AG den Vorständen K und B seit 2003 stets Steigerungsraten von 20 % bis 25 % p.a. zugestanden hat, während seit 2011 das Geschäft stagniert (Umsätze von Jahr zu Jahr rückläufig; seither Abbau von 250 Arbeitsplätzen; Gewinnwarnungen; 2014 und 2015 negatives Betriebsergebnis). 2016 betrug die Steigerungsrate für die Vorstandsvergütung nun 60 %. Ferner hat die C-AG im Juni 2014 mit der Unternehmensberatungs-GmbH (U) einen mit insgesamt rd. 500.000,Euro dotierten Beratervertrag in Bezug auf eine geplante operative Restrukturierung abgeschlossen. An der U ist B mit 75 % beteiligt, für die U handelt als Geschäftsführer der mit 25 % beteiligte zweite Gesellschafter der U. Als der Beratungsvertrag, dessen Abschluss die Organe der C-AG als in die alleinige Kompetenz des Vorstands fallend halten, finalisiert wird, enthält sich B seiner Stimme im Vorstand der CAG. Bei sämtlichen ordentlichen Hauptversammlungen der CAG 2011-2016 ist die A mit ihren Anträgen auf Wahl von ihr benannter Aufsichtsratsmitglieder und Abschlussprüfer gescheitert. Auf der Hauptversammlung erbetene Auskünfte zur laufenden und künftigen Geschäftspolitik des Vorstands (was ist der Plan zur Änderung der miserablen Lage?) sowie zu Eigengeschäften zwischen der C-AG und B wurden durch den Vorstand wiederholt nicht erteilt (Auskunftsverweigerung). Auch sämtliche Aktionärsanträge von A wurden auf den Hauptversammlungen mit der Mehrheit der Stimmen der stets anwesenden K, B und I niedergestimmt. Gleiches gilt auch in Bezug auf die Beschlüsse zur Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat der C-AG, bei der A stets mit „Nein“ gestimmt hat. Nun soll der aus subjektiver Sicht bislang vorherrschende „Schmusekurs“ von A ein Ende finden. A fordert den Vorstand schriftlich unter Angabe des Zwecks und der Gründe auf, für den 16.12.2016 eine außerordentliche Hauptversammlung einzuberufen. Auf der Tagesordnung sollen die Bestellung eines Sonderprüfers und eines besonderen Vertreters stehen, letztlich sollen Ersatzansprüche der C-AG gegen die Vorstände K und B verfolgt werden. Zum schwerlich als unabhängig zu bezeichnenden Aufsichtsrat besteht insoweit kein Vertrauen. Der Vorstand der C-AG verweigert (erwartungsgemäß) die Einberufung, woraufhin auf Antrag des A eine gerichtli- _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 57 ÜBUNGSFÄLLE Michael Hippeli che Ermächtigung zugunsten A ausgesprochen wird. Leider hat es A versäumt, bei Gericht anzuregen, dass eine Drittperson besagte Hauptversammlung leitet. Demzufolge avanciert der Aufsichtsratsvorsitzende I zum Versammlungsleiter. Er bricht die außerordentliche Hauptversammlung am 16.12.2016 bereits nach 30 Minuten ab und begründet dies mit „tumultartigen Zuständen“, die A zu verantworten habe. Durch das Vorgehen von A und seiner Neigung, tendenziöse Aussagen an die „Lügenpresse“ weiterzugeben, seien auch die Kleinaktionäre verunsichert worden, was zu unhaltbaren Situationen bei der Gebrauchmachung des Fragerechts der Aktionäre geführt habe. In dieser Form und auch Lautstärke könne eine Hauptversammlung nicht seriös durchgeführt werden. Als A und die Kleinaktionäre sich nach Hause aufgemacht haben, beschließen die immer noch im Hinterzimmer am Versammlungsort befindlichen K, B und I, die Hauptversammlung „fortzusetzen“, schließlich sei es jetzt wieder ruhig. Die von A vorgelegten Beschlussentwürfe der Tagesordnung werden allesamt verworfen. A begehrt nun im Klagewege, die Nichtigkeit der Beschlüsse festzustellen, hilfsweise, die Beschlüsse für nichtig zu erklären. Fallfrage Wird die Klage des A Erfolg haben? Bearbeitervermerk Nehmen Sie zu sich aufdrängenden Problemkreisen, die nicht unmittelbar in die Falllösung integriert werden können, bitte hilfsgutachterlich Stellung. Lösungsvorschlag Die Klage des A wird Erfolg haben, sofern sie zulässig und begründet ist. I. Zulässigkeit Die Klage des A müsste zunächst zulässig sein. Typischerweise ist vorrangig über einen „Hauptantrag“ zu entscheiden. Der ausdrücklich so bezeichnete „Hilfsantrag“ ist bei Antragsverfahren regelmäßig nur dann weiter zu verfolgen, wenn der Hauptantrag keine Aussicht auf Erfolg hat.3 Hinweis: Die vorliegende Form der Antragstellung ist typisch für die aktienrechtliche Beschlusskontrolle. Der Hauptantrag zielt auf die Feststellung, dass die angegriffenen Beschlüsse von vornherein nichtig waren (Nichtigkeitsklage), der Hilfsantrag zielt dagegen auf lediglich anfechtbare Beschlüsse, die zunächst schwebend wirksam sind (Anfechtungsklage). Bisweilen wird in der Praxis aus Gründen anwaltlicher Vorsicht zudem noch der Antrag 3 Musielak, in: Musielak/Voit, Kommentar zur ZPO, 13. Aufl. 2016, § 308 Rn. 18; ders., in: Münchener Kommentar zur ZPO, Bd. 1, 5. Aufl. 2016, § 308 Rn. 17. gestellt, „höchst hilfsweise“ zumindest die Unwirksamkeit der maßgeblichen Beschlüsse festzustellen.4 Die Bezeichnung „hilfsweise“ ist bei der Beschlusskontrolle somit untechnisch zu verstehen. Tatsächlich ist der Streitgegenstand von Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage identisch. Es besteht ein einheitliches Rechtsinstitut mit dem identischen Rechtsschutzziel der festgestellten Nichtigkeit der Beschlüsse und kein Alternativverhältnis.5 1. Statthafte Klageart Damit die im „Hauptantrag“ bezeichnete Nichtigkeitsklage die statthafte Klageart wäre, müssten die auf der Hauptversammlung am 16.12.2016 gefassten Beschlüsse derart schwerwiegende Mängel aufweisen, dass sie ipso iure als nichtig anzusehen sind. Diese Art von Beschlussmängeln ist abschließend in § 241 AktG angelegt. Dann müsste ein Nichtigkeitsgrund aus dem dort angelegten Regelkatalog einschlägig sein. Zunächst ist kein Einberufungsmangel im Sinne des § 241 Nr. 1 AktG erkennbar. Denn ausweislich des Wortlauts sind nur Fehler bei „regulären“ Einberufungen im Sinne des § 121 AktG teilweise erfasst, nicht jedoch schlechterdings Einberufungen auf Verlangen einer Minderheit im Sinne des § 122 AktG. Allerdings kann mittelbar dennoch der Anwendungsfall von § 241 Nr. 1 AktG i.V.m. § 121 Abs. 2 S. 3 AktG vorliegen, wenn die gerichtliche Ermächtigung nicht erteilt oder von der Hauptversammlung wieder aufgehoben wurde.6 Vorliegend ist ein solches aber nicht ersichtlich. Auch verstößt der Inhalt der durch K, B und I bei „Fortsetzung“ der außerordentlichen Hauptversammlung gefassten ablehnenden Beschlüsse nicht gegen die guten Sitten (§ 241 Nr. 4 AktG), allenfalls die Art und Weise des Zustandekommens ist bedenklich. Ein sittenwidriges Zustandekommen eines Beschlusses etwa durch Stimmrechtsmissbrauch, Treuepflichtverletzung o.ä. genügt aber nicht, um von einer Nichtigkeit des Beschlusses im Sinne des § 241 Nr. 4 AktG ausgehen zu können.7 Eine Nichtigkeitsklage kommt daher von vornherein nicht als statthafte Klageart in Betracht, der „Hauptantrag“ scheitert. Daher läuft der Fall auf die im „Hilfsantrag“ bezeichnete Anfechtungsklage als statthafte Klageart zu. Die vorliegend vor allem in Rede stehende Verletzung des Teilnahmerechts 4 Gärtner, in: Gärtner/Rose/Reul, Anfechtungs- und Nichtigkeitsgründe im Aktienrecht, 2014, S. 1. 5 BGH NJW 2002, 3465; BGH NJW-RR 2010, 1625 (1626); OLG Hamm ZIP 2016, 1071 (1073). 6 Vgl. zum Verhältnis von § 241 Nr. 1 AktG und § 122 AktG Drescher, in: Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2016, § 122 AktG Rn. 24; Hüffer/Schäfer, in: Münchener Kommentar zum AktG, Bd. 4, 4. Aufl. 2016, § 241 Rn. 29; Würthwein, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum AktG, Bd. 2, 3. Aufl. 2015, § 241 Rn. 35 ff. 7 BGH NJW 1987, 2514; BGH NJW 1988, 1579 (1581); OLG Karlsruhe NJW-RR 2001, 1326; OLG München NZG 2001, 616. _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 58 Schwerpunktbereichsklausur: Der kontrollfreudige Minderheitsaktionär der A an der Hauptversammlung ist dabei ein typischer Gegenstand einer Anfechtungsklage.8 Statthaft ist somit insgesamt die Anfechtungsklage. 2. Zuständigkeit Zuständig ist nach § 243 Abs. 3 AktG das Landgericht am Sitz der betroffenen AG, vgl. § 246 Abs. 3 AktG. Dort wird die Kammer für Handelssachen im Sinne des § 95 Abs. 2 GVG entscheiden. 3. Partei- und Prozessfähigkeit der C-AG § 246 Abs. 2 S. 1 AktG bestimmt die jeweils betroffene AG zur Passivpartei der Beschlussanfechtung. Die Parteifähigkeit der C-AG besteht demnach. Vertreten wird die C-AG dann durch Vorstand und Aufsichtsrat, vgl. § 246 Abs. 2 S. 2 AktG. 4. Frist Anfechtungsgründe müssen nach § 246 Abs. 1 BGB innerhalb eines Monats nach der Beschlussfassung im Wege einer Anfechtungsklage geltend gemacht werden. 5. Rechtsschutzbedürfnis Grundsätzlich weist jede Anfechtungsklage ein Rechtsschutzbedürfnis auf. Nur in besonderen, vorliegend nicht erkennbaren Fällen, kann das Rechtsschutzbedürfnis ausnahmsweise fehlen. 6. Zwischenergebnis Die von A erhobene Anfechtungsklage ist zulässig. II. Begründetheit der Klage Die Klage der A müsste ferner auch begründet sein. 1. Nichtigkeit der Beschlüsse im Sinne des § 241 AktG Fraglich ist (erneut), ob die ablehnenden Beschlüsse9 schon eo ipso nichtig sind, so dass die Nichtigkeit nicht erst gesondert gerichtlich ausjudiziert werden muss. Hinweis: Ein beliebter Klausurfehler ist es, bei Anfechtungsklagen nur noch auf Anfechtungsgründe zu prüfen. Vorliegend kann die Erörterung von Nichtigkeitsgründen dahinstehen, da eine Befassung bereits beim Prüfungspunkt der statthaften Klageart erfolgt ist. Anders wäre dies aber, wenn A ausdrücklich nur eine Anfechtungsklage erhoben hätte, dann müssten inzident auch Nichtigkeitsgründe geprüft werden. ZIVILRECHT Nichtigkeitsgründe im Sinne des § 241 AktG liegen jedenfalls nicht vor. 2. Anfechtbarkeit der Beschlüsse im Sinne des § 243 AktG Anfechtungsklagen sind im Sinne des § 243 Abs. 1 AktG begründet, wenn der jeweils angefochtene Beschluss das Gesetz oder die Satzung verletzt. Zu unterscheiden ist bei den Anfechtungsgründen stets zwischen formellen Fehlern (Verfahren) und materiellen Fehlern (Inhalt). a) Formelle Rechtswidrigkeit Die in Rede stehenden Beschlüsse der außerordentlichen Hauptversammlung vom 16.12.2016 könnten zum einen formell rechtswidrig sein. Formelle Rechtswidrigkeit ist gegeben, wenn beim Zustandekommen des Beschlusses das Gesetz oder die Satzung verletzt wurden, wobei der Beschlussinhalt als solcher rechtmäßig ist. Da der Beschluss trotz des Verfahrensfehlers einen dann grundsätzlich rechtmäßigen Inhalt aufweist, ist an dieser Stelle weitere Voraussetzung, dass der Verstoß das Mitgliedschafts- und Mitwirkungsrecht der Aktionäre in relevanter Weise beeinträchtigt hat (Relevanztheorie).10 aa) Richtiger Versammlungsleiter? Ein Verfahrensfehler könnte etwa dann vorliegen, wenn mit I ein nicht mit den aktienrechtlichen Vorgaben kompatibler Versammlungsleiter gehandelt hätte. Das AktG enthält zwar trotz Voraussetzens der Existenz eines Versammlungsleiters keine Regelung dazu, wer die Hauptversammlung zu leiten hat.11 Gleichwohl wird diese Aufgabe typischerweise qua Satzungsregelung dem Aufsichtsratsvorsitzenden zugewiesen.12 Vorliegend handelt es sich indes um den Sonderfall, dass die außerordentliche Hauptversammlung durch einen Minderheitsaktionär erzwungen wurde. In diesem Fall kann das Gericht zusammen mit seiner Ermächtigungsentscheidung im Sinne des § 122 Abs. 3 S. 2 AktG auf Antrag des Minderheitsaktionärs oder von Amts wegen auch die Person des Versammlungsleiters bestimmen. Diesen Antrag hat A laut Sachverhalt übersehen. Die dagegen von Amts wegen zu besorgende Bestellung eines anderen Versammlungsleiters als den Aufsichtsratsvorsitzenden verdichtet sich sogar zu einer Ermessensreduzierung auf null, wenn in der Person des regulär vorgesehenen Versammlungsleiters Gründe vorliegen, die Anlass zu der Sorge geben, dass die Rechte einzelner Aktionäre missachtet werden könnten.13 Dieser Anlass zur Sorge bestand vorliegend schon ex ante und nicht erst durch 10 BGH NJW 2005, 828 (830); Gärtner (Fn. 4), S. 10. Fischer/Pickert, in: Semler/Volhard/Reichert, Arbeitshandbuch für die Hauptversammlung, 3. Aufl. 2011, § 9 Rn. 3; Rose, in: Gärtner/Rose/Reul (Fn. 4), S. 133. 12 Fischer/Pickert (Fn. 11), § 9 Rn. 4. 13 Kubis, in: Münchener Kommentar zum AktG, Bd. 4, 3. Aufl. 2013, § 122 Rn. 60; Hippeli, jurisPR-HaGesR 8/2015 Anm. 2. 11 8 Vgl. Langenbucher, Aktien- und Kapitalmarktrecht, 3. Aufl. 2015, S. 158. 9 In der Praxis muss die Nichtigkeit jedes einzelnen Beschlussgegenstands einzeln festgestellt werden. Dies unterbleibt vorliegend einzig aufgrund von Vereinfachungsgründen. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 59 ÜBUNGSFÄLLE Michael Hippeli die Manifestation der für A unschönen „Fortsetzung“ der außerordentlichen Hauptversammlung vom 16.12.2016. Schließlich kann I den Gesamtumständen nach als „Buddy“ von K und B bezeichnet werden, auch sein Stimmverhalten über die Jahre hinweg spricht nicht unbedingt für eine Unabhängigkeit im Interessenkampf der Vorstände mit einem Minderheitsaktionär. Das für die Maßnahmen nach § 122 Abs. 3 AktG zuständige Gericht hätte den I also als Versammlungsleiter nicht zulassen dürfen, tatsächlich ist dies aber fälschlicherweise unterblieben.14 Im Ergebnis war I laut Satzung für die Versammlungsleitung gleichwohl zuständig und auch nicht durch eine gegenläufige gerichtliche Entscheidung hieran gehindert. Ein Verfahrensfehler liegt an dieser Stelle somit nicht vor. bb) Verletzung des Teilnahmerechts der A? Vorliegend könnte aber ein Verfahrensfehler darin liegen, dass das Teilnahmerecht der A an der außerordentlichen Hauptversammlung im Sinne des § 118 AktG beeinträchtigt wurde. Schließlich wurde (auch) A bedeutet, dass jedenfalls diese Hauptversammlung durch den „Abbruch“ umfassend beendet war, während sie später dennoch „fortgesetzt“ wurde und zu den angegriffenen Beschlüssen führte. Da die Rechte der Aktionäre in Gesellschaftsangelegenheiten nach § 118 Abs. 1 S. 1 AktG grundsätzlich in der Hauptversammlung auszuüben sind, ist das Teilnahmerecht ein sehr hohes Gut der Aktionärsrechte. Es umfasst auch die Möglichkeit der körperlichen Präsenz15 und ist bei Inanspruchnahme – abgesehen von gewissen Ausnahmen der Online-Teilnahme im Sinne des § 118 Abs. 1 S. 2 AktG und der Stimmrechtsausübung ohne Teilnahme im Sinne des § 118 Abs. 2 AktG – insbesondere Voraussetzung dafür, über Beschlussanträge mit abstimmen zu können. Ein Eingriff in das Teilnahmerecht der A an der außerordentlichen Hauptversammlung am 16.12.2016 durch den „Abbruch“ ist unstreitig gegeben. Fraglich ist aber, ob dieser Eingriff gleichwohl durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt sein kann. Dabei muss die Frage gestellt werden, ob die „tumultartigen Zustände“ auf der Hauptversammlung einen sachlichen Grund zur zulässigen Beschränkung des Teilnahmerechts auch der A darstellen können. Dabei ist wiederum daran zu denken, dass Beschränkungen des Teilnahmerechts tief in die Mitgliedschaftsrechte der Aktionäre eingreifen, so dass an zulässige Beschränkungen des Teilnahmerechts hohe Anforderungen zu stellen sind.16 Zu konzedieren ist aber im Gegenzug, dass der Versammlungsleiter zugleich einen ordnungsgemäßen 14 Eine fehlerhafte gerichtliche Ermächtigung hat auf die Wirksamkeit der Hauptversammlungsbeschlüsse aber keine Auswirkungen, wenn sie nicht rechtlich angegriffen wurde und daher rechtskräftig ist, vgl. Rieckers, in: Spindler/Stilz, Kommentar zum AktG, Bd. 1, 3. Aufl. 2015, § 122 Rn. 68; Bayer/Scholz/Weiß, ZIP 2014, 1. 15 Liebscher, in: Henssler/Strohn (Fn. 6), § 118 AktG Rn. 10; Kubis (Fn. 13), § 118 Rn. 65. 16 BGH WM 1965, 1207 (1209); BGH NZG 2015, 1227 (1231). Ablauf der Hauptversammlung sicherzustellen hat.17 Der ordnungsgemäße Ablauf kann bei tumultartigen Zuständen auch beeinträchtigt sein. Allerdings ist vorliegend nicht erkennbar, dass Versammlungsleiter I – unterstellt, die Situation war tatsächlich derart schwierig – versucht hätte, ein milderes Mittel anzuwenden und damit eine verhältnismäßige Lösung herbeizuführen. Da Versammlungsleiter I die tumultartigen Zustände insbesondere auf einen Missbrauch des Rederechts einzelner Aktionäre bezog, wäre es ihm als gebotenes milderes Mittel18 möglich gewesen, (1.) einzelnen Rednern/Aktionären nach vorheriger Verwarnung das Wort zu entziehen, und (2.) einzelne Aktionäre von der Hauptversammlung auszuschließen. Selbst wenn man also gewisse Eingriffe in das Teilnahmerecht der Aktionäre für zulässig hält, so sind die logischen Voraussetzungen für eine Verhältnismäßigkeit solcher Eingriffe im konkreten Fall nicht gewahrt. Der Eingriff in das Teilnahmerecht der A ist somit nicht gerechtfertigt. Unabhängig davon wäre auch die Frage zu stellen, ob der Versammlungsleiter überhaupt die Kompetenz für einen „Abbruch“ der Hauptversammlung besitzt. Vorliegend handelt es sich schließlich nicht um eine bloß kurzfristige Unterbrechung, wozu der Versammlungsleiter als Ausfluss der ihm zukommenden sitzungspolizeilichen Aufgaben befugt ist.19 Auch geht es nicht um eine reguläre Schließung der Hauptversammlung, die unstreitig in die Kompetenz des Versammlungsleiters fällt. Denn Schließung bedeutet, dass zuvor die Hauptversammlung ordnungsgemäß durchgeführt wurde.20 Vielmehr dürfte ein Abbruch jedenfalls wesensmäßig21 gleichbedeutend mit einer Vertagung sein, schließlich endet die jeweilige Hauptversammlung zunächst in materiell unerledigter Art und Weise. Die Kompetenz für eine Vertagung steht aber nur der Hauptversammlung zu.22 Fraglich könnte sein, ob sich daran etwas ändert, weil die Einberufung der Hauptversammlung vorliegend durch eine Aktionärsminderheit erzwungen wurde. In Anbetracht der einschlägigen Rechtsprechung23 kommt es aber jedenfalls nicht mehr auf das Minderheitsquorum an, sofern die Hauptversammlung erst einmal angelaufen ist. Demzufolge bleibt es beim dann bestehenden Dualismus Versammlungsleiter vs. Hauptversammlung, wobei dann für Abbruch/Vertagung jedenfalls die Hauptversammlung zuständig ist. Sollte die außerordentliche Hauptversammlung in irgendeiner Form – jenseits einer anfechtbaren Beschlussfassung – enden, ohne 17 BGH WM 1965, 1207; OLG Frankfurt NZG 2010, 1426 f. Vgl. LG Köln AG 2005, 696 (700); Reul, in: Gärtner/ Rose/Reul (Fn. 4), S. 130. 19 Rose (Fn. 11), S. 130. 20 Fischer/Pickert (Fn. 11), § 9 Rn. 382; Hoffmann-Becking, in: Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Bd. 4, 4. Aufl. 2015, § 37 Rn. 97. 21 Vgl. BGH NZG 2015, 1227 (1230); OLG Hamburg ZIP 2016, 1630 (1632), dort aber zur GmbH. 22 BGH NJW 2010, 3027 (3029); Fischer/Pickert (Fn. 11), § 9 Rn. 84; Butzke, Die Hauptversammlung einer Aktiengesellschaft, 5. Aufl. 2011, S. 152. 23 BGH NZG 2015, 1227; OLG Hamburg ZIP 2016, 1630. 18 _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 60 Schwerpunktbereichsklausur: Der kontrollfreudige Minderheitsaktionär dass die von der Aktionärsminderheit vorgelegten Tagesordnungspunkte materiell abgehandelt wurden, besteht eine erneute Einberufungsmöglichkeit durch die Aktionärsminderheit.24 Deshalb begründet der Abbruch der Hauptversammlung eine Verletzung des Teilnahmerechts. Fraglich ist sodann, ob die Verletzung des Teilnahmerechts im Sinne der Relevanztheorie Auswirkungen auf die Beschlussfassung hätte haben können. Vorliegend könnte daran zu denken sein, dass sich die A mit ihrer Stimmenmacht auch angesichts der tatsächlichen Hauptversammlungspräsenz wohl auch bei einem regulären Ablauf der Hauptversammlung mit ihren Beschlussvorschlägen niemals hätte durchsetzen können. Allerdings gilt zum einen, dass eine AG völlig unabhängig von den bestehenden Mehrheitsverhältnissen der Vortrag samt Nachweis abgeschnitten ist, die Teilnahme der Minderheitsaktionäre hätte keinen Einfluss auf die Beschlussfassung gehabt, da das für den Minderheitsschutz wichtige Teilnahmerecht sonst allzu leicht ausgehöhlt werden könnte.25 Zum anderen sind Besonderheiten der §§ 142, 147 AktG zu beachten. Zwar bestellt etwa die Hauptversammlung mit einfacher Stimmenmehrheit Sonderprüfer, vgl. § 142 Abs. 1 S. 1 AktG. Jedoch dürfen Mitglieder des Vorstands oder des Aufsichtsrats an der Beschlussfassung nicht mitwirken, wenn die Prüfung sich auf Vorgänge erstrecken soll, die mit der Entlastung eines Mitglieds des Vorstands oder des Aufsichtsrats oder der Einleitung eines Rechtsstreits zwischen der Gesellschaft und einem Mitglied des Vorstands oder des Aufsichtsrats zusammenhängen, vgl. § 142 Abs. 1 S. 2 AktG. Das bedeutet, dass zunächst die Stimmabgabe von K und B an dieser Stelle unzulässig war, denn insbesondere gegen K und B sollten Ersatzansprüche geprüft und später wohl auch geltend gemacht werden. Außerdem wäre völlig unabhängig vom geäußerten Begehr seitens der A wohl auch I von einem Stimmverbot betroffen, denn es steht in Rede, dass der Aufsichtsrat die Vorstandsvergütung zumindest in 2016 zu hoch bemessen und sich damit schadensersatzpflichtig gemacht hat, vgl. § 116 S. 3 AktG. Damit hätte die A sehr wohl eine einfache Mehrheit auf der außerordentlichen Hauptversammlung in Bezug auf den Beschluss zur Bestellung eines Sonderprüfers erzielen können. Dass K, B und I dennoch entgegen dem in Bezug auf sie bestehenden Stimmverbot abgestimmt haben, dürfte im Übrigen auch als Verstoß gegen ihre organschaftliche Treuepflicht zu verstehen sein.26 Leicht modifiziert sieht das Szenario im Zusammenhang mit § 147 AktG aus. Die Geltendmachung der Ersatzansprü24 Vgl. insbesondere OLG Hamburg ZIP 2016, 1630 (allerdings zur GmbH). 25 OLG Düsseldorf NJW-RR 1992, 100 (101); Reul (Fn. 18), S. 102. 26 Vgl. Spindler, in: Schmidt/Lutter, Kommentar zum AktG, Bd. 1, 3. Aufl. 2015, § 142 Rn. 28; Schürnbrand, ZIP 2013, 1301 (1302 f.); Verstöße gegen dieses Stimmverbot können zudem einen gesonderten Anfechtungsgrund begründen, vgl. AG Ingolstadt DB 2001, 1356 f. ZIVILRECHT che gegen die Mitglieder des Vorstands hätte zunächst einer einfachen Stimmenmehrheit auf der Hauptversammlung bedurft, vgl. § 147 Abs. 1 S. 1 AktG. Da sich die Ersatzansprüche explizit gegen die beiden Vorstände K und B richten sollten, unterlagen diese dann im Sinne des § 136 Abs. 1 S. 3 Alt. 3 AktG (erneut) einem Stimmverbot. Dagegen ist I dem im Vergleich zu § 142 Abs. 1 S. 2 AktG anders gearteten Wortlaut nach wohl nicht von einem Stimmverbot betroffen.27 Denn die Gesellschaft sollte gegen ihn (noch) keinen Anspruch geltend machen. Damit hätte A auf der außerordentlichen Hauptversammlung 2016 (vermutlich mit den Stimmen von Kleinaktionären gegen die Stimmen des I) an dieser Stelle eine einfache Mehrheit im Sinne des § 133 Abs. 1 AktG erreichen können. Jenseits dessen – ohne größeren Aktienbesitz in den Händen von K und B und die sie dann treffenden Stimmverbote – wäre es allerdings von vornherein schwierig geworden, die Einsetzung eines besonderen Vertreters im Sinne des § 147 Abs. 2 AktG zu bewerkstelligen. Zwar kann die Bestellung eines besonderen Vertreters im Sinne des § 147 Abs. 2 AktG schon aufgrund von 10 % des Grundkapitals erfolgen. Dies hätte somit A auch bei Gericht beantragen können, vgl. § 147 Abs. 2 S. 1 AktG. Allerdings kommt die gerichtliche Bestellung eines besonderen Vertreters losgelöst von einem vorherigen Hauptversammlungsbeschluss zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen im Sinne des § 147 Abs. 1 AktG nicht in Betracht.28 Für diesen Fall muss ein Minderheitsaktionär, welcher keine Hauptversammlungsmehrheit herbeiführen kann, auf das Klagezulassungsverfahren nach § 148 AktG ausweichen. Allerdings weist das Klagezulassungsverfahren im Sinne des § 148 AktG für den Minderheitsaktionär hohe und oftmals unüberwindbare Hürden vor allem mit Blick auf den durch Tatsachen geltend zu machenden Verdacht eines bei der Gesellschaft entstandenen Schadens auf.29 cc) Verletzung des Stimmrechts der A? Zudem könnte ein weiterer Verfahrensfehler in der Verletzung des Stimmrechts der A zu sehen sein. Denn durch den „Abbruch“ wurde A darin gehindert, seine Stimme abzugeben und damit seine Minderheitsrechte in Form der Bestellung eines Sonderprüfers im Sinne des § 142 AktG und der Geltendmachung von Ersatzansprüchen durch einen besonderen Vertreter im Sinne des § 147 AktG wirksam geltend machen zu können. Das Stimmrecht in der Hauptversammlung ist anders als etwa das Rederecht und das Recht auf Antragsstellung nicht 27 Vgl. zu den Unterschieden zwischen § 142 Abs. 1 S. 2 AktG einerseits und §§ 136 Abs. 1 i.V.m. 147 Abs. 1 AktG anderseits Spindler (Fn. 26), § 147 Rn. 7; Lochner/Beneke, ZIP 2015, 2010 (2013). § 147 AktG gerät gerade aufgrund des in diesem Zusammenhang in § 136 AktG angelegten Stimmverbots typischerweise (entgegen dem gesetzgeberischen Willen) zu einem Minderheitsrecht, vgl. Bayer, AG 2016, 637. 28 Mock, in: Spindler/Stilz (Fn. 14), § 147 Rn. 49, 55; Bayer, AG 2016, 637 (638). 29 Vgl. im Detail Bayer, AG 2016, 637 (640). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 61 ÜBUNGSFÄLLE Michael Hippeli zum Teilnahmerecht im Sinne des § 118 AktG gehörig30, sondern stellt ein selbständiges Verwaltungsrecht dar31. Allerdings ergibt sich, dass vorliegend keinerlei Gründe erkennbar sind, das Stimmrecht und seine Verletzung anders zu behandeln als das Teilnahmerecht im Sinne des § 118 AktG. Daher liegt auch insoweit ein Anfechtungsgrund vor. b) Materielle Rechtswidrigkeit Materiell könnte zudem von der Rechtswidrigkeit der gefassten Beschlüsse auszugehen sein, da die größeren Mitaktionäre der A, also K, B und I, durch die Fortsetzung der Hauptversammlung und ihr Abstimmverhalten gegen Treuepflichten gegenüber A verstießen. Grundsätzlich müssen Gesellschafter bei ihrem Abstimmverhalten aus Treuepflichtgesichtspunkten heraus die Interessen ihrer Mitgesellschafter beachten.32 Dies gilt umso mehr, wenn es sich um das Verhältnis Mehrheits- zu Minderheitsgesellschafter handelt.33 Faktisch handelten K, B und I im Verbund auch als Mehrheitsgesellschafter (insgesamt 60 % der Stimmrechte), auch wenn sie offenbar keinen Stimmbindungsvertrag vereinbart hatten. Typischerweise ist der Missbrauch der Mehrheitsmacht jedenfalls als Inhaltsfehler und damit als Anfechtungsgrund anerkannt.34 Damit liegt also auch aus materiellen Gesichtspunkten heraus ein Anfechtungsgrund vor. c) Anfechtungsbefugnis Fraglich ist aber, ob A überhaupt noch im Sinne des § 245 AktG zur Anfechtung befugt war. § 245 AktG wird nämlich immer dann verneint, wenn ein Missbrauch des Anfechtungsrechts vorliegt.35 Vorliegend könnte die Geltendmachung der einschlägigen Anfechtungsgründe vor dem Hintergrund rechtsmissbräuchlich sein, dass A letztlich „freiwillig“ die Hauptversammlung verlassen hat und nicht – ebenso wie K, B und I – am Hauptversammlungsort ausgeharrt hat. Schließlich hätte A ja wissen können, dass I mangels Kompetenz hierfür die Versammlung gar nicht wirksam hätte abbrechen können.36 Wäre A aber geblieben, hätten K. B und I nicht die Hauptversammlung fortsetzen und die von A vorgelegten Beschlussvorlagen 30 Koch, in: Hüffer/Koch, Kommentar zum AktG, 12. Aufl. 2016, § 118 Rn. 20; Kubis (Fn. 13), § 118 Rn. 38. 31 Zöllner, in: Kölner Kommentar zum AktG, 3. Aufl. 2011, § 118 Rn. 18. 32 BGH ZIP 1992, 1464 (1470). 33 Vgl. BGHZ 103, 184 (195); Lettl, Gesellschaftsrecht, 2011, S. 79; Hoffmann, Der Minderheitsschutz im Gesellschaftsrecht, 2011, S. 246. 34 Vgl. BGHZ 120, 141 (150 f.); BGH DB 2005, 1842 (1843); Butzke (Fn. 22), S. 517. 35 Vgl. etwa Koch (Fn. 30), § 245 Rn. 22 ff.; Butzke (Fn. 22), S. 511 ff. 36 Vgl. die analoge Argumentation zur kompetenzwidrigen Absage einer Hauptversammlung von Wackerbarth unter: www.blog.handelsblatt.com/rechtsboard/2015/10/23/bgh-abs age-der-hauptversammlung-nach-ihrem-beginn/ (24.1.2017). niederstimmen können. Insoweit könnte der Einwand widersprüchlichen Verhaltens (§ 242 BGB) erhoben werden. Allerdings wirkt diese Sichtweise doch sehr gekünstelt. A ist sicherlich kein Rechtsexperte, der aus dem Stand heraus den „Abbruch“ der Hauptversammlung richtig einordnen kann. Würde man bloße Rechtsunsicherheit dafür gelten lassen, dass Aktionären die Anfechtungsbefugnis abzusprechen ist, würden die Aktionärsrechte unbilligerweise erheblich geschmälert. Der Fall ist erkennbar nicht mit den eigentlichen Fällen rechtsmissbräuchlicher Anfechtungsklagen vergleichbar. III. Ergebnis Die Klage der A ist zulässig und begründet, hat also Aussicht auf Erfolg. – Hilfsgutachten – 1. Vorstandsvergütung Kritisch könnten die hohen per anno-Steigerungsraten in Bezug auf die Vorstandsvergütung sein, zumal in für die CAG wirtschaftlich schwierigen Zeiten. Auch wenn die Vorstandsvergütung in absoluten Zahlen vorliegend nicht bekannt ist, so ist doch herauszustreichen, dass § 87 Abs. 1 S. 1 AktG als eines der maßgeblichen Kriterien die positive Gesamtsituation der Gesellschaft benennt, welche bei der Bemessung eines angemessenen Verhältnisses der Vorstandsvergütung zu berücksichtigen sind. Aus § 87 Abs. 2 AktG ergibt sich sogar, dass der Aufsichtsrat die Vorstandsbezüge herabsetzen soll, wenn sich die Lage der Gesellschaft derart verschlechtert, dass die Weitergewährung der Bezüge unbillig wäre. Auch wenn bis heute ungeklärt ist, welcher Grad an Verschlechterung unterhalb der Insolvenzschwelle die Herabsetzung der Vorstandsbezüge im Sinne des § 87 Abs. 2 AktG rechtfertigt37, so ist doch festzustellen, dass eine massive Erhöhung der Vorstandsvergütung vor dem Hintergrund deutlich schlechterer Unternehmenskennzahlen bei der C-AG keinesfalls als gerechtfertigt erscheint. In Anbetracht dieser Umstände wäre darüber nachzudenken, ob sich der Aufsichtsrat der C-AG nicht im Sinne des § 116 S. 3 AktG schadensersatzpflichtig gemacht hat, weil er – zumindest für 2016 – eine unangemessene Vorstandsvergütung bei der C-AG festgesetzt hat. § 116 S. 3 AktG hat jedoch nur unterstreichenden Charakter, die hier eigentliche Haftungsgrundlage betrifft die Haftung für Sorgfaltspflichtverletzungen aus §§ 116 S. 1, 93 Abs. 2 AktG.38 Ein Vergütungsvotum der Hauptversammlung (Say on pay) im Sinne des § 120 Abs. 4 AktG kann frei nach dem Ermessen der Verwaltung auf die Tagesordnung gesetzt wer- 37 Vgl. Hippeli, jurisPR-HaGesR 3/2016 Anm. 6 m.w.N. Habersack, in: Münchener Kommentar zum AktG, Bd. 2, 4. Aufl. 2014, § 116 Rn. 42a; Koch (Fn. 30), § 116 Rn. 118. 38 _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 62 Schwerpunktbereichsklausur: Der kontrollfreudige Minderheitsaktionär ZIVILRECHT den,39 jedoch über § 122 AktG seitens einer Gesellschafterminderheit (oder -mehrheit) erzwungen werden. Auch wenn dieses Vergütungsvotum den Aufsichtsrat rechtlich nicht bindet, so besteht doch ein faktischer Druck, bei der Festlegung der Vorstandsvergütung besonders sorgfältig zu agieren.40 2. Beratungsvertrag Fraglich ist im Übrigen, ob der Berattungsvertrag zwischen der C-AG und U rechtens ist. An der U ist schließlich B mit 75 % beteiligt. Für Verträge einer AG mit ihren Vorstandsmitgliedern ordnet § 112 AktG an, dass der Aufsichtsrat ausnahmsweise die Vertretung der AG übernimmt. Dies ist vorliegend unterblieben, da die U ein eigener Rechtsträger und rechtlich nicht mit dem Vorstand B identisch ist. Fraglich ist aber, ob § 112 AktG nicht auch dann gilt, wenn sich herausstellt, dass der Vertragspartner der AG mittelbar/wirtschaftlich (in weiten Teilen) ein Vorstandsmitglied ist. Relativ leicht fällt jedenfalls dann die Antwort, wenn der betreffende Vorstand zu 100 % am Vertragspartner beteiligt ist, denn dann besteht eine wirtschaftliche Identität, der Vertragspartner ist gewissermaßen nur rechtlich als unselbständige Hülle dazwischengeschoben worden.41 Schwierig wird aber die Abgrenzung dann, wenn ein Vorstandsmitglied „nur“ am Vertragspartner beteiligt ist.42 Dann stellt sich die Frage, welcher Art bzw. wie hoch die Beteiligung oder der Einflussfaktor sein sollte, um ggf. eine Gleichstellung zum unmittelbaren Anwendungsfall von § 112 AktG oder der vom BGH judizierten erweiterten Auslegung der Norm für Fälle der wirtschaftlichen Identität zu rechtfertigen.43 Nach hier vertretener Auffassung dürfte eine 75 %Beteiligung jedenfalls die Anwendung des § 112 AktG bedingen. Denn angesichts einer solchen Beteiligungshöhe kann der jeweilige Vertragspartner als Vehikel angesehen werden, welches den (dort auch valide durchsetzbaren) Interessen des betroffenen Vorstands dient. Vorliegend kam es in der Folge nicht darauf an, ob die insoweit umstrittene Rechtsfolge dann die Nichtigkeit44 oder die schwebende Unwirksamkeit45 des Beratungsvertrags ist. 39 Dies könnte sich allerdings im Zuge der Umsetzung der revidierten Aktionärsrechte-Richtlinie alsbald ändern, vgl. dazu im Detail Hippeli, jurisPR-HaGesR 1/2017 Anm. 1. 40 BT-Drs. 16/13433, S. 12. 41 Vgl. BGH NZG 2015, 792 (794); OLG Saarbrücken NZG 2012, 1348 (1350), OLG München NZG 2012, 706 (707); OLG Brandenburg AG 2015, 428 (429). 42 Drygala, in: Schmidt/Lutter (Fn. 26), § 112 Rn. 11; Bürgers/Israel, in: Bürgers/Körber, Heidelberger Kommentar zum AktG, 4. Aufl. 2017, § 112 Rn. 3. 43 Vgl. Hippeli, jurisPR-HaGesR 7/2015 Anm. 2 m.w.N. 44 OLG Brandenburg AG 2015, 428; OLG Stuttgart AG 1993, 85 (86). 45 OLG Celle AG 2003, 433; OLG München AG 2008, 423 (425); Spindler, in: Spindler/Stilz (Fn. 14), § 112 Rn. 49. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 63 Hausarbeit: Surfreviere Von Wiss. Mitarbeiter Dr. Henry Hahn, Rostock Die Hausarbeit ist im Sommersemester 2016 als Prüfung zu den Grundrechten im Bachelorstudium „Good Governance“ mit drei Wochen Bearbeitungszeit (15 Seiten) angeboten worden. Sie eignet sich jedoch gleichermaßen als Hausarbeit im Rahmen der Anfängerübung oder ggf. als Referendarexamensklausur. Die Einkleidung arbeitet zwar mit landesbezogenen bzw. -rechtlichen Angaben, diese sind jedoch für die Bearbeitung nicht von Belang. Der vorgeschlagene Lösungsweg geht über das in einer Anfängerhausarbeit Geforderte hinaus und dient zugleich der Vertiefung v.a. grundrechtlicher Kenntnisse. Sachverhalt In der an der Ostsee gelegenen mecklenburg-vorpommerschen Gemeinde R erfreut sich der Surfsport dank guter Bedingungen zunehmender Beliebtheit, was nicht zuletzt der touristische Zulauf zeigt. Allerdings treten nunmehr vermehrt Konflikte zwischen Schwimmern und Surfern bzw. Surfern untereinander auf: Während die Wellenreiter andere „Spots“ bevorzugen bzw. nur bei Bedingungen kommen, in denen ein geringer Betrieb zu verzeichnen ist, kann sich die Küste bei R vor Wind- und Kitesurfern „kaum noch retten“. Immer öfter kommt es dabei zu Unfällen, die z.T. erhebliche Verletzungen hervorrufen und die Sicherheit in den Gewässern erheblich beeinträchtigen. Das betrifft zum einen Kollisionen der Surfer mit Badegästen, zum anderen Zusammenstöße insbesondere von Kitesurfern mit Windsurfern sowie umgekehrt und (in geringerem Maße) auch untereinander (d.h. von Windsurfern mit Windsurfern etc.). Zurückzuführen ist dies zum Großteil auf die Anforderungen und Besonderheiten der verschiedenen Freizeitaktivitäten: So sind Windsurfen und Kitesurfen beide von einem relativ großen Platzbedarf gekennzeichnet, wohingegen das Schwimmen vergleichsweise wenig Raum beansprucht, die Badenden aber mangels Flexibilität nur wenige Möglichkeiten zum Ausweichen haben und daher besonders gefährdet sind. Wind- und Kitesurfer wiederum kommen sich häufig in die Quere, weil der Wind auf Segel und Schirm unterschiedliche Auswirkungen hat. Aus diesen Gründen entschließt sich die Gemeinde R, ein wenig Ordnung in das Durcheinander der verschiedenen Nutzungsarten zu bringen: Die hierfür zuständige Gemeindevertretung beschließt in einer Satzung unter Beachtung aller Verfahrens- und Formvorgaben auf der Grundlage von § 5 der Kommunalverfassung (KV) M-V detaillierte Vorgaben für die Nutzung der Wasserareale. Dazu weist R verschiedene Zonen aus, in denen nur bestimmte Aktivitäten zulässig sind: So gibt es künftig einen reinen Badebereich sowie links und rechts davon je eine Zone, in der ausschließlich das Windsurfen bzw. das Kitesurfen erlaubt ist. Diese Zuordnung beruht * Der Verf. ist Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Verfassungsgeschichte (Prof. Dr. Wolfgang März) an der Juristischen Fakultät der Universität Rostock. Er bedankt sich beim Lehrstuhlinhaber für Durchsicht und wertvolle Anmerkungen. auf einem seriösen Gutachten, welches anerkannte Sicherheitskonzepte, aber auch die durchschnittlichen Bedingungen einschätzt und darauf basierend die Zuordnung zu den entsprechenden Nutzungsarten empfiehlt. S, Einwohner von R und erfahrener Windsurfer, beklagt sich nun über diese „Bevormundung“ durch die Gemeinde: Ihn „nerven“ zwar mitunter die vielen Badegäste und vor allem die zahlreichen Kitesurfer; die dabei auftretenden Unfälle seien aber in der Regel eher auf mangelnde Erfahrung und Fehler der Surfer selbst zurückzuführen, auch wenn das Gutachten vielleicht etwas anderes nahelegen mag. Die neue Regelung sei zwar geeignet, den Betrieb in den jeweiligen Gebieten generell zu reduzieren und außerdem die Sicherheit vor allem der Schwimmerinnen und Schwimmer zu erhöhen, doch sei die Anknüpfung an die verschiedenen Disziplinen seines Erachtens ungeeignet. Wie sonst eine Regelung vorgenommen werden könne, weiß S freilich auch nicht: Insbesondere sei es untunlich und nicht praktikabel, eine zahlenmäßige Beschränkung der Sportler im jeweiligen Bereich vorzunehmen. Am besten man hebe die Regelung einfach wieder auf und appelliere an die Vernunft der Nutzer des Gewässers: Wem „zu viel los“ sei, der solle es eben lieber bleiben lassen. Zumindest sollten die für Surfer vorgesehenen Zonen nicht generell in eigene Reviere für Windsurfen einerseits und Kitesurfen andererseits aufgeteilt werden; solche Regelungen sollten allenfalls für Zeiten eines außergewöhnlich regen Betriebs auf dem Wasser gelten. Auch die U-GbR (U) ist mit der Regelung nicht einverstanden: Sie betreibt mit entsprechender Genehmigung ein Unternehmen am Strand, an dem sie Material für Kitesurfer und Windsurfer vermietet und Surfkurse anbietet. Dafür hat sie mit entsprechender Erlaubnis ein in ihrem Eigentum stehendes Containerhaus aufgestellt, welches speziell für die Unterbringung von Surfmaterialien angefertigt worden ist. U beklagt, durch die neue „Zonen-Regelung“ werde sie eine Vielzahl von Kunden verlieren, da ihr Unternehmen nunmehr standortbedingt allein für Windsurfer attraktiv sei, was den Betrieb zunehmend unrentabel mache. Überdies habe genau dort, wo die Kitesurfer „unter sich“ seien, der X im Kiterevier einen neuen Stand eröffnet, der vor allem für diese Surfer interessant sei, aber – warum auch immer – insgesamt als „cooler“ empfunden werde und viel Zuspruch erfahre. Wenn es so weitergehe, müsse U ihren Betrieb wohl drastisch reduzieren oder gar ganz schließen. Was sie dann mit ihrem Containerhaus machen solle, wisse sie nicht, da es eine Einzelanfertigung sei und letztlich nur für den Betrieb eines solchen strandnahen Unternehmens genutzt werden könne. R weist die gegen die Neuregelung erhobenen Vorwürfe zurück: Die Zonen-Regelung diene dem Schutz der Bevölkerung und wolle weder Surfer noch Unternehmer „ärgern“. U könne außerdem nach wie vor Material und Kurse für beide Disziplinen anbieten. Aufgrund des von den Kitesurfern nunmehr zurückzulegenden Weges vom U aus zur Kitezone und zurück werde die Nachfrage wohl sinken, aber nicht einbrechen. U habe jedoch ohnehin keinen Anspruch auf den Schutz eines zuträglichen Einkommens; vielmehr müsse sie _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 64 Hausarbeit: Surfreviere dann eben durch Werbung etc. dafür sorgen, „im Wettbewerb“ bestehen zu können. Falls U ihr Unternehmen schließen müsse, sei das ihr Problem. Das Containerhaus müsse sie dann unter Umständen woanders aufstellen oder eben verkaufen. Aufgabe 1 Ist die „Zonen-Regelung“ der Gemeinde R mit den Grundrechten des S und der U vereinbar? Gehen Sie davon aus, dass die einschlägigen Vorgaben der KV M-V verfassungsgemäß sind und vorliegend beachtet worden sind; unterstellen Sie außerdem, dass § 5 KV M-V für die Einschränkung von Grundrechten eine generell ausreichende Rechtsgrundlage darstellt. Europarecht und Gleichheitsgrundrechte sowie Art. 20a GG bleiben außer Betracht. (90 %) Aufgabe 2 Nehmen Sie an, dass die Regelung in Kraft getreten ist und U hiergegen Rechtsschutz in Anspruch genommen hat: Das zuständige OVG hat die Klage aber abgewiesen und die Revision zum Bundesverwaltungsgericht nicht zugelassen (§ 132 VwGO). U legt daher beim Bundesverfassungsgericht fristgerecht Verfassungsbeschwerde ein. Ist diese zulässig? (10 %) Auszug aus der Kommunalverfassung MecklenburgVorpommern (KV M-V) § 5 Satzungsrecht, Hauptsatzung (1) Die Gemeinden können die Angelegenheiten des eigenen Wirkungskreises durch Satzung regeln, soweit die Gesetze nichts anderes bestimmen. […] Lösungsvorschlag Aufgabe 1: Verletzung von Grundrechten Die Zonen-Regelung könnte Grundrechte des S und/oder der U-GbR verletzen. A. Verletzung von Grundrechten des S Mangels spezieller Grundrechte kommt ausschließlich die Verletzung der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG in Betracht.1 I. Schutzbereich 1. Persönlicher Schutzbereich Art. 2 Abs. 1 GG ist ein Jedermann-Grundrecht. S ist als natürliche Person vom persönlichen Schutzbereich erfasst.2 2. Sachlicher Schutzbereich Was von Art. 2 Abs. 1 GG geschützt wird, war insbesondere früher etwas strittig: Während die heute ganz h.M. das Grundrecht als sog. Auffanggrundrecht versteht und jegliche 1 Ähnlich für die Tätigkeit des Segelns VGH BadenWürttemberg, Urt. v. 29.11.2013 – 3 S 193/13, Rn. 46. 2 Allgemein Jarass, in: Jarass/Pieroth, Kommentar zum GG, 14. Aufl. 2016, Art. 2 Rn. 6. ÖFFENTLICHES RECHT Handlungsfreiheit erfasst sehen will, gab es seinerzeit Ansichten, die ein engeres Verständnis bevorzugen. a) Beschränkungen des Schutzbereichs Die Persönlichkeitskerntheorie beschränkt den sachlichen Schutzbereich auf „den Kernbereich der Persönlichkeit“,3 also jene Handlungen, die für die Entfaltung der Persönlichkeit wirklich wichtig sind, sodass im Wesentlichen eine Beschränkung auf den Schutzbereich des heute aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG hergeleiteten Allgemeinen Persönlichkeitsrechts gefordert wird.4 Nimmt man das zum Maßstab, erscheint es zweifelhaft, ob die Freizeitbetätigung des S, das Windsurfen ohne Einschränkungen, vom sachlichen Schutzbereich erfasst ist, zumal es sicherlich mit den Schutzgehalten des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts wie informationelle Selbstbestimmung, Schutz der Privatsphäre etc.5 nicht vergleichbar ist.6 Eine weitere Auffassung nimmt eine etwas geringere Einschränkung vor: Sie verlangt keine Beschränkung auf das Allgemeine Persönlichkeitsrecht, wohl aber, um eine Banalisierung des Grundrechtsschutzes zu verhindern,7 eine „Einengung […] auf Freiheitsbetätigungen […], die eine gesteigerte, dem Schutzgut der übrigen Grundrechte vergleichbare Relevanz für die Persönlichkeitsentfaltung besitzen“.8 Ob das Interesse des S an der ungestörten Ausübung des Windsurfens in seiner Relevanz mit den anderen Grundrechten wie Religionsfreiheit, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, Berufs- und Eigentumsfreiheit etc. gleichkommt, erscheint ebenfalls mehr als zweifelhaft. b) Umfassendes Verständnis als „allgemeine Handlungsfreiheit“ Die heute ganz h.M. entnimmt dem sachlichen Schutzbereich hingegen eine sehr umfassende Handlungsfreiheit, dies „ohne Rücksicht darauf, welches Gewicht der Betätigung für die Persönlichkeitsentfaltung zukommt“.9 Für ein solches, weites Verständnis wird insbesondere die Entstehungsgeschichte angeführt, wonach das Grundgesetz speziell mit dem Art. 2 Abs. 1 GG dem Menschen den Schutz einer größtmöglichen Freiheit zugestehen will.10 Hinzu kommt, dass Beschränkungen stets Abgrenzungen zur Folge haben, die an Grenzen stoßen müssen: Eine objektivierte Beurteilung der Relevanz 3 Vgl. m.N. Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum GG, 77. Lfg., Stand: 2016, Art. 2 Rn. 12. 4 Vgl. Di Fabio (Fn. 3), Art. 2 Rn. 12. 5 Dazu Jarass (Fn. 2), Art. 2 Rn. 37. 6 So für die Tätigkeit des Segelns VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 29.11.2013 – 3 S 193/13, Rn. 46. 7 Vgl. Ipsen, Staatsrecht II, 17. Aufl. 2014, § 18 Rn. 770. 8 Vgl. Windthorst, in: Gröpl/Windthorst/von Coelln, Studienkommentar zum GG, 2. Aufl. 2015, Art. 2 Rn. 28, mit Verweis auf die abweichende Meinung des damaligen BVerfGRichters Grimm in BVerfGE 80, 137 (165). 9 BVerfGE 80, 137 (152), zitierend Jarass (Fn. 2), Art. 2 Rn. 5. 10 Di Fabio (Fn. 3), Art. 2 Rn. 13; Windthorst (Fn. 8), Art. 2 Rn. 29. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 65 ÜBUNGSFÄLLE Henry Hahn läuft Gefahr, den stark subjektiven Charakter der Persönlichkeitsentfaltung zu verkennen – als leidenschaftlicher Windsurfer könnte S für seine Persönlichkeitsentfaltung das Windsurfen deutlich wichtiger sein als etwa über die Preisgabe seiner Daten selbst entscheiden oder an einer Versammlung teilnehmen zu dürfen. Beschränkungen führen daher zu nahezu unmöglichen Abgrenzungsschwierigkeiten.11 Einzig sinnvoll erscheint es daher, den sachlichen Schutzbereich weit zu verstehen, womit das Interesse des S am ungestörten Windsurfen jedenfalls erfasst ist. Der sachliche Schutzbereich ist eröffnet. 2. Schranken-Schranken Die Satzung und ihre Rechtsgrundlage müssten verfassungsgemäß sein. 3. Zwischenergebnis Der Schutzbereich ist eröffnet. II. Eingriff In den Schutzbereich müsste eingegriffen worden sein. Nach klassischem Verständnis muss die Grundrechtsverkürzung final und unmittelbar mittels (mit Zwang durchsetzbaren) Rechtsakts erfolgen.12 Vorliegend sieht eine Satzung vor, dass z.B. das Windsurfen im Geltungsbereich der Satzung nur in der dafür vorgesehenen Zone zulässig sein soll. In den übrigen Bereichen wird das Windsurfen absichtlich und direkt verboten, sodass insoweit ein Eingriff nach klassischem Verständnis von der Regelung ausgeht. III. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Fraglich ist, ob der Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden kann. 1. Grundrechtsschranke Art. 2 Abs. 1 GG enthält die sog. Schranken-Trias, bestehend aus Rechten anderer, der verfassungsmäßigen Ordnung und dem Sittengesetz. Die Rechte anderer erfassen auch die Grundrechte,13 sodass sie angesichts der Tatsache, dass die Gemeinde vorliegend Sicherheit und körperliche Unversehrtheit anderer Nutzer des Gewässers (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) schützen will, als Schranke naheliegend erscheint. Allerdings verlangt der allgemeine Vorbehalt des Gesetzes stets, dass Einschränkungen auf ein Gesetz zurückführbar sein müssen, sodass der Schranke i.d.R. keine wesentliche, eigenständige Bedeutung zugesprochen wird,14 wenn man die verfassungsmäßige Ordnung mit der ganz h.M. einschließlich des BVerfG weit versteht: Danach ist die verfassungsmäßige Ordnung im Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG gleichbedeutend mit der Gesamtheit der verfassungsmäßigen Rechtsordnung,15 d.h. gemeint ist „die Summe aller formell und materiell verfassungsmäßigen Rechtsnormen.“16 11 Vorliegend hat R die Vorgaben in einer Satzung auf der Grundlage des § 5 KV M-V beschlossen. Die Satzung stellt ein materielles Gesetz dar und ist auf ein formelles Gesetz zurückzuführen. Nach h.A. stellt die allgemeine Satzungsbefugnis des § 5 KV M-V freilich keine hinreichende Rechtsgrundlage für die Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen dar.17 Laut Aufgabenstellung ist jedoch das Gegenteil zu unterstellen. Die Verfassungsmäßigkeit der Rechtsgrundlage und der Satzung wird im Folgenden als Schranken-Schranke untersucht. Zutreffend Windthorst (Fn. 8), Art. 2 Rn. 29. Siehe nur Ipsen (Fn. 7), § 3 Rn. 143. 13 Ipsen (Fn.7), § 18 Rn. 779. 14 Windthorst (Fn. 8), Art. 2 Rn. 62. 15 Vgl. die zahlreichen Nachweise des BVerfG bei Ipsen (Fn. 7), § 18 Rn. 781. 16 Ipsen (Fn. 7), § 18 Rn. 782 m.w.N. a) Verfassungsmäßigkeit der Rechtsgrundlage Die Rechtsgrundlage für die Satzung ist § 5 KV M-V, der laut Aufgabenstellung verfassungsgemäß ist. b) Verfassungsmäßigkeit der Satzung aa) Formelle Verfassungsmäßigkeit Laut Sachverhalt ist davon auszugehen, dass bei der Satzung sämtliche Verfahrens- und Formvorgaben beachtet worden sind. bb) Materielle Verfassungsmäßigkeit (1) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Die Satzung müsste zur Förderung eines legitimen Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen sein. Für die Legitimität des Zwecks erlangt die Verfassungsbindung der Gemeinde als Exekutive nach Art. 20 Abs. 3 GG an Relevanz, wonach eine Bindung (auch) an das Gesetz notwendig ist.18 § 5 KV M-V macht jedoch keine genaueren Vorgaben für die Regelungen, außer dass es sich um Angelegenheiten im eigenen Wirkungskreis handeln muss. Ohnehin ist laut Aufgabenstellung von der Wahrung der Vorgaben in der KV M-V auszugehen. R verfolgt den Zweck, für mehr Sicherheit der Badegäste und Sportler im Wasser zu sorgen. Damit will sie v.a. deren körperliche Unversehrtheit schützen, die mit Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG sogar grundrechtlich verbürgt ist. Fraglich ist die Eignung der Maßnahme, wobei eine Förderung des Zwecks genügt.19 R hat eine Zonen-Regelung vorgenommen, die Bereiche eigens für Badegäste, Windsurfer und Kitesurfer vorsieht. Als Hintergrund wird angeführt, dass die steigende Nutzung des Gewässers zunehmend und teils erhebliche Unfälle mit sich bringt. Angesichts der unterschiedlichen Nutzungsansprüche von Badegästen, Windsurfern und Kitesurfern hat R auf der Basis eines Gutachtens eine Festlegung der Zonen für sinnvoll erachtet. S trägt als erfahrener Windsurfer dagegen vor, dass die Unfälle zwar 12 17 Dazu etwa Geis, Kommunalrecht, 3. Aufl. 2014, § 8 Rn. 28; Lange, Kommunalrecht, 2013, Kap. 12 Rn. 15 f. 18 Dazu Grzeszick, in: Maunz/Dürig (Fn. 3), Art. 20 VII Rn. 111. 19 Grzeszick (Fn. 18), Art. 20 VII Rn. 112. _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 66 Hausarbeit: Surfreviere ÖFFENTLICHES RECHT durchaus auf eine zu intensive Nutzung des Gewässers durch zu viele Personen, nicht aber auf die Spezifika der Nutzungsformen, sondern auf mangelnde Erfahrungen v.a. der Surfer zurückzuführen seien. Allerdings lässt der Sachverhalt erkennen, dass die Unfälle auf Kollisionen mit Badegästen und Zusammenstößen insbesondere von Kitesurfern mit Windsurfern sowie umgekehrt beruhen, wohingegen Kollisionen von Sportlern derselben Disziplin in geringerem Umfange erfolgen. Ferner stützt sie ihre Maßnahmen auf die Empfehlungen eines seriösen Gutachtens, sodass die Vertretbarkeit ihrer Überzeugung, nämlich die Ursächlichkeit der Mischnutzung, keineswegs abwegig erscheint. Hinzu kommt, dass der Staat stets bloß eine förderliche, nie aber die bestmögliche Lösung schuldet,20 die denn objektiv auch kaum feststellbar wäre. Sogar S räumt ein, dass die Zonen-Regelung eine Verringerung der Nutzeranzahl und eine erhöhte Sicherheit bewirkt hat, sodass von der Eignung der Maßnahme auszugehen ist. Die Zonen-Regelung müsste unter den gleich geeigneten Mitteln das mildeste darstellen.21 S führt an, dass er selbst keine wirkliche Alternative wisse und dass v.a. eine zahlenmäßige Beschränkung der Sportler im jeweiligen Bereich – unabhängig von der Nutzungsform – untunlich und nicht praktikabel sei. Stattdessen plädiert er für die Herstellung des Status quo und für Appelle an die Vernunft der Surfer. Dass dies angesichts der Erfahrungen der R mit dem Nutzerzuwachs nicht gleich geeignet ist, erscheint offensichtlich. Auch der Vorschlag, die Surfbereiche nicht eigens für Windsurfer oder Kitesurfer, sondern als gemeinsame Nutzungszone vorzusehen, ist mit Blick auf die erhöhte Anzahl von Unfällen durch Kollisionen von Kite- und Windsurfern nicht gleichermaßen effektiv. Einzig überlegenswert erscheint der Vorschlag, die Geltung der Regelung auf Zeiten offensichtlich regen Betriebs zu beschränken. Allerdings zieht auch das praktische Probleme nach sich, zumal für die Rechtssicherheit eine klare Nutzeranzahl feststehen müsste. Stellt man darauf ab, gleicht die Maßnahme dem von S selbst abgelehnten Ansatz einer zahlenmäßigen Beschränkung. Ferner müsste den bereits tätigen Sportlern, etwa Kitesurfern im Windsurfbereich, das vorübergehende Inkrafttreten der Regelung deutlich signalisiert werden können, wobei außerdem nur schwer ohne Sicherheitseinbußen sichergestellt werden kann, dass diese Sportler dem Gebot, das Gebiet sofort zu verlassen, wirklich nachkommen. Dass die Maßnahme gleich geeignet ist, erscheint also ebenfalls äußerst zweifelhaft. Die beschlossene Zonen-Regelung ist erforderlich. Ferner muss die Maßnahme angemessen, also unter Abwägung des verfolgten Ziels (bzw. der damit geförderten Belange) und der Eingriffsintensität für S zumutbar sein (Zweck-Mittel-Relation).22 Besonders an dieser Stelle wirkt sich die äußerst weite Schutzbereichsgewährleistung des Art. 2 Abs. 1 GG aus, die zugleich umfassende Beschrän- kungsmöglichkeiten erlauben muss.23 Ferner ist zu berücksichtigen, dass dem Verfassungsrang entgegenstehender Belange sowie der Nähe etwa eines Grundrechts zum Menschenwürdekern stets besondere Bedeutung bei der Abwägung zukommen muss.24 Für den vorliegenden Fall muss es daher relevant sein, dass die (nur) von Art. 2 Abs. 1 GG verbürgte Freiheit dem Schutz von Grundrechten aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG entgegensteht. Der Sachverhalt sagt, dass die hohe Nutzeranzahl zunehmend Unfälle nach sich zieht, woraus teils erhebliche Verletzungen hervorgehen. Wenn der Staat Maßnahmen zur Einschränkung gefährlicher Verletzungen vornehmen will, muss er das grundsätzlich zulasten der allgemeinen Handlungsfreiheit anderer Grundrechtsträger tun können. Zu bedenken ist außerdem, dass S nach wie vor durchaus dem Windsurfen in R nachgehen kann: Es gibt eine eigene Zone, die er nutzen kann und die auf der Basis einer Empfehlung eingerichtet worden ist, die nicht zuletzt auf die Bedingungen Rücksicht nimmt, die für die Betätigung des Sports notwendig bzw. gut geeignet sind. Der Eingriff wiegt also nicht sonderlich schwer.25 Dies gilt v.a. im Vergleich zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit, sodass der Eingriff für S insgesamt zumutbar und von diesem hinzunehmen ist. Die Zonen-Regelung ist verhältnismäßig. 20 23 Sachs, in: Sachs, Kommentar zum GG, 7. Aufl. 2014, Art. 20 Rn. 150. Siehe auch Michael/Morlok, Grundrechte, 5. Aufl. 2016, § 23 Rn. 619: Nur Untauglichkeit führt zur Ungeeignetheit. 21 Allgemein Grzeszick (Fn. 18), Art. 20 VII Rn. 113. 22 Etwa Hufen, Staatsrecht II, 5. Aufl. 2016, § 9 Rn. 23. (2) Verletzung sonstigen Verfassungsrechts Eine solche ist nicht ersichtlich. Die Satzung ist vorbehaltlich der gesondert zu prüfenden Verletzung von Grundrechten Dritter verfassungsgemäß. c) Zwischenergebnis Die Schranken-Schranken sind gewahrt. 3. Zwischenergebnis Der Eingriff ist verfassungsrechtlich gerechtfertigt. IV. Ergebnis Die Zonen-Regelung greift in die allgemeine Handlungsfreiheit des S ein, ist aber verfassungsrechtlich gerechtfertigt. B. Verletzung von Grundrechten der U-GbR Die Zonen-Regelung könnte U in der Berufsfreiheit und/oder in ihrer Eigentumsfreiheit bzw. in ihrer wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit verletzen. I. Verletzung des Art. 12 Abs. 1 GG Fraglich ist, ob U in ihrer Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG verletzt ist. Da die Berufsfreiheit einhellig als einheitli- Ähnlich Windthorst (Fn. 8), Art. 2 Rn. 60. Etwa Sachs (Fn. 20), Art. 20 Rn. 156 f. 25 Ähnliche Argumentation zum Grundrechtsschutz eines Seglers bei der Einrichtung einer Verbotszone im Bodensee VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 29.11.2013 – 3 S 193/13, Rn. 46. 24 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 67 ÜBUNGSFÄLLE Henry Hahn ches Grundrecht betrachtet wird,26 erfolgt eine gemeinsame Untersuchung. 1. Schutzbereich a) Persönlicher Schutzbereich Nach Art. 12 Abs. 1 GG haben alle Deutschen das Recht, ihren Beruf frei zu wählen und auszuüben. Vorliegend sucht die U-GbR als Gesellschaft Grundrechtsschutz, weshalb sich der Schutz nach Art. 19 Abs. 3 GG richtet. Danach gelten Grundrechte „auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind.“ Die GbR ist eine Gesellschaftsform nach § 705 des deutschen BGB (deutsche Rechtsform) und die U-GbR ist in der deutschen Gemeinde R tätig (Sitz in Deutschland), sodass sie jedenfalls als inländisch27 einzustufen ist. Problematisch könnte aber sein, dass eine (nur) über Teilrechtsfähigkeit verfügende GbR genau genommen dem Begriff der juristischen Person nicht gerecht wird, der vom Verständnis einer Organisation mit Vollrechtsfähigkeit geprägt ist.28 Allerdings hat das BVerfG bereits frühzeitig zu erkennen gegeben, dass nicht zuletzt aufgrund der sonst zu großen Manipulationsmöglichkeiten des einfachen Gesetzgebers29 der Begriff sehr weit auszulegen bzw. gar „weit über den Wortlaut hinaus“ auszudehnen ist,30 sodass auch teilrechtsfähige Personengemeinschaften vom Begriff im Sinne des Art. 19 Abs. 3 GG erfasst werden, was mittlerweile die nahezu einhellige Auffassung darstellt.31 U kann sich als GbR also grundsätzlich auf Grundrechtsschutz berufen. Dies gilt nach Art. 19 Abs. 3 GG aber nur, soweit das in Betracht kommende Grundrecht seinem Wesen nach auf U anwendbar ist. Ausgeschlossen werden damit höchstpersönliche Rechte wie das Allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG.32 Die Berufsfreiheit hingegen stellt ein klassisches Wirtschaftsgrundrecht dar, welches wirtschaftlich tätigen Unternehmen wie U unproblematisch offensteht.33 Der persönliche Schutzbereich ist eröffnet. b) Sachlicher Schutzbereich Der weit auszulegende34 Berufsbegriff wird überwiegend definiert als „auf Dauer angelegte, der Schaffung und Erhaltung einer Lebensgrundlage dienende Tätigkeit“.35 Hier be26 Hufen (Fn. 22), § 35 Rn. 5; Scholz, in: Maunz/Dürig (Fn. 3), Art. 12 Rn. 23 f. 27 Ausführlich dazu Remmert, in: Maunz/Dürig (Fn. 3), Art. 19 III Rn. 76 ff. 28 Remmert (Fn. 27), Art. 19 III Rn. 37. 29 Remmert (Fn. 27), Art. 19 III Rn. 37. 30 Sachs (Fn. 20), Art. 19 Rn. 58. 31 Siehe m.w.N. Jarass (Fn. 2), Art. 19 Rn. 20; Ipsen (Fn. 7), § 2 Rn. 63a. 32 Hufen (Fn. 22), § 6 Rn. 36. 33 Siehe nur Ipsen (Fn. 7), § 15 Rn. 631. 34 Scholz (Fn. 26), Art. 12 Rn. 28. 35 Ipsen (Fn. 7), § 15 Rn. 635; Scholz (Fn. 26), Art. 12 Rn. 29. treibt U ein Unternehmen, welches Surfmaterial vermietet und Surfkurse anbietet. Aus dem Sachverhalt geht hervor, dass U das dauerhaft praktiziert und damit (zumindest z.T.) der Lebensunterhalt verdient wird. Das wird dem Berufsbegriff gerecht. Der sachliche Schutzbereich ist eröffnet. 2. Eingriff a) Gezielte Regelung? Ein Eingriff liegt jedenfalls dann vor, wenn eine Grundrechtsverkürzung final, unmittelbar und durchsetzbar mit Rechtswirkung erfolgt. Offenkundig ist eine Beschränkung der beruflichen Tätigkeit der U indes nicht die Intention von R, die mit der Zonen-Regelung dem Schutz der Gewässernutzer gerecht werden will. Nach klassischem Verständnis läge also kein Eingriff vor. b) Objektiv berufsregelnde Tendenz? Fraglich ist jedoch, wie weit der Begriff des Eingriffs zu verstehen ist. Während im Grundsatz anerkannt ist, dass nach modernem Verständnis jede grundrechtsverkürzende Maßnahme einen Eingriff darstellen kann,36 ist das bei der Berufsfreiheit nicht so eindeutig. Vielmehr wird nach h.A. grundsätzlich zumindest eine objektiv berufsregelnde Tendenz der Maßnahme verlangt,37 weil der moderne Eingriffsbegriff wegen der nur beiläufigen Auswirkungen unzähliger staatlicher Maßnahmen auch auf berufliche Betätigungen die Einbeziehung nahezu jeglichen Staatshandelns in den Schutz der gewichtigen Berufsfreiheit zur Folge hätte, was zu weit ginge.38 Eine solche objektiv berufsregelnde Tendenz wird etwa bejaht, wenn der Hoheitsakt Tätigkeiten betrifft, „die typischerweise beruflich ausgeübt werden“39 bzw. in engem Zusammenhang zur Berufsausübung deren Rahmenbedingungen verändert werden.40 Vorliegend geht es R ausschließlich um die Sicherheit, d.h. genauer den Schutz der körperlichen Unversehrtheit von Badegästen und Surfern, deren Betätigungen typischerweise nicht beruflich ausgeübt werden. Gar nicht im Fokus stehen Aktivitäten am Strand einschließlich der unternehmerischen Betätigung der U. Der Hintergrund der Maßnahme ähnelt den Motiven im Sicherheits- und Ordnungsrecht, wobei anerkannt ist, dass v.a. die polizeiliche Generalermächtigung keine berufsregelnde Tendenz aufweist.41 Auch hier ist keine Tendenz erkennbar, nach der die Regelung der R Auswirkungen auf berufliche Tätigkeiten mit sich bringen sollte. 36 Dazu m.w.N. Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte, 31. Aufl. 2015, § 6 Rn. 261. 37 Siehe nur Jarass (Fn. 2), Art. 12 Rn. 14 f. 38 Etwa Gröpl, in: Gröpl/Windthorst/von Coelln (Fn. 8), Art. 12 Rn. 36 f. 39 BVerfGE 97, 228 (254), zitierend Jarass (Fn. 2), Art. 12 Rn. 15. 40 Jarass (Fn. 2), Art. 12 Rn. 15. 41 Etwa m.w.N. Mann, in: Sachs (Fn. 20), Art. 12 Rn. 96. _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 68 Hausarbeit: Surfreviere c) Faktische Beeinträchtigung Vertreten wird, dass ein Eingriff auch in faktischer Form vorliegen könne, wenn „die staatliche Maßnahme als nicht bezweckte, aber doch vorhersehbare und letztlich auch in Kauf genommene Nebenfolge eine schwerwiegende Beeinträchtigung der beruflichen Tätigkeit bewirkt.“42 Erkennbar ist aber, dass auch hier ein gewisser Berufsbezug existieren muss.43 Man könnte daran denken, dass ja v.a. die Surfer ggf. Surfkurse oder eine Ausrüstung benötigen, die komfortabel vor Ort gemietet werden könnte. Verbietet man ihnen das Surfen in einem Bereich, sinkt die Nachfrage an solchen Angeboten, was vorhersehbar ist. Anerkannt ist aber, dass kein Eingriff in die Berufsfreiheit vorliegt, wenn mit einer Regelung ohne berufsregelnde Tendenz „lediglich nachteilige Veränderungen der wirtschaftlichen Verhältnisse betroffener Personen einhergehen.“44 Ein Anspruch auf einen lukrativen Standort gibt es nicht. Vorliegend stellen die beklagten Umsatzeinbußen eine bloße Folgewirkung des Ausbleibens von (Kite-)Surfern dar. Solche mittelbar-faktischen Einschränkungen bei der Rentabilität eines Unternehmens stellen keinen Eingriff in die Berufsfreiheit, sondern allenfalls in die allgemeine Handlungsfreiheit dar.45 Zielführend ist auch nicht die Klage des U, dass nunmehr X von der ZonenRegelung profitiere, denn ein Schutz vor Wettbewerbern ist einhellig nicht vom Grundrecht des Art. 12 Abs. 1 GG erfasst46 – im Gegenteil: Ein freier Wettbewerb ist vielmehr gewollt und ein Eingriff kann allenfalls in einer Einschränkung des Wettbewerbs liegen. U kann ihr Unternehmen weiter betreiben und leidet (nur) unter Nachfragerückgang und Konkurrenz. Das sind grundsätzliche Risiken der Unternehmensführung. Ein Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG liegt nicht vor. 3. Ergebnis Art. 12 Abs. 1 GG ist nicht verletzt. II. Verletzung des Art. 14 GG Fraglich ist, ob die Zonen-Regelung U in ihrer Eigentumsfreiheit verletzt. 1. Anwendbarkeit neben Art. 12 Abs. 1 GG U macht eine Verletzung ihrer Berufsfreiheit geltend. Auch wenn eine solche nicht vorliegt, ist zu beachten, dass das Verhältnis von Art. 12 GG und Art. 14 GG nicht unproblematisch ist und Abgrenzungen nötig sind: Art. 14 GG erfährt nämlich keine Anwendung, wenn Vermögenswerte zur Verwirklichung anderer Freiheitsrechte verwendet werden.47 ÖFFENTLICHES RECHT Während Art. 12 GG den Erwerb schützen will, erfasst Art. 14 GG den Schutz des bereits Erworbenen in Gestalt bereits vorhandener Vermögenswerte.48 Je nachdem, was im Vordergrund steht, ist (nur) eines der beiden Grundrechte einschlägig.49 Überschneidungen und Idealkonkurrenz sind jedoch nicht ausgeschlossen,50 v.a. wenn kein solcher Schwerpunkt klar erkennbar ist.51 Der U geht es vordergründig um die Nutzung des Containerhauses für ihren beruflichen Betrieb, aber auch darum, dass sie mit dem Vermögensgegenstand nach etwaiger Schließung ihres Unternehmens nichts mehr anfangen könne. Voraussetzung für den Ausschluss des Schutzes aus Art. 14 GG ist indessen ohnehin, dass in die Berufsfreiheit eingegriffen worden ist: Maßgeblich ist der Schwerpunkt des Eingriffs.52 Ein solcher Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG ist vorliegend nicht gegeben. Der Schutz aus Art. 14 GG ist also nicht ausgeschlossen. 2. Schutzbereich a) Persönlicher Schutzbereich Die Eigentumsfreiheit im Sinne des Art. 14 GG ist ein Jedermann-Grundrecht, doch kann sich die U-GbR nur nach Maßgabe des Art. 19 Abs. 3 GG auf den Schutz berufen. Sie ist nach dem oben Gesagten eine inländische juristische Person im Sinne dieser Vorschrift und die Eigentumsfreiheit kann als klassisches Wirtschaftsgrundrecht ihrem Wesen nach jedenfalls auch Personenmehrheiten zustehen,53 sodass U vom persönlichen Schutzbereich erfasst ist. b) Sachlicher Schutzbereich Art. 14 GG schützt über das Sacheigentum hinaus jedes „private Vermögensrecht“.54 Anerkannt ist, dass nicht nur das Eigentum als solches, sondern auch die freie Nutzungsmöglichkeit geschützt ist.55 Hier moniert U, dass sie das in ihrem Eigentum befindliche Containerhaus nur zum Betrieb ihres Unternehmens nutzen könne. Das Interesse an der Nutzung zu diesem Zweck (und zu keinem anderen) ist vom sachlichen Schutzbereich des Art. 14 GG erfasst. Die Beantwortung der Frage, ob (auch) die Genehmigung oder ggf. der eingerichtete und ausgeübte Gewerbebetrieb der U geschützt sind, bedarf daher keiner Beantwortung.56 3. Eingriff Art. 14 GG kennt zwei Eingriffsformen: die Enteignung (Abs. 3) sowie die Inhalts- und Schrankenbestimmung 48 Papier, in: Maunz/Dürig (Fn. 3), Art. 14 Rn. 222. Jarass (Fn. 2), Art. 12 Rn. 3 m.N. des BVerfG. 50 Papier (Fn. 48), Art. 14 Rn. 222. 51 Jarass (Fn. 2), Art. 12 Rn. 3 m.N. des BVerfG. 52 BVerfGE 121, 317 (344 f.). Siehe auch die Formulierung von Papier (Fn. 48), Art. 14 Rn. 222. 53 Siehe nur Gröpl (Fn. 38), Art. 14 Rn. 13. 54 Wendt, in: Sachs (Fn. 20), Art. 14 Rn. 36. 55 Siehe nur Wendt (Fn. 54), Art. 14 Rn. 41. 56 So allgemein Hufen (Fn. 22), § 38 Rn. 14; Wendt (Fn. 54), Art. 14 Rn. 36. 49 42 M.w.N. Mann (Fn. 41), Art. 12 Rn. 95. Mann (Fn. 41), Art. 12 Rn. 96. 44 M.w.N. Mann (Fn. 41), Art. 12 Rn. 97. 45 Jarass (Fn. 2), Art. 12 Rn. 15; Mann (Fn. 41), Art. 12 Rn. 97. 46 Dazu Hufen (Fn. 22), § 35 Rn. 25; Jarass (Fn. 2), Art. 12 Rn. 20 ff. 47 Vgl. m.w.N. (u.a. BVerfGE 121, 317 [345]) Jarass (Fn. 2), Art. 14 Rn. 4. 43 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 69 ÜBUNGSFÄLLE Henry Hahn (Abs. 1 S. 2). Erstere ist spezieller und daher zuerst zu prüfen. a) Enteignung Die Enteignung wird nicht von der Intensität des Eingriffs her definiert,57 sondern vom BVerfG in ständiger Rechtsprechung verstanden als „die vollständige oder teilweise Entziehung konkreter subjektiver Eigentumspositionen im Sinne des Art. 14 Abs. 1 S. 1 zur Erfüllung bestimmter öffentlicher Aufgaben“,58 wobei zusätzlich ein sog. Güterbeschaffungsvorgang verlangt wird.59 Hier wird der U weder Eigentum als solches noch die Nutzungsbefugnis entzogen und es mangelt ferner an einem Güterbeschaffungsvorgang, sodass jedenfalls keine Enteignung vorliegt. b) Inhalts- und Schrankenbestimmung Nach Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG werden Inhalt und Schranken „bestimmt“, weshalb das Eigentumsrecht als normgeprägtes Grundrecht verstanden wird, dessen näherer Inhalt erst vom Gesetzgeber festgelegt wird.60 Ein Eingriff kann deshalb nur dann vorliegen, wenn eine bereits vorhandene Ausgestaltung bzw. Gewährleistung des Grundrechts negativ verändert wird. Offensichtlich ist, dass eine Einschränkung der Vermögenswerte von U nicht beabsichtigt bzw. Sinn der Satzung ist. U beklagt jedoch, dass sie aufgrund der Zonen-Regelung ihren Betrieb einstellen müsse, weshalb eine Nutzung ihres Containerhauses nicht mehr möglich sei. In Betracht kommt deshalb allenfalls ein mittelbar-faktischer Eingriff, der jedoch grundsätzlich durchaus als Eingriff im Sinne des Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG genügen kann, wenn er erheblich genug ist.61 R weist indes darauf hin, dass es möglich sei, das Haus woanders aufzustellen oder zu verkaufen. In der Tat erscheint es fraglich, ob mit der Zonen-Regelung wirklich ein Eingriff in das Eigentumsgrundrecht verbunden ist: U kann nach wie vor ihr Eigentum nutzen und darüber verfügen, nur rentiert sich ihr Betrieb teilweise aufgrund der Zonen-Regelung, teilweise aufgrund der Konkurrenz durch X nicht mehr, weshalb die Nutzung am konkreten Standort in R keinen Sinn mehr macht. Verlangt wird vielfach eine eigentumsregelnde Tendenz wie bei Art. 12 GG,62 die vorliegend gleichermaßen zu verneinen wäre: Mit der Zonen-Regelung wird weder der Inhalt noch eine Schranke im Sinne der Festlegung von Rechten und Pflichten63 der Nutzung des Containerhauses (bewusst) geregelt. Darüber hinaus muss relevant sein, dass das Haus nur aufgestellt ist, also unproblematisch abgebaut und 57 Ipsen (Fn. 7), § 17 Rn. 755. Die vielen Nachweise direkt zitierend Wendt (Fn. 54), Art. 14 Rn. 148. 59 Siehe die Nachweise des BVerfG bei Jarass (Fn. 2), Art. 14 Rn. 77; Kritisch Hufen (Fn. 22), § 38 Rn. 20. 60 Siehe nur Ipsen (Fn. 7), § 17 Rn. 740. 61 Jarass (Fn. 2), Art. 14 Rn. 25 m.w.N. 62 Jarass (Fn. 2), Art. 14 Rn. 4. 63 Dies fordernd BVerfGE 110, 1 (24 f.), zitierend Gröpl (Fn. 38), Art. 14 Rn. 44. 58 woanders verwendet werden kann. Der Wert des Containerhauses als solchem wird durch die Zonen-Regelung nicht beeinträchtigt und die Beeinträchtigung des Interesses, an dem konkreten Ort in R das Haus zu nutzen, genügt jedenfalls nicht den Anforderungen an die für die Qualifizierung als Eingriff notwendige Erheblichkeit. 4. Ergebnis Art. 14 GG ist mangels eines Eingriffs nicht verletzt. III. Verletzung des Art. 2 Abs. 1 GG Zu untersuchen bleibt, ob die Interessen der U von Art. 2 Abs. 1 GG in Gestalt der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit64 verletzt ist. 1. Anwendbarkeit des Art. 2 Abs. 1 GG Anerkannt ist bei einem umfassenden, generalklauselartigen Verständnis des Art. 2 Abs. 1 GG, dass dieser als subsidiär zurücktritt, wenn der Schutzbereich eines anderen Grundrechts beeinträchtigt ist.65 Hinsichtlich des Art. 12 Abs. 1 GG und des Art. 14 GG ist der Schutzbereich eröffnet; es mangelt jedoch an einem Eingriff. Bei der hier in Betracht kommenden wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit ist anerkannt, dass der Schutz des Art. 2 Abs. 1 GG greift, wenn mangels berufsregelnder Tendenz kein Eingriff vorliegt.66 Das ist hier der Fall. 2. Schutzbereich a) Persönlicher Schutzbereich Art. 2 Abs. 1 GG enthält ein Jedermann-Grundrecht, doch kann U sich nur nach Maßgabe des Art. 19 Abs. 3 GG darauf berufen. Sie ist als GbR in R – wie erinnerlich – eine inländische juristische Person im Sinne des Art. 19 Abs. 3 GG. Fraglich ist aber die wesensgemäße Anwendbarkeit des Art. 2 Abs. 1 GG, der wortlautgemäß nur die freie Entfaltung der Persönlichkeit erfasst. Allerdings ist bzgl. der Gewährleistungen des Art. 2 Abs. 1 GG bereits geklärt worden, dass nach zutreffender Ansicht nicht nur die Persönlichkeit, sondern umfassend die allgemeine Handlungsfreiheit den Schutz genießt, wozu auch die wirtschaftliche Handlungsfreiheit gehört, deren Schutz dem Wesen nach auf juristische Personen anwendbar ist.67 U ist vom persönlichen Schutzbereich erfasst. b) Sachlicher Schutzbereich Sachlich schützt Art. 2 Abs. 1 GG nach dem oben Gesagten nicht bloß den Persönlichkeitskern oder wichtige Interessen, sondern umfassend die allgemeine Handlungsfreiheit. Dazu zählt auch die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit der U, sodass der sachliche Schutzbereich eröffnet ist. 64 Di Fabio (Fn. 3), Art. 2 Rn. 77 f.; Mann (Fn. 41), Art. 12 Rn. 97. 65 Jarass (Fn. 2), Art. 2 Rn. 3; Windthorst (Fn. 8), Art. 2 Rn. 44. 66 Jarass (Fn. 2), Art. 2 Rn. 3, Art. 12 Rn. 4. 67 Windthorst (Fn. 8), Art. 2 Rn. 16. _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 70 Hausarbeit: Surfreviere c) Zwischenergebnis Der Schutzbereich ist eröffnet. 3. Eingriff Wann ein Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG vorliegt, ist etwas strittig: Im Gegensatz zur Dogmatik bei anderen, speziellen Grundrechten, die grundsätzlich jede verkürzende Wirkung staatlichen Handelns als Eingriff versteht, wird nahezu einhellig argumentiert, dass es zu weit führe, dieses Verständnis auch bei dem jegliche Betätigungen schützenden Art. 2 Abs. 1 GG anzuwenden.68 Vorgeschlagen wird etwa die Beschränkung auf den klassischen Eingriffsbegriff, sodass die Beeinträchtigung final, unmittelbar und durchsetzbar mit Rechtswirkung erfolgen müsse.69 Dass die wirtschaftliche Betätigung der U nicht absichtlich eingeschränkt wird, ist bereits geklärt worden, sodass es nach dieser Auffassung vorliegend an einem Eingriff mangelte. Das gilt auch für die Anwendung des Maßstabs einer „milderen“ Ansicht, die zwar keine Rechtswirkung, wohl aber die Finalität der Beeinträchtigung verlangt.70 Das BVerfG fordert für die hier einschlägige wirtschaftliche Betätigungsfreiheit, dass der Grundrechtsträger „durch Maßnahmen betroffen [ist], die auf Beschränkung wirtschaftlicher Entfaltung sowie Gestaltung, Ordnung oder auch Lenkung des Wirtschaftslebens angelegt sind oder sich in diesem Sinne auswirken“.71 Das Gewicht des Eingriffs soll dabei keine Rolle spielen.72 Die Zonen-Regelung der R ist jedenfalls nicht auf wirtschaftliche Auswirkungen, sondern auf die Sicherheit des Gewässers angelegt. Sie könnte sich aber auf die Gestaltung oder als Lenkung des Wirtschaftslebens auswirken, indem der Standort des Unternehmens von U weniger lukrativ wird, was die Erwerbschancen mindert. Unabhängig von der Konkurrenz durch X hatte U Umsatzeinbußen bereits aufgrund der Tatsache zu verzeichnen, dass die Kitesurfer einen zu langen Weg zu seinem Stand haben und die Dienste der U daher nicht (mehr) in Anspruch nehmen. Die Bedingungen des Wirtschaftsstandortes wurden also nicht unwesentlich verändert, sodass die Maßnahme dem Verständnis des BVerfG nach als Eingriff in die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit einzuordnen sein dürfte. Kommen die Ansichten also zu verschiedenen Ergebnissen, bedarf es des Streitentscheids. In der Tat erscheint es aufgrund der ausufernden Weite der Schutzbereichsgewährleistung des Art. 2 Abs. 1 GG angebracht, einen eingeschränkten Eingriffsbegriff zu verwenden. Allerdings ist zu bedenken, dass staatliche Maßnahmen regelmäßig bestimmte Ziele verfolgen, deren Umsetzung Rechtsbeeinträchtigungen lediglich zur Folge hat. All diese Fälle würden dem Schutz durch Art. 2 Abs. 1 GG entzogen, wenn man die Finalität der Grundrechtsverkürzung verlangte. Auch wenn das Grundrecht als Auffanggrundrecht fungiert, erlangt es große Bedeu68 Etwa Hufen (Fn. 22), § 14 Rn. 19. Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher (Fn. 36), § 8 Rn. 422. 70 So Murswiek, in: Sachs (Fn. 20), Art. 2 Rn. 83. 71 BVerfGE 98, 218 (259), zitierend Jarass (Fn. 2), Art. 2 Rn. 9; Ferner Di Fabio (Fn. 3), Art. 2 Rn. 78. 72 M.w.N. Jarass (Fn. 2), Art. 2 Rn. 9. 69 ÖFFENTLICHES RECHT tung für zahllose Betätigungen, die insoweit einen unzureichenden Schutz genössen. Die Forderung einer Finalität des Eingriffs wird daher dem Sinn und Zweck des Art. 2 Abs. 1 GG, nämlich der Garantie einer umfassend grundrechtlich geschützten Freiheit, auch der Entstehungsgeschichte nach nicht gerecht. Dennoch erscheint es angebracht, nicht jede Grundrechtsverkürzung zu erfassen, sodass die für die wirtschaftliche Betätigung erfolgte Konkretisierung des BVerfG sinnvoll erscheint, zumindest eine Auswirkung auf die Gestaltung, Ordnung bzw. Lenkung des Wirtschaftslebens anzunehmen, eine solche bei mangelnder Finalität aber auch ausreichen zu lassen. Hinzu kommt, dass Art. 2 Abs. 1 GG eine weite Schrankenregelung kennt, sodass Korrekturen – wie auch sonst – im Rahmen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung möglich sind. Die Zonen-Regelung stellt einen Eingriff in die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit der U dar. 4. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Fraglich ist, ob der Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden kann. a) Grundrechtsschranke Wie bereits geklärt, enthält Art. 2 Abs. 1 GG eine SchrankenTrias, wobei der verfassungsmäßigen Ordnung im Sinne der Gesamtsumme aller verfassungsgemäßen Rechtsnormen praktisch die größte Bedeutung zukommt. Die Satzung stellt als materielles Gesetz eine taugliche Schranke dar. b) Schranken-Schranken, insbesondere Verhältnismäßigkeit Die Rechtsgrundlage und die Satzung müssen verfassungsgemäß sein. Es ist bereits geklärt worden, dass von der Verfassungsmäßigkeit der Rechtsgrundlage und der formellen Verfassungsmäßigkeit der Satzung ausgegangen werden kann. Fraglich ist nur die materielle Verfassungsmäßigkeit der Satzung, insbesondere die Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit der U. Erinnert sei, dass R mit dem Schutz der körperlichen Unversehrtheit der Gewässernutzer einen legitimen Zweck verfolgt und die Zonen-Regelung zur Förderung dieses Zwecks geeignet ist. U führt keine milderen Alternativen an. Allerdings kommen neben einer wirtschaftlichen Unterstützung durch R, auf die kein Anspruch besteht, nur die Aufhebung der Regelung (zumindest hinsichtlich der Aufteilung von Kite- und Windsurfern) oder die Beschränkung der Regelung auf Zeiten großen Betriebs in Betracht, die – wie erinnerlich – nicht genauso effektiv sind. Fraglich ist, ob U der Eingriff zumutbar ist. R schützt ein hochrangiges Grundrecht vieler Gewässernutzer aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG. Bzgl. der Rechtsposition der U ist zu sagen, dass zwar die Auswirkung auf die berufliche Tätigkeit bei der Abwägung zu berücksichtigen ist, andererseits aber von einer geringeren Schutzbedürftigkeit des Interesses an Rentabilität und Nutzung ihres Eigentums zu beruflichen Zwecken auszugehen ist, wenn ein Schutz aus den speziellen und bereits _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 71 ÜBUNGSFÄLLE Henry Hahn abstrakt als sehr wichtig einzuordnenden Grundrechten des Art. 12 Abs. 1 GG bzw. Art. 14 GG nicht existiert. Insoweit gleicht die rechtliche Situation der U im Wesentlichen jener des S, d.h. der Schutz der körperlichen Unversehrtheit der Gewässernutzer geht dem Interesse der U an einer rentablen Wirtschaftsbetätigung konkret am Standort in R vor, sodass die Satzung angemessen und der U zumutbar ist. Die Zonen-Regelung ist verhältnismäßig. Die Verletzung sonstigen Verfassungsrechts ist nicht ersichtlich, sodass insgesamt die Schranken-Schranken gewahrt sind und der Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. 5. Ergebnis Art. 2 Abs. 1 GG ist nicht verletzt. IV. Ergebnis Die Satzung verletzt U nicht in ihren Grundrechten. C. Gesamtergebnis Die Satzung ist mit den Grundrechten des S und der U vereinbar. Aufgabe 2: Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde Für die Zulässigkeit müssten alle Sachentscheidungsvoraussetzungen vorliegen. Die Zuständigkeit des BVerfG ergibt sich aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG und § 13 Nr. 8a BVerfGG. Beschwerdefähig ist laut Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG und § 90 Abs. 1 BVerfGG jedermann, d.h. jeder, der Träger von Grundrechten sein kann.73 Für U kommt eine Verletzung der Art. 12 Abs. 1, 14 und 2 Abs. 1 GG in Betracht, die – wie erinnerlich – ihrem Wesen nach auf U als inländische juristische Person im Sinne des Art. 19 Abs. 3 GG anwendbar sind. U ist also beschwerdefähig. An der Prozessfähigkeit besteht kein Zweifel. Bei einer GbR als teilrechtsfähige Personenmehrheit kann das BVerfG nach § 21 BVerfGG einen oder mehrere Beauftragte bestellen.74 Zulässiger Beschwerdegegenstand ist die öffentliche Gewalt, d.h. Maßnahmen aller drei Gewalten sind erfasst.75 U wendet sich gegen eine Satzung der Gemeinde R, dies jedoch indirekt über das bzw. zusammen mit dem die Rechtmäßigkeit der Satzung bestätigende(n) Urteil des OVG als Akt der Judikative. Ein tauglicher Beschwerdegegenstand liegt vor. Für die Beschwerdebefugnis müsste U die Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten behaupten, wenngleich einhellig zugunsten des Ausschlusses von Popularklagen zumindest die Möglichkeit der Grundrechtsverletzung gefordert wird, d.h. diese dürfte nicht von vornherein 73 Gersdorf, Verfassungsprozessrecht und Verfassungsmäßigkeitsprüfung, 4. Aufl. 2014, Abschn. 1 Rn. 3. 74 Siehe Klein, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Kommentar zum BVerfGG, 48. Lfg., Stand: 2016, § 21 Rn. 2. 75 Gersdorf (Fn. 73), Abschn. 1 Rn. 18. und nach allen Betrachtungsweisen ausgeschlossen sein.76 Trotz des Ergebnisses zu Aufgabe 1 ist vorliegend zumindest die Verletzung des Art. 2 Abs. 1 GG nicht ausgeschlossen. Darüber hinaus verlangt das BVerfG freilich einschränkend, dass der Beschwerdeführer selbst, unmittelbar und gegenwärtig beschwert ist.77 Hinsichtlich der Satzung könnte an der Unmittelbarkeit gezweifelt werden; mit Blick auf das Urteil des OVG ist das hingegen unproblematisch. Bei einer Urteilsverfassungsbeschwerde ist jedoch zu bedenken, dass das BVerfG keine „Superrevisionsinstanz“ darstellt, sondern sein Prüfungsmaßstab auf das Verfassungsrecht beschränkt ist. Deshalb bedarf es einer spezifischen Grundrechtsverletzung.78 Von den existierenden Fallgruppen ist hier v.a. die „Verkennung der Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts“ in Gestalt einer fehlerhaften Abwägung79 von Bedeutung. In der Tat erscheint es nämlich nicht ausgeschlossen, dass das OVG bei der Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Satzung die Relevanz der Grundrechte von U unterschätzt hat. U ist beschwerdebefugt. Nach § 90 Abs. 2 BVerfGG muss indes, soweit vorhanden, zunächst der Rechtsweg vor den Fachgerichten erschöpft werden. Hier hat U den richtigen Verwaltungsrechtsweg (genauer: die Normenkontrolle nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO i.V.m. § 13 AGGerStrG M-V80) eingeschlagen. Problematisch ist aber, dass der Weg nicht bis zum BVerwG fortgeführt worden ist. Es handelt sich um den Fall, dass das OVG die Revision zum BVerwG nicht zugelassen hat (§ 132 VwGO). Insoweit ist fraglich, ob die dann nach Maßgabe des § 133 VwGO mögliche Nichtzulassungsbeschwerde zwingender Bestandteil des zu erschöpfenden Rechtswegs ist. Diese Frage ist zu bejahen, denn die Norm verlangt die Erschöpfung sämtlicher, gesetzlich zur Verfügung stehender (nicht offensichtlich unzulässiger) Rechtsbehelfe,81 zu der auch die Nichtzulassungsbeschwerde gehört, stellt doch das so nicht angerufene BVerwG eine wichtige, wenn nicht gar die wichtigste Instanz für die Klärung insbesondere der einfachgesetzlichen Rechtsfragen dar. Der Rechtsweg ist also nicht erschöpft. Soweit die Frist für die Nichtzulassungsbeschwerde versäumt sein sollte, muss sich U ggf. um eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bemühen.82 76 Sachs, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2010, Rn. 517. Siehe m.N. Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl. 2015, § 3 Rn. 190; Sachs (Fn. 76), Rn. 518. 78 Gersdorf (Fn. 73), Abschn. 1 Rn. 33. 79 Siehe Gersdorf (Fn. 73), Abschn. 1 Rn. 33. 80 Normen der anderen Bundesländer: Art. 5 BayAGVwGO, § 4 BaWüAGVwGO, § 4 Abs. 1 BbgVwGO, Art. 7 BremAGVwGO, § 15 HessAGVwGO, § 7 NdsAgVwGO, § 4 RlpAGVwGO, § 18 SaarlAGVwGO, § 24 SächsJG, § 10 SachsAnhAGVwGO, § 5 SchlHAGVwGO, § 4 ThürAGVwGO. In Berlin, Hamburg und Nordrhein-West-falen wäre die Normenkontrolle nicht statthaft gewesen. 81 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Fn. 74), § 90 Rn. 395; Hillgruber/Goos (Fn. 77), § 3 Rn. 209 f. 82 Bethge (Fn. 81), § 90 Rn. 395. 77 _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 72 Hausarbeit: Surfreviere ÖFFENTLICHES RECHT Mangels Rechtswegerschöpfung ist die Verfassungsbeschwerde der U somit unzulässig. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 73 Hausarbeit: „Deutschland zuerst“? Von Wiss. Mitarbeiter Stefan Martini, Kiel* Die Hausarbeit mittleren Schwierigkeitsgrads ist im Wintersemester 2016/2017 im Rahmen der Übung für öffentliches Recht für Anfänger (3. Fachsemester) mit drei Wochen Bearbeitungszeit angeboten worden. Sie stellt zwar mit der Volksbefragung ein klassisches Element des Staatsorganisationsrechts ins Zentrum. Gleichwohl fordert der Sachverhalt die Bearbeiter heraus, weil er zum einen aktuelle Ereignisse im Vereinigten Königreich mit europaverfassungsrechtlichem Bezug aufgreift, die Anlass geben, gewohnte staatsrechtliche Probleme teilweise ungewohnt zu bearbeiten. Zum anderen wird erwartet, die Leitlinien der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Wahlberechtigung von Auslandsdeutschen (BVerfGE 132, 39) auf die hier etwas anders liegende Konstellation zu übertragen. Eingekleidet ist der Fall in eine verfassungsprozessuale Fragestellung. Im Folgenden wird eine Musterlösung vorgestellt, von der begründete Abweichungen – insbesondere zum Verfassungsvorbehalt von Volksbefragungen – sehr gut vertretbar sind. Entscheidend für den Erfolg ist es weniger, die Musterlösung genau zu treffen als die im Sachverhalt angelegten Argumente zu erfassen und juristisch plausibel zu verarbeiten, die verfassungsrechtlichen Maßstäbe herauszupräparieren und die eigene Argumentation kohärent und konsistent vorzutragen. Die Zulässigkeitsprüfung ging mit 10%, die Verfassungsmäßigkeit des Referendums mit 50% und die Prüfung von Gleichheitsfragen mit 40% in die Bewertung ein. Sachverhalt Bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag erringt die Partei „Deutschland zuerst“ 120 der insgesamt 630 Sitze (einschließlich Überhang- und Ausgleichsmandaten). Gemeinsam mit der P-Partei, die im Bundestag über 302 Sitze verfügt, bildet sie eine Koalitionsregierung. Entsprechend einer Vereinbarung im Koalitionsvertrag beschließt die Bundesregierung, ein Referendum über den Austritt der Bundesrepublik Deutschland aus der Europäischen Union (EU) abzuhalten. Bundeskanzler K erklärt in einer Pressekonferenz, die Bundesregierung werde das Ergebnis des Referendums als verbindlich akzeptieren. Die europäische Einigung dürfe nicht als ein Elitenprojekt am Willen des Volkes vorbei betrieben werden. Das „Gesetz über ein Referendum zur Mitgliedschaft der Bundesrepublik in der Europäischen Union“ (EU-RefG) wird im vollbesetzten Bundestag nach kontroverser, teils turbulenter Debatte in dritter Lesung mit 420 Stimmen bei 209 Gegenstimmen und einer Enthaltung beschlossen. Nach Zustimmung durch den Bundesrat (mit 49 Ja-Stimmen), Aus* Der Verf. ist Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht mit Schwerpunkt Völker- und Europarecht (Prof. Dr. Andreas v. Arnauld) am Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Die Hausarbeit beruht hinsichtlich des Sachverhalts maßgeblich auf Ideen von Andreas v. Arnauld und ist im Austausch mit ihm entstanden – alle verbliebenen Fehler und Unschärfen sind freilich meine. fertigung durch den Bundespräsidenten und Gegenzeichnung durch die Bundesregierung wird es im Bundesgesetzblatt verkündet und tritt am 1. Oktober in Kraft. Die Durchführung ist für den 17. Juni des Folgejahres geplant. Die oppositionelle O-Partei will das Referendum verfassungsgerichtlich verhindern. Ihre Bundestagsfraktion, die 145 Mitglieder zählt, und die Regierung des Bundeslandes B, dessen Ministerpräsidentin M der O-Partei angehört, reichen formgerecht beim Bundesverfassungsgericht Anträge auf Durchführung eines Normkontrollverfahrens ein. Die Antragsteller rügen, dass das Grundgesetz weder Volksabstimmungen zu Fragen der EU-Mitgliedschaft noch den EU-Austritt selbst vorsehe. Das Referendum ersetze den Bundestag als eigentlichen Gesetzgeber durch das Wahlvolk. Dass das Referendum nach dem EU-RefG rechtlich unverbindlich sei, spiele keine Rolle, da die Bundesregierung erklärt habe, das Ergebnis als politisch verbindlich zu akzeptieren. Außerdem rügen die Antragsteller, dass gemäß § 2 Abs. 2 EU-RefG Deutsche, selbst solche im EU-Ausland, von der Abstimmung ausgeschlossen sind, die seit mehr als 15 Jahren nicht mehr im Bundesgebiet sesshaft sind. Diese würden als „Staatsbürger zweiter Klasse“ behandelt. Die Bundesregierung hält die Regelung hingegen für unverzichtbar, um ein „ausreichendes Maß an Verbundenheit mit den nationalen Angelegenheiten“ zu gewährleisten. Sie weist auf Unterschiede in der Betroffenheit durch deutsche Hoheitsakte, auf das Fehlen einer Korrelation von Rechten und Pflichten sowie auf potentielle Interessen- und Loyalitätskonflikte bei längerem Daueraufenthalt außerhalb Deutschlands hin. Zudem verweist sie auf die Rückkehrer-Klausel in § 2 Abs. 3 EU-RefG, wonach Staatsbürger, die mehr als 15 Jahre außerhalb Deutschlands gelebt haben, stimmberechtigt sind, wenn sie zum Zeitpunkt der Abstimmung seit mindestens drei Monaten wieder ihren Hauptwohnsitz im Bundesgebiet haben. Aufgabe Prüfen Sie die Erfolgsaussichten der Anträge der O-Fraktion und der Landesregierung von B! Bearbeitervermerk Gehen Sie auf alle verfassungsrechtlichen Fragen ein. Falllösung Die Anträge der O-Fraktion sowie der Landesregierung von B vor dem Bundesverfassungsgericht auf Normenkontrolle des EU-RefG versprechen Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet sind. A. Zulässigkeit Die Anträge müssen die Zulässigkeitsvoraussetzungen der abstrakten Normenkontrolle erfüllen. _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 74 Hausarbeit: „Deutschland zuerst“ ÖFFENTLICHES RECHT I. Antragsberechtigung Antragsberechtigt sind gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 76 Abs. 1 BVerfGG die Bundesregierung, eine Landesregierung sowie ein Viertel der Mitglieder des Bundestages. Die Landesregierung von B ist somit antragsberechtigt. Fraktionen des Bundestages fallen nach dem Wortlaut von Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 76 Abs. 1 BVerfGG jedoch nicht in den Kreis der Antragsberechtigten. Die Regelung ist auch nicht analogiefähig1 und auf Fraktionen übertragbar. Das Grundgesetz hat sich vielmehr dafür entschieden, Rechte der parlamentarischen Minderheit vom Erreichen von Quoren abhängig zu machen und sie nicht von distinkten oppositionellen Akteuren wie Fraktionen wahrnehmen zu lassen.2 Selbst wenn man davon ausginge, dass die O-Fraktion den Antrag stellvertretend für alle ihre Mitglieder eingereicht hätte, erreichten die 145 Abgeordneten das Viertel-Quorum von Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 76 Abs. 1 BVerfGG nicht. Bei der Berechnung, ob das Quorum erreicht ist, ist von der gesetzlichen Mitgliederzahl gem. Art. 121 GG zum Zeitpunkt der Antragstellung auszugehen, d.h. der Sollbestand des Bundestages von 598 Mitgliedern nebst möglichen Überhang- und Ausgleichsmandaten (§ 1 Abs. 1 BWahlG).3 Bei einer Größe von 630 Mitgliedern müssten sich mindestens 158 Antragsteller versammeln, um antragsberechtigt zu sein. Das Quorum ist wegen der eindeutigen Entscheidung des Verfassungsgesetzgebers für die Höhe der Quoren auch nicht im Wege teleologischer Reduktion für Legislaturperioden abzusenken, in denen „erdrückende“ Regierungskoalitionsfraktionen ein starkes Gewicht gegenüber Oppositionsfraktionen einnehmen.4 Die „Auslegungs-Nothilfe“ käme in diesem Fall schon deswegen nicht in Betracht, weil die parlamentarische Minderheit zahlenmäßig durchaus in der Lage wäre, ein Viertel der Abgeordneten für einen Normenkontrollantrag zu stellen. Die O-Fraktion ist somit nicht antragsberechtigt. rechtsnormen; das Gesetzeswerk ist im Zeitpunkt der Antragstellung auch bereits verkündet gewesen. II. Antragsgegenstand Der Normenkontrolle ist ein tauglicher Antragsgegenstand zu unterwerfen. Dazu gehören vor- wie nachkonstitutionelle Normen des Bundes- oder Landesrechts (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 76 Abs. 1 BVerfGG).5 Die zu prüfende Norm muss grundsätzlich bereits existent sein, wobei der Zeitpunkt der Verkündung maßgeblich ist6. Bei den Bestimmungen des EU-RefG handelt es sich um nachkonstitutionelle Bundes- IV. Form und Frist Das Normenkontrollverfahren kennt kein Fristerfordernis.14 Von der Erfüllung der Formvorschriften, wie z.B. dem schriftlichen Antrag nach § 23 Abs. 1 S. 1 BVerfGG, ist laut Sachverhalt auszugehen. 1 BVerfGE 21, 52 (53 f.), in Bezug auf eine Partei. BVerfG, Urt. v. 3.5.2016 – 2 BvE 4/14, Rn. 93; siehe auch Wieland, in: Dreier, Grundgesetz, 2. Aufl. 2008, Art. 93 Rn. 57; Morgenthaler, in: Epping/Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar, Grundgesetz, Stand: 1.6.2016, Art. 93 Rn. 30. 3 Rozek, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Kommentar zum BVerfGG, Stand: Juli 2012, § 76 Rn. 11; Morgenthaler (Fn. 2), Art. 93 Rn. 30.1. 4 BVerfG, Urt. v. 3.5.2016 – 2 BvE 4/14, Rn. 107 ff. 5 BVerfGE 2, 307 (312); 103, 111 (124); Detterbeck, in: Sachs, Kommentar zum GG, 7. Aufl. 2014, Art. 93 Rn. 55. 6 Rozek (Fn. 3), Art. 76 Rn. 15 f. III. Antragsgrund Für die Zulässigkeit des Verfahrens bedarf es eines Klarstellungsinteresses. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG spricht hierzu von Meinungsverschiedenheiten oder Zweifeln über die Verfassungskonformität, § 76 Abs. 1 BVerfGG demgegenüber von der Überzeugung von der Nichtigkeit der angegriffenen Normen („für nichtig hält“). Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Zusammenhang klargestellt, dass ein objektives, nicht nur theoretisches7 Interesse an einer verfassungsgerichtlichen Klarstellung bestehen muss.8 Das bedeutet, dass Zweifel an der Verfassungskonformität der angefochtenen Normen zwar vorliegen müssen, aber nicht zwingend in der Person des Antragstellers.9 Auch ein subjektives Rechtsschutzinteresse ist trotz des Wortlautes von § 76 Abs. 1 BVerfGG nicht erforderlich.10 § 76 Abs. 1 BVerfGG konkretisiert nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lediglich das in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG bestimmte objektive Interesse.11 Zweifel an der Gültigkeit der angegriffenen Normen bei den Antragstellern indizieren das Klarstellungsinteresse.12 Selbst wenn man – trotz oder unabhängig des Vorrangs der Verfassungsnorm in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG – vom Erfordernis eines subjektiven Klarstellungsinteresse nach § 76 Abs. 1 BVerfGG ausginge,13 würden die Antragsteller diese Voraussetzung erfüllen, da sie ausgehend von ihren vorgetragenen Argumenten von der Verfassungswidrigkeit des EURefG überzeugt sind. Dass rechtliche Interessen des Bundeslandes womöglich nur mittelbar berührt sein könnten, spielt wegen des objektiven Charakters des Normenkontrollverfahrens keine Rolle. Zudem bestehen objektiv Meinungsverschiedenheiten über das EU-RefG, was an der Debatte im Bundestag anlässlich seiner Verabschiedung deutlich wird. V. Zwischenergebnis Der Antrag der Landesregierung von B ist zulässig, der Antrag der O-Fraktion hingegen unzulässig. 2 7 BVerfGE 12, 205 (221). BVerfGE 6, 104 (110); 106, 244 (250); 113, 167 (193). 9 Detterbeck (Fn. 5), Art. 93 Rn. 58. 10 BVerfGE 103, 111 (124); 1, 208 (219 f.). 11 BVerfGE 96, 133 (137). 12 BVerfGE 103, 111 (124). 13 Dann setzte sich gleichwohl das objektive Erfordernis wegen des Vorrangs der Verfassung durch, vgl. Detterbeck (Fn. 5), Art. 93 Rn. 58; Wieland (Fn. 2), Rn. 59. 14 BVerfGE 7, 305 (310); 38, 258 (268). 8 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 75 ÜBUNGSFÄLLE Stefan Martini B. Begründetheit Der zulässige Antrag der Landesregierung von B ist begründet, wenn das EU-RefG in formeller (I.) und materieller (II.) Hinsicht nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Aufgrund der objektiven Natur der abstrakten Normenkontrolle15 ist das Bundesverfassungsgericht nicht an die Rügen der Antragsteller gebunden, sondern prüft die Gültigkeit der angegriffenen Normen unter allen in Betracht kommenden verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten16. Nahe liegt hier jedoch mangels weiterer Kenntnis des Wortlauts des EURefG die weitgehende Begrenzung auf die geltend gemachten verfassungsrechtlichen Mängel des EU-RefG. I. Formelle Verfassungsmäßigkeit Das EU-RefG muss formell verfassungsgemäß sein. Dazu sind Zuständigkeit (1.), Verfahren (2.) und Form (3.) zu prüfen. 1. Bundeszuständigkeit Dem Bund muss die Gesetzgebungskompetenz für das EURefG zustehen.17 Als Grundsatz gilt gem. Art. 70 Abs. 1 GG, dass den Ländern die Verbandszuständigkeit zukommt, sofern nicht das Grundgesetz dem Bund eine Gesetzgebungskompetenz verleiht. Allerdings weist das Grundgesetz dem Bund weder für Instrumente der direkten Demokratie noch für den Austritt aus der Union eine ausdrückliche Kompetenz zu. Eine Zuständigkeit des Bundes kann sich allerdings aus Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG ergeben. Danach kann der Bund Hoheitsrechte an die Europäische Union übertragen. Der Austritt aus der Europäischen Union stellt hierzu den actus contrarius dar.18 Die Befragung vor der parlamentsgesetzlichen Entscheidung über den Austritt bildet zur Bundeszuständigkeit jedenfalls eine Annexkompetenz19. Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG ist für den Bereich der Unionsverfassungspolitik – also Grundfragen der Integration inklusive ihres Stopps – jedenfalls als lex specialis zu Art. 73 Abs. 1 Nr. 1 GG20, dem Kompetenztitel für auswärtige Angelegenheiten, anzusehen. Denkbar erscheint es ferner, eine Zuständigkeit des Bundes kraft Natur der Sache zur Regelung von Modalitäten einer Abstimmung im Sinne von Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG anzunehmen.21 Die Kompetenz zur Regelung eines unverbindlichen Referendums würde dieser Zuständigkeit folgen. 15 BVerfGE 103, 111 (124 m.w.N.). 16 BVerfGE 93, 37 (65). 17 Siehe BVerfGE 8, 104 (116 ff.). 18 Siehe Thiele, EuR 2016, 281 (293); Calliess, in: Calliess/ Ruffert, Kommentar zum EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 50 EUV Rn. 4, der dafür – unbeschadet der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit des EU-Austritts – ein Gesetz nach Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG fordert. 19 Vgl. BVerfGE 8, 104 (119). 20 Vgl. Wollenschläger, in: Dreier, Kommentar zum GG, 3. Aufl. 2015, Art. 23 Rn. 32. 21 So Meyer, JZ 2012, 538 (542) für die Einführung von Abstimmungen. Gleichwohl bedarf die Abstimmung im Einzelfall einer spezifisch sachlichen Zuständigkeit des Bundesgesetzgebers,22 wofür wiederum auf Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG zurückzugreifen ist. Die Gesetzgebungskompetenz folgt demnach aus Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG. 2. Verfassungsgemäßes Verfahren Das EU-RefG muss in einem ordnungsgemäßen Verfahren zustande gekommen sein. Das EU-RefG ist mit Zweidrittel-Mehrheit sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat beschlossen worden, sodass alle erdenklichen Quoren eingehalten wurden. Auch die Zustimmung des Bundesrates ist erfolgt, sodass selbst einer eventuellen aus Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V.m. Art. 79 Abs. 2 GG folgenden Zustimmungsbedürftigkeit des Gesetzes Genüge getan wäre.23 Sonstige Abstimmungsfehler sind nicht ersichtlich. Mangels erkennbarer Verfahrensfehler ist das Verfahren verfassungsgemäß. 3. Verfassungsmäßige Form Das EU-RefG genügt auch sonstigen formellen Anforderungen des Verfassungsrechts. Es ist ordnungsgemäß verkündet und ausgefertigt (Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG). II. Materielle Verfassungsmäßigkeit Das EU-RefG müsste auch materiell verfassungsgemäß sein. Dazu ist zunächst zu prüfen, ob das Grundgesetz dem Erlass des EU-RefG als einer direktdemokratischen Regelung prinzipiell entgegensteht (1.), und in einem zweiten Schritt, inwiefern die Ausgestaltung mit gleichheitsrechtlichen Prinzipien des Grundgesetzes übereinstimmt (2.). 1. Grundsätzliche Zulässigkeit des EU-RefG nach dem Grundgesetz Die Einführung eines konsultativen Referendums – zum Austritt der Bundesrepublik Deutschland aus der Europäischen Union – müsste verfassungsrechtlich zulässig sein. Eindeutig wäre die Zulässigkeit zu bejahen, wenn das Grundgesetz eine solche Möglichkeit ausdrücklich bestimmen würde. An einer definitiven Gestattung im Text des Grundgesetzes mangelt es jedoch. a) Generelles Verbot konsultativer Referenden nach geltendem Verfassungsrecht? Die dürre Formulierung in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG, dass das Volk die Staatsgewalt (u.a.) in Wahlen und Abstimmungen ausübt, gleichfalls spärliche Aussagen des Bundesverfassungsgerichts und die hochpolitische Bedeutung des Themas 22 Ebenso wiederum Meyer, JZ 2012, 538 (542). Um materiell-rechtliche Inzidentprüfungen zu vermeiden, sollte die Frage, ob die Regeln der Verfassungsänderung (Art. 79 GG) oder die des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens (Art. 77 GG) Anwendung finden, in der Begründetheit abgehandelt werden. 23 _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 76 Hausarbeit: „Deutschland zuerst“ haben eine intensive staatsrechtliche Diskussion um die Einführung direktdemokratischer Instrumente auf Bundesebene ausgelöst. Hier ist vieles, Prinzipielles, aber auch im Detail, sowie überhaupt die Grenze zwischen Verfassungsrecht und Verfassungsrechtspolitik umstritten. Unterschieden werden muss jedenfalls zwischen unterschiedlichen Instrumenten direkter Demokratie: Während Volksbegehren (bzw. -initiativen) und Volksentscheide zu rechtlich verbindlichen Entscheidungen führen (die Rechtsfolgen sind im Einzelnen aber nicht determiniert), stellen von staatlichen Stellen veranstaltete Volksbefragungen bzw. konsultative Referenden grundsätzlich unverbindliche Erhebungen des Volkswillen dar.24 Zunächst ist danach zu fragen, ob konsultative Referenden, die in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG nicht genannt sind, deswegen vom Grundgesetz verboten sind. Ausdrücklich untersagt das Grundgesetz allerdings Volksbefragungen nicht. Anhaltspunkte für eine Antwort bieten lediglich die Staatsstrukturprinzipien des Grundgesetzes in Art. 20 GG, v.a. das Demokratieprinzip und die Volksouveränität, und insbesondere die Aussage in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG, nach der das Volk die Staatsgewalt – neben der Repräsentation in den drei Gewalten – durch Wahlen und Abstimmungen ausübt. Versteht man konsultative Referenden als direktdemokratisches Minus zu rechtsverbindlichen Volksentscheiden,25 gleich welche Rechtsfolgen sie nach sich ziehen, ist die Frage des grundgesetzlichen Verbots mit der verfassungsrechtlichen Bewertung von „Abstimmungen“ zu beantworten.26 Der Wortlaut des Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG lässt sich – isoliert und auf Basis der Wortlautauslegung – jedenfalls so verstehen, dass direktdemokratische Elemente auf Bundesebene nicht von vornherein ausgeschlossen sind.27 Die Erwähnung von „Abstimmungen“ wäre ansonsten sinnlos. Die repräsentative Ausübung von Staatsgewalt durch das Volk ist gleichwohl z.B. in Art. 38, 76 ff. GG durch Prinzipien und Handlungsformen konkreter ausgestaltet. Die daraus abgeleitete prinzipielle „Zweitrangigkeit der Abstimmungen“28 kann – in systematischer Auslegung – Rückhalt darin finden, dass direktdemokratische Instrumente im Grundgesetz nur sporadisch geregelt (Art. 29, 118, 118a GG) und im Übrigen nicht für das gesamte Bundesgebiet vorgesehen sind.29 Aber selbst wenn man – wiederum mit Unterstützung des Wortlauts und des Sinns der Vorschrift – der Auffassung ist, dass Abstimmungen im verfassungsrechtlichen Wertesys- 24 Siehe M. Martini, DÖV 2015, 981 (982 f.). Vgl. M. Martini, DÖV 2015, 981 (983): „kleine Schwester des Bürger-/Volksentscheids“. Anders Bayerischer Verfassungsgerichtshof (BayVerfGH), Entsch. v. 21.11.2016 – Vf. 8 und 15-VIII-14, Rn. 101. 26 Dreier, in: Dreier (Fn. 20), Art. 20 (Demokratie) Rn. 99; anders Krause, in: HbStR, III, 3. Aufl. 2005, § 35 Rn. 24. 27 Dreier (Fn. 26), Art. 20 Rn. 105. 28 Krause (Fn. 26), Art. 35 Rn. 24. 29 Sachs, in: Sachs (Fn. 5), Art. 20 Rn. 32 m.w.N.; Huster/ Rux, in: Epping/Hillgruber (Fn. 2), Art. 20 Rn. 82; anders Stein, in: Alternativ-Kommentar Grundgesetz, 3. Aufl. 2001, Art. 20 Abs. 1-3 III Rn. 51. 25 ÖFFENTLICHES RECHT tem nicht prinzipiell hinter Wahlen zurückstehen,30 lässt sich aus der abstrakten Rangbestimmung kein Argument für oder wider die Grundgesetzwidrigkeit konsultativer Referenden gewinnen. Eine vereinzelte Auffassung, nach der konsultative Referenden an sich gegen die Grundsätze der Volkssouveränität und des Rechtsstaates, mithin gegen Art. 20 GG verstoßen, beruft sich darauf, dass selbst bei einem rechtlich unverbindlichen Referendum das Volk an der Staatswillensbildung teilnimmt31 und in Konkurrenz zu dem eigentlich berufenen Organ der Gesetzgebung tritt32; gleichlaufend wird ein Verstoß gegen Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG bejaht, da die Abgeordneten durch die Entscheidung des Volkes unzulässig instruiert werden, mithin nicht frei in ihrer Entscheidung sind33. Diese Unzulässigkeit kraft nicht legitimierter Bindungswirkung konsultativer Referenden ist unabhängig von der Einordnung in die Terminologie von Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG nicht überzeugend. Deren zumindest faktische Bindungswirkung unterstellt,34 spricht – als strenggenommen nicht für sich geltendes Autoritätsargument – schon die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mittelbar für eine Zulässigkeit von Volksbefragungen, da das Bundesverfassungsgericht die Zulässigkeit der im Jahr 1958 geprüften Befragungen lediglich an der fehlenden Verbandszuständigkeit scheitern ließ.35 Verfassungsrechtlich wesentlich ist jedoch: Weder die gesetzgebenden Organe – wegen Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG Bundestag und Bundesrat – noch der einzelne Abgeordnete können durch ein konsultatives Referendum im verfassungsrechtlichen Sinne gebunden werden.36 Ein Verstoß gegen die Volkssouveränität ist – selbst wenn es um Art. 23 GG geht37 – abzulehnen.38 Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V.m. Art. 79 Abs. 2 und Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG garantieren mangels entgegenstehender Bestimmungen im Grundgesetz, die ein direktdemokratisches Verfahren regeln, die Unabhängig- 30 Z.B. Dreier (Fn. 26), Art. 20 Rn. 99; Pestalozza, NJW 1981, 733 (734); siehe auch Engelken, DÖV 2013, 301 (303). 31 So in diesem Punkt auch BVerfGE 8, 104 (118). 32 Krause (Fn. 26), § 35 Rn. 23. 33 Krause (Fn. 26), § 35 Rn. 26. Dieser Gedankengang setzt freilich voraus, dass konsultative Referenden nicht Abstimmungen sind, Krause (Fn. 26), § 35 Rn. 24; so auch für die bayerische Verfassung BayVerfGH, Entsch. v. 21.11.2016 – Vf. 8 und 15-VIII-14, Rn. 101; siehe dagegen Neumann, Sachunmittelbare Demokratie, 2008, S. 180. 34 So BayVerfGH, Entsch. v. 21.11.2016 – Vf. 8 und 15-VIII14, Rn. 105 ff. (allerdings wohl ohne im engeren Sinne entscheidungserheblich zu sein). 35 BVerfGE 8, 104; 8, 122. 36 Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum GG, Stand: Januar 2010, Art. 20 Rn. 114,. In Bezug auf Abgeordnete Hufschlag, Einfügung plebiszitärer Komponenten in das Grundgesetz?, 1999, S. 80 ff. 37 Hölscheidt/Menzenbach, DÖV 2009, 777 (779 f.). 38 So auch Hölscheidt/Menzenbach, DÖV 2009, 777 (779 f.) – zur Ratifikation europäischen Vertragsrechts. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 77 ÜBUNGSFÄLLE Stefan Martini keit der jeweiligen Entscheidung.39 Ein allein faktischer Entscheidungsdruck gehört zur verfassungsrechtlichen Normalität bzw. zur Verfassungswirklichkeit – er kann keinen Verstoß gegen das freie Mandat bewirken.40 Diese vom Einzelfall eines konkreten Referendums abstrahierende verfassungsrechtliche Position wird auch nicht durch die Zusage des K ausgehebelt, sich an das Volksvotum zu halten. Die verfassungsrechtliche Wirkkraft einer solchen Zusage ist begrenzt. Die Richtlinienkompetenz aus Art. 65 S. 1 GG ist auf die Beziehung zwischen Bundeskanzler und Bundesminister begrenzt.41 Der Bundestag ist nicht Adressat von Vorgaben durch den Bundeskanzler; über eingebrachte Gesetzes- bzw. Beschlussentwürfe entscheiden das Parlament bzw. die Abgeordneten frei. Zwar gilt es in die verfassungsrechtliche Bewertung einzubeziehen, dass der Bundeskanzler in der Regel auf eine parlamentarische Mehrheit, die die Regierung stützt, vertrauen kann und eine Vorgabe des Bundeskanzlers durch faktische Zwänge – z.B. die Fraktionsdisziplin – die Entscheidung des Bundestages (bzw. im Falle von Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG auch des Bundesrates) faktisch zu präjudizieren vermag. Für die verfassungsrechtliche Bewertung ist dieser faktische Zwang, was die Zulässigkeit der Volksbefragung angeht, jedoch letztlich irrelevant. Außerdem zeigen die „Abweichler“ bei der Abstimmung über das EURefG, dass die Abgeordneten des Bundestages durchaus eine freie Entscheidung treffen können. Die Regelung der Hoheitsrechtsübertragung gem. Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG als Verfassungsänderung schließt im Umkehrschluss keine Abstimmungen bzw. Volksbefragungen prinzipiell aus. Dies veranschaulicht eine parallele Überlegung zu Verfassungsänderungen gem. Art. 79 GG. Auch Gegenstände dieses Verfahrens können prinzipiell zum Thema einer Abstimmung gem. Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG gemacht werden. Mithin steht das Grundgesetz nicht per se einem konsultativen Referendum entgegen. b) Beschluss durch Gesetzesform ausreichend? Es ist ferner zu prüfen, ob der Beschluss des EU-RefG in Gesetzesform zulässig war oder nicht vielmehr eine Verfassungsänderung nach Art. 79 GG erforderlich gewesen wäre. aa) Verfassungsvorbehalt für rechtlich verbindliche Volksgesetzgebung Die Einführung rechtlich verbindlicher Volksgesetzgebung bedarf nämlich nach überwiegender Auffassung einer Verfassungsänderung.42 Dies gelte auch für europaverfassungsrecht39 Siehe Dreier (Fn. 26), Art. 20 Rn. 107, jedenfalls für das freie Mandat. 40 Hölscheidt/Menzenbach, DÖV 2009, 777 (780), obgleich „wegen der integrationspolitischen Bedeutung“ eine verfassungsrechtliche Ausgestaltung eines integrationspolitischen Referendums als Minderheitenrecht anregend. 41 Siehe Hermes, in: Dreier (Fn. 20), Art. 65 Rn. 25. 42 Dreier (Fn. 26), Art. 20 Rn. 106; Grzeszick (Fn. 36), Art. 20 Rn. 113; Huster/Rux (Fn. 29), Art. 20 Rn. 82; Krause (Fn. 26), § 35 Rn. 26; Kühling, JuS 2009, 777 (778); liche Abstimmungsthemen; derzeit steht dem nämlich der Verfassungswortlaut in Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG entgegen.43 Für den Verfassungsvorbehalt streitet in einem allgemeinen Sinne parallel, dass das Gesetzgebungsverfahren in Art. 77 GG einer Ergänzung bedürfte.44 bb) Entscheidungserheblicher Streit um den Verfassungsvorbehalt für Volksbefragungen Das EU-RefG ermächtigt jedoch lediglich zur Durchführung eines rechtlich unverbindlichen Referendums. Für diese Kategorie der direkten Demokratie ist es umstritten, ob eine Verfassungsänderung erforderlich ist. Eine Streitentscheidung erübrigte sich freilich, wenn durch das EU-RefG die Volksgesetzgebung gem. Art. 79 GG in den Verfassungsbestand der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen worden ist. Die gem. Art. 79 Abs. 2 GG erforderliche Zweidrittelmehrheit ist sowohl im Bundestag mit 420 von 630 Stimmen als auch im Bundesrat mit 49 von 69 Stimmen jedenfalls erreicht. Allerdings muss ein verfassungsänderndes Gesetz das Grundgesetz ausdrücklich ändern oder ergänzen (Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG). Dies ist durch das EU-RefG gerade nicht geschehen. Vielmehr wurde eine einmalige Volksbefragung in Form eines einfachen Gesetzes beschlossen. Eine Grundgesetzänderung würde höchstens implizit durch das Gesetz erreicht („faktische Verfassungsänderung“), was das Grundgesetz in Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG jedoch verbietet. Eine Streitentscheidung ist somit nicht obsolet, da das Grundgesetz nicht geändert worden ist. cc) Auffassung 1: Gesetzesbeschluss für Volksbefragungen ausreichend Die Einführung von Volksbefragungen durch Gesetz wird für zulässig45 und auch für notwendig46 gehalten. Nach vereinzelter Auffassung wäre eine Volksbefragung selbst ohne Gesetzesbeschluss möglich, da die Entscheidungshoheit des Bundestages nicht beeinträchtigt werde.47 Jedenfalls ist hiernach eine Verfassungsänderung nicht erforderlich. Das EU-RefG genügt nach dieser Auffassung dem häufig vertretenen Gesetzesvorbehalt. Grosche, JuS 2016, 239 (241, Falllösung). A.A. z.B. Meyer, JZ 2012, 538 (542). 43 Hölscheidt/Menzenbach, DÖV 2009, 777 (779). 44 Grzeszick (Fn. 36), Art. 20 Rn. 113; Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum GG, 6. Aufl. 2010, Art. 20 Rn. 162. 45 Siehe nur Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Kommentar zum GG, 14. Aufl. 2016, Art. 20 Rn. 9; Hofmann, in: Hofmann, Verfassungsrechtliche Perspektiven, 1995, S. 146 (159). 46 Robbers, in: Bonner Kommentar zum GG, Stand: Januar 2014, Art. 20 Rn. 3079; Ebsen, AöR 110 (1985), 2 (21 ff.). 47 Pestalozza, NJW 1981, 733 (735). _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 78 Hausarbeit: „Deutschland zuerst“ dd) Auffassung 2: Verfassungsvorbehalt für Volksbefragungen Demgegenüber wird ebenfalls zahlreich vertreten,48 dass der amtliche Charakter einer Volksbefragung die Entscheidungsfreiheit des Bundestages erheblich einschränke und jedenfalls zu einer politisch relevanten Strukturverschiebung führe.49 Wie beim faktischen Grundrechtseingriff sei auch der politische Druck ausreichend, um das befragte Volk zur Staatsgewalt zu formen.50 Folgt man dieser Auffassung, ist eine Verfassungsänderung erforderlich.51 ee) Beschluss einer Volksbefragung durch Gesetz letztlich verfassungskonform Gegen diese Auffassung lässt sich aber anführen, dass – anders als bei verbindlicher Volksgesetzgebung – keine zusätzlichen Gesetzgebungsverfahren einzuführen wären.52 Mit Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG existiert bereits eines, das dem Zweck nach unabhängig von vorgängigen (unverbindlichen) Prozeduren – wie z.B. einem konsultativen Referendum – existiert. Zudem wiederholt die Auffassung vom Verfassungsvorbehalt die Vermutung des rechtlich relevanten, politischen Drucks auf die Legislative. Diese ist jedoch verfassungsrechtlich frei und kann in ihrer Entscheidung nicht nur das Volksvotum, sondern für ihre Willensbildung auch andere Erwägungen, z.B. solche der auswärtigen Politik sowie überholende tatsächliche Entwicklungen berücksichtigen. Eine Verfassungsänderung solle indes dann erforderlich werden, wenn „durch vorherige normative ‚Unterwerfung‘ der Abgeordneten“ der parlamentarische Abschluss vom Ausgang des Votums abhängig gemacht werde.53 Eine solche normative Unterwerfung kann nicht in der Zusage des K gesehen werden, sich an das Volksvotum zu halten. Allenfalls ein vorgehender Beschluss von Bundestag und Bundesrat könnte eine solche Bindungswirkung auslösen, der freilich wiederum unter dem Vorbehalt einer späteren – parlamentarisch freien – Entscheidung stünde. 48 Nach Möstl (BayVBl. 2015, 217 [220]), sogar die überwiegende Meinung; einschränkend freilich Dreier (Fn. 26), Art. 20 Rn. 107 („wohl noch überwiegende[…] Auffassung“). Rein quantitativ lässt sich eine eindeutige Stimmenverteilung nicht ausmachen (siehe z.B. M. Martini, DÖV 2015, 981 [983] zur hiesigen Auffassung: „häufig vertretene[…] Auffassung“; sowie die Aufführungen in Neumann [Fn. 33], S. 181 Fn. 190). 49 Sommermann (Fn. 44), Art. 20 Rn. 162. 50 Volkmann, in: Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Stand: 2001, Art. 20 (4. Teil), Rn. 59; siehe auch Kämmerer/ Ernst/Winter, ZG 2015, 349 (352): „faktische Alterierung des verfassungsrechtlichen Willensbildungsprozesses“. 51 Siehe nur M. Martini, DÖV 2015, 981 (983). 52 Vgl. Pieroth (Fn. 45), Art. 20 Rn. 9. Anders wohl M. Martini, DÖV 2015, 981 (983), der die „prozedurale[…] und institutionelle[…] Formenbindung der Gesetzgebung“ betont. 53 Dreier (Fn. 26), Art. 20 Rn. 108; a.A. Hofmann (Fn. 45), S. 159 f. ÖFFENTLICHES RECHT Eine Verfassungsänderung ist demnach nicht erforderlich, ein Verfassungsvorbehalt nicht überzeugend. Der Beschluss des EU-RefG in Gesetzesform ist verfassungskonform. c) Materielle Unzulässigkeit wegen des Staatsziels Europa? Das EU-RefG könnte allerdings verfassungswidrig sein, wenn es gegen das Staatsziel der Beteiligung an der Europäischen Union gem. Art. 23 Abs. 1 GG verstößt. Dies könnte daraus folgen, dass in der Literatur aus Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG hohe Hürden für die Ausübung des Austrittsrechts aus der Europäischen Union abgeleitet werden und das EU-RefG die (tatsächliche) Möglichkeit des Austritts gesetzlich bestimmt. Ein verfassungsrechtliches Staatsziel ist in der Regel nur hinsichtlich seines Ziels verbindlich, lässt den Verfassungsorganen aber Spielraum bei der Wahl der Mittel zur Erreichung des Ziels.54 Allerdings kommt es hinsichtlich des Grads der Verbindlichkeit auf das konkrete Staatsziel an und können für Kernelemente eines weichen Staatsziels konkretere Rechtspflichten begründet sein.55 Aus dem konkreten Auftrag in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG, an der Europäischen Union mitzuwirken,56 wird in Übereinstimmung mit dieser Staatszieldogmatik spiegelbildlich zumindest für den konkreten Sonderfall des Austritts aus der Europäischen Union gefordert, dass die Europäischen Union die Voraussetzungen von Art. 23 Abs. 1 GG verfehlt57 oder übereinstimmend politisch gescheitert ist.58 Jedenfalls stelle ein grundloser Austritt einen Verstoß gegen Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG dar.59 Dass ein Austritt EU-weit konsentiert ist oder dass die EU die Staatsstrukturprinzipien in Art. 23 Abs. 1 GG verletzt, geht aber aus dem Sachverhalt nicht hervor. Soweit demnach ein Austritt aus der Europäischen Union mangels hinreichender Begründung unzulässig wäre, ist fraglich, ob ein Austrittsverbot auf das EU-RefG durchschlägt. Anders gefragt, kann ein verfassungswidriges Handeln eine zulässige Option eines Referendums sein? Zwar bereitet das EU-RefG den Boden für einen Austrittsbeschluss gem. Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG; auch setzt es die Möglichkeit eines Austrittsbeschlusses voraus. Eine notwendige Durchgangsstufe für den Austrittsbeschluss stellt es verfassungsrechtlich indes nicht dar. Wie schon dargestellt, ist es lediglich rechtliche Grundlage für eine rechtlich unverbindliche Volksbefragung, die gerade nicht den Austritt aus der EU selbst regelt. Faktische Volksbefragung und rechtsverbindlicher Austrittsbeschluss sind rechtlich zu trennen. Selbst wenn man Volksbefragung und Austrittsbeschluss rechtlich verknüpft sieht, ist jedenfalls eine gewisse Ein54 Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997, S. 377. 55 Sommermann (Fn. 54), S. 378. 56 Wollenschläger (Fn. 20), Art. 23 Rn. 37; Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 44), Art. 23 Rn. 7. 57 Hillgruber, in: Schmidt-Bleibtreu u.a., Kommentar zum GG, 13. Aufl. 2014, Art. 23 Rn. 7. 58 Classen (Fn. 56), Art. 23 Rn. 7. 59 Calliess (Fn. 18), Art. 50 Rn. 4, der als Grund eine Vertiefung der Integration anführt (dann wohl außerhalb der EU). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 79 ÜBUNGSFÄLLE Stefan Martini schätzungsprärogative der Gesetzgebungs- bzw. Verfassungsänderungsorgane in Rechnung zu stellen. Hier ist auf die Aussage des K zu rekurrieren, der die Europäische Union als Elitenprojekt ablehnt, was als Stellungnahme zur demokratischen Mangelhaftigkeit der EU mit dem in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG erwähnten Demokratieprinzip jedenfalls in Verbindung steht. In einem solchen Spielraum verkörpert sich auch die weichere rechtliche Verbindlichkeit des Staatsziels Europa. Verfassungsrechtlich vertretbar erscheint es daher, davon auszugehen, dass die Grenzen des Austrittseinschätzungsspielraums nicht überschritten sind. Das EU-RefG ist somit materiell nicht verfassungswidrig. 2. Möglicher Gleichheitsverstoß der Ausgestaltung des Referendums Unabhängig davon, ob man die Verfassungswidrigkeit des konsultativen Referendums über den EU-Austritt bejaht oder nicht, könnte § 2 Abs. 2 EU-RefG (i.V.m. § 2 Abs. 3 EURefG) durch Ausschluss von sog. Auslandsdeutschen von der Abstimmung verfassungswidrig sein, indem die Norm gegen Gleichheitspostulate des Grundgesetzes verstößt. a) Abgrenzung bzw. Konkurrenz von Art. 38 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG Dabei sind die in Betracht kommenden Maßstäbe von Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG, die in einem Spezialitätsverhältnis zueinander stehen,60 voneinander abzugrenzen. Dem Wortlaut nach gelten die Wahlrechtsgrundsätze von Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG nur für die Wahl zum Deutschen Bundestag. Als Rechtsprinzipien, die im Demokratieprinzip wurzeln,61 sind sie nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts allerdings auch auf andere staatliche Wahlen in den Ländern und Kommunen sowie auf andere Wahlen anzuwenden.62 Danach wäre eine unmittelbare Anwendung von Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG auf das EU-RefG ausgeschlossen, da das EU-RefG keine Wahl ist. Andererseits sollen, so eine Auffassung, die Wahlrechtsgrundsätze auch auf Abstimmungen im Sinne von Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG angewendet werden.63 Als direktdemokratisches Minus käme dann die jedenfalls entsprechende Anwendung auch auf Volksbefragungen – wie hier im Falle des EU-RefG – in Betracht. Für eine Prüfung am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG spricht andererseits, dass die formale Rigidität der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl64 als Grundsatz auch im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes berücksichtigt werden kann.65 So misst das Bundesverfassungsgericht die Wahlen zum Europäischen Parlament nicht an Art. 38 GG, sondern an Art. 3 GG.66 Außerdem würde in Rechnung gestellt, dass die Grundsätze, die zur Wahl zum Deutschen Bundestag gelten, nicht unbesehen auf andere Verfahren übertragen werden sollten.67 Die nötige Flexibilität und Berücksichtigung der Eigenheiten konsultativer Referenden erhält Art. 3 Abs. 1 GG. Da somit mehr für eine Anwendung von Art. 3 Abs. 1 GG spricht, ist das EU-RefG am allgemeinen Gleichheitssatz zu messen.68 b) Allgemeinheit des Referendums Als Maßstab bildet Art. 3 Abs. 1 GG den Ausgangspunkt mit dem Grundsatz, dass gleiche Sachverhalte nicht ohne sachliche Rechtfertigung ungleich behandelt werden dürfen69. aa) Ungleichbehandlung bzw. Einschränkung der Allgemeinheit des Referendums Als Vergleichsgruppen können hier zum einen die im Rahmen des EU-RefG zur Abstimmung berechtigten Deutschen bzw. die zur Abstimmung berechtigten Auslandsdeutschen70 (die weniger als 15 Jahre außerhalb Deutschlands leben) und zum anderen die von der Abstimmung ausgeschlossenen Auslandsdeutschen, die zum Zeitpunkt des Referendums mehr als 15 Jahre außerhalb Deutschlands leben, herangezogen werden. Sie werden durch die jeweils erteilte bzw. nicht erteilte Berechtigung zur Teilnahme am Referendum ungleich behandelt. Selbst wenn man das Allgemeinheitspostulat aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG für den Fall einer Volksbefragung entsprechend anwendet, lässt sich ein Eingriff bejahen. Nicht alle grds. zum Wahlvolk gehörenden Deutschen dürfen am EU-Referendum teilnehmen. Eine Referendumsallgemeinheit ist somit nicht gegeben. bb) Zwingender Einschränkungsgrund Zu prüfen ist nun, inwiefern die Einschränkung der Referendumsallgemeinheit gerechtfertigt werden kann. Wegen der sachlichen Parallelität zu einer Wahl bzw. Abstimmung sind die Prinzipien des Wahlrechtsgrundsatzes der Allgemeinheit der Wahl auf das konsultative Referendum des EU-RefG bzw. im Rahmen der Prüfung von Art. 3 Abs. 1 GG zu übertragen.71 65 60 BVerfGE 99, 1 (13). BVerfGE 134, 25 (30). 62 BVerfGE 47, 253 (276 f.). 63 Sachs (Fn. 29), Art. 20 Rn. 34. Nach einer älteren Rechtsprechung des BVerfG (BVerfGE 13, 54 [91 f.]; 28, 220 [224]) sind die Wahlrechtsgrundsätze rügbar bei Abstimmungen nach Art. 29 GG. Hier kommt es darauf an, ob Abstimmungen nach Art. 29 GG zu den Abstimmungen des Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG gehören. 64 BVerfGE 129, 300 (319). 61 Siehe auch Osterloh/Nußberger, in: Sachs (Fn. 5), Art. 3 Rn. 63, für Verfahren außerhalb von Art. 38 und 28 Abs. 1 S. 2 GG. 66 BVerfGE 129, 300 (317). 67 BVerfGE 41, 1 (12) zu Richterwahlen. 68 Allerdings ist auch die Anwendung von Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG analog (!) vertretbar. 69 Eine Pflicht zur Einräumung aller staatsbürgerlichen Rechte besteht hingegen nicht, BVerfG, NJW 1991, 689 (690). 70 Vgl. etwas anders gelagert BVerfGE 132, 39 (51). 71 BVerfGE 129, 300 (317): „Ausprägung als Gebot formaler Wahlgleichheit“. Wer die Grundsätze von Art. 38 Abs. 1 GG nicht auf Art. 3 Abs. 1 GG überträgt, hat in den gewohnten _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 80 Hausarbeit: „Deutschland zuerst“ Danach besteht zwar kein prinzipielles Differenzierungsverbot; allerdings darf der Gesetzgeber wegen des formalen Charakters des Grundsatzes die Allgemeinheit des Referendums nur aus zwingenden sachlichen Gründen einschränken.72 Dem Gesetzgeber kommt dabei ein gewisser Spielraum zu. So ist es dem Gesetzgeber nicht verwehrt, realitätsgerecht Typisierungen ausgeschlossener wie eingeschlossener Gruppen vorzunehmen.73 Dabei ist freilich wegen der „Strenge demokratischer Egalität“74 ein strikter verfassungsrechtlicher Maßstab anzulegen, sodass dem Gesetzgeber nur „ein eng bemessener Spielraum für Beschränkungen“ zur Verfügung steht.75 Der Rechtfertigungsgrund muss Anhalt in der Verfassung haben und von gleichem Gewicht wie die Allgemeinheit der Wahl bzw. des Referendums sein.76 Für zulässig ist bspw. die Bestimmung eines Wahlalters befunden worden.77 Hingegen ist ein Ausschluss bestimmter Bevölkerungsgruppen von der Ausübung des Wahlrechts – und dementsprechend von der Teilnahme an einem Referendum – aus politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Gründen verfassungswidrig.78 Die Ausgestaltung der Wahl bzw. hier des Referendums ist trotz Eignung dann verfassungswidrig, wenn sie zur Erreichung eines grds. verfassungsrechtlich legitimen Ziels nicht geeignet ist oder das Maß des zur Erreichung dieses Zieles Erforderlichen überschritten hat.79 (1) Legitimer Einschränkungsgrund Der Eingriff durch das EU-RefG muss sich zunächst auf einen verfassungsfundierten Einschränkungsgrund stützen können. Ob die Tradition des Sesshaftigkeitskriteriums für sich als Voraussetzung für die Ausübung des (aktiven) Wahlrechts als sachlicher Grund noch genügt,80 mag mit gutem Grund be- Strukturen von Art. 3 Abs. 1 GG zu prüfen (d.h. Ungleichbehandlung und verfassungsrechtliche Rechtfertigung). In der Rechtfertigung sind zunächst verbotene Differenzierungskriterien nach Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG zu prüfen; danach ist zentral die sog. neue Formel des BVerfG anzulegen. In dieser gleichheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung können alle Punkte, die im Rahmen von Art. 38 Abs. 1 GG relevant werden, angesprochen werden. Allerdings sollte von den Bearbeitern erkannt werden, dass sich die verfassungsrechtliche Bedeutung der demokratischen Prozedur der Volksbefragung in gegenüber dem klassischen Gleichheitsmaßstab strengeren Anforderungen niederschlagen muss; vgl. auch BVerfGE 129, 300 (319). 72 BVerfGE 132, 39 (47 f.) 73 BVerfGE 132, 39 (49). 74 BVerfGE 132, 39 (56). 75 BVerfGE 132, 39 (48). 76 BVerfGE 132, 39, (48). 77 BVerfGE 36, 139 (142); 42, 312 (341). 78 BVerfGE 15, 165 (166 f.). 79 Siehe BVerfGE 132, 39 (48). 80 Siehe BVerfGE 36, 139 (141). ÖFFENTLICHES RECHT zweifelt werden.81 Dass einem Sesshaftigkeitskriterium „keine grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken“82 entgegenstehen, bedarf daher einer selbständigen sachlichen Abstützung. Als Grund für Einschränkungen der Allgemeinheit des Referendums kommt vor allem die Sicherung der sog. Kommunikationsfunktion (der Wahl bzw.) des Referendums in Betracht. Danach kann ein Ausschluss vom aktiven Referendumsrecht in Betracht kommen, wenn eine Personengruppe nicht im hinreichenden Maße am Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorganen teilnehmen kann.83 Damit eng verknüpft ist die Verbundenheit mit den politischen Verhältnissen als legitimes Ziel einer Wahlrechtsausgestaltung angesehen worden.84 Es ist nachvollziehbar, dass eine gewisse Mindestaufenthaltsdauer für die Vertrautheit mit deutschen Verhältnissen erforderlich ist, wobei es sich um eine Voraussetzung für lebendige Demokratie handelt.85 Wegen der deutschrechtlichen Tradition des ius sanguinis (§ 4 Abs. 1 S. 1 StAG), d.h. der automatischen Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit ohne Ansehen des Lebensmittelpunktes der Eltern, ist es nicht selbstverständlich, dass im Ausland Lebende deutscher Staatsangehörigkeit mit den politischen Entwicklungen in Deutschland hinreichend vertraut sind.86 Wenn die Bundesregierung somit (1) auf ein ausreichendes Maß an Verbundenheit mit den nationalen Angelegenheiten, (2) auf Unterschiede hinsichtlich der Betroffenheit durch deutsche Hoheitsakte, (3) das Fehlen einer Korrelation von Rechten und Pflichten sowie (4) potentielle Interessen- oder Loyalitätskonflikte87 hinweist, kann sie sich somit auf einen in der Rechtsprechung des Bundeverfassungsgerichts angelegten sachlichen Rechtfertigungsgrund stützen, der in Art. 20 Abs. 1 und 2 GG bzw. im Demokratieprinzip des Grundgesetzes einen Anhalt findet. Alle angeführten konkreten Regelungszwecke weisen eine hinreichende Nähe zur Sicherung der Kommunikationsfunktion des Referendums auf. Dieser verfassungsrechtlich fundierte Grund ist der Allgemeinheit des Referendums zumindest gleichwertig. In der hinreichenden Verbundenheit mit nationalen Angelegenheiten ist im Übrigen keine Differenzierung aus rein politischen Gründen zu sehen – niemand wird wegen politischer Auffassungen, sondern wegen der unterschiedlich nahen Beziehung zum deutschen politischen (demokratischen) Prozess unterschiedlich behandelt. 81 Trute, in: v. Münch/Kunig, Kommentar zum GG, 6. Aufl. 2012, Art. 38 Rn. 23. Versteckte Kritik bei BVerfGE 132, 39/60 (70) – abweichende Meinung Lübbe-Wolff. 82 So noch BVerfGE 36, 139 (142). 83 BVerfGE 132, 39 (51). 84 Mittelbar BVerfGE 5, 2 (6); 36, 139, (143). Zweifel an der Eignung und Verallgemeinerungsfähigkeit bei Trute (Fn. 81), Art. 38 Rn. 23. 85 BVerfGE 132, 39 (54). 86 BVerfGE 132, 39 (54). 87 Explizit letzteres offengelassen in BVerfGE 132, 39 (52). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 81 ÜBUNGSFÄLLE Stefan Martini (2) Eignung Die Ausgestaltung in § 2 Abs. 2 EU-RefG muss auch geeignet sein, das in Bezug genommene legitime Ziel zu erreichen. Zunächst ist die Eignung für den Regelungszweck zu untersuchen, dass § 2 Abs. 2 EU-RefG Interessen- und Loyalitätskonflikten vorbeuge (4). Die Wahrscheinlichkeit einer Doppelwahl ist zwar nicht von vornherein fernliegend, soweit auch in anderen Staaten der Europäischen Union Referenden über einen EU-Austritt abgehalten werden. Eine Eignung erscheint hier allerdings zweifelhaft, weil nicht einsichtig ist, warum man nicht von mehreren Rechtsordnungen – gerade in EU-Angelegenheiten – in einem hinreichenden Maß betroffen sein kann, um zum einen an kollektiven Entscheidungen teilzuhaben (siehe z.B. Art 28 Abs. 1 S. 2 GG, Art. 22 AEUV) und zum anderen zu gegenwärtigen, dass die eigene Abstimmungsentscheidung Auswirkungen für und in mehrere/n EU-Staaten haben kann. Interessenkonflikten kann dann durch einen einseitigen Ausschluss von der Abstimmungsberechtigung nicht vorgebeugt werden. Soweit die Bundesregierung darauf abstellt, dass nur diejenigen am konsultativen Referendum teilnehmen können sollen, bei denen eine hinreichende Verbundenheit mit nationalen Angelegenheiten (1) sichergestellt ist, ist eine Eignung ebenfalls nicht gegeben. Über z.B. digitale Informations- und Kommunikationskanäle kann nämlich eine Verbundenheit selbst ohne Sesshaftigkeit in Deutschland langfristig gewährleistet werden. Allerdings geht es dem Gesetzgeber nicht allein um die Sicherung der fortbestehenden politischen Verbundenheit mit dem deutschen Staatswesen oder der Verhinderung von Interessenkonflikten. Er beruft sich daneben selbständig auf die Sicherung der Kongruenz von demokratischer Betroffenheit und Mitspracherecht (2, 3). Den grundsätzlichen, wenngleich eng bemessenen Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers Rechnung tragend, ist es dabei nicht von der Hand zu weisen, dass der Ausschluss in § 2 Abs. 2 EU-RefG die Kongruenz von „formelle(r) Zugehörigkeit […] und materielle(r) Betroffenheit von der Staatsgewalt“88 fördert. Die Regelung, an die generelle Betroffenheit von deutschen Hoheitsakten anknüpfend, wirkt dem Effekt entgegen, dass sich kollektive Selbstbestimmung zu Fremdbestimmung wandelt, wenn jemand über fremde Angelegenheiten (mit-)befindet. Der Regelung kommt mithin ein auch-demokratiefördernder Charakter zu.89 Dass der Gesetzgeber die Grenze des Verlusts der Referendenfähigkeit bei einer Abwesenheit von 15 Jahren zieht, bewegt sich innerhalb seines Typisierungsspielraums; eine evidente Überschreitung dieses Spielraums ist nicht zu erkennen. Jedenfalls kann nach 15 Jahren nicht mehr von einem nur vorübergehenden Leben außerhalb Deutschlands gesprochen werden. 88 BVerfGE 132, 39/60 (66) – abweichende Meinung LübbeWolff. 89 Dieses Ziel ist eng mit der Sicherung der Korrelation von Rechten (z.B. Referendenrecht) und Pflichten (z.B. Steuerpflicht) verbunden; wegen der damit analogen Bewertung erübrigt sich eine tiefere Auseinandersetzung. Eine gewisse Inkonsistenz könnte dem Gesetzgeber vorgeworfen werden, dass es für die Re-Integration in Deutschland ausreichend ist, (ggf. das erste Mal) drei Monate in Deutschland wohnhaft zu sein (siehe § 2 Abs. 3 EU-RefG). Allerdings ist dem Gesetzgeber für die Rückkehrerkonstellation ebenfalls ein Typisierungsspielraum eingeräumt; es ist nicht evident unzulässig, zu vermuten, dass bei einer längeren als dreimonatigen Wohnsitznahme ein noch längerer Aufenthalt wahrscheinlich ist und eine dementsprechende künftige Betroffenheit von deutschen hoheitlichen Entscheidungen anzunehmen ist. Das EU-RefG ist damit jedenfalls geeignet, die Kongruenz von demokratischer Betroffenheit und Mitspracherecht durch Teilnahme am Referendum zu sichern. Es ist jedoch verfassungsrechtlich nicht geeignet, eine hinreichende Verbundenheit mit nationalen Angelegenheiten zu gewährleisten und Interessen- und Loyalitätskonflikten vorzubeugen. Im Folgenden wird daher die Prüfung auf die Verfolgung des Zwecks, die Kongruenz demokratischer Betroffenheit sicherzustellen, beschränkt. (3) Erforderlichkeit Die Regelung darf schließlich nicht über das Maß des zur Erreichung dieses legitimen Ziels Erforderlichen hinausgehen. Bei diesem Prüfungspunkt tritt die Typisierungsermächtigung des Gesetzgebers in Konflikt mit der Einzelfallgerechtigkeit; es ist auszuschließen, dass der Gesetzgeber gewichtige Ausnahmetatbestände übersehen hat. Es fragt sich mithin, ob andere Ausgestaltungen möglich sind, die dem Ziel der Zuordnung demokratischer kollektiver Selbstbestimmung gleich gerecht werden und zugleich die Allgemeinheit des Referendums weniger berühren. Ein Heraufsetzen der zeitlichen Grenze von 15 Jahren stellt die Erforderlichkeit der Regelung allerdings nicht in Frage, da die Festlegung noch in den Typisierungsspielraum des Gesetzgebers fällt. In Betracht hätte ferner eine Ausnahme für Grenzgänger kommen können, d.h. für deutsche Staatsangehörige, die ihren Wohnsitz nah an der deutschen Staatsgrenze haben (hier könnte eine maximale Entfernung gesetzt werden), aber innerhalb Deutschlands arbeiten bzw. sich in Deutschland sozial und/oder politisch engagieren.90 Allerdings ist schwer zu bestimmen, was ein grenznaher Wohnort ist und welches Engagement, welche berufliche Tätigkeit für die Person des Grenzgängers genügen. Es stellten sich bei jeder neuen Typisierung neue Gleichheitsprobleme, die eine gleiche Eignung in Frage stellen.91 Indes liegt eine andere Alternativregelung aus demokratischen Gründen noch näher (die so gut wie alle Grenzgänger erfassen würde), und zwar diejenigen deutschen Aktivbürger am Referendum teilnehmen zu lassen, die unionsrechtliche Freizügigkeitsrechte (Art. 21, 45, 49 AEUV) in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union in Anspruch nehmen.92 90 Dies wird in BVerfGE 132, 39 (57) nahe gelegt. Ähnlich BVerfGE 132, 39/60 (69) – abweichende Meinung Lübbe-Wolff. 92 Vgl. auch BVerfGE 58, 202 (205). 91 _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 82 Hausarbeit: „Deutschland zuerst“ ÖFFENTLICHES RECHT Bei diesen Staatsbürgern greift das Argument der Fremdbestimmung nämlich nicht. Nehmen sie am Referendum teil, stimmen sie sehr wohl über eigene Angelegenheiten ab, nämlich darüber, ob ihnen die EU-Freizügigkeitsrechte verlustig gehen, da diese vom Vorliegen ihrer Unionsbürgerschaft abhängig sind, die wiederum nur Angehörigen eines EUMitgliedstaats zusteht (siehe Art. 20 Abs. 1 S. 2 AEUV). Wegen der Gewichtigkeit der Konsequenzen des Referendums für auch im EU-Ausland lebende Deutsche und der Betroffenheit einer nicht unerheblichen Zahl von Aktivbürgern93 ist der Typisierungsspielraum des Gesetzgebers in diesem Fall überschritten. § 2 Abs. 2 EU-RefG ist somit nicht zwingend erforderlich und damit wegen Verstoßes gegen den aus Art. 3 Abs. 1 GG fließenden Grundsatzes der Allgemeinheit von Referenden verfassungswidrig. Aus der Besonderheit konsultativer Referenden folgt nichts anderes und auch nicht eine Erleichterung des verfassungsrechtlichen Maßstabs gegenüber dem Gesetzgeber.94 III. Zwischenergebnis Der Antrag der Landesregierung B ist teilweise im Umfang der Verfassungswidrigkeit und Nichtigkeit (siehe § 78 S. 1 BVerfGG) von § 2 Abs. 2 EU-RefG begründet. C. Ergebnis Der Antrag der O-Fraktion ist bereits unzulässig. Der Antrag der Landesregierung B ist zulässig und wegen der Nichtigkeit von § 2 Abs. 2 EU-RefG teilweise begründet. 93 Ca. eine Million, siehe BVerfGE 132, 39 (43). Wer die Erforderlichkeit der Regelung nicht an der Nichterfassung Deutscher im EU-Ausland scheitern lässt, hat sich ggf. – soweit nicht bei der Eignung abgelehnt – kurz mit potentiellen Interessenkonflikten auseinanderzusetzen. Das verfassungsrechtliche Gewicht einer klaren Zuordnung von Loyalitäten und Interessen erscheint jedenfalls leichter als das der Sicherung demokratischer Selbstbestimmung. Es spricht im Übrigen einiges dafür, soweit die Berücksichtigung von gewichtigen Ausnahmetatbeständen abgelehnt wird, die zwingende Erforderlichkeit der Regelung anzunehmen. Insbesondere ist durch die Rückkehrerklausel sichergestellt, Übergangskonstellationen der Re-Integration deutscher Staatsbürger zu erfassen. Die Regelung des § 2 Abs. 3 EURefG dämpft damit den Eingriff in die Referendenallgemeinheit. 94 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 83 Übungsfall: Jacqueline und der Fluch der Damenhandtasche Von Diplom-Jurist Sascha Sebastian, M.mel., Diplom-Jurist Henning T. Lorenz, Halle (Saale)* Der Fall wurde an der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg im Sommersemester 2016 als Anfängerhausarbeit gestellt. Er richtet sich damit an Studierende des 2. und 4. Semesters. Neben einer Auseinandersetzung mit den Problemen des Falles kam es vor Allem auf eine gute Schwerpunktsetzung und eine effektive Argumentationsweise an. Sachverhalt Jacqueline (J) ist Auszubildende im örtlichen Seniorenheim. Ihre Passion sind jedoch Schmink-Videos auf YouTube, wo sie unter dem Handle „SweetJacky93“ die neuesten Trends aus der Welt des Makeups vorstellt. Leider handelt es sich hierbei um ein teures Hobby und „SweetJacky93“ ist nicht bekannt genug, um die Produkte gesponsert zu bekommen. J hält daher stets Ausschau nach kreativen Möglichkeiten, um Geld zu „verdienen“: Da es Besuchern des Seniorenheims verboten ist, Taschen oder Rucksäcke mit auf die Zimmer der Bewohner zu nehmen, gibt es eine Reihe von Schließfächern im Eingangsbereich. Dort erblickt J die einfältige Emma (E) und deren umwerfende Louis Vuitton Neverfull Handtasche, deren Inhalt ihrem hochwertigen Äußeren vermutlich in nichts nachsteht. J stellt sich der E – zutreffend – als Angestellte des Seniorenheims vor und bietet ihr an, die Tasche für sie sicher einzuschließen. E stimmt zu und übergibt die Tasche an J, von der sie sodann sicher in einem der Schließfächer verstaut wird. Was E nicht weiß: J hatte zuvor bereits ein anderes Schließfach verschlossen, ohne etwas darin zu lagern und somit bereits einen Schließfachschlüssel in ihrem Besitz. Es ist dieser Schlüssel, welchen J sodann der E überreicht. Den Schlüssel zum Schließfach mit der Tasche behält sie zunächst. Ca. eine Stunde vor Ende der Besuchszeit – wenn das Foyer des Seniorenheims erfahrungsgemäß am ruhigsten ist – nutzt J einen scheinbar unbeobachteten Moment dazu, die Tasche aus dem Schließfach zu holen und sich plangemäß auf den Weg nach draußen zu machen. Unmittelbar vor dem Eingang zum Seniorenheim wird J vom Wachmann Warnfried (W) angesprochen. Er teilt ihr mit, dass er „alles gesehen“ habe und ihr gern – freilich gegen einen Anteil an der Beute – helfen möchte, unerkannt zu entkommen. Er informiert sie außerdem, dass der Parkplatz vor dem Hauptgebäude videoüberwacht sei, weswegen J im Nachhinein leicht ausgemacht werden könne. Die beiden verabreden daher, dass W das Diebesgut in seinem – unmittelbar vor dem Eingang geparkten – Fiat Panda verstauen * Der Autor Sebastian ist Wiss. Mitarbeiter im durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Drittmittelprojekt „Prävention von Kapitalmarktdelikten und Risiken der Geldwäsche“ am Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht (Prof. Dr. Christian Schröder). Der Autor Lorenz ist Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Medizinrecht (Prof. Dr. Henning Rosenau) und Repetitor für das Juristische Repetitorium hemmer. wird, bis „Gras über die Sache gewachsen ist“. Der Inhalt der Tasche soll zu einem späteren Zeitpunkt gleichmäßig aufgeteilt werden. J stimmt dem zu. Während W sodann die Tasche in den Kofferraum seines Autos bugsiert, um später damit heimfahren zu können, begibt sich J auf den Weg zur nahegelegenen U-Bahn-Haltestelle. Dort angekommen, bemerkt J, dass sie gar kein Geld bei sich hat. Da Kontrollen auf dieser Linie aber ohnehin die Ausnahme und die Wagons auch nicht videoüberwacht sind, beschließt sie kurzerhand „schwarzzufahren“. Gleich an der nächsten Haltestelle muss J jedoch beobachten, wie drei Kontrolleure in den vorderen Teil des Waggons einsteigen. Sie entscheidet sich daher, noch schnell aus der hinteren der drei Waggontüren zu verschwinden. Dies alles wird vom bulligen Bobfried (B) bemerkt, dessen mangelnde Intelligenz mit einem starken Gerechtigkeitsempfinden einhergeht. Der passionierte Hobbyjurist meint, dass das Handeln der J zwar nicht strafbar sei und er auch keine Zuständigkeit für das Eintreiben des „erhöhten Beförderungsentgeltes“ habe. Auf der anderen Seite könne es aber auch nicht sein, dass sich „richtig“ und „falsch“ allein nach den Buchstaben des Gesetzes richten. Nach einem kurzen inneren Monolog ergreift er daher die J und teilt ihr mit, dass die anderen Fahrgäste ein Ticket gelöst haben und sie sich „nicht so anstellen“ solle. Als J daraufhin versucht, sich durch Tritte gegen den Unterleib des B zu befreien, tritt er ihr mit den Worten „wer nicht hören will, muss humpeln!“ so hart gegen das linke Knie, dass sie zu Boden fällt und später nur mit Hilfe des verständigten Krankenwagens nach Hause gelangt. Dauerhafte Verletzungen trägt J zwar nicht davon, allerdings hofft sie, die nun fälligen 60 € aus der Tatbeute entrichten zu können. Es kommt ihr daher durchaus Recht, dass sie noch am selben Abend einen Anruf von W erhält. Weniger erfreut ist sie jedoch, als dieser ihr mitteilt, dass er doch noch nicht „alles gesehen“ habe und sie auffordert, am nächsten Abend Geschlechtsverkehr mit ihm zu haben. Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, weist W die J darauf hin, dass das Foyer des Seniorenheims videoüberwacht sei und er die entsprechende Datei, verbunden mit einer Strafanzeige, bereits an die örtliche Polizeiwache weitergeleitet habe. Allerdings kenne er den zuständigen Wachtmeister, sodass es kein Problem wäre, das Ganze unter den metaphorischen Tisch fallen zu lassen. J ist angewidert, kommt der Aufforderung aber nach, um ein Auffliegen der Tat zu verhindern. Beim anschließenden Aufteilen der Beute stellen J und W entsetzt fest, dass es sich bei der Handtasche der E um eine wertlose Imitation handelt und sich darin lediglich ein hartgekochtes Ei und ein Mettwurstbrötchen befinden. Aufgabe Wie haben sich J, W und B nach dem StGB strafbar gemacht? _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 84 Übungsfall: Jaqueline und der Fluch der Damenhandtasche Bearbeitervermerk Eventuell erforderliche Strafanträge sind gestellt. § 240 Abs. 4 StGB ist nicht zu prüfen. Es ist auf alle Rechtsprobleme des Falles – gegebenenfalls in einem Hilfsgutachten – einzugehen. STRAFRECHT Lösungsvorschlag 1. Tatkomplex: „Taschenspielertrick“ A. Strafbarkeit der J I. Wegen § 263 Abs. 1 StGB (Betrug) J könnte sich gemäß § 263 Abs. 1 StGB eines eigennützigen Betruges gegenüber und zu Lasten der E schuldig gemacht haben, indem sie sich den Schlüssel von E herausgeben lies. Gewahrsam nicht vollständig und unmittelbar auf J übertragen; also über ihren Gewahrsam verfügen.4 Sie willigte lediglich in eine Gewahrsamslockerung ein, sodass für einen Gewahrsamsbruch – also ein Handeln gegen ihren Willen oder ohne ihr Wissen – weiterhin Raum war.5 Durch das Verbringen in ein Schließfach, auf welches allein die J Zugriff hatte und deren Inhalt daher ihrer Herrschaftssphäre zuzuordnen war, begründete diese neuen, eigenen Gewahrsam an der Sache. Die E wusste nicht, dass die Tasche in ein Schließfach verbracht werden würde, auf welches sie keinen Zugriff hat. Der Gewahrsamswechsel geschah daher ohne das Einverständnis der Berechtigten, also im Wege des Bruches.6 Der objektive Tatbestand ist mithin erfüllt. 1. Objektiver Tatbestand Eine Täuschung ist eine vom Opfer wahrnehmbare – ausdrückliche oder konkludente – unwahre Tatsachenbehauptung.1 In Betracht kommt zunächst eine ausdrücklich Täuschung durch die Aussage, beim Verstauen der Tasche helfen zu wollen. Allerdings war diese Tatsachenbehauptung zutreffend. In dieser Aussage ist auch keine konkludente Erklärung darüber zu erblicken, dass die E später auch den richtigen Schlüssel erhalten werde, denn diese musste sich darüber zu diesem Zeitpunkt noch keine Gedanken machen. Bei der Herausgabe der Tasche wurde E von J mithin nicht getäuscht. 2. Subjektiver Tatbestand a) Vorsatz Vorsatz ist der Wille zur Verwirklichung eines Straftatbestandes in Kenntnis all seiner objektiven Umstände.7 J war sich bewusst darüber, dass die Tasche und deren Inhalt nicht in ihrem Eigentum standen. Um jedoch selbst daran gelangen zu können, wollte sie beides aus dem Herrschaftsbereich der E entfernen. Da die Werthaltigkeit der (fremden beweglichen) Sache(n) kein Umstand ist, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört, hat es zudem keinen Einfluss auf den Vorsatz der J, dass sie sich über den Inhalt und den Wert der Tasche irrte. Es handelt sich im Hinblick auf § 16 Abs. 1 S. 1 2. Zwischenergebnis J hat sich mangels Täuschung der E keines Betruges schuldig gemacht. 4 II. Wegen § 242 Abs. 1 StGB (Diebstahl) J könnte sich eines Diebstahls nach § 242 Abs. 1 i.V.m. § 243 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 StGB schuldig gemacht haben, indem sie die Handtasche der E in einem Schließfach verstaute, auf deren Schlüssel nur sie Zugriff hatte. 1. Objektiver Tatbestand Die Handtasche und deren Inhalt waren für J fremde bewegliche Sachen. Wegnahme ist der Bruch fremden und die Begründung neuen Gewahrsams,2 wobei unter Gewahrsam die sozialnormative Zuordnung einer Sache zur Herrschaftssphäre einer Person zu verstehen ist.3 Fremder Gewahrsam – solcher der E – bestand zunächst, als E die Tasche bei sich trug und damit die ihr zugeordnete Sachherrschaft, sogar unmittelbar, ausübte. Die Übergabe der Tasche an J änderte hieran zunächst nichts, denn E wollte den 1 Vgl. Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 64. Aufl. 2017, § 263 Rn. 14; Pawlik, StV 2003, 297. 2 Heinrich, in: Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht, Besonderer Teil, 3. Aufl. 2015, § 13 Rn. 37 m.w.N. 3 Schmidt/Priebe, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 16. Aufl. 2016, Rn. 34; Wessels/Hillenkamp, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 38. Aufl. 2015, Rn. 82 ff. So die h.M. BGHSt 41, 198; Cramer/Perron, in: Schönke/ Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl. 2014, § 263 Rn. 60; Fischer (Fn. 1), § 263 Rn. 74; Küper/Zopfs, Strafrecht, Besonderer Teil, 9. Aufl. 2015, S. 402; Wessels/Hillenkamp (Rn. 3), Rn. 518; Saliger, in: Matt/ Renzikowski (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar, 2013, § 263 Rn. 124. Gegen das Erfordernis eines Verfügungsbewusstseins Tiedemann, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 9/1, 12. Aufl. 2012, § 263 Rn. 118; Kindhäuser, in: Kindhäuser/ Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 3, 4. Aufl. 2013, § 263 Rn. 223. 5 Rengier, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1, 18. Aufl. 2016, § 13 Rn. 67, 69; Saliger (Fn. 4), § 263 Rn. 119 m.w.N. 6 Vgl. Eisele, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 3. Aufl. 2015, Rn. 26; Krey/Hellmann/Heinrich, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 17. Aufl. 2015, Rn. 31 f. m.w.N. 7 BGHSt 36, 1 (10); Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 45. Aufl. 2015, Rn. 203; Zur Herleitung auch Kühl, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2012, § 5 Rn. 6. Aufgrund ihrer mangelnden Subsumierbarkeit sowie der begrifflichen Ungenauigkeit sollte jedenfalls die „Kurzformel“ vom „Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung“ vermieden werden! (Hierzu Hruschka, Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, S. 436; Freund, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 2008, § 7 Rn. 41 und Sternberg-Lieben/Sternberg-Lieben, JuS 2012, 884). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 85 ÜBUNGSFÄLLE Sascha Sebastian/Henning T. Lorenz StGB daher um einen unbeachtlichen Motivirrtum (sog. „error in objecto“).8 b) Absicht rechtswidriger Zueignung Mit Zueignungsabsicht handelt derjenige, der sich an einer fremden Sache eine eigentümerähnliche Herrschaftsmacht anmaßt, indem er die Sache selbst oder den in ihr verkörperten Sachwert dem eigenen Vermögen oder dem Vermögen eines Dritten zumindest vorübergehend einverleiben (= Aneignung) und den Eigentümer dauerhaft aus dessen Eigentümerposition verdrängen (= Enteignung) will.9 Für die Aneignung ist Absicht erforderlich, für die Enteignung bereits dolus eventualis ausreichend.10 Im Hinblick auf das Vorstellungsbild der J muss jedoch differenziert werden: aa) Absicht hinsichtlich der Zueignung der Tasche Ihr kam es gerade (auch) darauf an, die Tasche, welche sie für eine wertvolle Designerhandtasche hielt, zu erlangen. Dass sie sich hierbei über den Wert der Tasche irrte, ist auch hier unbeachtlich. Zwar wird es durchaus unterschiedlich beurteilt, inwiefern der Wert des Tatobjektes eine Rolle im Rahmen der Zueignungsabsicht spielt (dazu sogleich), allerdings kommt es hierauf nicht an, wenn die Sache jedenfalls vorübergehend als Transportmittel für einen darin vermuteten Inhalt genutzt werden soll.11 Gerade diese ausschließliche Nutzung der Sache ist eine allein dem Eigentümer zustehende Befugnis, welche sich J hier anmaßte. Dies erfolgte zudem unter Inkaufnahme der dauerhaften Verdrängung der E aus ihrer Eigentümerposition. Ferner hatte J keinen fälligen und einredefreien Anspruch auf die Tasche und wusste dies, weshalb sie in der Absicht rechtswidriger12 Zueignung handelte. 8 Wessels/Hillenkamp (Fn. 3), Rn. 138 m.w.N.; zur Notwendigkeit der Prüfung auch des Inhaltes vgl. Küper/Zopfs (Fn. 4), S. 505. 9 Kretschmer, in: Hoffmann-Holland (Hrsg.), Strafrecht, Besonderer Teil, 2015, Rn. 791; Wessels/Hillenkamp (Fn. 3), Rn. 150. 10 Eisele (Fn. 6), Rn. 69, 78. 11 Hierzu LG Düsseldorf NStZ 2008, 155 (156); Kindhäuser, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 9. Aufl. 2016, § 2 Rn. 101. Der BGH (etwa BGH, Beschl. v. 8.9.2009 – 4 StR 354/09) schließt hingegen von dem Nachtatverhalten, namentlich dem Wegwerfen eines Transportbehältnisses, darauf, dass es dem Täter zum Zeitpunkt der Wegnahme nicht um eine Einverleibung in das eigene Vermögen gegangen sein kann und lehnt daher eine Zueignungsabsicht ab. Zutreffend kritisch hierzu Sinn, ZJS 2010, 274 (275), der bei einer nach dem Tatplan notwendigen Nutzung des Behältnisses – wie im vorliegenden Fall – eine Zueignungsabsicht annimmt. Ein bloßer Sachentzug läge hingegen vor, wenn die J sich dem Behältnis hätte sofort entledigen wollen, vgl. Eisele (Fn. 6), Rn. 85 m.w.N. 12 Schmidt, in: Matt/Renzikowski (Fn. 4), § 242 Rn. 36 ff. m.w.N. bb) Absicht hinsichtlich der Zueignung des vermuteten Inhaltes Ob bzw. wie sich die Fehlvorstellung der J über den Wert des Inhaltes der Tasche auf eine mögliche Zueignungsabsicht auswirkt, ist indes zu diskutieren. (1) Für eine Beachtlichkeit des Irrtums scheint zunächst die Tatsache zu sprechen, dass Gegenstand der Zueignung nicht nur die Substanz der Sache selbst, sondern auch ein dieser innewohnender Wert sein kann (s.o.). Insofern leuchtet es prima facie ein, den Wert des Zueignungsgegenstandes bei der Beurteilung des Vorliegens der entsprechenden Absicht jedenfalls zu berücksichtigen. Das wirft jedoch die Frage auf, ob der tatsächlich erlangte Gegenstand lediglich (irgend)ein werthaltiger Gebrauchsgegenstand13 sein muss, welchen der Täter seinerseits benutzen, veräußern oder weitergegeben kann oder ob er – in den Augen des Täters – tatsächlich „etwas Wertvolles“ 14 sein muss. Die von J erbeuteten Lebensmittel mögen keinen hohen Wert haben, können von ihr aber grundsätzlich verwertet bzw. verbraucht werden. „Wertvoll“ sind sie in ihren Augen freilich nicht. Es wäre demnach notwendig, zu beurteilen, ob es J bei ihrem Handeln um den Erwerb von etwas Wertvollem oder etwas Verwertbarem ging. (2) Bei genauerer Betrachtung liegt jedoch beiden Auslegungsmöglichkeiten ein falsches Verständnis des Unterschiedes von erfolgsbezogenem Wegnahmevorsatz und der Zueignungsabsicht als überschießender Innentendenz zugrunde.15 Während ersterer nämlich auf das reale (Tat-)Objekt gerichtet sein muss, kommt es für letztere allein auf die Vorstellung des Täters zum Zeitpunkt der Wegnahme an. Das wird deutlich, wenn man bedenkt, dass es für den Diebstahl unerheblich ist, wenn die Zueignung scheitert oder der Täter später seine Meinung über den weggenommenen Gegenstand ändert. Diese Interpretation der Zueignungsabsicht hat zudem den Vorteil, dass sie die gesetzlich vorgesehene Parallelität des Diebstahls und des Betruges beibehält, bei dem es nämlich – für die Bereicherungsabsicht – keine Rolle spielt, ob sich der Täuschende über den Wert des Verfügungsgegenstandes irrt.16 Die Fehlvorstellung der J ist dementsprechend unbeachtlich. Sie wollte sich auch den Inhalt der Tasche zueignen. Hinweis: Die andere Auffassung war mit entsprechenden Argumenten genauso gut vertretbar. Dann war der subjektive Tatbestand nur hinsichtlich der Tasche erfüllt. c) Zwischenergebnis Sowohl bzgl. der Tasche als auch des Inhalts ist der subjektive Tatbestand erfüllt. 13 Vgl. die Darstellung bei OLG Düsseldorf 2008, 155 (156). BGH NStZ 2006, 686 f.; Sinn, ZJS 2010, 274 ff.; Schmitz, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 5, 2. Aufl. 2014, § 263 Rn. 170. 15 OLG Düsseldorf 2008, 155; so auch Böse, GA 2010, 249. 16 Vgl. OLG Düsseldorf NStZ 2008, 155, allerdings zur Bereicherungsabsicht bei der räuberischen Erpressung. 14 _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 86 Übungsfall: Jaqueline und der Fluch der Damenhandtasche 3. Rechtswidrigkeit und Schuld J handelte rechtswidrig und schuldhaft. 4. Strafzumessung Man kann darüber nachdenken, ob das Schließfach eine besondere Wegnahmesicherung im Sinne von § 243 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 StGB ist. Allerdings wurde der Gewahrsam an der Tasche gerade durch das Einschließen in das Schließfach gebrochen, sodass die Sache zum Zeitpunkt der Sicherung bereits weggenommen war. Eine Auseinandersetzung mit der Frage, wie sich der Irrtum im Hinblick auf § 243 Abs. 2 StGB auswirkt, ist daher entbehrlich.17 5. Zwischenergebnis J hat sich eines Diebstahls an der Tasche sowie deren Inhalts schuldig gemacht. Da es sich dabei um geringwertige Sachen handelt,18 ist von der E ein Strafantrag zu stellen (§§ 248a, 77 Abs. 1 StGB). Der Irrtum der J über den Wert der Sachen ist insofern unbeachtlich, weil der Vorsatz des Täters sich nicht auf die Strafverfolgungsvoraussetzungen erstrecken muss.19 III. Wegen § 263 Abs. 1 StGB ([Sicherungs-]Betrug) J könnte sich gemäß § 263 Abs. 1 StGB eines eigennützigen (Sicherungs-)Betruges gegenüber und zu Lasten der E schuldig gemacht haben, indem sie dieser den falschen Schlüssel herausgab. 1. Objektiver Tatbestand a) Täuschung Zwar erklärte J bei der Herausgabe des Schlüssels ausdrücklich nichts, allerdings begründete die Vereinbarung zwischen ihr und E bei der Letztgenannten die Erwartung, den Schlüssel zum Schließfach mit der eigenen Handtasche zu erhalten. Die Herausgabe eines Schließfachschlüssels musste von E daher so verstanden werden, dass es sich um den korrekten Schlüssel handele (sog. „Negativtatsache“20). Die Täuschungshandlung der J bestand mithin in der sich aus den Umständen ergebenden (konkludenten) Behauptung, es handele sich um den korrekten Schließfachschlüssel. b) Irrtum Aufgrund der Täuschungshandlung ging E davon aus, den korrekten Schlüssel – nämlich jenen zum Schließfach mit ihrer Tasche – in der Hand zu halten. Ihre subjektive Vorstellung stimmte mithin nicht mit der Wirklichkeit überein.21 E unterlag einem Irrtum. STRAFRECHT c) Vermögensverfügung Unter Vermögensverfügung ist jedes Tun, Dulden oder Unterlassen mit unmittelbar vermögensmindernder Wirkung zu verstehen.22 Da der Gewahrsam an der Tasche zum Zeitpunkt der Tat (vgl. § 8 StGB) bereits gebrochen war, kommt eine – grundsätzlich mögliche23 – Verfügung über denselben nicht (mehr) in Betracht. Da die E dachte, sie erhalte den korrekten Schlüssel, sah sie davon ab, ihren Herausgabeanspruch (§ 985 BGB) gegenüber J geltend zu machen. Die Vermögensverfügung der E besteht mithin in diesem Unterlassen (sog. „Sicherungsbetrug“24). d) Vermögensschaden Das Vermögen der E ist geschädigt, wenn die Saldierung aller Zu- und Abflüsse geldwerter Güter negativ ausfällt.25 Hier verzichtete E täuschungsbedingt auf die Geltendmachung ihres Herausgabeanspruches bezüglich der Tasche und deren Inhalts. Hierfür wurde ihr keinerlei Gegenleistung gewährt, sodass ein insgesamt negativer Saldo und damit ein Vermögensschaden vorliegen. e) Zwischenergebnis Der objektive Tatbestand ist erfüllt. 2. Subjektiver Tatbestand a) Vorsatz J war sich bewusst, dass das Vermögen der E durch den täuschungsbedingten Verzicht auf die Geltendmachung des Anspruches geschädigt werden würde. Zur Sicherung des bereits erlangten Diebesgutes kam es ihr aber gerade hierauf an. b) Absicht rechtswidriger und stoffgleicher Bereicherung Ferner kam es J bei Ihrer Tat auf die eigene finanzielle Besserstellung an, wobei ihr klar war, dass ihr der erlangte Vorteil rechtlich nicht zustand (= rechtswidrige Bereicherung).26 Da Nachteil der E und Vorteil der J zudem auf derselben Verfügung beruhen, besteht zwischen beiden auch Stoffgleichheit.27 3. Rechtswidrigkeit und Schuld Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe sind keine ersichtlich und an der Schuldfähigkeit der J bestehen keine Zweifel. Sie handelte rechtswidrig und schuldhaft. 22 17 Vgl. hierzu Kindhäuser (Fn. 4), § 243 Rn. 55 ff. Zum Geringwertigkeitsbegriff Wessels/Hillenkamp (Fn. 3), Rn. 252 m.w.N. 19 Schmitz (Fn. 14), § 248a Rn. 14 m.w.N. 20 Zum Begriff Saliger (Fn. 4), § 263 Rn. 12 m.w.N. 21 Vgl. Beukelmann, in: v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Beck’scher Online Kommentar, Strafgesetzbuch, Stand: 1.6.2016, § 263 Rn. 23 m.w.N. 18 BGHSt 14, 170 (171); Wessels/Hillenkamp (Fn. 3), Rn. 515; Rengier (Fn. 5), § 13 Rn. 63. 23 Zum Gewahrsam als tauglichen Verfügungsgegenstand beim Betrug vgl. Ast, NStZ 2013, 305 (307 f.) und Sebastian, Jura Studium & Examen (JSE) 2016, 64 (71 f.). 24 Hefendehl, in: Joecks/Miebach (Fn. 14), § 263 Rn. 871 f.; Wessels/Hillenkamp (Fn. 3), Rn. 599 25 Kindhäuser (Fn. 4), § 263 Rn. 248. 26 Saliger (Fn. 4), § 263 Rn. 277 f., 289 f. m.w.N. 27 Fischer (Fn. 1), § 263 Rn. 187 ff. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 87 ÜBUNGSFÄLLE Sascha Sebastian/Henning T. Lorenz 4. Zwischenergebnis J hat sich eines eigennützigen (Sicherungs-)Betruges gegenüber und zu Lasten der E schuldig gemacht. B. Strafbarkeit des W I. Wegen §§ 242 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB (Diebstahl in Mittäterschaft) W könnte sich eines mittäterschaftlich begangenen Diebstahls nach §§ 242 Abs. 1, 25 Abs. 2 schuldig gemacht haben, indem er J bei der Beutesicherung unterstützte. 1. Objektiver Tatbestand W selbst hat die Tasche und deren Inhalt nicht weggenommen, sodass eine Tatbestandsverwirklichung nur in Frage kommt, wenn ihm das Verhalten der J nach § 25 Abs. 2 StGB zugerechnet werden kann. Hierfür wiederum sind ein gemeinsamer Tatplan und die gemeinsame Tatbegehung vonnöten.28 a) Gemeinsamer Tatplan Es ist nicht notwendig, dass ein Tatplan gemeinsam ausgearbeitet wird, vielmehr ist ein – auch stillschweigendes – Beitreten zu einem bestehenden Plan möglich, solange die anderen Mittäter hiermit einverstanden sind.29 W wusste, was J tat und ihm war klar, dass eine Beutesicherung folgen müsse, da andernfalls keiner der beiden in den Genuss des Taterlöses kommen würde. Er trat mithin dem Plan der J bei, womit diese mangels Alternativen auch einverstanden war. b) Gemeinschaftliche Tatbegehung Im Hinblick auf das Erfordernis einer gemeinschaftlichen Tatbegehung erscheint fraglich, ob es zum Zeitpunkt des Eintretens des W überhaupt noch möglich war, Täter des Diebstahls zu werden. Solange noch nicht alle Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes verwirklicht sind (sog. „Vollendungsphase“), ist gegen eine solche „sukzessive Mittäterschaft“ – bezüglich der noch zu verwirklichenden Merkmale – grundsätzlich nichts einzuwenden.30 Allerdings hatte J den neuen (eigenen) Gewahrsam bereits begründet, sodass W „nur“ noch dazu beitragen konnte, die Tat zu einem tatsächlichen Abschluss zu bringen, indem er die Beute für J (und sich selbst) sicherte („sog. Beendigungsphase“).31 28 Zur insoweit h.M. etwa Rengier, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2016, § 44 Rn. 2; Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 2, 8. Aufl. 2014, § 49 Rn. 21 ff.; Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 2, 2003, § 25 Rn. 188 f.; Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 7), Rn. 671 m.w.N. zu abweichenden Auffassungen. 29 Maurach/Gössel/Zipf (Fn. 28), § 49 Rn. 31; Roxin (Fn. 28), § 25 Rn. 192 m.w.N. 30 RGSt 8, 43; BGHSt 2, 345; Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, Kommentar, 28. Aufl. 2014, § 25 Rn. 10. 31 Vgl. zum Unterschied zwischen (normativer) Vollendung und (tatsächlicher) Beendigung der Tat Schmidt, Strafrecht, aa) Beurteilt man die „Gemeinschaftlichkeit“ des Zusammenwirkens am Kriterium der sog. „Tatherrschaft“, so kommt es vor allem auf eine Befugnis bzw. die Fähigkeit zur Steuerung des Ablaufes der Tat an („planvoll lenkende InDen-Händen-Halten des Geschehens“).32 „Gemeinschaftlich“ begangen im Sinne des § 25 Abs. 2 StGB ist eine Tat mithin dann, wenn alle Beteiligten für die „Steuerung“ der Tat gemeinsam („funktional“) verantwortlich sind, wobei diese Verantwortung auch in Form der arbeitsteiligen Begehung auf verschiedene Tätigkeiten im (Gesamt)Tatplan aufgeteilt werden kann.33 Die Möglichkeit einer „sukzessiven“ Mittäterschaft in der Beendigungsphase scheitert hiernach bereits daran, dass ein nach Vollendung Hinzutretender die tatbestandsmäßige Ausführungshandlung, schon begriffslogisch nicht (mehr) (mit-)beherrschen kann.34 Mit anderen Worten: die Sicherung der bereits weggenommenen Beute ist keine Wegnahme im Sinne des § 242 Abs. 1 StGB.35 Es wäre jedoch denkbar, im Rahmen einer sog. „weiten Tatherrschaftslehre“ – welche den Begriff der „Tatherrschaft“ nicht auf die eigentliche Ausführungshandlung beschränkt – auch Tatbeiträge des Mittäters einzubeziehen, welche vor oder (sukzessive) nach der Tatausführung i.e.S. begangen werden.36 Das Argumentationsmuster ähnelt dann jenem der „Normativen Kombinationstheorie“ der Rspr., indem das Kriterium der „Tatherrschaft“ eine (weitere) normative Aufladung erfährt.37 Ohne W wäre die Tat der J wohl sehr schnell aufgeflogen, sodass dessen Beitrag der eigentlichen Tathandlung bei wertender Betrachtung in nichts nachsteht. Hält man dennoch daran fest, dass W die Tat – im Sinne der Verwirklichung des Tatbestandes (§ 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB) – begriffslogisch nicht beherrschen kann, ist er kein Mittäter, jedoch möglicherweise („sukzessiver“) Teilnehmer. bb) Es ist indes auch denkbar, die „Gemeinschaftlichkeit“ des Zusammenwirkens im Wege einer wertenden GesamtAllgemeiner Teil, 16. Aufl. 2016, Rn. 637 f.; Rengier (Fn. 5), § 2 Rn. 195; Wessels/Hillenkamp (Fn. 3), Rn. 131 und Sebastian, Jura 2015, 992 (1002 f.). 32 Im Einzelnen: Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 8. Aufl. 2006, 25 ff. Hierzu auch Jäger, ExamensRepetitorium Strafrecht, Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2015, § 6 Rn. 231 f. 33 Vgl. Schünemann, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 1, 12. Aufl. 2007, § 25 Rn. 7; Roxin (Fn. 28), § 25 Rn. 27 ff.; Sebastian, JSE 2016, 64 (69). 34 Krey/Esser, Deutsches Strafrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2012, Rn. 1198; Kühl (Fn. 7), § 20 Rn. 127 f.; Roxin (Fn. 28), § 25 Rn. 227. 35 Krey/Esser (Fn. 34), Rn. 967 m.w.N. 36 So etwa Hoyer, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, 32. Lfg., Stand: März 2000, § 25 Rn. 119; Kühl (Fn. 7), § 20 Rn. 110 ff. 37 Vgl. bspw. die Darstellung bei Jescheck/Weigend, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, § 63 II. 2., der sukzessive Mittäterschaft auch in der Beendigungsphase zulässt. Ebenfalls eine sukzessive Mittäterschaft für möglich haltend Heine/Weißer, in: Schönke/Schröder (Fn. 4), § 25 Rn. 96. _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 88 Übungsfall: Jaqueline und der Fluch der Damenhandtasche betrachtung zu ermitteln (sog. „Normative Kombinationstheorie“). Hiernach ist anhand des Umfanges der Tatbeteiligung, des Eigeninteresses am Taterfolg und der Tatherrschaft bzw. des Willens hierzu ein objektivierter Täter- oder Teilnehmerwille zu bestimmen.38 Da die (funktionale) „Tatherrschaft“ hier nur eines der relevanten Kriterien ist und ihr Fehlen mithin durch andere Aspekte ausgeglichen werden kann, ist eine sukzessive Mittäterschaft in der Beendigungsphase jedenfalls grundsätzlich möglich.39 Auf den Fall angewendet, kann man daher sagen, dass das „Minus“ des W bei der Tatausführung durch seinen bedeutenden Beitrag bei der Beutesicherung40 und sein erhebliches Eigeninteresse an den Taterlösen kompensiert wird. Hinweis: Es wäre genauso gut möglich, mit der Frage nach der verfassungsrechtlichen Tragfähigkeit der Annahme einer „Beendigungsphase“ beim Diebstahl zu beginnen. Auf die Darstellung der Täterschaftslehren von Rechtsprechung und Lehre käme es dann streng genommen nicht an. Die hier gewählte Darstellung trägt jedoch dem Umstand Rechnung, dass es durchaus Autoren gibt, welche die Unzulässigkeit einer „sukzessiven“ Mittäterschaft (allein) aufgrund der Tatherrschaftslehre ableiten und die dementsprechend kein Problem mit der Existenz einer sukzessiven Beihilfe haben.41 Um dies vollständig darstellen zu können, bedarf es sowohl einer Darstellung von Tatherrschaftslehre und „Normativer Kombinationstheorie“ als auch einer Darstellung der Auffassung, welche eine „Beendigungsphase“ aus verfassungsrechtlichen Gründen ablehnt (hierzu sogleich). cc) Setzt man indes nicht bei der Frage nach der „Gemeinschaftlichkeit“ der Tatbegehung an, sondern bereits bei der Frage, ob es sich bei einem Geschehen in der „Beendigungsphase“ überhaupt noch um eine beteiligungsfähige Tat handelt, so ist auch eine gänzlich andere Argumentation denkbar. Anders als bei Dauerdelikten, bei denen ein rechtswidriger Zustand geschaffen und aufrechterhalten wird (z.B. § 239 StGB), erschöpft sich der Diebstahl nämlich bereits seinem Wortlaut nach in einer Wegnahmehandlung. Dementsprechend ist es bspw. bei einer andauernden Freiheitsberaubung möglich, auch nach Beschränkung der Fortbewegungsfreiheit Handlungen vorzunehmen, welche das Opfer (weiterhin) der Freiheit berauben, es ist jedoch sprachlogisch ausgeschlossen, dass eine bereits abgeschlossene Wegnahme, durch nachgelagertes Handeln zu einer „gemeinschaftlichen Weg38 BGH NStZ 1985, 165; BGH NStZ 1995, 285; BGH NStZRR 2001, 148. Weiterführend: Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2011, § 12 Rn. 92; Wessels/ Beulke/Satzger (Fn. 7), Rn. 749 ff.; Roxin (Fn. 28), § 25 Rn. 22 ff. 39 BGH NStZ 1999, 510; BGH NStZ 2000, 594; BGH NStZ 2008, 280 (281). 40 Ein solcher wird, da heute eine rein subjektive Sichtweise vom BGH nicht mehr vertreten wird, zumindest zu fordern sein, vgl. Jäger (Fn. 32), § 6 Rn. 227. 41 Krey/Esser (Fn. 34), Rn. 1088 und 1198. STRAFRECHT nahme“ im Sinne der §§ 242 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB wird.42 Derartige nachgelagerte Handlungen sind vielmehr – wie es das Gesetz auch vorsieht – allein mithilfe der Anschlussdelikte zu lösen. Eine Ausdehnung der Tatphase des Diebstahls über die Vollendung hinaus ist daher ein grundsätzlicher Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2 GG) und dementsprechend abzulehnen.43 Das Handeln des W kann damit bereits strukturell keine Mittäterschaft begründen, sodass ihm das Handeln der J nicht nach § 25 Abs. 2 StGB zugerechnet werden kann. Der objektive Tatbestand ist nicht erfüllt. 2. Zwischenergebnis W hat sich keines Diebstahls in Mittäterschaft schuldig gemacht. Hinweis: Wer sich strikt gegen eine Ausdehnung der Tatphase des Diebstahls ausgesprochen hat, kann direkt zur Prüfung der Begünstigung übergehen. Wer hingegen die Mittäterschaft aufgrund der (engen) Tatherrschaftslehre ablehnt, muss der Frage nach einer sukzessiven Beihilfe nachgehen. Die Argumente gegen eine Ausdehnung der Tatphase des Diebstahls in den Bereich der (faktischen) Beendigung können selbstverständlich auch gegen die Strafbarkeit einer „sukzessiven“ Beihilfe in diesem Stadium vorgebracht werden.44 So setzt die Tathandlung der Beihilfe, das „Hilfeleisten“ im Sinne des § 27 StGB, eine „vorsätzlich begangene rechtswidrige Tat“ voraus, womit wiederum die Verwirklichung eines Straftatbestandes gemeint ist (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB). Das ist jedoch bei einem Diebstahl bereits mit der Wegnahme der Fall, sodass begrifflich – im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG – zwischen Hilfeleisten zu einer Weg- 42 Vgl. Krey, ZStW 101 (1989), 838 (848). Kühl (Fn. 7), § 20 Rn. 127; Maurach/Gössel/Zipf (Fn. 28), § 49 Rn. 50 ff. m.w.N. 43 So auch Geppert, Jura 2011, 30 (35) und Schmidt (Fn. 31), Rn. 637 f. Die Unterscheidung zwischen (normativer) Vollendung und (deskriptiver) Beendigung der Tat kann jedoch im Rahmen der Abgrenzung von §§ 242, 249 zu § 252 StGB und der Verjährung (vgl. § 78a StGB) eine Rolle spielen (Vgl. Wessels/Hillenkamp [Fn. 3], Rn. 132). 44 Dennoch geht die wohl h.M. von der Existenz des Instituts der „sukzessiven Beihilfe“ aus: BGHSt 4, 132 (133); 6, 248 (251); BGH NStZ 2008, 152; Weber, in: Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 11. Aufl. 2003, § 31 Rn. 25; Eser/Bosch, in: Schönke/ Schröder (Fn. 4), § 242 Rn. 73; Heine/Weißer (Fn. 37), § 27 Rn. 20; Krey/Esser (Fn. 34), Rn. 1088 ff., der darauf verweist, dass das starke Wortlautargument gegen die sukzessive Mittäterschaft („gemeinschaftlich begehen“) hier nicht greife. Entschieden hiergegen Maurach/Gössel/Zipf (Fn. 28), § 50 Rn. 106 m.w.N. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 89 ÜBUNGSFÄLLE Sascha Sebastian/Henning T. Lorenz nahme und Beutesicherung nach vollendeter Wegnahme zu differenzieren ist.45 Wer trotz dieser Argumente eine sukzessive Beihilfe für zulässig erachtet, muss sodann der Frage nachgehen, wie diese und die Begünstigung voneinander abzugrenzen sind; schließlich ist die Tathandlung in beiden Fällen eine Beutesicherung.46 Die Rechtsprechung grenzt die sukzessive Beihilfe von der Begünstigung – im Sinne tatbestandlicher Exklusivität – nach der inneren Willensrichtung ab.47 Sie fragt, ob der Helfer den erfolgreichen Abschluss der Haupttat fördern (Beihilfe) oder den Vortäter vor einer Entziehung des erlangten Vorteils schützen wollte (Begünstigung). In der Literatur wird die Beihilfe als vorrangig angesehen, sodass die Begünstigung in Anlehnung an § 257 Abs. 3 S. 1 StGB subsidiär dahinter zurücktritt.48 Im Ergebnis sprechen die besseren Argumente sodann gegen die Rechtsprechung, da die kaum zu ermittelnde49 innere Einstellung des Täters die Abgrenzung ins Belieben des entscheidenden Richters stellt. Im Hinblick auf den mitunter deutlich höheren Strafrahmen der Beihilfestrafbarkeit sollte die Abgrenzung mithin dem Gesetz überlassen bleiben.50 II. Wegen § 257 Abs. 1 StGB (Begünstigung) W könnte sich einer Begünstigung nach § 257 StGB schuldig gemacht haben, indem er J bei der Beutesicherung unterstützte. 1. Objektiver Tatbestand Da W kein Täter des Diebstahls ist (s.o.), handelt es sich dabei um die rechtswidrige Tat eines anderen. Sein Handeln – nämlich das Verstecken und Aufbewahren der Beute – war objektiv dazu geeignet, die Vorteile dagegen zu sichern, dass sie dem Vortäter zu Gunsten des Verletzten wieder entzogen werden.51 Er leistete J also Hilfe bei der Sicherung der aus der Tat erlangten Vorteile. W erfüllte daher auch den objektiven Tatbestand. 2. Subjektiver Tatbestand W ist sich über die Herkunft der Tasche im Klaren. Auch weiß er, dass sein Handeln dazu geeignet ist, die Wiedererlangungsmöglichkeiten des Berechtigten erheblich einzuschränken. Da es ihm gerade hierauf ankommt, um sein Ziel zu erreichen, bestehen am Vorsatz keine Zweifel. Auch kommt es W gerade darauf an, die Beute zu sichern, um so einen Teil derselben erhalten zu können.52 Er handelte mithin auch in Vorteilssicherungsabsicht. 3. Rechtswidrigkeit und Schuld W handelte rechtswidrig und schuldhaft. 4. Zwischenergebnis W hat sich einer Begünstigung schuldig gemacht. C. Ergebnis im ersten Tatkomplex J hat sich wegen Diebstahls (§ 242 Abs. 1 StGB) an der Tasche und ihrem Inhalt strafbar gemacht. Der anschließende Sicherungsbetrug hinsichtlich der Beute tritt dahinter als mitbestrafte Nachtat zurück.53 W hat sich wegen Begünstigung (§ 257 Abs. 1 StGB) strafbar gemacht. 2. Tatkomplex: „Gerechtigkeit für Alle“ 1. Teilkomplex: Das Festhalten der J A. Strafbarkeit der J Hinweis: Es wäre grundsätzlich denkbar, zunächst einen (versuchten) Betrug der J gegenüber den Kontrolleuren und zu Lasten der Nahverkehrsgesellschaft zu prüfen. Der Sachverhalt enthält jedoch zu einer möglichen Täuschung keinerlei Angaben, sodass eine entsprechende Prüfung möglichst schnell zu beenden wäre. 45 Kindhäuser (Fn. 4), § 242 Rn. 131; Ruß, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 6, 11. Aufl. 1994, § 242 Rn. 76; Schmitz (Fn. 14), § 242 Rn. 179. 46 Die praktische Relevanz dieser Abgrenzung wird deutlich, wenn man die Strafrahmen qualifizierter Eigentumsdelikte mit jenen der Begünstigung vergleicht. Weiterführend: Krey/ Hellmann/Heinrich, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1, 16. Aufl. 2015, Rn. 861; Roxin (Fn. 28), § 26 Rn. 260 f. und Schmitz, Unrecht und Zeit – Unrechtsqualifizierung durch zeitlich gestreckte Rechtsgutverletzung, 2001, S. 199 ff. 47 BGHSt 2, 346; 4, 132 (133); OLG Köln, NJW 1990, 587 (588). 48 Geppert, Jura 1980, 274; Jäger, Examens-Repetitorium Strafrecht, Besonderer Teil, 6. Aufl. 2015, § 13 Rn. 395; Maurach/Schröder/Maiwald, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 9. Aufl. 2005, Rn. 746; Seelmann, JuS 1983, 33 f. 49 Geppert, Jura 1994, 441 (443) weist zudem darauf hin, dass der Täter sich zu dieser Frage kaum Gedanken machen wird, sodass es hier streng genommen gar nichts zu ermitteln gibt. 50 Roxin (Fn. 28), § 26 Rn. 261. I. Wegen § 265a Abs. 1 StGB (Erschleichen von Leistungen) J könnte sich eines Erschleichens von Leistungen nach § 265a Abs. 1 StGB schuldig gemacht haben, indem sie „schwarzfuhr“. 1. Objektiver Tatbestand a) Beförderung durch ein Verkehrsmittel J hat sich in einem Verkehrsmittel – einer Straßenbahn54 – befördern lassen. 51 Zur insoweit h.M. und abweichenden Ansichten Dietmeier, in: Matt/Renzikowski (Fn. 4), § 257 Rn. 14 m.w.N. 52 Vgl. Eisele (Fn. 6), Rn. 1094; Jäger (Fn. 48), § 13 Rn. 396. 53 Saliger (Fn. 4), § 263 Rn. 338 m.w.N. 54 Vgl. Gaede, in: Matt/Renzikowski (Fn. 4), § 265a Rn. 9. _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 90 Übungsfall: Jaqueline und der Fluch der Damenhandtasche STRAFRECHT b) „Erschleichen“ der Beförderung Ob eine solche Leistung durch das bloße „Schwarzfahren“ indes „erschlichen“ wurde, erscheint fraglich. Dem Wortsinn nach erfordert „Erschleichen“ neben der fehlenden Berechtigung auch ein Element der Heimlichkeit, der List oder des Täuschens.55 aa) Nun ist es jedoch denkbar – vor allem in Fällen, in denen Leistungen ohne Überprüfung der Berechtigung erbracht werden –, dass dem Erfordernis eines täuschenden Elementes beim „Erschleichen“ bereits dann Genüge getan ist, wenn es sich um ein der Ordnung widersprechendes Verhalten handelt, durch das sich der Täter in den Genuss der Leistung bringt und bei welchem er sich mit dem Anschein der Ordnungsmäßigkeit umgibt.56 Ein solcher adressatenloser Rechtsschein soll bereits dann vorliegen, wenn der Täter „unauffällig wie jeder andere – ‚ehrliche‘ – Benutzer auftretend, die Leistung des Betreibers – bspw. durch Betreten des abfahrbereiten Beförderungsmittels – in Anspruch nimmt.“57 Da sich J in ihrem Verhalten äußerlich nicht von einem zahlenden Fahrgast unterschied, umgab sie sich – legt man diese Auffassung zugrunde – mit dem Anschein der Rechtmäßigkeit. Sie „erschlich“ sich demnach die Beförderungsleistung. bb) Es ist indes keineswegs zwingend, einen adressatenlosen Rechtsschein für die Beurteilung des „Erschleichens“ ausreichen zu lassen. Im Hinblick auf das bereits im Wortlaut angelegte Element der Heimlichkeit, List oder Täuschung, liegt es nahe, dass neben der äußeren Unauffälligkeit des Verhaltens auch die Umgehung oder Überwindung von Kontroll- oder Sicherheitsvorkehrungen vonnöten ist.58 Es wäre dementsprechend nicht möglich, sich eine Leistung zu „erschleichen“ die – aufgrund fehlender Kontrollen – ohnehin jeder in Anspruch nehmen kann (selbst wenn dies unbefugt geschieht). Da genau dies der Fall des „schlichten Schwarzfahrens“ ist, wäre dieses vom Tatbestand des § 265a StGB nicht erfasst. Nahverkehrsgesellschaften wären dementsprechend auf das Eintreiben der konkludent vereinbarten Vertragsstrafen (§ 340 BGB) – und damit auf den Zivilrechtsweg – verwiesen.59 J wäre dementsprechend nicht strafbar. cc) Die zuletzt genannte Auslegung des Merkmals scheint im Hinblick auf den Wortlaut der Regelung und ihren historischen Zweck augenscheinlich die richtige zu sein. Dennoch wird ihr entgegengehalten, dass sie ein dringendes kriminalpolitisches Bedürfnis ignoriere, welches die extensive Auslegung des Merkmales interessengerechter erscheinen lässt, als den Verweis des (zivilrechtlich) Geschädigten auf den (Zivil)Rechtsweg. Wie eine solche besondere Schutzwürdigkeit der Anbieter von Beförderungsleistungen begründet werden soll, ist indes nicht ersichtlich.60 So gibt es zunächst keine empirische Grundlage dafür, dass fehlende Zugangskontrollen den ÖPNV effektiver und kostengünstiger gestalten,61 und selbst wenn dies so wäre, würde die unstrittig individualschützende Norm hier anhand eines Allgemeinbelanges ausgelegt werden.62 Auch die Idee, dass Nahverkehrsgesellschaften durch den Abbau von Zugangskontrollen gewissermaßen in Vorleistung gegenüber ihren Kunden gehen, mag zutreffen, führt allerdings nicht dazu, dass ihnen für diese Kosteneinsparungsmaßnahme die Entscheidungsgewalt über ihre eigene Schutzwürdigkeit übertragen wird.63 Denn ganz generell wird in der Debatte um den strafrechtlichen Schutz vor „Schwarzfahrern“ verkannt, dass selbst bei Bestehen eines kriminalpolitischen Bedürfnisses die Entscheidung über dessen Umsetzung noch immer beim Parlament liegt. Dem Einwand des dringenden kriminalpolitischen Bedürfnisses fehlt damit nicht nur die Tatsachengrundlage, er ist im Rahmen einer Normauslegung schlicht verfehlt.64 Mithin liegt im „schlichten“ Schwarzfahren daher kein tatbestandliches „Erschleichen“ im Sinne des § 265a StGB. 55 60 Vgl. Wohlers/Mühlbauer, in: Joecks/Miebach (Fn. 14), § 265a Rn. 45, die dies allerdings nur mit dem Duden „begründen“. 56 Etwa BGHSt 53, 122; Rengier (Fn. 5), § 16 Rn. 6; Otto, Grundkurs Strafrecht, Besonderer Teil, 7. Aufl. 2005, § 52 Rn. 19. 57 Gaede (Fn. 54), § 265a Rn. 9 m.w.N. 58 Zu dieser „Kumulativformel“ und der Kritik an anderen Definitionen Wohlers/Mühlbauer (Fn. 55), § 265a Rn. 45 m.w.N. 59 Exner, JuS 2009, 990 ff.; Krey/Hellmann/Heinrich (Fn. 6), Rn. 721 ff. m.w.N. 2. Zwischenergebnis Der objektive Tatbestand ist nicht erfüllt. J hat sich keines Erschleichens von Leistungen schuldig gemacht. II. Zwischenergebnis J hat sich in diesem Teilkomplex nicht strafbar gemacht. Hinweis: Vertretbar war es hier auch der anderen – wohl herrschenden – Auffassung zu folgen. Subjektiver Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld würden keine Probleme bereiten, sodass J sich wegen § 265a StGB strafbar gemacht hätte. B. Strafbarkeit des B I. Wegen § 239 Abs. 1 Var. 2 StGB (Freiheitsberaubung) B könnte sich einer Freiheitsberaubung nach § 239 Abs. 1 Alt. 2 StGB schuldig gemacht haben, indem die B festhielt. Krey/Hellmann/Heinrich (Fn. 6), Rn. 722; Fischer, NJW 1988, 1928 (1929). 61 Dies zeigen gerade Vergleiche mit anderen europäischen Großstädten (z.B. Amsterdam) in denen Zugangskontrollen in den öffentlichen Verkehrsmitteln, wie etwa Straßenbahnen, existieren. 62 Exner, JuS 2009, 990 (993). 63 Hinrichs, NJW 2001, 932 (934). 64 Zweifelhaft daher Rengier (Fn. 5), § 16 Rn. 6, der die vom BVerfG festgestellte Vereinbarkeit der Auslegung mit Art. 103 Abs. 2 GG (BVerfG NJW 1998, 1135) als Argument für die Rechtsprechung des BGH sieht. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 91 ÜBUNGSFÄLLE Sascha Sebastian/Henning T. Lorenz 1. Objektiver Tatbestand Ein Mensch ist in anderer Weise seiner Freiheit beraubt, wenn und solange er – sei es auch nur vorübergehend und ohne sein Wissen – gehindert wird, seinen Aufenthaltsort frei zu wählen; dabei muss seine Fortbewegungsfreiheit vollständig aufgehoben werden, das Verlassen des Ortes also unmöglich oder mindestens so erschwert werden, dass es nach den Umständen als Verhaltensalternative nicht mehr in Frage kommt.65 Der B ist J körperlich überlegen und hält sie fest. Selbst ihre Versuche, sich zu wehren, haben auf seinen Griff keinen Einfluss, sodass ihre Fortbewegungsfreiheit – jedenfalls vorübergehend – vollständig aufgehoben wurde. doch, dass das Festhalten der J – zumindest auf Tatbestandsebene – gegen verbindliches Recht verstieß und überdehnte auch nicht rechtlichen Grenzen der Rechtfertigung zu seinen Gunsten.68 Er ging von einer Straflosigkeit des Verhaltens der J aus und entschied sich ganz bewusst dazu sich über die „Buchstaben des Gesetzes“ hinwegzusetzen. Ein Verbotsirrtum – gleich welcher Art – scheidet damit offensichtlich aus. 5. Ergebnis B hat sich einer Freiheitsberaubung schuldig gemacht. Hinweis: Da auf alle Rechtsprobleme des Falles einzugehen war, musste (zwingend) der Frage nachgegangen werden, wie die Rechtswidrigkeit des Handelns des B zu beurteilen wäre, wenn man zuvor eine Strafbarkeit der J wegen § 265a StGB bejaht hatte. Es handelt sich hierbei ersichtlich um das einzige größere Problem dieses Tatkomplexes und das Hauptproblem der Hausarbeit. 2. Subjektiver Tatbestand B war sich bewusst, dass sein Handeln die J daran hintern würde frei über ihren Aufenthaltsort zu entscheiden. Weil J keinen Fahrschein hatte, wollte er dies jedoch. Er handelte vorsätzlich. 3. Rechtswidrigkeit Fraglich ist, ob B sich auf das Festnahmerecht nach § 127 Abs. 1 S. 1 StPO berufen konnte und daher gerechtfertigt war. a) Rechtfertigungslage J hat nicht rechtswidrig und schuldhaft den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht (Tat, vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB), womit keine Tat im Sinne des § 127 Abs. 1 S. 1 StPO vorliegt.66 b) Zwischenergebnis B ist daher nicht gerechtfertigt und handelte rechtswidrig. 4. Schuld B handelte auch schuldhaft. Hinweis: Denkbar wäre es, an dieser Stelle etwas zu einem möglichen Verbotsirrtum (§ 17 StGB) zu schreiben. Ein solcher würde jedoch voraussetzen, dass B ohne Unrechtseinsicht/Unrechtsbewusstsein handelt. Er hätte mithin nicht erkennen dürfen (bzw. hierzu in der Lage sein), dass sein Handeln gegen die durch verbindliches Recht erkennbare Wertordnung verstößt.67 B erkannte je65 Eidam, in: Matt/Renzikowski (Fn. 4), § 239 Rn. 6 ff.; Jäger (Fn. 48), § 3 Rn. 115; Wessels/Hettinger, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1, 39. Auflage 2015, Rn. 370 ff. 66 Umfassend zu dem klassischen Streit, ob auch ein dringender Tatverdacht ausreichend ist Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1, 4. Aufl. 2006, § 17 Rn. 24 ff. Auf diesen kam es vorliegend jedoch nicht an, weil bei der Annahme die J habe sich nicht nach § 265a StGB strafbar gemacht, auch kein entsprechender (objektiver) Verdacht aufkommen kann. 67 BGHSt 2, 194 (201 f.); 45, 97 (101); Roxin (Fn. 66), § 21 Rn. 12 f. – Hilfsgutachten – Bejaht man eine Strafbarkeit der J wegen § 265a StGB, so liegt eine Tat im Sinne des § 127 Abs. 1 S. 1 StPO vor.69 Auch besteht beim Festhalten des B ein enger räumlichzeitlicher Zusammenhang mit der Tat, sodass J auf „frischer Tat betroffen“ wurde.70 Sie ist im Begriff zu flüchten und, da B sie nicht kennt, ist auch eine Identitätsfeststellung nicht zu erwarten.71 Es lag mithin ein Festnahmegrund und damit eine Festnahmelage vor. b) Rechtfertigungshandlung Die vorläufige Festnahme selbst ist ein Realakt, der an keine bestimmte Form gebunden ist. Sie muss dazu geeignet sein, den Festnahmegrund zu verwirklichen, verhältnismäßig sein und der Täter muss deutlich machen, dass es sich um eine Festnahme handelt.72 Da sich die Rechtfertigung auf „die Festnahme“ bezieht, werden auch die für eine solche regelmäßig unerlässlichen Verhaltensweise, wie leichte Körperverletzungen, Freiheitsberaubungen oder Nötigungen von § 127 Abs. 1 S. 1 StPO erfasst.73 B hat der J deutlich zu verstehen gegeben, dass er sie aufgrund der nicht vorhandenen Fahrkarte festhält, hinderte sie dadurch an der Flucht und wendete – zum Zeitpunkt der Festnahme – keine unverhältnismäßige Gewalt an. 68 Sog. direkter bzw. indirekter Verbotsirrtum, vgl. Wessels/ Beulke/Satzger (Fn. 7), Rn. 712 f. 69 Auch hier kam es wiederum nicht auf den Streit an, ob ein Tatverdacht ausreicht, da die Voraussetzungen der restriktiveren Auffassung erfüllt waren. 70 Vgl. Böhm/Werner, in: Kudlich (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Strafprozessordnung, Bd. 1, 2014, § 127 Rn. 12. 71 Vgl. zu den Festnahmegründe Pfeiffer, Strafprozessordnung, Kommentar, 5. Aufl. 2005, § 127 Rn. 5 m.w.N. 72 Pfeiffer (Fn. 71), § 127 Rn. 6 f. 73 Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 7), Rn. 602 m.w.N. _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 92 Übungsfall: Jaqueline und der Fluch der Damenhandtasche c) Subjektives Rechtfertigungselement Fraglich erscheint indes, wie es sich auswirkt, dass der B bei seinem Handeln davon ausging, dass das Verhalten der J zwar moralisch, nicht aber rechtlich zu beanstanden ist. Da es sich hierbei um eine Fehlvorstellung handelt, liegt es nahe, dies im Rahmen der subjektiven Rechtfertigungsvoraussetzungen zu diskutieren. Dass es solche – in Form des sog. „subjektiven Rechtfertigungselementes“ – gibt, wird heute nicht mehr ernsthaft in Zweifel gezogen. Denn nur so kann neben den, bereits durch die objektiven Rechtfertigungsvoraussetzungen kompensierten, Erfolgsunwert der Tat auch der, in ihrer vorsätzlichen Verwirklichung liegende, personale Handlungsunwert kompensiert werden.74 Auch ist als Mindestbedingung anerkannt, dass derjenige der sich auf einen Rechtfertigungsgrund berufen will, analog § 16 Abs. 1 StGB jedenfalls in Kenntnis der objektiven Rechtfertigungsvoraussetzungen („Erlaubnistatumstände“) des jeweiligen Rechtfertigungsgrundes handeln muss.75 aa) Erfordernis eines voluntativen Elementes Ob neben diesem kognitiven Element auch ein voluntatives Element zu fordern ist, erscheint – auch im Hinblick auf andere Rechtfertigungsgründe – fraglich.76 (1) Da es sich bei § 127 StPO um einen sog. „unvollkommen zweiaktigen Rechtfertigungsgrund“ handelt, bei dem durch die Festnahme (erlaubtes Verhalten) nicht zugleich ein Zuführen des Täters zur Strafverfolgung (Zweck der Erlaubnis) erreicht wird, ist es zunächst denkbar, von einem Absichtserfordernis im Hinblick auf den Zweck des 74 Vgl. aber die von Spendel, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 2, 11. Aufl. 1992, § 32 Rn. 138 ff. vertretene objektive Unrechtslehre. Danach soll neben dem Erfolgsunwert kein Handlungsunwert erforderlich sein, weshalb dieser auch nicht über das Vorliegen eines subjektiven Rechtfertigungselements kompensiert werden müsse. Freilich ist eine solche Auffassung nicht in der Lage, den Strafgrund des untauglichen Versuches zu erklären, welcher gerade keinen Erfolg, und damit kein Erfolgsunrecht, voraussetzt (§ 23 Abs. 3 StGB). 75 Zu einem so verstandenen „Abwehr- oder Verteidigungsvorsatz“ Kühl (Fn. 7), § 7 Rn. 128 ff. Hier kann sich neben den unstreitig erfassten Fällen des dolus directus 2. Grades (Wissentlichkeit) die Frage stellen, ob dolus eventualis hinsichtlich der objektiven Rechtfertigungsvoraussetzungen ausreichend ist. Soll die Parallele zum Unrecht der vorsätzlichen Begehung indes konsequent durchgehalten werden, wird man das bejahen müssen. Für das subjektive Rechtfertigungselement genügt es demnach, wenn der Täter auf das Vorliegen der für möglich gehaltenen Umstände vertraut (vgl. Stratenwerth/Kuhlen [Fn. 38], § 9 Rn. 151). 76 Am klausurträchtigsten in dieser Hinsicht ist sicherlich der Streit um die von der Rspr. bei Notwehr verlangte „Verteidigungsabsicht“, hierzu Roxin (Fn. 67), § 14 Rn. 97 ff., § 15 Rn. 129 f. STRAFRECHT Erlaubnissatzes auszugehen.77 Der Täter hätte demnach die zum Wegfall des Erfolgsunwerts führende Handlungsbefugnis nur, wenn er mit der Tat das Ziel verfolgt, den Festgenommenen den Strafverfolgungsbehörden zuzuführen. Intendiert der Täter indes keinen solchen „sozial-wertvollen Tateffekt“, wird der Unrechtsgehalt des tatbestandlich verwirklichten Deliktes nicht kompensiert.78 B – der von der Straflosigkeit des „Schwarzfahrens“ ausgeht – handelt nicht, um J der Strafverfolgung zuzuführen, sondern um sie den Kontrolleuren zu übergeben, welche das „erhöhte Beförderungsentgelt“ eintreiben. Mangels der erforderlichen Absicht hätte er mithin einen von der Rechtsordnung missbilligten Erfolg herbeigeführt (Erfolgsunwert) und wäre dementsprechend nicht gerechtfertigt. Hinweis: Nach dieser Ansicht bleiben der Erfolgsunwert und damit die Strafbarkeit aus vollendetem Delikt daher bestehen. Auf den Streit, welche Folge das Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselementes hat, kommt es insofern nicht an. (2) Die Grundannahme, dass die Handlungsbefugnis an den Zweck des § 127 Abs. 1 S. 1 StPO anknüpft, ist im Hinblick auf die Rechtsnatur der Regelung durchaus zutreffend. Allerdings ist es keineswegs zwingend, daraus ein Absichtserfordernis – oder überhaupt ein subjektives Element – zur Kompensation des Erfolgsunwerts abzuleiten.79 Denn selbst wenn der Festnehmende sich nicht darüber im Klaren ist, dass die Möglichkeit der Zuführung zur Strafverfolgung besteht, führt er dennoch einen von der Rechtsordnung gebilligten Erfolg herbei, solange andere Faktoren ex ante den werterhaltenden Charakter (Zuführung zur Strafverfolgung) der Handlung gewährleisten; beispielsweise durch die Anwesenheit Dritter, die ihrerseits eine Übergabe an die zuständige Behörde garantieren.80 Hiermit ist dem Kompensationsgedanken der 77 Erstmals und den Begriff des „unvollkommen zweiaktigen Rechtfertigungsgrund“ einführend Lampe, GA 1978, 7 ff. Ebenso Mitsch, in: Baumann/Weber/Mitsch (Fn. 44), § 16 Rn. 65; Lenckner/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (Fn. 4), Vor §§ 32 ff. Rn. 16; Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 38), § 9 Rn. 152. 78 Mitsch, in: Baumann/Weber/Mitsch (Fn. 44), § 16 Rn. 65 m.w.N. 79 Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, 11/21; Schlehofer, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1, 2. Aufl. 2011, § 32 ff. Rn. 96; Frisch, in: Küper/Puppe/Tenckhoff (Hrsg.), Festschrift für Karl Lackner zum 70. Geburtstag am 18. Februar 1987, 1987, S. 113 (145 ff.); Herzberg, JA 1986, 190 (198 ff.). 80 Frisch (Fn. 79), S. 145 ff., ebenfalls auf die Eignung zur Zweckerreichung abstellend Herzberg, JA 1986, 190 (198 ff.). Jakobs (Fn. 79), 11/21; Schlehofer (Fn. 79), Vorb. § 32 ff. Rn. 96 hingegen kritisieren einzig das Absichtserfordernis und plädieren dafür, dass bereits die Möglichkeitskenntnis ausreiche. Hinsichtlich der Frage, was jedoch die Rechtsfolge bei werterhaltendem Charakter und fehlender Kenntnis hier- _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 93 ÜBUNGSFÄLLE Sascha Sebastian/Henning T. Lorenz Rechtfertigungsgründe ebenso Genüge getan, denn es geht (speziell bei § 127 Abs. 1 S. 1 StPO) um die Gewährleistung der Strafverfolgung durch die Festnahme – im Sinne einer positiven Prognose –, nicht um die tatsächliche Erreichung dieses Zweckes. Auf diese Prognose hat es jedoch keinen Einfluss, ob der Täter die Strafverfolgung des Festgenommenen beabsichtigt, in Kauf nimmt, oder sie nur unwissentlich absichert.81 Eine derartige Differenzierung liefe im Ergebnis auf eine Gesinnungsstrafe hinaus.82 Es ist folgerichtig nur konsequent, dass (subjektive) Absichten und Kenntnisse des Täters bei der Kompensation Erfolgsunwertes durch die Erlaubnisnorm keine Rolle spielen – sie sind allein bei der Frage beachtlich, ob auch der Handlungsunwert der Tat durch ein Verhalten in Kenntnis der die Erlaubnisnorm begründenden Umstände kompensiert wird.83 Misst man das Handeln des B hieran, so ging er zwar (unzutreffend) von der Straflosigkeit des Verhaltens der J aus, wollte sie aber dennoch an die Kontrolleure übergeben. Diese wiederum reichen als Garanten für das Einleiten einer Strafverfolgung indes vollkommen aus (vgl. §§ 265a Abs. 3, 248a, 77 Abs. 1 StGB), sodass der Erfolgsunwert der Freiheitsberaubung aufgrund einer objektiv im Hinblick auf den Zweck des § 127 Abs. 1 S. 1 StPO günstigen Prognose kompensiert ist. Fraglich bleibt indes, inwiefern die Fehlvorstellung des B Einfluss auf seine Bestrafung hat. Hier bereitet bereits die Kategorisierung des Irrtums erheblich Schwierigkeiten. So könnte man versucht sein, ihn als einen Rechtsirrtum – also eine falsche Bewertung von Tatsachen – einzuordnen, statt von einem Tatsachenirrtum auszugehen, wie es im Rahmen des subjektiven Rechtfertigungselementes eigentlich üblich ist. In ersterem Falle müsste man wohl von einem straflosen Wahndelikt ausgehen, während in letzterem Falle die Strafbarkeit wegen untauglichen Versuches die sachgerechte Lösung wäre. Von einem Wahndelikt wird auf Ebene der Rechtfertigung immer dann ausgegangen, wenn der Täter die Grenzen eines Rechtfertigungsgrundes zu seinen Ungunsten einschränkend verkennt,84 etwa weil er davon ausgeht, dass Schusswaffengebrauch (im Rahmen des § 32 StGB) nur bei körperlichen Angriffen zulässig ist oder Festnahmen (entgegen § 127 Abs. 1 StPO) nur durch Strafverfolgungsorgane erfolgen können.85 Dabei handelt es sich indes um Fehlvorstellungen über die Reichweite einer aus der Rechtfertigungslage erwachsenden Befugnis, während es hier in jedem Falle um eine Fehlvorstellung über die Rechtfertigungs- bzw. Festnahmelage selbst geht. B geht nämlich entweder zu Unrecht von – wie im vorliegenden Fall – ist, treffen die Autoren keine Aussage. 81 Vgl. Jakobs (Fn. 79), 11/21; Schlehofer (Fn. 79), Vorb. § 32 ff. Rn. 96. 82 Dies wird überzeugenderweise bereits im Rahmen der anderen Rechtfertigungsgründe gegen das Absichtserfordernis angeführt, vgl. Roxin (Fn. 67), Rn. 99; ebenfalls kritisch Herzberg, JA 1986, 190 (200). 83 Frisch (Fn. 79), S. 148. 84 Hierzu statt aller Roxin (Fn. 28), § 29 Rn. 382. 85 Herzberg, JuS 1980, 469 (478). davon aus, dass keine „Tat“ im Sinne des § 127 Abs. 1 S. 1 StPO vorliegt oder aber er verkennt die objektiv günstige Festnahmeprognose. Da Beides vom in einer Rechtfertigungslage befindlichen Täter das Anstellen einer Wertung abverlangt, handelt es sich insofern um einen Irrtum über ein normatives (Erlaubnis-)Tatbestandsmerkmal86. Die Frage, wie sich eine selbstbelastende Fehlvorstellung über ein normatives (Verbots-)Tatbestandsmerkmal – bspw. die „rechtswidrige Vortat“ (§ 258 StGB) – auswirkt, wird – freilich im Hinblick auf den allgemeinen Tatbestandsvorsatz – uneinheitlich beurteilt.87 Die Auffassungen sind jedoch grundsätzlich auf die Rechtfertigungsebene – dann im Hinblick auf das subjektive Rechtfertigungselement – und damit auf die hier untersuchte Problematik übertragbar88: (a) So ist es zunächst denkbar, vom Täter zu verlangen, dass ihm das Vorliegen des betreffenden Merkmals bekannt ist. Er müsste dann bspw. im Falle eines Diebstahls wissen, dass die Sache (im Rechtssinne) fremd ist, sie also nicht etwa bereits an oder von ihm übereignet wurde (§§ 929 ff. BGB).89 Ein Irrtum über die rechtliche Bewertung des Vorganges der Eigentumsübertragung wäre dementsprechend vorsatzausschließend, sodass es sich im Ergebnis bei allen selbstbelastenden Rechtsirrtümern im Vorfeld der Tat um straflose Wahndelikte handelt. B wäre daher, obwohl er sich bewusst über die Grundentscheidung des Gesetzgebers hinwegsetzte, straflos zu stellen, weil er den zutreffend erkannten Sachverhalt – unzutreffend – nicht unter den Begriff der „Tat“ subsumierte. (b) Eine genaue rechtliche Kenntnis des Verweisungsbereichs der normativen Merkmale – den „Verweisungsbegriffen“ – wird sich in der Praxis jedoch in aller Regel nicht nachweisen lassen, sodass darüber nachzudenken ist, ob dem kognitiven Erfordernis nicht bereits dann genüge getan ist, wenn der Täter jedenfalls die in den normativen Merkmalen ausgedrückte Grundentscheidung des Gesetzgebers nachvollzogen hat.90 Im Falle einer bewussten Entscheidung gegen die zutreffend erkannte Grundentscheidung des Gesetzgebers, wäre mithin die Betätigung eines „bösen Willens“ – als untauglicher Versuch – strafbar.91 86 Zum normativen Tatbestandsmerkmal Wessels/Beulke/ Satzger (Fn. 7), Rn. 190, 353. 87 Umfassend hierzu Roxin (Fn. 28), § 29 Rn. 388 ff. 88 So ganz zutreffend Herzberg, JuS 1980, 469 (478). 89 Burkhardt, JZ 1981, 681; ders., wistra 1982, 178; ähnlich auch Puppe, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Auflage 2011, § 8 Rn. 7. 90 Zurückgehend auf Blei, JA 1973, 237 (321 389 459 529 601 604) und weitergeführt von Herzberg, JuS 1980, 469 (473). Im Ergebnis so auch BGHSt 15, 212 f. bei einem Irrtum eines, eine Strafanzeige unterdrückenden, Polizeibeamten über die Strafbarkeit seines Schwiegervaters. Der BGH verurteilte hier wegen versuchter Begünstigung im Amt (§ 346 a.F. StGB), weil der Rechtsirrtum sich allein auf die Normen bezog, die die Strafbarkeit des Schwiegervaters begründeten. 91 Ähnlich Herzberg, JuS 1980, 469 (478). _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 94 Übungsfall: Jaqueline und der Fluch der Damenhandtasche Auf den Fall gewendet folgt hieraus folgendes: Wenn B die J festnimmt, obwohl er zutreffend erkennt, dass sie keine „Tat“ begangen hat, setzt er sich bewusst über die Entscheidung des Gesetzgebers hinweg, Festnahmen nur bei Vorliegen einer „Tat“ zuzulassen.92 Es handelt sich daher mitnichten um einen Fall tatbestandslosen Verhaltens, welches allein aufgrund mangelnder Rechtskenntnis des Handelnden strafbar gestellt wird.93 Ob nun hieraus – wie bei Vorfeldirrtümer bzgl. normativer (Verbots-)Tatbestandsmerkmale – die Strafbarkeit wegen untauglichen Versuchs folgt, oder gegebenenfalls sogar eine Strafbarkeit wegen vollendeter Tat in Frage kommt, ist dabei freilich gesondert zu entscheiden.94 (3) Die Fehlvorstellung des B ist mithin ein Fall des fehlenden subjektiven Rechtfertigungselementes. Hinweis: Vertretbar wäre es auch gewesen, der Gegenauffassung zu folgen, welche hier ein strafloses Wahndelikt annehmen würde. Allerdings hätte man sich hierdurch die Diskussion um die Folge eines fehlenden subjektiven Rechtfertigungselementes abgeschnitten, was wiederum klausurtaktisch unklug wäre. Ferner wäre auch ein zwischen den dargestellten Auffassungen differenzierender Ansatz denkbar.95 bb) Folgen eines fehlenden subjektiven Rechtfertigungselementes Es stellt sich mithin die Frage, wie sich das Fehlen des subjektiven Rechtfertigungselementes auf die Rechtfertigung des B auswirkt. (1) Dabei scheint es auf den ersten Blick einzuleuchten, beim Fehlen einer Rechtfertigungsvoraussetzung, die Rechtfertigung als solche scheitern zu lassen.96 Man wird zwar anerkennen müssen, dass das Unrecht der Erfolgsherbeiführung durch das Vorliegen der objektiven Rechtfertigungsvoraussetzungen (Lage und Handlung) kompensiert ist, allerdings ändert es grundsätzlich nichts an der Tatsache, dass der tatbestandliche Erfolg eingetreten ist. Hierdurch ist der STRAFRECHT Rückgriff auf die Versuchsregeln mithin versperrt.97 Der Täter – hier B – wäre demnach aus vollendetem Delikt zu bestrafen (sog. Vollendungslösung).98 Es kann allerdings darüber nachgedacht werden, ob ihm aufgrund des kompensierten Erfolgsunrechts – analog zur Vorschrift des § 23 Abs. 2, 3 StGB – eine (fakultative) Strafmilderung nach § 49 StGB zu gewähren ist.99 (2) Belässt man es bei dieser unterkomplexen Betrachtungsweise, kommt es – unabhängig von der Überzeugungskraft der Argumente selbst – zu einer systematischen Ungereimtheit. Denn derjenige, für den die objektiven Notwehrvoraussetzungen vorliegen, stellt mit seinem Handeln unstrittig einen von der Rechtsordnung erwünschten Zustand her.100 Durch das Versagen der Rechtfertigung geht von ihm jedoch ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff aus, sodass ihm gegenüber Notwehr (§ 32 StGB) geübt werden kann – mit der möglichen Folge eines von der Rechtsordnung unerwünschten Zustandes.101 Doch auch unabhängig davon ist die These, dass die Anwendung der Versuchsregelungen aufgrund des Eintritts des tatbestandlichen Erfolges kein Raum ist, fragwürdig. Denn auch wenn es zutreffen mag, dass die Rechtfertigungsvoraussetzungen in ihrer Gesamtheit nicht vorliegen, so ist auch eine Bestrafung wegen vollendeten Deliktes unzulässig, wenn es am Erfolgsunwert der Tat fehlt bzw. dieser kompensiert wurde. Der personale (Handlungs-)Unwert allein genügt nämlich anerkanntermaßen nicht, um dies zu legitimieren. Im Ergebnis ist es mithin korrekt, den Täter im Falle eines fehlenden subjektiven Rechtfertigungselementes nicht zu rechtfertigen, es ist jedoch nicht möglich, ihn infolgedessen aus vollendetem Delikt zu bestrafen.102 (3) Das wirft freilich die Frage auf, ob die für Fälle des gänzlich fehlenden Erfolgsunrechts geschaffen Vorschriften über den (untauglichen) Versuch – entgegen der eingangs aufgestellten These – trotz Erfolgseintritt anwendbar sind. Es kommt sowohl die direkte103, als auch die analoge104 Anwen- 97 92 Herzberg, JuS 1980, 469 (478) benennt als normatives Erlaubnistatbestandsmerkmal etwa die „Rechtswidrigkeit“ des Angriffs im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB. Das, zum straflosen Wahndelikt führende, Verkennen der Grundentscheidung des Gesetzgebers sieht er etwa dann gegeben, wenn jemand das Notwehrrecht für sich ausschließt, weil er unter „rechtswidrig“ nur straftatbestandsmäßiges Verhalten (vgl. § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB) versteht. Liegt der Irrtum hingegen im Verweisungsbereich, etwa weil der geflohene, sich nach zwei Stunden wehrende Dieb unzutreffend davon ausgeht, der ihn Festnehmende tue dies noch „auf frischer Tat“ und sei daher seinerseits gerechtfertigt, soll ein strafbarer untauglicher Versuch vorliegen. 93 So der Einwand von Burkhardt, JZ 1981, 681, welcher sich indes explizit nur auf die Tatbestandsebene bezog. 94 Hierzu sogleich die folgenden Erörterungen. 95 Roxin (Fn. 28), § 29 Rn. 409 ff. 96 Heinrich, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2014, Rn. 392. In einschlägigen Beiträgen der Vertreter der Vollendungslösung wird davon gesprochen, durch die Versuchslösung werde der „Boden der Realität verlassen“ bzw. handele es sich um eine „Vergewaltigung der Tatsachen“, vgl. Hirsch, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 1, 11. Aufl. 1994, Vor § 32 Rn. 61 und Spendel (Fn. 74), § 32 Rn. 140 f. 98 BGHSt 2, 111 (114); Alwart, GA 1983, 433 (454 f.); Heinrich (Fn. 96), Rn. 392; Krey, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 2, 3. Aufl. 2008, Rn. 423. 99 So vertreten von Hirsch (Fn. 86), Vor § 32 Rn. 59. 100 Roxin (Fn. 67), § 14 Rn. 105. 101 Kühl (Fn. 7), § 7 Rn. 15. 102 Jescheck/Weigend (Fn. 37), § 31 IV. 2.; Kühl (Fn. 7), § 7 Rn. 14 f. 103 So etwa Amelung, JR 1985, 474 (477); Herzberg, JA 1986, 190 ff.; Schlehofer (Fn. 79), Vorb. § 32 ff. Rn. 98; Rönnau, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 2, 12. Aufl. 2011, § 32 Rn. 90; Roxin (Fn. 67), Rn. 104 ff. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 95 ÜBUNGSFÄLLE Sascha Sebastian/Henning T. Lorenz dung der Regelungen in Frage. Da eine Analogie allerdings eine planwidrige Regelungslücke voraussetzt,105 kommt es zunächst einmal nur auf die Argumente für eine unmittelbare Anwendung und deren Tragfähigkeit an. Hier ist es zunächst denkbar, mit der sog. „Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen“ von einem Gesamtunrechtstatbestand – welcher auch das Nichtvorliegen der Rechtfertigungsvoraussetzungen umfasst – auszugehen. Da jedenfalls die objektiven Rechtfertigungsvoraussetzungen vorliegen, fehlt es hier an der Tatbestandsverwirklichung, sodass der Anwendung der Versuchsvorschriften nichts im Wege steht.106 Es bedarf indes gar nicht des Rückgriffes auf diese – durchaus umstrittene107 – Lehre. Als Argument für das Vorliegen einer planwidrigen Regelungslücke kommt nämlich allein die Behauptung in Frage, dass die Versuchsvorschriften bei Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges nicht anwendbar seien.108 Doch auch wenn man einen dreigliedrigen Verbrechensaufbau zugrunde legt, ist in jedem vollendeten Vorsatzdelikt als notwendiges Durchgangsstadium auch ein versuchtes Delikt enthalten.109 Kennzeichen des strafbaren Versuches ist mithin nicht Ausbleiben des Tatbestandserfolgs, sondern das Ausbleiben des Unrechtserfolgs, der den Erfolgsunwert begründet.110 An einem solchen fehlt es jedoch, wenn die objektiven Voraussetzungen der Rechtfertigung vorliegen.111 Daran vermag auch der Hinweis auf mögliche „Strafbarkeitslücken“112 im Falle einer fehlenden Versuchsstrafbarkeit (vgl. § 23 Abs. 1 StGB) nichts zu ändern. Denn wenn der Gesetzgeber sich dafür entschieden hat, bestimmte Fälle des fehlenden Erfolgsunwertes nicht unter Strafe zu stellen, dann darf diese Grundentscheidung nicht auf Grundlage eines vermeintlichen kriminalpolitischen Bedürfnisses negiert werden.113 Fälle eines fehlenden subjektiven Rechtfertigungselementes sind mithin unmittelbar nach den Regeln des (untauglichen) Versuches zu beurteilen. Eine Bestrafung wegen voll104 Exemplarisch Jescheck/Weigend (Fn. 73), § 31 IV. 2.; Kühl (Fn. 10), § 7 Rn. 16; Rosenau, in: Satzger/Schluckebier/ Widmaier, Strafgesetzbuch, Kommentar, 2. Aufl. 2014, Vor § 32 Rn. 16; Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 38), § 9 Rn. 155. 105 Die zweite Voraussetzung ist die Vergleichbarkeit der Interessenlagen. Vgl. allgemein zum Analogieschluss Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 7. Aufl. 2013, Rn. 889. 106 Herzberg, JA 1986, 190 ff.; Prittwitz, Jura 1984, 74 ff. 107 Eine Darstellung soll an dieser Stelle dahinstehen. Näher hierzu Gropp, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2015, § 5 Rn. 1 ff.; Roxin (Fn. 67), § 10 Rn. 13-26 m.w.N. 108 Vgl. bspw. Kühl (Fn. 7), § 7 Rn. 16. 109 Schlehofer (Fn. 79), Vorb. § 32 ff. Rn. 98, 68 m.w.N. 110 Hierzu Roxin (Fn. 67), § 14 Rn. 105. 111 Als Vertreter der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen diesen Weg auf Grundlage eines dreistufigen Deliktsaufbaus aufzeigend Herzberg, JA 1986, 190 (192). 112 Lesenswert zum Wert der Argumentation mit „Strafbarkeitslücken“ Vormbaum, JZ 1999, 613. 113 Herzberg, JA 1986, 190 (193); Roxin (Fn. 67), § 14 Rn. 106. endeter Freiheitsberaubung kommt für B dementsprechend nicht in Betracht. 4. Zwischenergebnis B hat sich keiner (vollendeten) Freiheitsberaubung schuldig gemacht.114 – Hilfsgutachten Ende – II. Zwischenergebnis B hat sich in diesem Teilkomplex wegen Freiheitsberaubung strafbar gemacht. Hinweis: Je nach Argumentation war auch die Strafbarkeit wegen versuchter Freiheitsberaubung gut vertretbar, wenn man zuvor eine Strafbarkeit der J wegen § 265a StGB bejaht hatte (s. Hilfsgutachten). 2. Teilkomplex: Die Gegenwehr der J A. Strafbarkeit der J Hinweis: Da der Sachverhalt keine Angaben zu einem Verletzungserfolg enthält, wird hier nur die versuchte Tatbegehung geprüft. Wenn – mit entsprechender Begründung – eine Vollendung geprüft wird, ist dies jedoch vertretbar. I. Wegen §§ 223 Abs. 1, 2, 22, 23 Abs. 1, 12 Abs. 2 StGB (Versuchte Körperverletzung) J könnte sich einer versuchten Körperverletzung gem. §§ 223 Abs. 1, 2, 22, 23 Abs. 1, 12 Abs. 2 StGB schuldig gemacht haben, indem sie in Richtung des Unterleibs von B trat. 1. Vorprüfung Mangels gegenteiliger Angaben im Sachverhalt handelt es sich um eine nicht vollendete Tat, die bei der Körperverletzung nach §§ 223 Abs. 1, 2, 22, 23 Abs. 1, 12 Abs. 2 StGB auch strafbar ist. 2. Tatentschluss J wollte dem B gegen den Unterleib treten. Dies hätte bei ihm starke Schmerzen zur Folge gehabt. Im Erfolgsfalle wären die Tritte daher eine für B üble und unangemessene Behandlung, die dessen körperliches Wohlbefinden erheblich beeinträchtigt hätten.115 Für eine Gesundheitsschädigung lassen sich im Sachverhalt keine Anhaltspunkte finden. 114 Es wäre mithin eine versuchte Freiheitsberaubung zu prüfen und zu bejahen. A.A. Kühl (Fn. 7), § 7 Rn. 16, der meint, eine förmliche Versuchsprüfung sei in diesem Falle entbehrlich. 115 Vgl. BGHSt 14, 269; Lilie, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 6, 11. Aufl. 2000, § 223 Rn. 6, 9. _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 96 Übungsfall: Jaqueline und der Fluch der Damenhandtasche Verteidigungsabsicht fordert,121 muss prüfen, ob es der Zweck des Handelns der J war, der Rechtsverletzung durch B entgegenzutreten.122 Das noch anzusprechende Problem stellt sich aber auch dort. 3. Unmittelbares Ansetzen (§ 22 StGB) J führte die erfolgsgeeigneten Handlungen bereits aus; sie hat unmittelbar zur Tat angesetzt.116 4. Rechtswidrigkeit Fraglich ist, ob J durch Notwehr gerechtfertigt ist (§ 32 StGB). a) Notwehrlage Hierfür muss es sich beim Festhalten durch B um einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff handeln.117 Das Festhalten war eine strafbare Freiheitsberaubung im Sinne des § 239 StGB, womit ein gegenwärtiger, rechtswidriger Angriff vorlag. Hinweis: Wer auf Grundlage des Hilfsgutachtens wegen des fehlenden subjektiven Rechtfertigungselements nur einen untauglichen Versuch der Freiheitsberaubung durch B annahm, der musste die Notwehrlage ebenfalls ablehnen, weil ein solcher kein Angriff im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB ist.118 b) Notwehrhandlung Die Verteidigungshandlung der J muss erforderlich (geeignet; relativ mildestes Mittel)119 und geboten120 gewesen sein (§ 32 Abs. 2 StGB). Aus einer objektiven ex-ante-Sicht war ein Tritt in den Unterleib dazu geeignet den Angriff zu beenden, denn ein Treffer und die daraus resultierenden Schmerzen hätten den Griff des B durchaus lockern können. Auch sind ist keine anderen Mittel ersichtlich, weshalb es sich bei dem Tritt um das relativ mildeste Mittel handelte. Anlass zu einer „sozial-ethischen Einschränkung des Notwehrrechts“ bestand nicht, sodass die Verteidigung auch geboten war. c) Subjektives Element Hinweis: Nach der hier vertreten Auffassung genügt für das Vorliegen des subjektiven Rechtfertigungselementes ein Handeln, bei dem der/die Handelnde die tatsächlichen Umstände erfasst und sich über die Grundentscheidung des Gesetzgebers bzgl. der normativen Erlaubnistatbestandsmerkmale im Klaren ist (s.o.). Wer hingegen eine 116 Vgl. Kudlich, JuS 2002, 27 (28); BGH NStZ 2002, 433 (435). 117 Vgl. Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 7), Rn. 482 ff. 118 Vgl. Roxin (Fn. 67), § 15 Rn. 9, 1. 119 Engländer, in: Matt/Renzikowski (Fn. 4), § 32 Rn. 24 ff.; Fischer (Fn. 1), § 32 Rn. 28; Rosenau (Fn. 104), § 32 Rn. 23 ff. 120 Vgl. Momsen, in: v. Heintschel-Heinegg (Fn. 21), § 32 Rn. 31 ff.; krit. hinsichtlich Art. 103 Abs. 2 GG und eines einfachrechtlichen Anknüpfungspunkts durch das Wort „geboten“ in § 32 Abs. 1 StGB, Engländer (Fn. 108), § 32 Rn. 42. STRAFRECHT Fraglich ist jedoch, ob J Kenntnis davon hatte, dass es sich vorliegend um einen rechtswidrigen Angriff handelte. Da die Rechtswidrigkeit des Angriffs des B ihren Grund in der Straffreiheit des Handelns der J hat (s.o.), müsste man streng genommen fordern, dass J um die Straffreiheit ihres eigenen Handelns weiß.123 Lässt man es in diesem Zusammenhang genügen, dass J in Kenntnis der Umstände handelte, welche die Rechtswidrigkeit des Angriffes des B begründeten, wäre das Erfordernis eine subjektiven Rechtfertigungselementes in ihrer Person erfüllt. Geht man indes darüber hinaus und fordert – in Übereinstimmung mit dem oben Gesagten –, dass ihr die Grundentscheidung des Gesetzgebers – also dass Notwehr nur gegen rechtswidriges Handeln zulässig ist – bekannt war, fehlt es hierzu im Sachverhalt schlicht an den notwendigen Feststellungen. Da sich der „in dubio pro reo“Grundsatz allerdings anerkanntermaßen auch auf die Erlaubnistatumstände bezieht,124 ist hier jedoch von der notwendigen Kenntnis der J auszugehen, sodass es auf eine Entscheidung zwischen den Sichtweisen nicht ankommt. d) Zwischenergebnis J handelte nicht rechtswidrig 5. Zwischenergebnis J hat sich keiner versuchten Körperverletzung schuldig gemacht. II. Zwischenergebnis J hat sich in diesem Teilkomplex nicht strafbar gemacht. B. Strafbarkeit des B I. Wegen § 223 Abs. 1 StGB (Körperverletzung) B könnte sich einer Körperverletzung nach § 223 Abs. 1 StGB schuldig gemacht haben, indem er der J heftig gegen das linke Knie trat. 1. Objektiver Tatbestand Der Tritt gegen das Knie war sehr schmerzhaft, schränkte die Funktionsfähigkeit des Körperteils vorübergehend ein und zog – jedenfalls kurzfristigen – Behandlungsbedarf nach sich. 121 Weiterführend Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 38), § 9 Rn. 146 m.w.N. 122 Vgl. etwa BGH GA 1980, 67. 123 Sie muss nicht davon ausgehen, dass ihr Handeln erlaubt ist. Der Begriff des rechtswidrigen Angriffes in § 32 StGB erfasst jedoch keine Vertragsverletzungen, sofern diese keinen Straftatbestand erfüllen, vgl. Roxin (Fn. 61), § 15 Rn. 35. 124 Heinrich (Fn. 96), Rn. 331, 1449 ff. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 97 ÜBUNGSFÄLLE Sascha Sebastian/Henning T. Lorenz Es handelt sich mithin sowohl um eine körperliche Misshandlung als auch um eine Gesundheitsschädigung125. bewährungsprinzip128 erforderlichen – groben Missverhältnisses.129 2. Subjektiver Tatbestand B war sich bewusst, was sein Tritt für Folgen haben würde. Auf diese kam es ihm jedoch gerade an, um J an der Flucht zu hindern und sie von weiteren Tritten gegen seinen Unterleib abzuhalten. Er handelte vorsätzlich. II. Zwischenergebnis B hat sich wegen Körperverletzung strafbar gemacht. Sofern die Staatsanwaltschaft kein öffentliches Interesse bejaht, wird die Tat jedoch nur auf Antrag der J verfolgt (§§ 230 Abs. 1, 77 Abs. 1 StGB). Ein solcher wurde laut Bearbeitervermerk gestellt. 3. Rechtswidrigkeit Das Handeln des B könnte jedoch durch § 32 StGB (Notwehr) gerechtfertigt sein. Hinweis: Falsch wäre es, hier auf das Festnahmerecht abzustellen. Denn selbst wenn es oben bejaht wurde, hat der Tritt des B nichts mehr mit der Festnahme zu tun, sondern ist vielmehr Reaktion auf den (neuen) Angriff der J. C. Ergebnis im zweiten Tatkomplex B hat sich wegen Freiheitsberaubung (§ 239 Abs. 1 Var. 2 StGB) in Tatmehrheit (§ 53 StGB) mit Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB) strafbar gemacht. J bleibt in diesem Tatkomplex straflos. Hinweis: An dieser Stelle besteht die Gelegenheit, das eigene Ergebnis im zweiten Tatkomplex auf Schlüssigkeit zu überprüfen. Es ist nahezu jede erdenkliche Kombination der geprüften Delikte vertretbar, sodass es neben einer stichhaltigen Argumentation bei den Problemen vor allem darauf ankommt, konsequent zu bleiben. a) Notwehrlage Die J war ihrerseits durch Notwehr gerechtfertigt, sodass es an der Rechtswidrigkeit des gegenwärtigen Angriffs126 fehlt. b) Zwischenergebnis Der B war daher nicht durch Notwehr gerechtfertigt und handelte rechtswidrig. 4. Schuld B handelte schuldhaft. 5. Ergebnis B hat sich wegen Körperverletzung nach § 223 Abs. 1 StGB schuldig gemacht. Hinweis: Wer oben von einem rechtswidrigen Angriff der J ausgegangen ist, muss sich bei der Prüfung der Notwehrhandlung mit deren Gebotenheit auseinandersetzen; namentlich der Frage nach einem „Bagatellangriff“ und des „groben Missverhältnisses“ zwischen Verteidigungshandlung und Angriff. Allerdings sind Tritte in den Unterleib eines Mannes keineswegs Verhaltensweisen, die „an der Grenze zu den sonst üblichen Belästigungen liegen“ (Bagatelle).127 Und auch wenn man eine gewisse Disproportionalität von Art und Umfang der aus dem Angriff drohenden Verletzungen und der aus der Verteidigung drohenden Beeinträchtigung hier nicht leugnen können wird, genügt diese nicht für die Annahme eines – im Hinblick auf das Rechts- 3. Tatkomplex: „Berufsprivilegien“ A. Strafbarkeit des W I. Wegen § 240 Abs. 1 Var. 2 StGB (Nötigung) W könnte sich einer Nötigung nach § 240 Abs. 1 Var. 2 StGB schuldig gemacht haben, indem er der J das „Verschwindenlassen“ der Strafanzeige in Aussicht stellte, wenn sie mit ihm Geschlechtsverkehr habe. 1. Objektiver Tatbestand Drohung ist das Inaussichtstellen eines zukünftigen Übels, das verwirklicht werden soll, wenn der Gezwungene sich nicht dem Willen des Täters beugt und sich dementsprechend verhält, vorausgesetzt, der Drohende hat Einfluss auf das Übel oder er gibt einen solchen Einfluss vor.130 B hat J (ausdrücklich) in Aussicht gestellt, dass sie sich der Strafverfolgung ausgesetzt sehen werde, wenn sie sich seinem Willen nicht beuge. Er behauptete hierbei, dass er Einfluss auf den Eintritt dieses Übels habe, was J ihm wiederum glaubte. Fraglich erscheint indes, ob – bzw. unter welchen Voraussetzungen – die Drohung mit der Nichtvornahme einer Handlung dem Tatbestand des § 240 StGB unterfällt. a) Zum einen ließe sich annehmen, dass derjenige, der ankündigt, eine Handlung zu unterlassen, deren Vornahme die Rechtsordnung in dessen freies Belieben stellt, nicht 128 125 Vgl. Engländer (Fn. 119), § 223 Rn. 7. 126 Die Tritte der J sind gerade stattfindendes Verhalten, welches droht das rechtlich geschützte Individualrechtsgut der körperlichen Unversehrtheit des B zu verletzen. 127 Perron, in: Schönke/Schröder (Fn. 4), § 32 Rn. 49; Frister, GA 1988, 313. Zur Kritik an der Rechtsbewährungsdoktrin siehe Renzikowski, Notwehr und Notstand, 1994, S. 76 ff. 129 Momsen (Fn. 120), § 32 Rn. 33a. 130 Fischer (Fn. 1), § 240 Rn. 31; Joecks, Strafgesetzbuch, Studienkommentar, 11. Aufl. 2014, § 240 Rn. 21; Rengier, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 17. Aufl. 2016, § 23 Rn. 39. _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 98 Übungsfall: Jaqueline und der Fluch der Damenhandtasche droht.131 Die Drohung mit einem Unterlassen wäre demnach nur dann tatbestandlich, wenn der Täter im Sinne des § 13 StGB zur Vornahme der in Aussicht gestellten Handlung verpflichtet wäre oder ihn eine sonstige Rechtspflicht (§§ 138, 323c StGB) träfe.132 Da B keine Pflicht traf, die Strafverfolgung von J abzuwenden, wäre sein Handeln dementsprechend nicht tatbestandsmäßig. b) Es ist jedoch keineswegs zwingend, die Drohung mit einem Unterlassen an den strengen Voraussetzungen des § 13 StGB zu messen.133 Ein solche Auslegung verkennt den Unterschied zwischen der Drohung mit einem Unterlassen und der Drohung durch ein Unterlassen – nur für letztere schreibt das Gesetz die zusätzlichen Voraussetzungen des § 13 StGB vor.134 Und auch, wenn eine sonstige Rechtspflicht gefordert wird, wird damit außen vor gelassen, dass das Opfer beim Drohen mit einem Unterlassen in eine vergleichbare Zwangslage gebracht werden kann, wie beim Drohen mit aktivem Tun. Es gilt zudem zu bedenken, dass der Täter bei der Drohung mit einem empfindlichen Übel vielfach offenlassen kann, ob dieses durch ein Tun oder ein Unterlassen seinerseits erreicht werden soll. Die Tatbestandsverwirklichung kann daher nicht von dieser zufälligen Unterscheidung abhängen.135 Als ungerecht empfundene Ergebnisse können mittels der „Verwerflichkeitsklausel“ (§ 240 Abs. 2 StGB) vermieden werden.136 B hat den Willen der J durch sein Verhalten in „sozialwidriger“ Weise in eine bestimmte Richtung gelenkt. Hiernach läge eine Drohung vor, die indes auf ihre Verwerflichkeit hin zu untersuchen wäre. c) Auch wenn die letztgenannte Sichtweise zweifellos pragmatisch und flexibel ist, so verkennt sie doch grundlegend das Wesen einer Drohung im Rechtssinne. Um das nachvollziehen zu können, muss man sich nur vergegenwärtigen, dass bei der Drohung mit einem Unterlassen der Rechtskreis des potentiellen Opfers erweitert wird. Ihm wird 131 RGSt 14, 264 (265); RGSt 63, 424 (425); BGH, GA 1960, 277 (278); Dreher/Tröndle, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 39. Aufl. 1980, § 235 Rn. 5; Grosse-Wilde, MedR 2012, 189; Haffke, ZStW 1972, 71; Jakobs, in: Baumann/Tiedemann (Hrsg.), Festschrift für Karl Peters zum 70. Geburtstag, 1974, S. 78; Roxin, JR 1983, 333 ff. Zu einem ganz ähnlich gelagerten Fall wie dem vorliegen OLG Hamburg NJW 1980, 2592 f. m. zust. Anm. Ostendorf. 132 Zur Unterscheidung dieser „Rechtspflichttheorie“ und der Auffassung, die stets eine Garantenstellung verlangt, Eidam (Fn. 65), § 240 Rn. 42. 133 BGHSt 31, 195 (201); 44, 251 (252); Eidam (Fn. 65), § 240 Rn. 42; Gropp/Sinn, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 4, 2. Aufl. 2012, § 240 Rn. 84 m.w.N. 134 BGHSt 31, 195 ff.; 44, 251 (252); OLG Oldenburg, NJW 2008, 3012 m. zust. Bespr. Sinn, ZJS 2010, 447 ff.; Eser, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar, 27. Aufl. 2006, § 240 Rn. 20. 135 BGHSt 31, 195 (202). 136 BGHSt 31, 195 (201). STRAFRECHT von Seiten des Täters Hilfe in Form des Tätigwerdens – zu einem Preis – angeboten, zu deren Anbieten von Rechtswegen gerade keine Verpflichtung besteht.137 Es handelt sich mithin um den Hinweis auf eine bestehende Notlage und das Aufzeigen eines Ausweges.138 Der „Umweg“ über die Verwerflichkeitsklausel überdehnt indes die begrifflichen Grenzen der „Drohung“ nur um dann im Wege einer „konkret normativen Betrachtung“ in vielen Fällen zum selben Ergebnis zu kommen, wie all diejenigen, welche die Tatbestandsmäßigkeit einer Drohung durch Unterlassen ablehnen. Denn an der Verwerflichkeit im Sinne des § 240 Abs. 2 StGB soll es in den einschlägigen Fällen immer dann fehlen, wenn der Handlungsspielraum des Bedrohten erweitert, die Autonomie seiner Entschlüsse jedoch nicht in strafwürdiger Weise angetastet wird.139 Soweit im Einzelfall dennoch eine Strafbarkeit mit der Behauptung bejaht wird, dass „die Verquickung einer eigennützigen Forderung, mit der Ankündigung nur im Falle der Vornahme dieser auf ein Unterbleiben strafrechtlicher Verfolgung hinzuwirken, offenkundig verwerflich“ sei,140 handelt es sich um die Bestrafung einer Verhaltensweise, welche das geschützte Rechtsgut der Nötigung nicht beeinträchtigt.141 2. Zwischenergebnis Mangels einer Pflicht zur Abwendung der Strafverfolgung ist eine Drohung des W daher abzulehnen. Der objektive Tatbestand ist nicht erfüllt. II. Zwischenergebnis B hat sich keiner Nötigung schuldig gemacht. B. Ergebnis im dritten Tatkomplex B hat sich in diesem Tatkomplex nicht strafbar gemacht. Gesamtergebnis J hat sich wegen Diebstahls (§ 242 Abs. 1 StGB) strafbar gemacht. W hat sich wegen Begünstigung (§ 257 Abs. 1 137 Horn, in: Wolter (Fn. 36), 240 Rn. 16 f. Kritisch hierzu die Anmerkung Ostendorfs. 138 OLG Hamburg, NJW 1980, 2592. 139 BGHSt 31, 195 (202). 140 So fast identisch das OLG Oldenburg NJW 2008, 3012 für einen Fall in dem Geld für das Hinwirken auf die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens verlangt wurde. Auch die von Sinn, ZJS 2010, 447 (449) in diesem Fall vorgenommene Begründung des für richtig gehaltenen Ergebnisses überzeugt nicht, wenn er anführt der Täter habe keinen Anspruch auf das Geld und das Opfer werde andernfalls vogelfrei. Übertragen auf den vorliegenden Fall wäre wohl auch „offenkundige“ Verwerflichkeit anzunehmen gewesen. 141 Zu Recht krit. daher Grosse-Wilde, MedR 2012, 189 und Roxin, JR 1983, 333 (335), der diese Vorgehensweise – Annahme der Strafbarkeit bei strafwürdigem Antasten der Autonomie des Opfers – wegen der alleinige Beurteilung der Strafwürdigkeit durch den Richter, als einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG wertet. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 99 ÜBUNGSFÄLLE Sascha Sebastian/Henning T. Lorenz StGB) strafbar gemacht. B hat sich wegen Freiheitsberaubung (§ 239 Abs. 1 Var. 2 StGB) in Tatmehrheit (§ 53 StGB) mit Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB) strafbar gemacht. _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 100 BGH, Urt. v. 12.10.2016 – VIII ZR 103/15 Stietz _____________________________________________________________________________________ Entscheidungsanmerkung Beweislastumkehr nach § 476 BGB zugunsten des Verbrauchers bei jedem sich innerhalb der ersten sechs Monate nach Gefahrübergang zeigenden Mangel? 1. § 476 BGB ist richtlinienkonform dahin auszulegen, dass die dort vorgesehene Beweislastumkehr zugunsten des Käufers schon dann greift, wenn diesem der Nachweis gelingt, dass sich innerhalb von sechs Monaten ab Gefahrübergang ein mangelhafter Zustand (eine Mangelerscheinung) gezeigt hat, der – unterstellt, er hätte seine Ursache in einem dem Verkäufer zuzurechnenden Umstand – dessen Haftung wegen Abweichung von der geschuldeten Beschaffenheit begründen würde. Dagegen muss der Käufer weder darlegen und nachweisen, auf welche Ursache dieser Zustand zurückzuführen ist, noch dass diese in den Verantwortungsbereich des Verkäufers fällt (im Anschluss an EuGH, Urteil vom 4. Juni 2015 – C-497/13, NJW 2015, 2237 Rn. 70 – Faber; Änderung der bisherigen Senatsrechtsprechung; vgl. Senatsurteile vom 2. Juni 2004 – VIII ZR 329/03, BGHZ 159, 215, 217 f. [Zahnriemen]; vom 14. September 2005 – VIII ZR 363/04, NJW 2005, 3490 unter II 1 b bb (1) [Karrosserieschaden]; vom 23. November 2005 – VIII ZR 43/05, NJW 2006, 434 Rn. 20 f. [Turbolader]; vom 18. Juli 2007 – VIII ZR 259/06, NJW 2007, 2621 Rn. 15 [defekte Zylinderkopfdichtung]). 2. Weiter ist § 476 BGB richtlinienkonform dahin auszulegen, dass dem Käufer die dort geregelte Vermutungswirkung auch dahin zugutekommt, dass der binnen sechs Monaten nach Gefahrübergang zu Tage getretene mangelhafte Zustand zumindest im Ansatz schon bei Gefahrübergang vorgelegen hat (im Anschluss an EuGH, Urteil vom 4. Juni 2015 – C-497/13, aaO Rn. 72 – Faber; Aufgabe der bisherigen Senatsrechtsprechung; vgl. Urteile vom 2. Juni 2004 -– VIII ZR 329/03, aaO; vom 22. November 2004 – VIII ZR 21/04, NJW 2005, 283 unter [II] 2; vom 14. September 2005 – VIII ZR 363/04, aaO; vom 23. November 2005 – VIII ZR 43/05, aaO Rn. 21; vom 21. Dezember 2005 – VIII ZR 49/05, NJW 2006, 1195 Rn. 13 [Katalysator]; vom 29. März 2006 – VIII ZR 173/05, BGHZ 167, 40 Rn. 21, 32 [Sommerekzem I]; vgl. Senatsurteil vom 15. Januar 2014 - VIII ZR 70/13, BGHZ 200, 1 Rn. 20 [Fesselträgerschenkelschaden]). (Amtliche Leitsätze) BGB § 476 BGH, Urt. v. 12.10.2016 – VIII ZR 103/15 (OLG Frankfurt am Main, LG Frankfurt am Main)1 In seinem Urteil vom 12.10.20162 hat der BGH seine bisherige Rechtsprechung zur Beweislastumkehr beim Verbrauchsgüterkauf nach § 476 BGB grundlegend verändert. War der BGH in der Vergangenheit noch davon ausgegangen, dass § 476 BGB nur in zeitlicher Hinsicht wirke, änderte er diese Auffassung mit seiner jüngsten Entscheidung dahingehend, dass § 476 BGB unter Beachtung der Rechtsprechung des EuGH als Quasi-Haltbarkeitsgarantie wirke! Diese Entscheidung ist begrüßenswert, da der BGH sich nun im Gleichschritt mit der vorzugswürdigen Auslegung der Literatur zu § 476 BGB bewegt.3 Zum Prozessverlauf: Der Kläger hatte von der Beklagten, einer Kraftfahrzeughändlerin einen gebrauchten BMW gekauft, der nach knapp fünf Monaten in der Automatikeinstellung „D“ nicht mehr in den Leerlauf schaltete, statt dessen starb der Motor ab. Ein Anfahren oder Rückwärtsfahren am Berg war nicht mehr möglich. Nach erfolgloser Fristsetzung zur Mangelbeseitigung trat der Kläger vom Kaufvertrag zurück und verlangte Rückzahlung des Kaufpreises und Schadensersatz. Bisher nahm der BGH an, dass das bloße Auftreten eines Mangels innerhalb von sechs Monaten seit Gefahrübergang nicht ausreiche, um die Beweislast umzukehren.4 Das Gericht ging davon aus, dass § 476 BGB lediglich eine Vermutung in zeitlicher Hinsicht sei und es deshalb des Beweises durch den Käufer bedürfe, dass die Sache bereits bei Gefahrübergang mangelhaft gewesen sei, bzw. ggf. darüber hinaus, dass eine fehlerhafte Bedienung durch den Käufer nicht Ursache für die Mangelhaftigkeit gewesen sein konnte. Das Rücktrittsbegehren des Käufers scheiterte in der Praxis regelmäßig daran, dass nicht bewiesen werden konnte, ob ein Grundmangel oder eine fehlerhafte Bedienung zum sich zeigenden Mangel geführt hat. So wäre es auch im nun vom BGH entschiedenen Fall gewesen; der BMW fuhr – zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs – einwandfrei. Ob ein in der Sache schlummernder Sachmangel oder eine Fehlbedienung des Käufers zur Funktionsuntüchtigkeit des Leerlaufs geführt hat, konnte nicht festgestellt werden. Nach alter BGH-Ansicht wäre § 476 BGB nicht anwendbar gewesen und der Käufer hätte (mangels Fiktion eines Sachmangels bei Gefahrübergang) keine Mängelgewährleistungsrechte geltend machen können. Die durchaus interessante Meinung Schwabs5 zog der BGH im Rahmen seiner Urteilsfindung nicht heran. Sie ergriffe den vom BGH entschiedenen Fall allerdings auch schon gar nicht. Nach Schwab soll der Käufer im Sinne einer sog. „Jemals-Vermutung“ § 476 BGB dann fruchtbar machen können, wenn der Verkäufer zwar beweisen kann, dass die Sache bei Gefahrübergang einwandfrei funktioniert hat, der Käufer seinerseits aber beweisen kann, dass die Sache ir2 Urt. v. 12.10.2016 – VIII ZR 103/15. Ausführliche dogmatische Darstellung siehe Stietz, ZJS 2016, 399. 4 BGH NJW 2004, 2299 (2300); BGH NJW 2005, 3490 (3492); BGH NJW 2006, 2250 (2253); BGH NJW 2007, 2621 (2622); BGH NJW 2014, 1086 (1087). 5 Schwab, JuS 2015, 71. 3 1 Die Entscheidung ist abrufbar unter: http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/docu ment.py?Gericht=bgh&Art=en&nr=76474&pos=0&anz=1 (23.1.2017). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 101 BGH, Urt. v. 12.10.2016 – VIII ZR 103/15 Stietz _____________________________________________________________________________________ gendwann in ihrer Lebensdauer schon einmal mangelhaft gewesen war.6 Hier war dem Käufer des BMW keine vorherige Mangelhaftigkeit bekannt auf die er sich hätte berufen können. In seinem Urteil vom 12.10.2016 entschied sich der BGH vielmehr dafür, § 476 BGB richtlinienkonform auszulegen. Hierzu war er nach der Faber-Entscheidung des EuGH7 auch gezwungen. § 476 BGB wurde im Jahr 2002 zur Umsetzung von Art. 5 Abs. 3 der VerbrGK-RL8 in das BGB eingefügt. Grundsätzlich sind letztinstanzliche Gerichte verpflichtet, Normen europarechtskonform auszulegen und ggf. bei Unsicherheiten hinsichtlich der Auslegung des Unionsrechts den EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Abs. 3 AEUV anzurufen. Hat der EuGH allerdings bereits über einen gleichen Fall entschieden, besteht keine Vorlagepflicht (acte éclairé) und ist die Rechtsprechung des EuGH bei der Urteilsfindung entsprechend zu berücksichtigen. In seiner Faber-Entscheidung9 hat der EuGH Art. 5 Abs. 3 VerbrGK-RL dahingehend ausgelegt, dass es sich um eine quasi Haltbarkeitsgarantie für die ersten sechs Monate nach Gefahrübergang handele. Da der Wortlaut des § 476 BGB für eine solche Interpretation offen ist, musste der BGH § 476 BGB in der vorliegenden Entscheidung dahingehend auslegen, dass er dem Verbraucher innerhalb von sechs Monaten nach Gefahrübergang einen vollumfänglichen Schutz bietet. Das bedeutet, dass der Käufer lediglich das Vorliegen eines Mangels innerhalb von sechs Monaten nach Gefahrübergang beweisen können muss, damit ein Mangel bei Gefahrübergang über § 476 BGB vermutet werden kann. Indem der BMW fünf Monate nach Gefahrübergang nicht mehr einwandfrei funktionierte, ist der Tatbestand des nun neu ausgelegten § 476 BGB erfüllt, so dass ein Mangel bei Gefahrübergang angenommen werden kann. Der Käufer kann trotz dessen, dass nicht klar ist, ob ein bei Gefahrübergang vorliegender Grundmangel oder eine Fehlbedienung durch den Käufer zur Mangelhaftigkeit geführt hat, im Rahmen des Sachmängelgewährleistungsrechts gegen die Verkäuferin vorgehen. Die vorzugswürdige Ansicht in der Literatur10 war bei der Auslegung des § 476 BGB schon seit jeher zu dem oben dargestellten Ergebnis gelangt. Sie nimmt eine von der alten Ansicht des BGH abweichende Wortlautauslegung sowie eine Auslegung nach der Systematik und dem Sinn und Zweck der Vorschrift vor: § 476 BGB lasse nach seinem klaren Wortlaut keine andere Deutung zu als die, dass bei jedem Mangel, der sich innerhalb der ersten sechs Monate nach Gefahrübergang zeige, zugunsten des Verbrauchers vermutet werde, die Sache sei bereits bei Gefahrübergang mangelhaft gewesen. Hierbei behilft sich die Literatur mit der Vorstellung eines in der Sache schlummernden Mangels. § 476 BGB stelle ferner eine Ausnahme zur allgemeinen Regel nach § 363 BGB dar, derzufolge der Fordernde eine ihm günstige Tatsache beweisen können muss. Diese Modifizierung sei erforderlich und von § 476 BGB, der wie oben gezeigt Art. 5 Abs. 3 VerbrGK-RL umsetzt, bezweckt, um den Verbraucher vor schlechteren Beweismöglichkeiten die Sache betreffend und vor besseren Erforschungsmöglichkeiten des Unternehmers schützen zu können. Abschließend lässt sich feststellen, dass § 476 BGB sowohl nach Auslegung der Literatur als auch nach neuer Auslegung des BGH dahingehend zu verstehen ist, dass jeder Mangel innerhalb der ersten sechs Monate nach Gefahrübergang als Mangel bei Gefahrübergang anzusehen ist, wenn nicht der Verkäufer etwas Gegenteiliges beweisen kann. Stud. iur. Cornelia Stietz, Heidelberg 6 Diese Ansicht ist abzulehnen. Nur organische Sachen können sich von einem Mangel scheinbar regenerieren und dabei dennoch an einem zwischenzeitlich nicht sichtbaren Grundmangel leiden. Weiß der Käufer einer starren Sache von einem Mangel, greift bereits § 442 BGB. Für § 476 BGB bleibt kein Raum. Detaillierter Stietz, ZJS 2016, 399 (401). 7 EuGH, Urt. v. 4.6.2015 – C-497/13 (Faber). 8 Richtlinie 1999/44/EG. 9 EuGH, Urt. v. 4.6.2015 – C-497/13 (Faber). 10 Vgl. Lorenz, in: Münchner Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 2016, § 476 Rn. 4; Löhnig, JA 2004, 857 (858); Lorenz, NJW 2004, 3020 (3021); Fischinger, JA 2006, 401 (402); Maultzsch, NJW 2006, 3091 (3093). _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 102 BGH, Urt. v. 24.9.2014 – XIII ZR 394/12 Hagemann _____________________________________________________________________________________ Entscheidungsanmerkung Der Begriff der wesentlichen Vertragsverletzung im UNKaufrecht 1. Für die Beurteilung, ob eine wesentliche Vertragsverletzung vorliegt, ist, wenn die Vertragswidrigkeit auf einer Abweichung von der vertraglich vereinbarten Beschaffenheit (Art. 35 Abs. 1 CISG) oder auf einer sonstigen Mangelhaftigkeit (Art. 35 Abs. 2 CISG) beruht, nicht allein die Schwere der Mängel entscheidend, sondern vielmehr, ob durch das Gewicht der Vertragsverletzung das Erfüllungsinteresse des Käufers im Wesentlichen entfallen ist. Kann er die Kaufsache, wenn auch unter Einschränkungen, dauerhaft nutzen, wird eine wesentliche Vertragsverletzung vielfach zu verneinen sein (Fortführung von BGH, Urteil vom 3. April 1996 – VIII ZR 51/95, BGHZ 132, 290, 297 ff.). 2. Bei der Prüfung, ob eine Vertragsverletzung des Verkäufers das Erfüllungsinteresse des Käufers im Wesentlichen entfallen lässt, ist in erster Linie auf die getroffenen Parteivereinbarungen abzustellen. Fehlen ausdrückliche Vereinbarungen, ist vor allem auf die Tendenz des UNKaufrechts Rücksicht zu nehmen, die Vertragsaufhebung zugunsten der anderen in Betracht kommenden Rechtsbehelfe, insbesondere der Minderung oder des Schadensersatzes zurückzudrängen. Die Rückabwicklung soll dem Käufer nur als letzte Möglichkeit (ultima ratio) zur Verfügung stehen, um auf eine Vertragsverletzung der anderen Partei zu reagieren, die so gewichtig ist, dass sie sein Erfüllungsinteresse im Wesentlichen entfallen lässt (im Anschluss an BGH, Urteil vom 3. April 1996 – VIII ZR 51/95, aaO). 3. Die Aufrechnung von gegenseitigen Geldforderungen, die aus demselben dem UN-Kaufrecht unterliegenden Vertragsverhältnis entspringen, beurteilt sich nach konventionsinternen Verrechnungsmaßstäben. Folge der konkludent oder ausdrücklich zu erklärenden Aufrechnung ist, dass die gegenseitigen Geldforderungen - sofern keine Aufrechnungsausschlüsse vereinbart worden sind – durch Verrechnung erlöschen, soweit sie betragsmäßig übereinstimmen (Weiterentwicklung von BGH, Urteile vom 23. Juni 2010 – VIII ZR 135/08, WM 2010, 1712 Rn. 24; vom 14. Mai 2014 – VIII ZR 266/13, WM 2014, 1509 Rn. 18). (Amtliche Leitsätze) CISG Art. 4, 7 Abs. 2, 25, 49 Abs. 1 lit. a BGH, Urt. v. 24.9.2014 – VIII ZR 394/12 (OLG Zweibrücken, LG Zweibrücken)1 I. Einleitung Das CISG („Convention on Contracts for the International Sale of Goods“) oder Wiener Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 11.4.1980 über Verträge über den internationalen Warenkauf gilt seit 1.1.1991 für die Bundesrepublik Deutschland. Das auch UN-Kaufrecht genannte Übereinkommen ist grundsätzlich auf grenzüberschreitende Kaufverträge über Waren zwischen Unternehmen mit Sitz in den CISG-Mitgliedsstaaten anzuwenden (Art. 1 CISG). Die Regeln des UN-Kaufrechts sind dispositiv; die Vertragsparteien dürfen die Geltung des CISG ausschließen (Art. 6 CISG). Das UN-Kaufrecht gilt derzeit in 85 Mitgliedsstaaten.2 Der vorliegende Beitrag beleuchtet die Bedeutung des Begriffs der wesentlichen Vertragsverletzung für die Mängelgewährleistung im UN-Kaufrecht vor dem Hintergrund des Urteils des BGH. Anhand des Urteils wird veranschaulicht, welche Voraussetzungen vorliegen müssen, damit eine wesentliche Vertragsverletzung bejaht werden kann. II. Die Bedeutung der wesentlichen Vertragsverletzung im UN-Kaufrecht 1. Der Begriff der Vertragsverletzung Das UN-Kaufrecht verwendet für alle Fälle der Pflichtverletzung den zentralen Begriff der Vertragsverletzung. Insoweit wird auch nicht zwischen unterschiedlichen Pflichtverletzungen wie Verzug oder Schlechtleistung differenziert.3 Der Begriff der Vertragsverletzung wird im UN-Kaufrecht nicht definiert. Laut Güllemann4 heißt Vertragsverletzung, dass eine Pflicht aus dem Vertrag oder dem CISG nicht eingehalten worden ist. Dabei soll es allein auf die objektive Verletzung der Pflicht ankommen. Ein Verschulden wird nicht vorausgesetzt. 2. Der Begriff und die Bedeutung der wesentlichen Vertragsverletzung Bei Vorliegen einer (einfachen) Vertragsverletzung hat der Vertragspartner verschiedene Rechtsbehelfe. So darf der Käufer Erfüllung (Art. 46 Abs. 1 CISG), Nachbesserung (Art. 46 Abs. 3 CISG) oder Minderung (Art. 50 CISG) und daneben Schadenersatz fordern (Art. 45 Abs. 1 lit. b, 74 CISG). Die Rechtsbehelfe der Ersatzlieferung (Art. 46 Abs. 2 CISG) und der Vertragsaufhebung (Art. 49 Abs. 1 lit. a CISG) setzen hingegen voraus, dass die Vertragsverletzung wesentlich ist. Und schließlich verliert der Käufer bei Vorliegen einer wesentlichen Vertragsverletzung trotz eines eingetretenen Gefahrübergangs nicht seine Rechte (Art. 70 CISG). Die Hauptbedeutung der wesentlichen Vertragsverletzung, die auch als „Angelpunkt des Sanktionensystems“ des 2 1 Die Entscheidung ist abrufbar unter: http://juris.bundesgerichtshof.de/cgibin/rechtsprechung/docu ment.py?Gericht=bgh&Art=en&sid=d0168fdcf1b5bfed9242d 797608558e5&nr=69357&pos=0&anz=1 (26.1.2017). Vgl. http://www.uncitral.org/uncitral/en/uncitral_texts/sale_ goods/1980CISG_status.html (26.1.2017). 3 Güllemann, Internationales Vertragsrecht, 2. Aufl. 2014, S. 173. 4 Güllemann (Fn. 3), S. 174. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 103 BGH, Urt. v. 24.9.2014 – XIII ZR 394/12 Hagemann _____________________________________________________________________________________ CISG bezeichnet wird, liegt in seiner Funktion als Vertragsaufhebungsvoraussetzung.5 Art. 25 CISG lautet: „Eine von einer Partei begangene Vertragsverletzung ist wesentlich, wenn sie für die andere Partei solchen Nachteil zur Folge hat, dass ihr im Wesentlichen entgeht, was sie nach dem Vertrag hätte erwarten dürfen, es sei denn, dass die vertragsbrüchige Partei diese Folge unter den gleichen Umständen auch nicht vorausgesehen hätte.“ Diese gesetzliche Definition des Begriffs der wesentlichen Vertragsverletzung wurde in der Literatur als „sehr vage“ bezeichnet. Denn sie stellt gleich auf mehrere unbestimmte Begriffe ab (Vertragsverletzung, Nachteil, Wesentlichkeit, berechtigte Erwartung und Vorhersehbarkeit).6 Einigkeit bestand jedoch in Rechtsprechung und Literatur darin, dass angesichts der einschneidenden Folgen von einem restriktiven Verständnis des Begriffs der wesentlichen Vertragsverletzung auszugehen sei.7 Denn die Vertragsaufhebung und die daraus im internationalen Handelsverkehr folgende Notwendigkeit eines aufwändigen Rücktransports von Waren über große Distanzen werden im Vergleich zur Geltendmachung anderer Rechtsbehelfe wie eines Schadensersatzes als unökonomisch angesehen.8 Aus diesem Grund soll die Rückabwicklung von Verträgen nur als „ultima ratio“ zur Verfügung stehen.9 Zu fragen ist nun, unter welchen Voraussetzungen und bei welchen Fallgestaltungen eine wesentliche Vertragsverletzung vorliegt. Denn nur die Klassifizierung einer Vertragsverletzung als wesentlich eröffnet – wie gerade dargelegt – die Möglichkeit zu Ersatzlieferung oder Vertragsaufhebung. III. Urteil des BGH 1. Sachverhalt (verkürzt dargestellt) Die Beklagte bezog Spritzgusswerkzeuge bei der in Ungarn ansässigen Klägerin. Bei einigen Lieferaufträgen rügte die Beklagte Mängel. Nachdem die Klägerin die Mängel nicht zur Zufriedenheit der Beklagten beseitigt hatte, erklärte die Beklagte den „Rücktritt vom Vertrag“. In der Folgezeit behob die Beklagte bei sämtlichen Werkzeugen die von ihr monierten Mängel selbst und setzte sie danach in ihrer Produktion ein. Die Klägerin begehrt einen Restkaufpreis für die Werkzeuge. Die Beklagte hält dem entgegen, die Vergütungsforderungen seien durch den Rücktritt entfallen. Das Landgericht Zweibrücken hatte der Klage im Wesentlichen stattgegeben. Im Berufungsverfahren hatte das OLG Zweibrücken entschieden, die Beklagte sei wegen Vor5 Schroeter, in: Kommentar zum Einheitlichen UN-Kaufrecht, 6. Aufl. 2013, Art. 25 CISG Rn. 6. 6 Ferrari, in: Ferrari u.a., Internationales Vertragsrecht, 2. Aufl. 2011, Rn. 4. 7 BGH NJW 1996, 2364 (2366); Ferrari (Fn. 6), Rn. 4; Gruber, in: Münchener Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 2016, Art. 25 CISG Rn. 5. 8 Gruber (Fn. 7), Art. 25 CISG Rn. 5; Schroeter (Fn. 5), Art. 25 CISG Rn. 9. 9 Gruber (Fn. 7), Art. 25 CISG Rn. 5. liegens einer wesentlichen Vertragsverletzung und des daraufhin erklärten Rücktritts von der Zahlungspflicht befreit. Gegen diese Entscheidung richtete sich die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin, der der BGH stattgab. 2. Rechtliche Wertung des BGH Der BGH hat im vorliegenden Fall eine wesentliche Vertragsverletzung seitens der Klägerin verneint. Nach Ansicht des BGH ist ein Pflichtenverstoß im Anschluss an Art. 25 CISG dann wesentlich, wenn er die berechtigten Vertragserwartungen der anderen Partei so sehr beeinträchtigt, dass deren Interesse an der Erfüllung des Vertrags im Wesentlichen entfällt. Bei der Beurteilung, ob eine Vertragsverletzung wesentlich ist, ist zunächst auf die Parteivereinbarung abzustellen. Fehlen Parteivereinbarungen ist auf die Tendenz des UNKaufrechts Rücksicht zu nehmen, wonach die Rückabwicklung des Vertrags nur als letzte Möglichkeit (ultima ratio) besteht. Denn das UN-Kaufrecht geht vom Vorrang der Vertragserhaltung aus. Für die Bejahung oder Verneinung einer wesentlichen Vertragsverletzung sollen die Umstände des Einzelfalls entscheidend sein. Der BGH stellt jedoch in seinem Urteil für bestimmte Fallgruppen Leitlinien auf. Im Falle der mangelhaften Lieferung ist nicht allein auf die Schwere der Mängel abzustellen. Vielmehr soll eine wesentliche Vertragsverletzung dann vorliegen, wenn durch das Gewicht der Vertragsverletzung das Erfüllungsinteresse des Käufers im Wesentlichen entfallen ist. Die mangelhafte Ware muss also für den Käufer weitgehend ohne Nutzen sein. Eine Vertragsverletzung soll grundsätzlich dann nicht wesentlich sein, wenn der Käufer die Ware – und sei es unter Einschränkungen – nutzen kann. Demzufolge soll kein Mangel vorliegen, wenn eine anderweitige Verarbeitung oder ein Absatz der Ware im gewöhnlichen Geschäftsverkehr, gegebenenfalls mit einem Preisabschlag, ohne unverhältnismäßigen Aufwand möglich und zumutbar ist. Entsprechendes gilt, wenn der Mangel von Käufer oder Verkäufer mit zumutbarem Aufwand innerhalb angemessener Frist beseitigt werden kann. Gegen das Vorliegen einer wesentlichen Vertragsverletzung kann schließlich auch der Umstand sprechen, dass der Käufer die mangelhafte Sache für den vorgesehenen Zweck auf Dauer verwendet und hierdurch gezeigt hat, dass sie für ihn nicht ohne Interesse war. Für den vorliegenden Fall war damit von entscheidender Bedeutung, dass die Beklagte nach tatrichterlicher Feststellung bereits im Zeitpunkt des Rücktritts nicht vorhatte, die Werkzeuge zurückzugeben. Die Beklagte wollte vielmehr die Mängel selbst beheben und die Werkzeuge anschließend verwenden. Damit hat der BGH eine wesentliche Vertragsverletzung nach den oben genannten Leitlinien verneint und ein Entfallen des Kaufpreisanspruchs nach Art. 81 Abs. 1 CISG ebenfalls verneint. IV. Fazit und Praxistipps Im besprochenen Fall stellt der BGH Leitlinien für das Vorliegen einer wesentlichen Vertragsverletzung nach CISG auf. _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 104 BGH, Urt. v. 24.9.2014 – XIII ZR 394/12 Hagemann _____________________________________________________________________________________ Positiv zu vermerken ist, dass die Leitlinien dem Grundgedanken des UN-Kaufrechts vom Vorrang der Vertragserhaltung folgen. Die Leitlinien des BGH führen zudem zu wirtschaftlich sinnvollen Ergebnissen. Im grenzüberschreitenden Verkehr ist die Rückabwicklung von Verträgen mit erhöhtem Aufwand verbunden. In den meisten Fällen werden die Parteien von sich aus versuchen, über eine Minderung des Kaufpreises zu einer Lösung zu gelangen. Eine Rückabwicklung des Vertrages wird in vielen Fällen nicht im Interesse beider Parteien sein. Diese Praxis wird durch die Leitlinien des BGH gestärkt. Zu beachten ist jedoch, dass der BGH die Umstände des Einzelfalls als entscheidend ansieht und bei Vorliegen einer Parteivereinbarung diese als vorrangig bewertet. Vor diesem Hintergrund bietet es sich in der Beratungspraxis an, bereits im Vertrag Fallgruppen und Voraussetzungen für das Vorliegen einer wesentlichen Vertragsverletzung zu definieren und damit eine Parteivereinbarung zur Definition einer wesentlichen Vertragsverletzung zu treffen. Diese Festlegungen dienen der Rechtssicherheit und helfen, Streitigkeiten zu vermeiden.10 Rechtsanwältin Dr. Katrin Hagemann, Minden 10 Die vorstehenden Ausführungen stellen die persönliche Auffassung der Autorin dar und stehen in keinem Zusammenhang mit ihrer beruflichen Tätigkeit. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 105 BGH, Urt. v. 20.10.2016 – III ZR 278/15, 302/15, 303/15 Noak _____________________________________________________________________________________ Entscheidungsanmerkung Amtshaftung wegen unterbliebener Bereitstellung von Plätzen in der Kindertagesbetreuung seitens der öffentlichen Jugendhilfe 1. Der zuständige Träger der öffentlichen Jugendhilfe verletzt seine Amtspflicht, wenn er einem gemäß § 24 Abs. 2 SGB VIII (in der ab dem 1.8.2013 geltenden Fassung) anspruchsberechtigten Kind trotz rechtzeitiger Anmeldung des Bedarfs keinen Betreuungsplatz zur Verfügung stellt. Für das Verschulden des Amtsträgers kommt dem Geschädigten ein Beweis des ersten Anscheins zugute. 2. Die mit dem Anspruch aus § 24 Abs. 2 SGB VIII korrespondierende Amtspflicht bezweckt auch den Schutz der Interessen der personensorgeberechtigten Eltern. 3. In den Schutzbereich der verletzten Amtspflicht fällt auch der Verdienstausfallschaden, den Eltern dadurch erleiden, dass ihr Kind entgegen § 24 Abs. 2 SGB VIII keinen Betreuungsplatz erhält. (Amtliche Leitsätze) BGB § 839 SGB VIII § 24 Abs. 2 BGH, Urt. v. 20.10.2016 – III ZR 278/15, 302/15, 303/151 I. Einführung Die drei Urteile des BGH vom 20.10.2016 befassen sich mit Schadenersatzansprüchen von personensorgeberechtigten Elternteilen gegenüber Trägern der öffentlichen Jugendhilfe, die für die Bereitstellung von Plätzen in der Kindertagesbetreuung, also Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege, zuständig sind.2 Das Gericht sieht eine Amtspflichtverletzung der beklagten Gemeinde (genauer: der Stadt Leipzig) darin, dass sie anspruchsberechtigten Kindern entsprechende Plätze trotz frühzeitiger Anmeldung nicht zur Verfügung gestellt hat. Die Besonderheit der Fälle liegt darin, dass sich § 24 SGB VIII als Norm, die den Anspruch der Kinder auf Betreuungsplätze begründet, in den entscheidenden Passagen allein an die Kinder wendet, während die geltend gemachten 1 Im Internet abrufbar unter http://juris.bundesgerichtshof.de/cg-bin/rechtsprechung/docu ment.py?Gericht=bgh&Art=en&sid=d1eee650aa4f4d3ce191 474fb19ecae3&nr=76566&pos=6&anz=19 (19.1.2017); http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/docu ment.py?Gericht=bgh&Art=en&sid=d1eee650aa4f4d3ce191 474fb19ecae3&nr=76486&pos=7&anz=19 (19.1.2017); http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/docu ment.py?Gericht=bgh&Art=en&sid=d1eee650aa4f4d3ce191 474fb19ecae3&nr=76521&pos=8&anz=19 (19.1.2017). 2 Dieser Beitrag behandelt nicht die vom BGH ebenfalls diskutierten Anspruchsgrundlagen des öffentlich-rechtlichen Schuldverhältnisses (§§ 280, 311, 249 BGB analog), des § 36a Abs. 3 SGB VIII und der Geschäftsführung ohne Auftrag (§§ 683, 670 BGB). finanziellen Schäden den (klagenden) Müttern entstanden sind. Entgegen dem OLG Dresden als Vorinstanz bejaht der BGH gleichwohl einen auf § 839 Abs. 1 S. 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG beruhenden Ersatzanspruch. Die Art und Weise, in der er das Problem rechtsmethodisch angeht und die Entscheidungen begründet, verdient Beachtung und stellt den besonderen Wert dar, den diese nicht unbedingt im Zentrum des Prüfungsgeschehens angesiedelten Urteile für die juristische Ausbildung besitzen. Wer das methodische Vorgehen des BGH in seiner zentralen Argumentation nachverfolgt, kann die eigenen juristischen Kompetenzen stärken. II. Sachverhalt In den drei Urteilen geht es um Mütter, die ihre Kinder im April, Mai und Juli 2013 jeweils ca. acht Monate vor Vollendung des ersten Lebensjahres in der öffentlichen Kindertagesbetreuung anmeldeten, um den Platz rechtzeitig zum ersten Geburtstag zur Verfügung zu haben. Weil die Stadt Leipzig es nicht schaffte, entsprechende Betreuungsstellen zum gewünschten Zeitpunkt zuweisen zu können, mussten die drei Klägerinnen ihre Elternzeit verlängern und erlitten Verdienstausfälle, und zwar (nach Abzug des Elterngeldes3) in Höhe von 4.463,12 €, 1.682,40 € und 7.332,93 €. Diese wollten sie – neben anderen Posten wie Beiträgen zu einem Berufsversorgungswerk und Rechtsanwaltsgebühren – von der Stadt Leipzig ersetzt haben. III. Rechtliche Einordnung der Urteile 1. Ansprüche auf Förderung in der Kindertagesbetreuung gemäß § 24 SGB VIII Kindertagesbetreuung findet statt in Tageseinrichtungen oder in der Kindertagespflege. Eine erste Abgrenzung dieser beiden Institute liefert § 22 Abs. 1 S. 1 SGB VIII, der erklärt, dass Tageseinrichtungen Einrichtungen sind, in denen Kinder sich für einen Teil des Tages oder ganztägig aufhalten und in Gruppen gefördert werden (Bsp.: Kindergärten, Kindertagesstätten), während Kindertagespflege von einer geeigneten Tagespflegeperson in ihrem Haushalt oder im Haushalt des Personensorgeberechtigten geleistet wird. Näheres zur Unterscheidung überlässt § 22 Abs. 1 S. 2 SGB VIII dem Landesrecht.4 Die Vorschrift, die den rechtlichen Zugang zu den einzelnen Formen der Kindertagesbetreuung regelt, ist § 24 SGB VIII. Seine jetzige Fassung beruht auf dem Kinderförderungsgesetz5 und ist am 1.8.2013 in Kraft getreten. Er differenziert nach Altersgruppen: § Abs. 1 befasst sich mit Kindern unter einem Jahr, deren Förderung in einer Einrichtung oder in der Kindertagespflege an die in S. 1 Nr. 1 und 2 bestimmten Voraussetzungen gebunden ist. Der Umfang der täglichen Förderung richtet sich nach dem individuellen Bedarf (S. 3). Ob 3 Siehe zur Berechtigung § 1 BEEG, zur Höhe §§ 2 ff. BEEG. Siehe etwa § 1 des Kindertagesbetreuungsgesetzes BadenWürttemberg oder – passend zu den drei Urteilen – § 1 des Gesetzes über Kindertageseinrichtungen Sachsen. 5 Vom 10.12.2008 = BGBl. I 2008, S. 2403. 4 _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 106 BGH, Urt. v. 20.10.2016 – III ZR 278/15, 302/15, 303/15 Noak _____________________________________________________________________________________ § 24 Abs. 1 SGB VIII nicht nur eine objektiv-rechtliche Verpflichtung der zuständigen öffentlichen Träger zur Schaffung entsprechender Plätze, sondern sogar einen Rechtsanspruch des jeweiligen Kindes mit der Folge der Einklagbarkeit der Betreuung beinhaltet, ist umstritten.6 Letztere Deutung kann sich immerhin auf den Wortlaut der Vorschrift stützen,7 denn es heißt in § 24 Abs. 1 S. 1 SGB VIII mit Blick auf das betroffene Kind, dass dieses „zu fördern [ist]“. Dies spricht eher dafür, dass der Gesetzgeber Kindern auch vor Vollendung des ersten Lebensjahres die Möglichkeit einräumen wollte, im Falle des Vorliegens der Voraussetzungen des Abs. 1 S. 1 ihre Rechte gegenüber den öffentlichen Trägern der Kinderund Jugendhilfe gerichtlich durchsetzen zu können. Nach historischer und systematischer Auslegung des § 24 Abs. 1 S. 1 SGB VIII lässt sich dies jedoch nicht halten. Denn einerseits liest man in den einschlägigen Gesetzesbegründungen lediglich von einer „öffentlich-rechtlichen“ bzw. „objektiv-rechtlichen Verpflichtung“, die mit § 24 Abs. 1 SGB VIII geschaffen werden sollte.8 Andererseits verwendet § 24 Abs. 2 S. 1, Abs. 3 S. 1 SGB VIII – anders als Abs. 1 S. 1 – mit Bezug auf die beiden folgenden Altersstufen explizit den Begriff „Anspruch“ und reiht sich damit in die übrigen anspruchsbegründenden Vorschriften des SGB VIII ein (siehe etwa §§ 17 Abs. 1 S. 1, 27 Abs. 1, 35a Abs. 1, 43 Abs. 4, 53 Abs. 2, 75 Abs. 2 SGB VIII). Deshalb ist bei Kindern vor Vollendung des ersten Lebensjahres von einem einklagbaren Recht auf Förderung gerade nicht auszugehen. § Kinder, die das erste Lebensjahr vollendet haben, verfügen gemäß § 24 Abs. 2 S. 1 bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres über einen (gerichtlich durchsetzbaren)9 Anspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege. Auch hier richtet sich der Umfang nach dem individuellen Bedarf (§ 24 Abs. 2 S. 2 i.V.m. § 24 Abs. 1 S. 3 SGB VIII).10 § Kinder, die das dritte Lebensjahr vollenden, haben gemäß § 24 Abs. 3 S. 1 SGB VIII bis zum Schuleintritt ebenfalls 6 Siehe etwa Struck, in: Wiesner, SGB VIII, Kommentar, 5. Aufl. 2015, § 24 Rn. 7 m.w.N. 7 Siehe dazu Hardtung, Lehrskript Rechtstheorie mit juristischer Methodenlehre, 3. Kapitel: Die Auslegung von Gesetzen, Stand: 2014, Rn. 275, der zu Recht betont, dass der Wortlaut maßgeblich ist, „bis ein anderer Auslegungsgesichtspunkt (Historie, Systematik) dargetan ist, der zu einem anderen Auslegungsergebnis führt: Wer sich vom typischen Wortsinn lösen möchte, hat die Beweislast.“ 8 Siehe Gesetzentwurf der Fraktionen CDU/CSU und SPD, BT-Drs. 16/9299, S. 15; Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 16/10173, S. 16. 9 Zuständig sind die Verwaltungsgerichte, denn es handelt sich um öffentlich-rechtliche Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art, die keinem anderen Gericht, insbesondere nicht dem Sozialgericht, zugewiesen sind, siehe dazu § 40 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 51 SGG. 10 Siehe Einzelheiten bei Winkler, in: BeckOK SozR, SGB VIII, Kommentar, Stand: 31.7.2016, § 24 Rn. 17 ff. Anspruch auf Förderung, und zwar in einer Tageseinrichtung. Dass nicht ganztätig gefördert werden muss, zeigt S. 2 der Vorschrift, der nur eine Pflicht auf Hinwirken statuiert. Das Kind kann bei besonderem Bedarf oder ergänzend auch in Kindertagespflege gefördert werden.11 § Für Kinder im schulpflichtigen Alter muss ein bedarfsgerechtes Angebot in Tageseinrichtungen geschaffen werden (§ 24 Abs. 4 S. 1 SGB VIII). Bei besonderen Bedarfen kommt ergänzend Kindertagespflege in Betracht. Es gilt das für Kinder vor Vollendung des ersten Lebensjahres Gesagte: Da in Abs. 4, anders als in Abs. 2 und 3, der Begriff „Anspruch“ nicht verwendet wird, handelt es sich nur um eine nicht einklagbare objektive Rechtspflicht des zuständigen Trägers der öffentlichen Jugendhilfe. 2. Amtspflichtverletzung und hinreichende Drittbezogenheit Es gilt, den Bogen von § 24 SGB VIII zur Schadenersatzpflicht der Gemeinde wegen Amtspflichtverletzung zu schlagen. Als Anspruchsgrundlage lautet § 839 Abs. 1 S. 1 BGB: „Verletzt ein Beamter vorsätzlich oder fahrlässig die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht, so hat er dem Dritten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen.“ Die Formulierung der Norm macht deutlich, dass für einen Schadenersatzanspruch nicht die Verletzung irgendeiner Amtspflicht genügt, sondern es eine sein muss, die gerade gegenüber dem Geschädigten als „Dritten“ besteht. Zudem muss der Schaden „aus“ der Amtspflichtverletzung entstehen. Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen, sind: Welches ist die einschlägige Amtspflicht des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe und wurde diese verletzt? Besteht die Pflicht auch gegenüber den geschädigten Müttern? Erfasst die Pflicht die geltend gemachten Verdienstausfälle? Die Antworten, die der BGH in den Urteilen liefert, sind überzeugend. a) Amtspflichtverletzung Die Amtspflichtverletzung sieht der BGH in dem Umstand, dass die Stadt Leipzig als zuständiger öffentlicher Träger den Kindern der drei Klägerinnen Plätze in der Kindertagesbetreuung zum gewünschten Zeitpunkt nicht anbieten konnte: Mit § 24 Abs. 2 SGB VIII habe der Gesetzgeber Kindern zwischen Vollendung des ersten und dritten Lebensjahres, zu denen die der Klägerinnen gehören, einen Anspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege eingeräumt, und daraus erwachse für den sachlich und örtlich zuständigen öffentlichen Träger die Amtspflicht, im Rahmen seiner Planungsverantwortung sicherzustellen, dass für jedes anspruchsberechtigte Kind ein entsprechender Betreuungsplatz zur Verfügung stehe. Insoweit treffe den öffentlichen Träger, sagt der BGH, „eine unbedingte Gewährleistungspflicht“, die nicht nur im Rahmen der vorhandenen Kapazität bestehe, sondern ihn dazu anhalte, eine ausreichende Zahl von Betreuungsplätzen selber oder durch geeignete freie Träger oder Tagespflegepersonen zu schaffen. Hierbei habe der öffentliche Träger die Wahl, ob er den Platz in einer Tageseinrichtung oder im Rahmen der 11 Näheres bei Struck (Fn. 6), § 24 Rn. 56 ff. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 107 BGH, Urt. v. 20.10.2016 – III ZR 278/15, 302/15, 303/15 Noak _____________________________________________________________________________________ Kindertagespflege zuweise, die gleichrangig nebeneinander stünden.12 Diese Pflicht habe die beklagte Kommune verletzt, denn sie habe den Kindern der Klägerinnen nach Ablauf des ersten Lebensjahres keine Plätze in der Kindertagesbetreuung zur Verfügung stellen können, obgleich deren Bedarf rechtzeitig angemeldet wurde.13 b) Drittbezogenheit aa) Allgemeines Eine größere Hürde stellt sich dem BGH bei der sog. Drittbezogenheit der Amtspflicht, also der Frage, ob die Mütter als Personensorgeberechtigte von der soeben beschriebenen Pflicht des öffentlichen Trägers, eine ausreichenden Zahl von Betreuungsplätzen zu gewährleisten, mitgeschützt werden. Man erinnere sich an den Text des § 839 Abs. 1 S. 1 BGB, der verlangt, dass die Amtspflicht dem geschädigten Dritten gegenüber obliegt. Zur Drittbezogenheit hat der BGH in der Vergangenheit allgemein ausgeführt:14 „Ob eine Amtspflicht gegenüber einem geschädigten Dritten besteht, bestimmt sich danach, ob die Amtspflicht – wenn auch nicht notwendig allein, so doch [...] auch – den Sinn hat, gerade sein Interesse wahrzunehmen. Aus den die Amtspflicht begründenden und sie umreißenden Bestimmungen sowie aus der Natur des Amtsgeschäfts muss sich ergeben, dass der Geschädigte zu dem Personenkreis zählt, dessen Belange nach dem Zweck und der rechtlichen Bestimmung des Amtsgeschäfts geschützt und gefördert werden sollen; darüber hinaus kommt es darauf an, ob in qualifizierter und zugleich individualisierbarer Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist. Es muss mithin eine besondere Beziehung zwischen der verletzten Amtspflicht und dem geschädigten Dritten bestehen. Hierfür ist die unmittelbare Beteiligung am Amtsgeschäft freilich ebenso wenig notwendige Voraussetzung wie ein Rechtsanspruch des Betroffenen auf die streitgegenständliche Amtshandlung. Andererseits genügt es nicht allein, dass sich die Verletzung der Amtspflicht für den Geschädigten nachteilig ausgewirkt hat. Da im Übrigen eine Person, der gegenüber eine Amtspflicht zu erfüllen ist, 12 Hier sieht Schwarz ein mögliches Schlupfloch der Kommunen, der aufwändigen Schaffung von Kindertageseinrichtungen zu entgehen, siehe unter: http://community.beck.de/2016/10/26/schadensersatz-guensti ger-als-kita-bau-bgh-urteilt-zu-fehlender-betreuung (19.1.2017). 13 § 24 Abs. 5 S. 2 SGB VIII gibt dem Landesgesetzgeber die Möglichkeit, entsprechende Bestimmungen zu schaffen. Hiervon hat das betroffene Land Sachsen Gebrauch gemacht und in seinem Gesetz über Kindertageseinrichtungen folgenden § 4 S. 2 etabliert: „Sie [die Erziehungsberechtigten] haben den Betreuungsbedarf in der Regel sechs Monate im Voraus bei der gewünschten Einrichtung oder Kindertagespflegestelle und bei der Wohnortgemeinde unter Angabe der gewünschten Einrichtung oder Kindertagespflegestelle anzumelden“. Dass die betroffenen Mütter diesbezüglich alle Obliegenheiten erfüllt haben, unterlag keinen Zweifeln. 14 Siehe BGH NJW 2013, 3370. nicht in allen ihren Belangen immer als Dritter anzusehen sein muss, ist jeweils zu prüfen, ob gerade das im Einzelfall berührte Interesse nach dem Zweck und der rechtlichen Bestimmung des Amtsgeschäftes geschützt werden soll.“ Das Merkmal ist hier schwierig, weil die Formulierung des § 24 Abs. 2 S. 1 SGB VIII – wie angedeutet – die zu betreuenden Kinder, nicht die Personensorgeberechtigten anspricht. Die Vorinstanz, das OLG Dresden,15 hat genau daraus geschlossen, dass der erforderliche Bezug der Amtspflicht zu den Müttern nicht bestehe und deshalb ein Schadenersatzanspruch aus § 839 Abs. 1 S. 1 BGB nicht herzuleiten sei. Bestärkt wähnte das OLG sich noch durch die Tatsache, dass von den in § 22 Abs. 2 SGB VIII genannten „Grundsätze(n) der Förderung“ einzig das kindeswohlbezogene Merkmal der Nr. 1 in der Anspruchsgrundlage des § 24 Abs. 2 SGB VIII repräsentiert ist, nämlich in der Formulierung „frühkindliche Förderung“. Der BGH stellt sich den Ausführungen des OLG Dresden nun mit einer methodisch sauberen Begründung entgegen und bejaht die „Drittbezogenheit“. Er rückt dabei „Sinn und Zweck“ des Gesetzes in den Vordergrund, den er neben der Förderung des Kindeswohls auch in der Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsleben und der Schaffung von Anreizen für die Erfüllung von Kinderwünschen sieht. Dieser „Sinn und Zweck“ wird vom BGH allerdings nicht aus dem sprichwörtlichen Hut gezaubert und § 24 Abs. 2 SGB VIII schwebend-teleologisch aufgestülpt,16 sondern unter Zuhilfenahme von historischen und systematischen Argumenten überzeugend ermittelt. Allgemein gilt: Ein dem Gesetz vom Rechtsanwender beigelegter „Sinn und Zweck“ muss, will er ernstgenommen sein, auf eine Quelle im Wortlaut des Gesetzes, der Gesetzgebungsgeschichte oder der Gesetzessystematik zurückgeführt werden können, anderenfalls ist er als unbewiesene Behauptung wertlos, weil zirkelschlüssig: „Wenn Sinn und Zweck des Gesetzes das Ergebnis der Auslegung sind, können sie nicht gleichzeitig ihr Mittel sein.“17 bb) Historie Der BGH argumentiert zunächst historisch und zitiert Materialien aus dem Gesetzgebungsverfahren zum Kinderförderungsgesetz. Und tatsächlich spiegelt sich sein Ergebnis, § 24 Abs. 2 SGB VIII diene (auch) der Verbesserung der Vereinbarkeit von Erwerbsleben und Familie, in verschiedenen Passagen der Entwürfe wider. Diese seien hier wörtlich zitiert: „Viele Eltern realisieren ihre vorhandenen Kinderwünsche nicht, weil sie keine Möglichkeiten sehen, ihr berufliches Engagement mit den familiären Aufgaben zu verbinden. Deshalb ist es notwendig, Wege für eine verbesserte Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsleben zu öffnen, die dem 15 Siehe OLG Dresden NZFam 2015, 915. Zur ergebnisorientierten Beliebigkeit, die die „teleologische“ Auslegung erzeugen kann, Herzberg, JuS 2005, 1 (6 ff.); Schlehofer, JuS 1992, 572 (576); Walz, ZJS 2010, 482 (485). 17 Schlehofer, JuS 1992, 572 (576). 16 _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 108 BGH, Urt. v. 20.10.2016 – III ZR 278/15, 302/15, 303/15 Noak _____________________________________________________________________________________ Wohle der Kinder dienen. Um diesem Anliegen gerecht zu werden, benötigen wir für die Kinder unter drei Jahren mehr Betreuungsplätze in guter Qualität.“18 „Angesichts der von Land zu Land unterschiedlichen Zugangskriterien zu den Tageseinrichtungen können Eltern, die eine Erwerbstätigkeit mit Pflichten in der Familie vereinbaren wollen und angesichts der Anforderungen der Wirtschaft ein hohes Maß an Mobilität aufbringen müssen, nicht darauf vertrauen, in allen Ländern ein im Wesentlichen gleiches Angebot an qualitätsorientierter Tagesbetreuung vorzufinden. Aus demselben Grunde können auch überregional agierende Unternehmen nicht damit rechnen, in allen Ländern auf ein Potenzial qualifizierter weiblicher Arbeitskräfte zurückgreifen zu können, da sie örtlich und regional fehlende Betreuungsmöglichkeiten an einer Erwerbstätigkeit hindern. […] Deshalb ist ein bedarfsgerechtes Angebot an qualifizierter Tagesbetreuung in allen Teilen der Bundesrepublik Deutschland heute eine zentrale Voraussetzung für die Attraktivität Deutschlands als Wirtschaftsstandort in einer globalisierten Wirtschaftsordnung. Engpässe in der Versorgung mit Betreuungsplätzen in einzelnen Regionen haben unmittelbare Folgen für die Rekrutierung qualifizierter Arbeitskräfte und damit für die Wettbewerbsfähigkeit dieser Region.“19 cc) Systematik Im Weiteren geht der BGH auf die systematische Schiene und weist den in den Materialien ausgedrückten Willen des Gesetzgebers im Gesetzestext nach. Er stellt dabei besonders auf § 22 SGB VIII ab, der die Grundsätze der Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege beschreibt. In diesem legt Abs. 2 Nr. 3 fest, dass die Kindertagesbetreuung auch dazu dient, Eltern zu helfen, Erwerbstätigkeit und Kindererziehung besser miteinander vereinbaren zu können. Den vom OLG Dresden vertretenen Ansatz, dieser Grundsatz habe in § 24 Abs. 2 SGB VIII keinen Niederschlag gefunden, vielmehr sei dort nur von „frühkindlicher Förderung“ die Rede, widerlegt der BGH mit richtigen Argumenten: Einerseits steht die Vorschrift des § 22 SGB VIII mitsamt ihrem Abs. 2 am Anfang des Abschnitts und gilt deshalb ohne Einschränkung und Differenzierungen für eben diesen Abschnitt. Warum der Gesetzgeber die Stärkung der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familie gerade beim Anspruch aus § 24 Abs. 2 SGB VIII nicht hätte gelten lassen sollen, ist aus keinem Grund ersichtlich. Andererseits beinhaltet die Formulierung der „frühkindlichen Förderung“ keinen Ausschluss der Belange des § 22 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII, sondern lediglich eine Bezugnahme auf das „gefördert werden“ in § 22 Abs. 1 S. 1 SGB VIII. Weitere Argumente für seine Ansicht findet der BGH in den Vorschriften der § 24 Abs. 5 S. 1 SGB VIII und § 80 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 4 SGB VIII. Hier überzeugt der Hinweis auf erstere zwar nur bedingt, denn § 24 Abs. 5 S. 1 SGB VIII statuiert eine Pflicht der öffentlichen Träger, Eltern oder Elternteile zu informieren und zu beraten, bezieht sich dabei aber weniger auf die Erwerbstätigkeit als das „pädago18 19 gische Grundkonzept“ der jeweiligen Kindertagesbetreuung. Plausibel ist dann aber wieder die Einbeziehung des § 80 SGB VIII, denn dieser verpflichtet die Träger im Rahmen der Planungsverantwortung den Bedarf „unter Berücksichtigung der Wünsche, Bedürfnisse und Interessen der jungen Menschen und der Personensorgeberechtigten“ zu ermitteln (Abs. 1 Nr. 2) und Einrichtungen und Dienste so zu planen, dass „Mütter und Väter Aufgaben in der Familie und Erwerbstätigkeit besser miteinander vereinbaren können“ (Abs. 2 Nr. 4). Der Hinweis auf § 80 SGB VIII – sich nicht direkt in einem Abschnitt mit § 24 Abs. 2 SGB VIII befindend – hat sicher nicht die Durchschlagskraft wie § 22 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII, ein tragfähiges Indiz für die Wertschätzung des Gesetzgebers gegenüber der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familie liefert er allemal. c) Einbeziehung der Verdienstausfälle in den Schutzbereich der Amtspflicht Mit der Begründung der Verletzung der Amtspflicht und der Drittbezogenheit hat der BGH die entscheidenden Vorarbeiten geleistet. Nun kann er leicht darlegen, dass gerade die von den Klägerinnen geltend gemachten Verdienstausfälle dem Schutzbereich der Amtspflicht, eine ausreichende Anzahl von Betreuungsplätzen zur Verfügung zu stellen, unterstehen: Es entspreche, so das Gericht, der in der Gesetzeshistorie ermittelten und im Gesetz zum Ausdruck gekommenen Regelungsabsicht des Gesetzgebers, Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsleben zu verbessern und Anreize für die Erfüllung von Kinderwünschen zu schaffen. Den Eltern ein- bis dreijähriger Kinder solle eine Erwerbstätigkeit leichter als bisher ermöglicht werden. Hieraus folge, dass der Verdienstausfallschaden, den ein Elternteil infolge der Nichtbereitstellung eines Betreuungsplatzes erleide, grundsätzlich vom Schutzbereich der verletzten Amtspflicht mitumfasst werde. Dem ist nichts hinzuzufügen. 3. Ausblick Die Argumentation des BGH in den Urteilen vom 20.10.2016 betrifft letztlich nur die Vorschrift des § 24 Abs. 2 SGB VIII. Sie wird auf Konstellationen des § 24 Abs. 3 SGB VIII aber zukünftig ebenfalls Anwendung finden müssen, weil dieser – wie erörtert – auch einen Anspruch auf Förderung statuiert, nämlich den von Kindern ab Vollendung des dritten Lebensjahres bis zum Schuleintritt. Die vom BGH vorgetragenen Argumente aus Wortlaut, Historie und Systematik gelten dort ebenso, insbesondere ist der in den Materialien und der Vorschrift des § 22 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII etablierte Grundsatz, dass die Kindertagesbetreuung Eltern helfen soll, Erwerbstätigkeit und Kindererziehung besser miteinander vereinbaren zu können, uneingeschränkt auf den Anspruch aus § 24 Abs. 3 SGB VIII anzuwenden. Prof. Dr. Torsten Noak, LL.M., Ludwigsburg Siehe BT-Drs. 16/10173, S. 1. Siehe BT-Drs. 16/9299, S. 11 f. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 109 BGH, Beschl. v. 3.2.2016 – 4 StR 594/15 Böse _____________________________________________________________________________________ E n t s c h e i d u n g s a n m e r k u n g Gefährliche Körperverletzung mittels eines gefährlichen Werkzeugs Der Tatbestand des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB setzt voraus, dass die Körperverletzung durch ein von außen unmittelbar auf den Körper einwirkendes gefährliches Tatmittel eingetreten ist. Wird ein Kraftfahrzeug als Werkzeug eingesetzt, muss die körperliche Misshandlung also bereits durch den Anstoß selbst ausgelöst worden sein; erst infolge eines anschließenden Sturzes erlittene Verletzungen sind dagegen nicht auf den unmittelbaren Kontakt zwischen Fahrzeug und Körper zurückzuführen. (Leitsatz d. NStZ-Schriftleitung) StGB § 224 Abs. 1 Nr. 2 BGH, Beschl. v. 3.2.2016 – 4 StR 594/15 (LG Mönchengladbach)1 I. Einleitung Der erhöhte Strafrahmen des § 224 StGB beruht auf der besonderen Gefährlichkeit der Tatbegehung für die körperliche Unversehrtheit und Gesundheit des Opfers. Im Fall des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB resultiert das gesteigerte Unrecht auf dem zur Körperverletzung eingesetzten gefährlichen Werkzeug. Darunter fällt nach h.M. jeder Gegenstand, der nach seiner objektiven Beschaffenheit und der Art seiner Verwendung im konkreten Fall geeignet ist, erhebliche Verletzungen herbeizuführen.2 Eine erhebliche Verletzung muss nicht eingetreten sein, eine diesbezügliche konkrete Gefährdung ist vielmehr für den Tatbestand des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB ausreichend.3 Der Tatbestand verlangt allerdings, dass die vom Grundtatbestand (§ 223 StGB) geforderte Körperverletzung „mittels“ des gefährlichen Werkzeugs herbeigeführt worden ist. Um die sich daraus ergebenden Anforderungen geht es in der vorliegenden Entscheidung. 1 Die Entscheidung ist abgedruckt in NStZ 2016, 724 und online abrufbar unter http://juris.bundesgerichtshof.de/cgibin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&sid= 35d439dc1e860a3da54baf75c48bf9a3&nr=74047&pos=0&a nz=1&Blank=1.pdf (31.1.2017). 2 BGHSt 3, 105 (109); 14, 149 (155); BGH NStZ 2002, 86; BGH NStZ 2007, 95; Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 64. Aufl. 2017, § 224 Rn. 9; Stree/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl. 2014, § 224 Rn. 4. 3 Fischer (Fn. 2), § 224 Rn. 2; Stree/Sternberg-Lieben (Fn. 2), § 224 Rn. 3; näher zur Einordnung als konkretes Gefährdungsdelikt: Paeffgen, in: Kindhäuser/Neumann/ Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 2, 4. Aufl. 2013, § 224 Rn. 3 ff. II. Sachverhalt Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zu Grunde: A und B haben einen Getränkemarkt mit zwei Kisten Mineralwasser verlassen, ohne diese zu bezahlen, und diese anschließend in ihr Auto verladen. Als A mit dem Auto den Parkplatz des Getränkemarktes verlassen will, stellt sich ihr der C in den Weg. Nachdem A den C zunächst einige Meter zurückgedrängt hat, indem sie mit dem Auto langsam auf ihn zugerollt ist, setzt sich C auf die Motorhaube, um A am Weiterfahren zu hindern. Als A die Fahrt mit mittlerer Geschwindigkeit fortsetzt, hält C sich an dem Spalt zwischen Windschutzscheibe und Motorhaube fest, rutscht aber während der Fahrt für einen kurzen Moment nach vorn, so dass sein linker Fuß kurzzeitig vorne unter die Motorhaube gerät und er dadurch nicht unerhebliche Schmerzen am Fuß erleidet. Ob diese auf einen unmittelbaren Kontakt zwischen dem Fuß des C und dem Fahrzeug zurückzuführen sind, ergibt sich nicht aus den erstinstanzlichen Feststellungen. III. Entscheidung In der ersten Instanz war A des Diebstahls (§ 242 StGB) in Tateinheit mit Nötigung (§ 240 StGB), gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr (§ 315b StGB) und gefährlicher Körperverletzung (§ 224 StGB) schuldig gesprochen worden. Der BGH hob die Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung auf, da die Voraussetzungen für eine Körperverletzung „mittels“ eines gefährlichen Werkzeugs nicht belegt seien.4 Der Tatbestand des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB setze nämlich voraus, dass der Körperverletzungserfolg durch ein von außen unmittelbar auf den Körper einwirkendes Mittel eingetreten sei.5 Werde ein Kraftfahrzeug als gefährliches Werkzeug eingesetzt, sei diese Voraussetzung nicht gegeben, wenn das Opfer nicht durch den Kontakt mit dem Fahrzeug, sondern erst durch den nachfolgenden Sturz Verletzungen erleide.6 Das Tatgericht habe gerade nicht festgestellt, dass die Schmerzen am Fuß des C auf einen Kontakt mit dem von A geführten Fahrzeug zurückzuführen gewesen seien.7 Auch ein Schuldspruch wegen einfacher Körperverletzung komme nicht in Betracht, da es insoweit an den Voraussetzungen des § 230 Abs. 1 StGB fehle (Strafantrag oder Annahme eines besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung).8 IV. Analyse und Kritik 1. Entwicklung der Rechtsprechung Die aus dem vorangestellten Leitsatz ersichtliche Einschränkung der in § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB enthaltenen Qualifikation über das Erfordernis einer unmittelbaren körperlichen Einwirkung durch das gefährliche Werkzeug beruht auf einer 4 BGH NStZ 2016, 724. BGH NStZ 2016, 724. 6 BGH NStZ 2016, 724. 7 BGH NStZ 2016, 724. 8 BGH NStZ 2016, 724. 5 _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 110 BGH, Beschl. v. 3.2.2016 – 4 StR 594/15 Böse _____________________________________________________________________________________ gefestigten Rechtsprechung.9 Soweit ersichtlich, hat der BGH diese Einschränkung zum ersten Mal in einem Fall angewandt, in dem der Täter auf die Reifen eines fahrenden Autos geschossen und dabei in Kauf genommen hatte, dass es dadurch zu einem Unfall und einer Verletzung von Fahrer und Beifahrer kommen könnte. Der BGH sah den Tatbestand des (versuchten) § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB nicht als verwirklicht an, da die Fahrzeuginsassen nach der Vorstellung des Täters nicht durch die mit der Waffe abgefeuerten Projektile, sondern erst durch den nachfolgenden Unfall verletzt worden wären, die Körperverletzungserfolg mithin nicht „mittels“ der eingesetzten Waffe eingetreten wäre.10 Die nächste Entscheidung hatte bereits eine der vorliegenden Entscheidung ähnliche Sachverhaltskonstellation zum Gegenstand: Ein Polizist beugt sich in das Innere eines Fahrzeugs, um den Fahrer durch das Ziehen der Handbremse an der Weiterfahrt zu hindern; dieser fährt rückwärts los, das Fahrzeug stößt gegen eine Böschung, wodurch der Polizist vom Fahrzeug auf den Gehweg fällt und sich dabei verletzt. Der BGH erkannte zwar an, dass ein Kraftfahrzeug, das zur Verletzung von Personen eingesetzt wird, als gefährliches Werkzeug anzusehen sei, verneinte aber auch hier eine gefährliche Körperverletzung, da nicht auszuschließen sei, dass die Verletzungen des Polizisten nicht durch eine Einwirkung des Fahrzeugs auf seinen Körper, sondern erst durch den Aufprall auf dem Gehweg entstanden seien.11 Das Erfordernis einer „unmittelbaren“ körperlichen Einwirkung durch das gefährliche Werkzeug hat der BGH ausdrücklich erstmals in einem Fall aufgestellt, in dem der Täter dem Opfer ein Kabel locker um den Hals gelegt hatte, um es in Angst und Schrecken zu versetzen; insoweit war zwar nach der konkreten Verwendung des Kabels bereits das Vorliegen eines gefährlichen Werkzeugs zu verneinen, der BGH wies jedoch ergänzend mit Blick auf die vorstehend genannten Urteile darauf hin, dass die Wirkung des Kabels nicht körperlich, sondern psychisch vermittelt werde und es somit an einer unmittelbaren körperlichen Einwirkung fehle.12 Das Unmittelbarkeitskriterium wurde in der Folgezeit in mehreren Entscheidungen zum Einsatz eines Kraftfahrzeugs als Tatmittel im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB übernommen, in denen jeweils die bisherige Rechtsprechung bestätigt wurde, wonach der Tatbestand nicht erfüllt sei, wenn die Verletzungen des Opfers nicht unmittelbar durch den Kontakt mit dem Fahrzeug, sondern nur mittelbar durch einen nachfolgenden Sturz verursacht worden seien.13 Dies gelte erst recht, wenn es nicht durch einen Zusammenstoß mit dem vom Täter geführten Fahrzeug, sondern durch eine Ausweichreaktion des Opfers zu sturzbedingten 9 BGH NStZ 2006, 572 (573); BGH NStZ 2007, 405; BGH NStZ 2010, 512 (513); BGH NStZ 2012, 697 (698); BGH NStZ 2014, 36 (37). 10 BGH NStZ 2006, 572 (573). 11 BGH NStZ 2007, 405. 12 BGH NStZ 2010, 512 (513). 13 BGH BeckRS 2011, 19236; BGH NStZ 2012, 697 (698); BeckRS 2013, 03156; BGH NStZ 2014, 36 (37). Verletzungen gekommen sei.14 Wenngleich die Rechtsprechung des BGH im Schrifttum überwiegend Zustimmung gefunden hat15, ist sie nicht ohne Widerspruch geblieben16. So hat das OLG Hamm Zweifel an dem Erfordernis einer unmittelbaren Einwirkung geäußert und sich dafür ausgesprochen, auch einen Einsatz des Fahrzeugs, der mittelbar zu einer Verletzung des Opfers führt, als tatbestandsmäßig im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB anzusehen.17 Diesen Zweifeln soll nunmehr nachgegangen werden. 2. Wortlaut und systematische Stellung des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB Die einschränkende Auslegung des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB wird äußerst knapp begründet.18 Der BGH stützt sich auf den Wortlaut des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB („mittels“) und weist ergänzend darauf hin, dass auch § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB in dem Sinne ausgelegt werde, dass eine mittelbare Verursachung einer Lebensgefahr nicht ausreichend sei.19 Dieser Begründung wird jedoch mit Recht entgegengehalten, dass die Präposition „mittels“ ihrer Bedeutung nach nur voraussetzt, dass die Körperverletzung mit dessen Hilfe bzw. durch dieses verursacht wird, aber einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Kontakt mit dem gefährlichen Werkzeug und Verletzung nicht verlangt.20 Da der BGH die einschränkende Auslegung des § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB seinerseits unter Verweis auf seine Rechtsprechung zu § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB begründet hat21, vermag auch diese Parallele eine einschränkende Auslegung nicht zu stützen.22 Im Schrifttum findet sich allerdings als weiteres systematisches Argument, dass aus dem Regelungszusammenhang mit § 224 Abs. 1 Nr. 1 StGB („Beibringen“ des Giftes) abzuleiten sei, dass auch § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB einen Kontakt zwischen Tatmittel und Opfer voraussetze.23 Aus dieser Parallele ergäbe 14 BGH NJW 2013, 2133 (2135); BGH NStZ-RR 2015, 244 (jeweils zum Versuch). 15 Fischer (Fn. 2), § 224 Rn. 7a; Krüger, NZV 2007, 482 (483); Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, Kommentar, 28. Aufl. 2014, § 224 Rn. 3; Momsen/Momsen-Pflanz, in: Satzger/ Schluckebier/Widmaier, Strafgesetzbuch, Kommentar, 3. Aufl. 2016, § 224 Rn. 20; Rengier, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 17. Aufl. 2016, § 14 Rn. 41; Stree/SternbergLieben (Fn. 2), § 224 Rn. 3a. 16 Eckstein, NStZ 2008, 125 ff.; Hardtung, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 4, 2. Aufl. 2012, § 224 Rn. 21 ff.; Paeffgen (Fn. 3), § 224 Rn. 12; Stam, NStZ 2016, 713 ff.; siehe auch Kindhäuser, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1, 7. Aufl. 2015, § 9 Rn. 14. 17 OLG Hamm NStZ-RR 2014, 141; siehe bereits KG NStZ NZV 2006, 111. 18 Siehe die entsprechende Kritik bei Stam, NStZ 2016, 713. 19 BGH NStZ 2007, 405, mit Hinweis auf BGH NZV 2006, 483 (484) – zu § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB. 20 OLG Hamm NStZ-RR 2014, 141; Stam, NStZ 2016, 713 (714); siehe auch Krüger, NZV 2007, 482 (483). 21 BGH NZV 2006, 483 (484). 22 So aber Krüger, NZV 2007, 482. 23 Krüger, NZV 2007, 482 (483). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 111 BGH, Beschl. v. 3.2.2016 – 4 StR 594/15 Böse _____________________________________________________________________________________ sich indes allenfalls, dass es zu einem Kontakt mit dem Fahrzeug gekommen sein muss (also Verletzungen infolge von Ausweichreaktionen nicht erfasst werden)24, der Verweis auf die Binnensystematik des § 224 StGB wäre jedoch nicht geeignet, mittelbare Verletzungsfolgen eines solchen Kontaktes – wie im vorliegenden Fall – generell vom Anwendungsbereich des Tatbestands auszunehmen. 3. Normzweck und Gefährdungsunrecht a) Wendet man sich nun der teleologischen Auslegung zu, so wird das in § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB vertypte, durch den Einsatz des Tatmittels begründete Gefährdungsunrecht zum maßgeblichen Bezugspunkt. Mit Blick auf den Schutz des Opfers vor der Gefahr erheblicher Verletzungen kommt es nicht darauf an, ob die beim Opfer eingetretene Verletzung unmittelbar oder nur mittelbar auf dem Einsatz des gefährlichen Werkzeugs beruht. Die vom BGH vorgenommene Differenzierung führt vielmehr zu Ergebnissen, die mit Blick auf den Schutzzweck des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB sachwidrig sind, unter Umständen geradezu abwegig erscheinen. So wäre der Tatbestand nicht erfüllt, wenn der Täter mit seinem Fahrzeug einen anderen Wagen rammt und dem darin sitzenden Fahrer schwere Verletzungen zufügt, da es an einem unmittelbaren Kontakt zwischen Tatmittel und Opfer fehlt.25 Dieses Ergebnis ließe sich nur vermeiden, wenn man das gerammte Fahrzeug als das die Verletzung unmittelbar herbeiführende Werkzeug ansehen wollte. Diese Konstruktion einer „mittelbar-unmittelbaren“ Einwirkung – welche die Zweifel an der Berechtigung des Unmittelbarkeitskriteriums eher nährt als beseitigt – versagt indes, sobald sich das Opfer in einem unbeweglichen Objekt (z.B. einer Hütte) befindet. Dass das Unmittelbarkeitskriterium dem vom Täter verwirklichten Gefährdungsunrecht nicht ausreichend Rechnung trägt, zeigt auch ein weiterer Fall, der dem BGH Gelegenheit gab, auf seine oben wiedergegebene Rechtsprechung hinzuweisen: Dort hatte der Täter versucht, seinen Beifahrer zu töten, indem er mit dem von ihm gesteuerten Kraftfahrzeug auf der Beifahrerseite bei einer Geschwindigkeit von ca. 100 km/h gegen einen Baum fuhr.26 Im Schrifttum ist der Hinweis des BGH dahingehend verstanden worden, dass dieses Verhalten nicht den Tatbestand des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB erfüllt.27 Angesichts der erheblichen Gefahr, die aus dieser Verwendung des Fahrzeugs für das Opfer entstanden ist, wird dies zu Recht abgelehnt.28 b) In Abkehr vom Unmittelbarkeitskriterium wird daher im Schrifttum darauf abgestellt, ob der Einsatz des Fahrzeugs eine besonders gesteigerte Verletzungsgefahr für das Opfer begründet und sich dieses Risiko auch in dem Körperverletzungserfolg verwirklicht hat, dieser also auf der spezifischen Gefährlichkeit des Tatmittels beruht.29 Beim Einsatz eines Kraftfahrzeugs als Tatmittel ergibt sich diese besondere Gefahr aus der Bewegungsenergie, der das Opfer ausgesetzt wird, sei es, indem es zu einer unmittelbaren Kollision von Fahrzeug und Opfer kommen und letzteres dadurch verletzt werden kann, sei es, indem sich die Beschleunigung auf das Opfer übertragen und dadurch mittelbar über eine weitere Kollision mit einem anderen Fahrzeug, der Straße, einem Gebäude etc. zu Verletzungen führen kann („KatapultWirkung“).30 Für den Sachverhalt der vorliegenden Entscheidung wäre demnach bei lebensnaher Auslegung davon auszugehen, dass die von C erlittene Verletzung auch darauf beruhte, dass er in einem Moment vom Fahrzeug rutschte und mit dem Erdboden in Kontakt kam, als sich dieses („mit mittlerer Geschwindigkeit“) in Bewegung befand und damit den Fuß unmittelbar dieser Bewegungs- bzw. Bremsenergie aussetzte.31 Mit letzter Sicherheit lässt sich dies allerdings anhand des in der Entscheidung mitgeteilten Sachverhalts nicht beurteilen. Die Verwirklichung der spezifischen Gefahr des Tatmittels scheidet demgegenüber aus, wenn bereits die Verwendung des jeweiligen Werkzeugs nicht konkret gefährlich ist; dies kann unter Umständen (z.B. bei geringer Geschwindigkeit) auch beim Einsatz von Kraftfahrzeugen in Betracht kommen.32 c) Der vorstehend geschilderte Zusammenhang zwischen Gefährlichkeit des Werkzeugs und Körperverletzungserfolg kann zwar die Widersprüche einer Unterscheidung von unmittelbaren und mittelbaren Verletzungsfolgen ausräumen, versteht sich aber mit Blick auf die Tatbestandsstruktur des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB keineswegs von selbst. Der nach allgemeinen Grundsätzen zurechenbare Körperverletzungserfolg ist bereits im Unrecht des Grundtatbestands (§ 223 StGB) enthalten. Die in § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB vertypte Unrechtssteigerung ergibt sich aus der darin normierten konkreten Gefährdung des Opfers, beschränkt sich aber auch darauf, d.h. es wird nicht verlangt, dass sich diese Gefahr in Gestalt von Verletzungsunrecht realisiert hat. Mit dieser Beschränkung auf Gefährdungsunrecht einerseits und den gesteigerten Anforderungen an die Schwere der drohenden Rechtsgutsverletzung (Gefahr „erheblicher“ Verletzungen) andererseits erscheint es kaum vereinbar, über den im Schrifttum postulierten Gefahrzusammenhang besondere Anforderungen an die Zurechnung des bereits im Grundtatbestand enthaltenen Erfolgsunrechts aufzustellen. Weder der Wortlaut („mittels“) noch die Systematik des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB deutet darauf hin, dass der Körperverletzungserfolg im Sinne des § 223 Abs. 1 StGB auf einer qualifizierten Gefährdung als Durchgangsstadium beruht; die Zurechnung des Verlet29 24 Siehe auch Krüger, NZV 2007, 482 (483). Siehe auch die Beispiele bei Eckstein, NStZ 2008, 125 (128); Hardtung (Fn. 16), § 224 Rn. 23. 26 BGH NStZ 2009, 628 (629). 27 Stree/Sternberg-Lieben (Fn. 2), § 224 Rn. 3a. 28 Bosch, JA 2009, 392 (394); Rengier (Fn. 15), § 14 Rn. 42. 25 Eckstein, NStZ 2008, 125 (128); Paeffgen (Fn. 3), § 224 Rn. 12; siehe auch Stam, NStZ 2016, 713 (714 715). 30 Eckstein, NStZ 2008, 125 (128); Hardtung (Fn. 16), § 224 Rn. 23; Jäger, JA 2013, 472 (473 f.); Paeffgen (Fn. 3), § 224 Rn. 12; Rengier (Fn. 15), § 14 Rn. 42; Stam, NStZ 2016, 713 (714). 31 Vgl. auch KG NZV 2006, 111; Hardtung (Fn. 16), § 224 Rn. 24. 32 Siehe insoweit Krüger, NZV 2007, 482. _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 112 BGH, Beschl. v. 3.2.2016 – 4 StR 594/15 Böse _____________________________________________________________________________________ zungserfolgs bestimmt sich vielmehr – auch im Rahmen des § 224 StGB – allein nach den für den Grundtatbestand (§ 223 StGB) geltenden Regeln.33 § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB setzt demnach voraus, dass der Körperverletzungserfolg durch Einsatz („mittels“) eines gefährlichen Werkzeugs herbeigeführt wird, für das erhöhte Unrecht ist aber allein die dadurch für das Opfer geschaffene Gefahr erheblicher Verletzungen maßgeblich. Auf dieser Grundlage lassen sich auch die Fälle in den Anwendungsbereich des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB einbeziehen, in denen das Opfer einem drohenden Zusammenstoß mit dem vom Täter geführten Fahrzeug gerade noch ausweichen kann, dabei aber stürzt und verletzt wird.34 Nach der Rechtsprechung ist der Tatbestand bereits wegen des fehlenden Kontakts mit dem Fahrzeug nicht erfüllt (siehe oben 1.). Dass das Verhalten des Täters – ein entsprechender Vorsatz sei unterstellt – den Tatbestand des § 223 Abs. 1 StGB verwirklicht, da der Angriff mit einem gefährlichen Werkzeug das Opfer zu plötzlichen Ausweichreaktionen veranlassen kann, die ein gesteigertes Verletzungsrisiko bergen.35 Dies gilt ebenso für die in § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB normierte Gefahr, die in diesem Fall darin liegt, dass das Opfer bei dem durch den Täter „mittels“ seines Fahrzeugs provozierten Sturzes möglicherweise erhebliche Verletzungen erleidet. Der Täter hat daher sowohl das in § 223 StGB vorausgesetzte Verletzungsunrecht als auch das in § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB enthaltene Gefährdungsunrecht in zurechenbarer Weise herbeigeführt.36 Es besteht damit kein Grund, eine Strafbarkeit nach § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB zu verneinen. 4. Parallele zu den §§ 226, 227 StGB? Abschließend soll noch ein kurzer Blick auf die Diskussion des Unmittelbarkeitszusammenhangs bei den erfolgsqualifizierten Delikten (§§ 226, 227 StGB) geworfen werden. Der BGH hatte im „Rötzel-Fall“ die Annahme einer Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB) noch davon abhängig gemacht, dass der Tod unmittelbar durch die Körperverletzungshandlung des Täters verursacht worden ist, und den Tatbestand des § 227 StGB bei einem tödlichen Fluchtversuch des Opfers verneint.37 Diese Rechtsprechung hat der BGH inzwischen in der Sache aufgegeben und lässt es nunmehr genügen, dass der Täter mit der Begehung des Grund- 33 Hardtung (Fn. 16), § 224 Rn. 26; Stam, NStZ 2016, 713 (714). 34 Siehe zu anderen vergleichbaren Fällen Hardtung (Fn. 16), § 224 Rn. 21, 26. 35 Hardtung (Fn. 16), § 224 Rn. 26; Stam, NStZ 2016, 713 (714 f.); siehe dagegen zu § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB Eckstein, NStZ 2008, 125 (128). Eine freiwillige Selbstgefährdung scheidet in derartigen Fällen aufgrund des auf das Opfer verübten Angriffs aus, so aber wohl Oehmichen, FD-StrafR 2016, 377116 [juris]; siehe dagegen Krüger, NZV 2006, 111 (112); siehe auch unten 4. (zu §§ 226, 227 StGB). 36 Vgl. zu vergleichbaren Fällen Hardtung (Fn. 16), § 224 Rn. 21, 26. 37 BGH NJW 1971, 152. delikts mittelbar den Tod des Opfers herbeiführt.38 Es bestätigt die teleologischen Einwände gegen das Unmittelbarkeitserfordernis (siehe oben 3.), dass der BGH dieses im Rahmen des § 227 StGB selbst nicht mehr als sachgerecht, sondern als „zu restriktiv“ ansieht und stattdessen auf den gefahrspezifischen Zusammenhang zwischen Grundtatbestand und Todesfolge abstellt.39 Vor diesem Hintergrund erscheint es widersprüchlich, wenn die Rechtsprechung im Rahmen des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB an dem Unmittelbarkeitszusammenhang festhält. So hat das KG den Schlag mit einer Metallstange, der das Opfer nicht unmittelbar verletzt, aber dieses ins Stolpern bringt und ihm durch den anschließenden Sturz mittelbar eine Verletzung am Arm zufügt, unter Verweis auf die Rechtsprechung des BGH nicht als gefährliche Körperverletzung angesehen, da der Körperverletzungserfolg nicht unmittelbar durch das gefährliche Werkzeug (Metallstange) bewirkt worden sei.40 Wäre das Opfer bei der Ausweichbewegung so unglücklich gestürzt, dass es an den Folgen verstorben wäre, hätte dieser Umstand einer Verurteilung nach § 227 StGB nicht entgegengestanden. Auf den ersten Blick legt es die Parallele zu den §§ 226, 227 StGB damit nahe, den Unmittelbarkeitszusammenhang auch im Rahmen des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB durch einen spezifischen Zurechnungs- bzw. Gefahrzusammenhang zu ersetzen (siehe oben 3. b). Eine Übertragung der zu den erfolgsqualifizierten Delikten entwickelten Zurechnungskriterien scheitert indes an der unterschiedlichen Struktur der Qualifikationstatbestände (siehe bereits oben 3. c). Die §§ 226, 227 StGB setzen mit der schweren Folge bzw. dem Tod des Opfers ein gegenüber § 223 StGB erhöhtes Verletzungsunrecht voraus, für dessen Zurechnung angesichts der hohen Strafandrohung besondere Anforderungen gelten (tatbestandsspezifischer Gefahrzusammenhang).41 Demgegenüber knüpft die höhere Strafe in § 224 StGB an das gesteigerte Gefährdungsunrecht an; soweit der Tatbestand – wie § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB – als konkretes Gefährdungsdelikt verstanden wird, ist es nur konsequent, dass sich die konkrete Gefahr erheblicher Verletzungen aus dem Einsatz des Werkzeugs ergeben muss.42 Dies kann jedoch nicht für die Zurechnung des bereits im Grunddelikt (§ 223 StGB) enthaltenen Verletzungserfolgs gelten. Es ist nicht nachvollziehbar, aus welchem Grund die Gefahr erheblicher Verletzungen (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB) Voraussetzung für die Zurechnung einer einfachen Körperverletzung (§ 223 StGB) sein soll, noch ist einsichtig, warum die Feststellung konkreten Gefährdungsunrechts in Bezug auf eine erhebliche Verletzung (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB) davon abhängen sollte, dass sich diese Gefahr bereits in einer einfa- 38 BGH NStZ 1992, 335 f.; BGH NStZ 2003, 149 (150 f. zum Versuch); BGH NStZ 2008, 278; eingehend zur Entwicklung der Rechtsprechung Paeffgen (Fn. 3), § 227 Rn. 9 ff. 39 BGH NStZ 2008, 278. 40 KG NStZ 2012, 326 (327). 41 Siehe dazu eingehend Paeffgen (Fn. 3), § 227 Rn. 8 ff., 11 ff., 17 (Leichtfertigkeit als zusätzliches Erfordernis). 42 Hardtung (Fn. 16), § 224 Rn. 20, 27. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 113 BGH, Beschl. v. 3.2.2016 – 4 StR 594/15 Böse _____________________________________________________________________________________ chen Körperverletzung realisiert hat.43 Beide Unrechtselemente sind vielmehr im Ausgangspunkt getrennt voneinander festzustellen. Mit dem Wort „mittels“ wird nicht mehr gefordert als der allgemeine Kausal- und Zurechnungszusammenhang zwischen Einsatz des Tatmittels und Körperverletzungserfolg.44 V. Schluss Entgegen der Rechtsprechung setzt § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Einsatz des gefährlichen Werkzeugs und der Verletzung des Opfers voraus. A hat sich daher – sofern die übrigen Voraussetzungen des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB vorliegen, die Verwendung des Fahrzeugs also zu einer konkreten Gefahr erheblicher Verletzungen führte (siehe oben 3. b) – nach § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB strafbar gemacht. Dass der BGH auch eine Verurteilung nach § 223 StGB ablehnt, ist hingegen konsequent, da sich allein aus der Anklage wegen gefährlicher Körperverletzung nicht ableiten lässt, dass die Staatsanwaltschaft auch in Bezug auf eine Verfolgung nach § 223 StGB das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung bejaht (§ 230 Abs. 1 StGB).45 Nach dem Sachverhalt hätte darüber hinaus auch eine Strafbarkeit wegen räuberischen Diebstahls (§ 252 StGB) nahegelegen, aber darüber hatte der BGH auf die Revision der Angeklagten nicht zu entscheiden (Verbot der reformatio in peius, § 358 Abs. 2 StPO). Prof. Dr. Martin Böse, Bonn 43 Siehe das Beispiel bei Hardtung (Fn. 16), § 224 Rn. 26: Schlag mit einer entsicherten Pistole auf den Kopf. 44 Hardtung (Fn. 16), § 224 Rn. 27; Kindhäuser, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 9. Aufl. 2016, § 9 Rn. 14. 45 Fischer (Fn. 2), § 230 Rn. 4; Paeffgen (Fn. 3), § 230 Rn. 35. _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 114 BGH, Urt. v. 28.4.2016 – 4 StR 563/15 Krell _____________________________________________________________________________________ E n t s c h e i d u n g s a n m e r k u n g Sukzessive Mittäterschaft beim räuberischen Angriff auf Kraftfahrer 1. § 316a StGB erfordert in subjektiver Hinsicht, dass sich der Täter – entsprechend dem Ausnutzungsbewusstsein bei der Heimtücke nach § 211 Abs. 2 StGB – in tatsächlicher Hinsicht der die Abwehrmöglichkeiten des Tatopfers einschränkenden besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs bewusst ist. 2. Der Täter muss nicht von vornherein planen, die verringerten Abwehrmöglichkeiten auszunutzen; es reicht, wenn er sie zum Zeitpunkt der Tathandlung erkennt. 3. Sukzessive Mittäterschaft kommt bei § 316a StGB in Betracht, wenn ein Täter in Kenntnis und mit Billigung des bisher Geschehenen – selbst bei Abweichungen vom ursprünglichen Tatplan in wesentlichen Punkten – in eine bereits begonnene Ausführungshandlung eintritt und er sich mit dem anderen vor Beendigung der Tat zu gemeinschaftlicher weiterer Ausführung verbindet, auch wenn das Opfer zu diesem Zeitpunkt kein Kraftfahrzeug mehr führt. (Leitsätze des Verf.) StGB § 316a BGH, Urt. v. 28.4.2016 – 4 StR 563/151 I. Sachverhalt (vereinfacht) S, F und G beschlossen, ein Taxi zu überfallen. Ihr Plan sah vor, einen Taxifahrer abzulenken, damit G die Geldbörse an sich nehmen könne. Sofern dies nicht gelinge, solle Gewalt angewendet werden. S führte deshalb ein HDMI-Kabel, F einen Schlagstock mit sich. Die Initiative sollte von F ausgehen. F erklärte der Taxifahrerin O, sie könne nun anhalten. O setzte daraufhin das Taxi etwas zurück, weil sie noch wenden wollte. In diesem Moment missverstand S einen Blick des F und ging davon aus, dieser habe ihm das vereinbarte Signal gegeben. Er würgte O mit dem Kabel. Als diese sich wehrte, schlug F mit dem Schlagstock zu. O war sofort bewusstlos. Daraufhin schlug G noch einmal auf O ein. Anschließend nahm er 300 EUR Bargeld an sich. S, F und G riefen keinen Notarzt, obwohl sie erkannt hatten und billigend in Kauf nahmen, dass O sterben könnte. Sie hatten aber Angst, infolge eines Notrufs überführt zu werden. O überlebte. II. Entscheidung Der 4. BGH-Strafsenat moniert, dass das LG die Angeklagten lediglich wegen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und versuchten Verdeckungs1 Die Entscheidung ist abgedruckt in NStZ 2016, 607 und online abrufbar unter http://juris.bundesgerichtshof.de/cgibin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&sid= 61280f34bf84360d5667c1ca7f1adb3d&nr=74759&pos=0&a nz=1&Blank=1.pdf (31.1.2017). mordes verurteilt hat. Es habe die Voraussetzungen eines räuberischen Angriffs auf Kraftfahrer mit rechtlich unzutreffenden Erwägungen verneint. Nach Auffassung des LG hatten S, F und G nicht die besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs ausgenutzt. Dagegen wendet der BGH ein, dieses Merkmal sei in der Regel erfüllt, wenn sich das Fahrzeug in Bewegung befindet, weil der Fahrer dann typischerweise abgelenkt und dadurch ein leichteres Opfer sei.2 Entgegen der Auffassung des LG sei es nicht erforderlich, dass die Angeklagten ursprünglich geplant hatten, die besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs auszunutzen; notwendig, aber auch hinreichend sei es, dass S, F und G zum Zeitpunkt der Tathandlung der eingeschränkten Abwehrmöglichkeit bewusst waren.3 Der Senat zieht ausdrückliche eine Parallele zum Ausnutzungsbewusstsein bei der Heimtücke. Anschließend gibt er noch eine „Segelanweisung“: Einer Strafbarkeit aller Angeklagten aus § 316a StGB stehe es nicht entgegen, dass S „mit seinem noch vor dem Anhalten des Taxis verübten Angriff auf die Nebenklägerin von dem gemeinsamen Tatplan abwich“. Dies schließe es nicht aus, sein Vorgehen G und F „im Wege der (sukzessiven) Mittäterschaft zuzurechnen“.4 „Zwar kann einem Mittäter das Handeln eines anderen Mittäters, das über das gemeinsam Gewollte hinausgeht, nicht zugerechnet werden. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Zurechnung keine ins Einzelne gehende Vorstellung von den Handlungen des anderen Tatbeteiligten erfordert. Regelmäßig werden die Handlungen des anderen Tatbeteiligten, mit denen nach den Umständen des Falles gerechnet werden musste, vom Willen des Mittäters umfasst, auch wenn er sie sich nicht besonders vorgestellt hat. Ebenso ist er für jede Ausführungsart einer von ihm gebilligten Straftat verantwortlich, wenn er mit der Handlungsweise seines Tatgenossen einverstanden oder sie ihm zumindest gleichgültig war […]. Sukzessive Mittäterschaft kommt in Betracht, wenn ein Täter in Kenntnis und mit Billigung des bisher Geschehenen – selbst bei Abweichungen vom ursprünglichen Tatplan in wesentlichen Punkten – in eine bereits begonnene Ausführungshandlung eintritt und er sich mit dem anderen vor Beendigung der Tat zu gemeinschaftlicher weiterer Ausführung verbindet. Sein Einverständnis bezieht sich dann auf die Gesamttat mit der Folge, dass ihm die gesamte Tat zugerechnet werden kann […]. Angesichts dessen, dass der Angeklagte S. mit seinem geringfügig zeitlich vorgezogenen Angriff auf das Tatopfer nur unwesentlich von der gemeinsamen Tatplanung abwich und die Angeklagten im Folgenden den 2 BGH, Urt. v. 28.4.2016 − 4 StR 563/15, Rn. 12 = NStZ 2016, 607 (608 f.); vgl. aber auch Kudlich, JA 2016, 707 (709), der die Frage aufwirft, ob eine Bestrafung aus § 316a StGB wirklich sachgerecht ist, wenn das Fahrzeug sich „wenige Augenblicke zwischen ‚Noch-Fahren‘ und ‚BereitsStehen‘“ befindet. 3 BGH, Urt. v. 28.4.2016 − 4 StR 563/15, Rn. 12, 14 = NStZ 2016, 607 (608 f.). 4 BGH, Urt. v. 28.4.2016 − 4 StR 563/15, Rn. 15 = NStZ 2016, 607 (609). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 115 BGH, Urt. v. 28.4.2016 – 4 StR 563/15 Krell _____________________________________________________________________________________ Überfall wie verabredet arbeitsteilig durchführten, liegt es danach nicht fern, dass der Angriff auf die noch mit der Bedienung des in Bewegung befindlichen Taxis befasste Nebenklägerin auch vom Wollen der Angeklagten G. und F. umfasst war oder sich jedenfalls deren Vorsatz sukzessiv auf dieses Vorgehen erstreckte.“5 III. Rechtliche Würdigung 1. Räuberischer Angriff auf Kraftfahrer Die Entscheidung überzeugt, soweit sie die Begründung des LG angreift. Man könnte – insbesondere im Lichte der Parallele zum Ausnutzungsbewusstsein bei der Heimtücke6 – allenfalls fragen, ob nicht die Spontanität ein Problem ist, mit der S das Opfer frühzeitig würgte.7 Immerhin handelte S vor allem deshalb, weil er irrig davon ausging, F habe ihm signalisiert, dass es nun losgehe. Etwas schwieriger liegen die Dinge bei der „Segelanweisung“. Diese wirft einige Rechtsprobleme auf, die in der Entscheidung nicht hinreichend aufgearbeitet werden. a) Der gemeinsame Tatplan und das möglicherweise abweichende Verhalten des F Die Unklarheiten beginnen bereits im tatsächlichen Bereich. Es bleibt im Dunkeln, was genau nun eigentlich der Tatplan von S, F und G vorsah. Nach den Feststellungen des Landgerichts – jedenfalls soweit sie vom BGH wiedergegeben werden – war nur klar, dass sie überhaupt eine Gewaltanwendung als Alternative zur bloßen Wegnahme in Betracht gezogen hatten. Wann sie Gewalt anwenden wollten, ist nicht ersichtlich. Da F damit rechnete, schon im Taxi das Signal zu erhalten, liegt es an sich nahe, dass sie gegebenenfalls schon während der Fahrt Gewalt anwenden wollten. Vor diesem Hintergrund ist es unverständlich, wenn der Senat ausführt, dass S „mit seinem noch vor dem Anhalten des Taxis verübten Angriff von dem gemeinsamen Tatplan abwich“.8 Sollte der Tatplan tatsächlich erst eine Gewaltanwendung nach Fahrtende vorgesehen haben, wäre dem BGH im Ergebnis zuzustimmen. Denn der gemeinsame Tatentschluss begründet die wechselseitige Zurechnung und damit die Einheit der Mittäter nicht nur, sondern er begrenzt sie zugleich.9 Um die Reichweite der Zurechnung zu klären, muss man also den Tatplan auslegen, wobei insbesondere geringfügige oder naheliegende Abweichungen oft konkludent zum Bestandteil des Plans gemacht werden.10 Hier sprechen aber die besseren Gründe für eine erhebliche Abweichung und deshalb einen Exzess des S (sowie ggf. auch des F).11 Verwirklicht ein Mittäter einen anderen Tatbestand, so ist dies selbst nach der Rspr. – die mit der Annahme von Exzessen sonst eher zurückhaltend ist – den anderen Beteiligten nämlich nur dann zurechenbar, wenn sie mit dieser Möglichkeit gerechnet hatten oder es ihnen gleichgültig war.12 Zwar hat der BGH auch entschieden, dass Abweichungen vom ursprünglichen Tatplan jedenfalls dann zurechenbar seien, wenn die anderen Beteiligten weiter an der Vollendung der Tat mitwirkten.13 Die Tat nach § 316a StGB war aber bereits vollendet. Denn dafür reicht es aus, wenn der Angriff verübt und das heißt: ausgeführt wurde.14 Damit läge allenfalls dann kein Exzess vor, wenn es S und G gleichgültig war, wann F Gewalt ausübt. Auch hierzu fehlen eindeutige Feststellungen, doch scheint es keineswegs ausgeschlossen. Hätten S, F und G dagegen von vornherein vorgehabt, gegebenenfalls bereits während der Fahrt Gewalt gegenüber O anzuwenden, dann wäre die vorzeitige Gewaltanwendung gewiss nur eine unwesentliche Abweichung und damit S und G zuzurechnen gewesen. Auf die Ausführungen zur sukzessiven Mittäterschaft wäre es dann überhaupt nicht mehr angekommen. b) Sukzessive Mittäterschaft bei § 316a StGB Was aber ist nun, wenn man mit dem BGH von einer wesentlichen Abweichung ausgeht? Jedenfalls S ist nach § 316a StGB strafbar. Problematischer ist es, wenn der Senat davon ausgeht, auch F und G seien Mittäter des räuberischen Angriffs auf Kraftfahrer. Soweit es F betrifft, kommt es auf § 25 Abs. 2 StGB im Ergebnis wohl gar nicht an: Es spricht einiges dafür, dass dieser mit dem Schlag einen eigenen Angriff auf O verübte, als diese noch das Kraftfahrzeug führte. Das wäre dann jedoch ein Fall von unmittelbarer (Neben-)Täterschaft. F wäre also nach § 316a StGB strafbar; die sukzessive Mittäterschaft wäre nur noch insofern von Interesse, als ihm möglicherweise auch das Würgen durch S zugerechnet werden könnte. Darauf käme es aber im Ergebnis nicht an, weil gleichwohl nur eine Tat nach § 316a StGB vorläge.15 Man könnte allenfalls fragen, ob F noch die besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs ausnutzte oder nicht vielmehr nur die Ablenkung durch S. Jedenfalls als G zuschlug war das Opfer bereits bewusstlos. Damit führte es kein Kraftfahrzeug 10 5 BGH, Urt. v. 28.4.2016 − 4 StR 563/15, Rn. 16 = NStZ 2016, 607 (608 f.) – aus dem Zitat wurden lediglich Rspr.Nachw. gestrichen. 6 Vgl. zu entsprechenden Heimtücke-Fällen etwa BGH NStZ 2014, 574 m. Anm. Liebhart. 7 Siehe auch Kulhanek, NStZ 2016, 609 (610). 8 BGH, Urt. v. 28.4.2016 − 4 StR 563/15, Rn. 15 = NStZ 2016, 607 (609). 9 Murmann, Grundkurs Strafrecht, 3. Aufl. 2015, § 27 Rn. 57; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1, 6. Aufl. 2011, § 12 Rn. 80; Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 2, 8. Aufl. 2014, § 49 Rn. 58. Vgl. Murmann (Fn. 9), § 27 Rn. 57. A.A. Hecker, JuS 2016, 850 (852 f.); skept. auch Kudlich, JA 2016, 707 (710). 12 Vgl. neben den vom Senat zitierten Entscheidungen etwa BGH NJW 1983, 377; BGH NStZ 2002, 597 (598); BGH NStZ-RR 2005, 71. 13 BGH NStZ-RR 2002, 9. 14 Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 64. Aufl. 2017, § 316a Rn. 13; Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, Kommentar, 28. Aufl. 2014, § 316a Rn. 4. 15 Die Frage kann allerdings für die Strafzumessung eine Rolle spielen; vgl. BGH NStZ 2010, 146; T. Walter, NStZ 2008, 548 (553). 11 _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 116 BGH, Urt. v. 28.4.2016 – 4 StR 563/15 Krell _____________________________________________________________________________________ mehr und G konnte auch nicht mehr die besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs – sondern allenfalls die Bewusstlosigkeit des Opfers – ausnutzen. Nur für die Strafbarkeit des G ist daher entscheidend, ob ihm die Handlung des S (sowie ggf. des F) zugerechnet werden kann. aa) Allgemeines zur sukzessiven Mittäterschaft Sukzessive Mittäterschaft bedeutet, dass jemand nachträglich in eine bereits begonnene Tatausführung eintritt. Grundsätzlich kann der gemeinsame Tatentschluss auch noch während der Tatausführung und konkludent gefasst werden, sodass jedenfalls alle Tatbeiträge unproblematisch zugerechnet werden können, an denen der Sukzessivtäter noch selbst mitwirkt.16 Kommt der Sukzessivtäter gerade des Weges, als der Ersttäter im Begriff ist, fremde bewegliche Sachen wegzunehmen, und hilft er ihm dabei, so bestehen keinerlei Bedenken, ihn wegen Diebstahls zu bestrafen. Entweder er hat selbst weggenommen oder die Wegnahme der Ersttäters kann ihm auf Basis eines vorab konkludent gefassten Tatplans zugerechnet werden. Dass auch diese Konstellation als sukzessive Mittäterschaft bezeichnet wird, ist nicht sonderlich glücklich.17 Erstens versteht sich das Ergebnis von selbst, ohne dass es auf die „sukzessive“ Mittäterschaft in irgendeiner Weise ankäme. Zweitens werden so verschiedene Konstellationen, die teils unproblematisch, teils lebhaft umstritten sind, unter einen einheitlichen Begriff gebracht, was eher verwirrend ist. Keine Einigkeit besteht in der Frage, ob auch bereits verwirklichte Tatbestandsmerkmale – insbesondere Erschwerungsgründe – noch zugerechnet werden können.18 Diese Konstellationen machen den Hauptanteil der Rspr. zur sukzessiven Mittäterschaft aus. Beispiel: Der Sukzessivtäter hilft dem Ersttäter, der bereits Gewalt angewendet hat, bei der Wegnahme – Strafbarkeit nur aus § 242 StGB oder auch aus § 249 StGB? Unser Fall liegt noch einmal anders. Der Tatbestand wurde durch F – und wohl auch durch S – bereits vollständig erfüllt. Deren Handlungen können G also nur dann zugerechnet werden, wenn eine sukzessive Mittäterschaft auch nach formeller Vollendung – d.h. nachdem alle objektiven Tatumstände verwirklich sind –19 noch möglich ist. Auch diese Fallkonstellation ist umstritten. Klar ist dabei, dass diese Form der sukzessiven Mittäterschaft die problematischste ist. Denn anders als bei der zuvor genannten Konstellation wirkt der Sukzessivtäter an keinem Tatumstand mit. Das ist aus zwei Gründen wichtig: Erstens richten sich alle Einwände gegen die sukzessive Zurechnung abgeschlossener Tatum16 Siehe nur Murmann (Fn. 9), § 27 Rn. 59; Maurach/Gössel/ Zipf (Fn. 9), § 49 Rn. 47; Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 2, 2003, § 25 Rn. 219 f.; Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 9), § 12 Rn. 88. 17 Vgl. T. Walter, NStZ 2008, 548 (552 f.); zust. Grabow/ Pohl, Jura 2009, 656 (660). 18 Dazu Maurach/Gössel/Zipf (Fn. 9), § 49 Rn. 53 f.; Roxin (Fn. 16), § 25 Rn. 224. 19 Vgl. Kühl, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2016, § 14 Rn. 20. stände (dazu sogleich) auch und erst Recht gegen die sukzessive Mittäterschaft nach Vollendung. Denn hier müssen ja sämtlich Tatumstände zugerechnet werden, die in der Vergangenheit liegen. Zweitens werfen einige Einschränkungen, die der BGH bei der Zurechnung abgeschlossener Tatumstände teilweise anerkennt, die Frage auf, wie dann überhaupt noch eine sukzessive Mittäterschaft nach Vollendung möglich sein soll. (1) Zunächst zu den Einwänden gegen eine rückwirkende Zurechnung: Vielfach wird vorgebracht, etwas, das in der Vergangenheit liege, könne nicht verursacht werden.20 Auf einer ähnlichen Linie wird aus dem Lager der Tatherrschaftslehre eingewandt, dass man ein bereits abgeschlossenes Geschehen nicht beherrschen könne.21 Beide Einwände sind allerdings nicht zwingend: Man kann es nämlich auch ausreichen lassen, dass der Beitrag des Sukzessivtäters für die Gesamttat ursächlich wird, dieser aber den Beitrag des Ersttäters nicht verursachen muss.22 Wenn man das ausreichen lässt, erscheint es aber auch denkbar, dies für eine Tatherrschaft ausreichen zu lassen. Beides gilt allerdings nur dann, wenn der Sukzessivtäter noch an irgendeinem Tatumstand mitwirkt. Das ist nach Vollendung indes nicht der Fall. Sieht man die Zurechnungsgrundlage bei der Mittäterschaft im gemeinsamen Tatplan – was auch dem Standpunkt des BGH entspricht –,23 so muss dieser von vornherein auf alle tatbestandlich relevanten Umstände gerichtet sein; er kann keine Rückwirkung entfalten.24 Insofern gilt letztlich dasselbe wie für den Exzess:25 Was vom Tatplan nicht ge20 Hoyer, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, 32. Lfg., Stand: März 2000, § 25 Rn. 125; Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, 21/60; Klesczewski, Strafrecht, Besonderer Teil, 2016, § 8 Rn. 131; Seher, JuS 2009, 304 (306). 21 R. Becker, ZJS 2010, 403 (411); Heine/Weißer, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl. 2014, § 25 Rn. 96; Kaspar, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2015, Rn. 528; Rengier, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1, 18. Aufl. 2016, § 7 Rn. 47; Roxin, JA 1979, 519 (525); ders. (Fn. 16), § 25 Rn. 227; Schünemann, in: Laufhütte/Rissingvan Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 1, 12. Aufl. 2007, § 25 Rn. 200; Seher, JuS 2009, 304 (306); tendenziell auch Kudlich, in: v. HeintschelHeinegg (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar, Strafgesetzbuch, Stand: 1.9.2016, § 25 Rn. 56.1. 22 Dencker, Kausalität und Gesamttat, 1996, S. 251 ff.; zust. Frister, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2015, Kap. 26 Rn. 13. 23 Vgl. BGHSt 6, 248 (249); BGH NStZ 1997, 336. 24 Joecks, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1, 2. Aufl. 2011, § 25 Rn. 208; Murmann, ZJS 2008, 456 (459); Maurach/Gössel/Zipf (Fn. 9), § 49 Rn. 57; Roxin (Fn. 16), § 25 Rn. 227; Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 9), § 12 Rn. 88. 25 Der Zusammenhang zwischen Exzess und nachträglicher Zurechnung kommt teilweise auch in der Rspr. zum Ausdruck (vgl. BGH NStZ 1997, 272). Verwirrend BGH NStZ 2008, 280 (281): „Nicht jede Abweichung des tatsächlichen _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 117 BGH, Urt. v. 28.4.2016 – 4 StR 563/15 Krell _____________________________________________________________________________________ deckt war, kann nicht zugerechnet werden. Was bereits geschehen ist, kann aber nicht mehr geplant werden. Die nachträgliche Billigung ist daher nichts weiter als ein unbeachtlicher dolus subsequens.26 Neben diesen Gründen, die gegen eine rückwirkende Zurechnung im Allgemeinen sprechen, wird gegen die sukzessive Mittäterschaft nach Vollendung im Besonderen noch ein weiteres gewichtiges Argument in Stellung gebracht: § 25 Abs. 2 StGB fordert, dass „mehrere die Straftat gemeinsam“ begehen. Eine Tat ist nach § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB aber nur „eine solche, die den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht“. Sobald die Straftat aber formell vollendet ist, wurde sie bereits begangen. Es ist keine Tat mehr übrig, die man noch gemeinschaftlich begehen könnte. Deshalb verstößt es gegen das Analogieverbot aus Art. 103 Abs. 2 GG, wenn man eine sukzessive Mittäterschaft nach Vollendung anerkennt.27 (2) Auch der BGH setzt der Zurechnung bereits verwirklichter Tatumstände Grenzen. In gefestigter Rspr. formuliert er, eine Zurechnung sei ausgeschlossen, wenn das Geschehen schon „vollständig abgeschlossen ist“,28 ohne jedoch näher darzulegen, was genau das eigentlich heißt.29 Der BGH kommt auf dieser Basis gleichsam zu einer gespaltenen Zurechnung: Wenn der Sukzessivtäter dem Ersttäter, der bereits Gewalt gegen das Opfer angewendet hat, hilft, diesem nun eine Sache wegzunehmen, so sei die qualifizierte Nötigungshandlung zurechenbar, nicht jedoch die bereits abgeschlossene Körperverletzung.30 Das legt es nahe, dass eine Tat für den Geschehens von dem vereinbarten Tatplan beziehungsweise von den Vorstellungen des Mittäters begründet die Annahme eines Exzesses. Vielmehr liegt sukzessive Mittäterschaft vor, wenn jemand in Kenntnis und Billigung des bisher Geschehenen – auch wenn dieses in wesentlichen Punkten von dem ursprünglichen gemeinsamen Tatplan abweicht – in eine bereits begonnene Ausführungshandlung als Mittäter eintritt. Sein Einverständnis bezieht sich dann auf die Gesamttat mit der Folge, dass ihm das gesamte Verbrechen strafrechtlich zugerechnet wird.“ – Selbst wenn man das nachträgliche Einverständnis für erheblich hält, ändert das doch nichts daran, dass ursprünglich ein Exzess vorlag. 26 R. Becker, ZJS 2010, 403 (411); Grabow/Pohl, Jura 2009, 656 (659); Joecks (Fn. 24), § 25 Rn. 208; Murmann, ZJS 2008, 456 (459); Klesczewski (Fn. 20), § 8 Rn. 131; Rengier (Fn. 21), § 7 Rn. 47; Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 9), § 12 Rn. 88; T. Walter, NStZ 2008, 548 (553). 27 Vgl. R. Becker, ZJS 2010, 403 (411); Geppert, Jura 2011, 30 (35); Grabow/Pohl, Jura 2009, 656 (659); Haas, in: Matt/ Renzikowski (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar, 2013, § 25 Rn. 90; Krey/Esser, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 2016, Rn. 1198; Murmann (Fn. 9), § 27 Rn. 61; ders., ZJS 2008, 456 (458); Maurach/Gössel/Zipf (Fn. 9), § 49 Rn. 50. 28 So BGH NStZ 1997, 272; BGH NStZ 2010, 146 (147); BGH NStZ-RR 2014, 72 (73); BGH NStZ 2016, 524. 29 Vgl. auch Haas (Fn. 27), § 25 Rn. 93 f. 30 BGH bei Dallinger MDR 1969, 533; krit. Haas (Fn. 27), § 25 Rn. 95. BGH erst dann „vollständig abgeschlossen“ ist, wenn sie beendigt ist.31 Nun formuliert jedoch der BGH teilweise auch deutlich restriktiver: „Die Zurechnung bereits verwirklichter Tatumstände ist aber nur dann möglich, wenn der Hinzutretende selbst einen für die Tatbestandsverwirklichung ursächlichen Beitrag leistet. Kann der Hinzutretende die weitere Tatausführung dagegen nicht mehr fördern, weil für die Herbeiführung des tatbestandsmäßigen Erfolgs schon alles getan ist und das Tun des Eintretenden auf den weiteren Ablauf des Geschehens ohne jeden Einfluss bleibt, kommt mittäterschaftliche Mitwirkung trotz Kenntnis, Billigung und Ausnutzung der durch einen anderen geschaffenen Lage nicht in Betracht.“32 Wie aber passt das zu der Annahme einer sukzessiven Mittäterschaft nach Vollendung?33 Diese müsste doch konsequenter Weise ausscheiden, sollte eine Zurechnung wirklich nicht mehr möglich, sobald „für die Herbeiführung des tatbestandsmäßigen Erfolgs schon alles getan ist“. Soll man den BGH so verstehen, dass eine Zurechnung nur ausscheidet, wenn alles für den Erfolg getan ist und kumulativ „das Tun des Eintretenden auf den weiteren Ablauf des Geschehens ohne jeden Einfluss bleibt“? Dann wäre zwar die sukzessive Mittäterschaft nach Vollendung möglich, die Schwelle aber bedenklich niedrig angesetzt. Noch viel weniger leuchtet ein, wie der Sukzessivtäter auch nach Vollendung noch haften können soll, wenn man von ihm einen für die Tatbestandsverwirklichung ursächlichen Beitrag verlangt.34 Die Rspr. des BGH zu den umstrittenen Fällen der sukzessiven Mittäterschaft gibt also kein einheitliches Bild ab und ist nicht frei von Widersprüchen. bb) Beendigungszeitpunkt bei § 316a StGB Selbst wenn man mit dem BGH eine sukzessive Mittäterschaft nach Vollendung prinzipiell zulässt, bleibt noch ein weiterer Aspekt zu beachten, den der Senat überhaupt nicht explizit erwähnt. Jedenfalls nach Beendigung ist eine Beteiligung nach einhelliger Auffassung nicht mehr möglich.35 Der BGH hat den Beendigungszeitpunkt bei § 316a StGB bisher – soweit ersichtlich – nie positiv bestimmt.36 Er hat allerdings – ebenfalls durch den 4. Strafsenat – festgestellt, dass das Delikt jedenfalls dann beendigt sei, wenn „ein länge31 Vgl. Murmann, ZJS 2008, 456 (456 f.). BGHSt 54, 69 (129). 33 Vgl. auch Geppert, Jura 2011, 30 (35 f.); Maurach/Gössel/ Zipf (Fn. 9), § 49 Rn. 55. 34 So neben BGHSt 54, 69 (129) z.B. auch BGH NStZ 1984, 548 f. 35 BGH bei Dallinger MDR 1975, 366; BGH NStZ 1984, 548; BGH NJW 1985, 814; BGH NStZ-RR 1999, 208; Fischer (Fn. 14), § 25 Rn. 39; Roxin (Fn. 16), § 25 Rn. 223. Mit der Beendigungsphase des § 316a StGB befasst sich daneben noch BGHSt 52, 44 (46). Dort geht es allerdings um die Frage, ob ein Angriff vor Fahrbeginn noch ausreichen kann, wenn er während der Fahrt fortgesetzt wird. Die Beendigung wird auch nicht weiter präzisiert. 36 Missverständlich insofern Sternberg-Lieben/Hecker, in: Schönke/Schröder (Fn. 21), § 316a Rn. 17. 32 _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 118 BGH, Urt. v. 28.4.2016 – 4 StR 563/15 Krell _____________________________________________________________________________________ rer zeitlicher und räumlicher Abstand zu dem Angriff auf das Opfer“ bestand.37 Danach scheide folglich auch eine Beteiligung aus. Indem der Senat nun eine sukzessive Beteiligung bei § 316a StGB für möglich hält, geht er implizit davon aus, dass er es noch nicht mit einer beendigten Tat zu tun hat. Nun heißt es aber in der Kommentarliteratur ganz überwiegend, die Tat des § 316a StGB sei bereits beendigt, sobald der Angriff abgeschlossen ist.38 Wie verträgt sich das mit der Prämisse des 4. Strafsenats? (1) Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, wann der Angriff abgeschlossen ist. Insofern könnte man sagen, dass der Angriff solange fortdauert, wie seine Wirkung beim Opfer anhält. Er wäre dann mit dem Schlag vollendet, aber erst beendigt, wenn das Opfer wieder bei Bewusstsein ist. So hat es der BGH für das Merkmal Gewalt entschieden.39 Nimmt man diesen Standpunkt ein, so besteht möglicherweise überhaupt kein Widerspruch zwischen dem BGH und dem Schrifttum. Man kann dann nämlich in dem Rekurs auf den „längeren zeitlichen und räumlichen Abstand“ eine absolute Grenze sehen, die selbst dann gilt, wenn die Folgen des Angriffs noch fortwirken. Man muss dann aber wohl voraussetzen, dass der Sukzessivtäter schon zum Zeitpunkt des Angriffs um die Absicht zum Raub usw. weiß, wie dies auch für die Finalität bei § 249 StGB gefordert wird.40 Diese Voraussetzung war hier aber erfüllt, weil für G auf der Hand lag, welchen Zweck das Würgen mit dem Kabel hatte. (2) Ein anderer Weg könnte darin liegen, das Beendigungsstadium über den abgeschlossenen Angriff hinaus zu erstrecken. Man ist sich heute wohl einig, dass weder eine allgemeine Definition der Beendigung möglich ist noch nach unterschiedlichen Deliktsgruppen pauschal differenziert werden kann, ob Vollendung und Beendigung auseinanderfallen (können).41 Deshalb dürfte es auch nicht entscheidend darauf ankommen, ob man § 316a StGB mit der h.M. als Tätigkeits- 37 BGH NStZ 2007, 35 (36); zust. Fischer (Fn. 14), § 316a Rn. 15; Sowada, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 12, 12. Aufl. 2008, § 316a Rn. 48; krit. Duttge, in: Dölling/Duttge/Rössner (Hrsg.), Handkommentar, Gesamtes Strafrecht, 2012, § 316a Rn. 19. 38 Ernemann, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar, 2. Aufl. 2014, § 316a Rn. 19; Esser, in: Leipold/Tsambikakis/Zöller (Hrsg.), AnwaltKommentar StGB, 2. Aufl. 2015, § 316a Rn. 29; Feilcke, in: v. Heintschel-Heinegg (Fn. 21), Stand: 1.9.2016, § 316a Rn. 26; Fischer (Fn. 14), § 316a Rn. 15; Kindhäuser, Strafgesetzbuch, Lehr- und Praxiskommentar, 6. Aufl. 2015, § 316a Rn. 19; Wolters, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, 129. Erg.-Lfg., Stand: September 2011, § 316a Rn. 9 39 BGH JZ 1981, 568. 40 Überzeugend Küper, JZ 1981, 568 (570 ff.) entgegen BGH JZ 1981, 596. 41 Hillenkamp, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Fn. 21), vor §§ 22 ff. Rn. 20, 24, 31. delikt einstuft oder darin ein Erfolgsdelikt sieht.42 Unabhängig davon lässt sich bei § 316a StGB prinzipiell ein Stadium zwischen Vollendung und Beendigung denken. Das zeigt auch unser Fall: So kann man sagen, der Angriff des S durch das Würgen sei zwar – da er bereits auf das Opfer einwirkt – vollendet, aber noch nicht abgeschlossen, solange S noch weiter würgt. Dann ließe sich auch eine sukzessive Mittäterschaft des F konstruieren (auch wenn es auf sie im Ergebnis gar nicht ankommt, weil S einen eigenen Angriff verübt). Ob das auch noch für den Zeitpunkt gilt, als G zuschlug, hängt von der oben angesprochenen Frage ab, ob es auf die Einwirkung des Opfers ankommt oder auf den Wegfall der Folgen des Angriffs. Wenn ersteres richtig ist, gibt den Ausschlag, ob nach dem – dann abgeschlossenen – Angriff noch Raum für eine materielle Beendigung ist. Insofern lassen sich zwei Ansatzpunkte denken: Man kann zum einen mit der überwiegenden Rspr. von einem faktischen Beendigungsbegriff ausgehen, der nicht „die Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale bis zur Vollendung […], sondern das ganze Geschehen bis zu dessen tatsächlicher Beendigung“ umfasst.43 Der Maßstab ähnelt dann dem der prozessualen Tat und man dürfte aufgrund des engen zeitlich-räumlichen Zusammenhangs zu dem Ergebnis kommen, dass die Tat nach § 316a StGB hier noch nicht beendet war. Nämliches gilt, wenn man auf den vom Täter verfolgten Zweck abstellt,44 weil S, F und G die Beute noch nicht erlangt hatten. Kritiker solcher Ansätze monieren, dass der Beendigungszeitpunkt strafausweitende Wirkung habe und deshalb dem Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB) besser gerecht werden müsse, wenn man dieses nicht schon durch die sukzessive Mittäterschaft nach Vollendung per se für verletzt hält.45 Deshalb müsse der Beendigungszeitpunkt so bestimmt werden, dass er sich noch in den gesetzlichen Tatbestand miteinbeziehen lasse. Anknüpfungspunkt könnte die Deliktsstruktur des § 316a StGB sein. Es handelt sich nach h.M. um ein Delikt mit überschießender Innentendenz.46 Für solche Delikte wird vielfach vertreten, dass die Tat erst beendet sei, wenn die überschie- 42 Vgl. für die h.M. Sander, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 5, 2. Aufl. 2014, § 316a Rn. 3; Sowada (Fn. 37), § 316a Rn. 4; Wessels/ Hillenkamp, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 39. Aufl. 2016, Rn. 415; a.A. (Erfolgsdelikt) Kindhäuser (Fn. 38), § 316a Rn. 1. 43 So zu § 249 StGB BGHSt 20, 194 (195); näher dazu und auch zu eher normativen Entscheidungen Hillenkamp (Fn. 41), vor §§ 22 ff. Rn. 20 m. Nachw. 44 So z.B. BayObLG NJW 1980, 412. 45 Hillenkamp (Fn. 41), vor §§ 22 ff. Rn. 34 f.; Jescheck, in: Stratenwerth (Hrsg.), Festschrift für Hans Welzel zum 70. Geburtstag am 25. März 1974, 1974, S. 683 (691); Kühl, in: Schünemann u.a. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin zum 70. Geburtstag am 15. Mai 2001, 2001, S. 665 (671, 674 ff.). 46 Feilcke (Fn. 38), § 316a Rn. 4; Sowada (Fn. 37), § 316a Rn. 4; Wolters (Fn. 38), § 316a Rn. 2a. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 119 BGH, Urt. v. 28.4.2016 – 4 StR 563/15 Krell _____________________________________________________________________________________ ßende Absicht sich verwirklicht habe.47 Vertreter der restriktiven Linie, die eine „tatbestandsbezogene“ Beendigungslehre fordern,48 verlangen, dass es sich um eine rechtsgutsbezogene Absicht handelt. Deshalb ist z.B. ein Mord mit Ermöglichungsabsicht mit dem Tod des Opfers beendigt und nicht erst mit der zu ermöglichenden Tat, weil diese keinen Bezug zum Rechtsguts des § 211 StGB hat.49 Teilweise wird sogar gefordert, dass die Absichtsverwirklichung die Rechtsgutsverletzung vertieft. Deshalb sei etwa die Bereicherungsabsicht beim Betrug sub specie Beendigung irrelevant, weil das Vermögen nicht dadurch (weiter) geschädigt wird, dass der Täter oder ein Dritter bereichert wird.50 Was heißt das nun für § 316a StGB? Die Vorschrift schützt jedenfalls auch das Vermögen. Umstritten ist nur, ob daneben auch die Sicherheit des Straßenverkehrs als weiteres Rechtsgut tritt.51 Dann ist aber auch die Verwirklichung dieser Absicht rechtsgutsrelevant, zumal die Absicht in erheblichem Maße unrechtsprägend ist. Dafür spricht auch eine Kontrollüberlegung: § 316a StGB ist von zwei Besonderheiten geprägt, einer Vorverlagerung der Strafbarkeit und einer drastischen Strafschärfung gegenüber einem gewöhnlichen Raub usw. Diese beruht auf der Erwägung, dass Kraftfahrer vor Angriffen mit Raubabsicht etc. besonders zu schützen seien. Hätte der Gesetzgeber die Vorverlagerung der Strafbarkeit für verzichtbar gehalten, so hätte es nahegelegen, eine Raubqualifikation zu statuieren. An einem solchen Delikt wäre aber – sofern man eine Zurechnung bereits verwirklichter Tatbeiträge (hier: der qualifizierten Nötigungshandlung) für möglich hält – eine Beteiligung möglich, solange die Beute noch nicht weggenommen wurde bzw. der Vermögensnachteil eingetreten ist. Daraus folgt erstens: Die unausgesprochene Prämisse des 4. Strafsenats, dass der räuberische Angriff auf Kraftfahrer noch nicht beendigt ist, verdient i.E. Zustimmung. Zweitens: Das überwiegende Schrifttum nimmt bei § 316a StGB bedenklich früh eine Beendigung an.52 Drittens: Die ältere Entscheidung des 4. Senats steht zwischen diesen Standpunkten, nimmt aber tendenziell ebenfalls recht früh Beendigung an. Sie ist zugleich ein guter Beleg dafür, dass die Rspr. den Beendigungszeitpunkt ohne dogmatische 47 Eser/Bosch, in: Schönke/Schröder (Fn. 21), vor §§ 22 ff. Rn. 6 f.; Hau, Die Beendigung der Straftat und ihre rechtlichen Wirkungen, 1974, S. 29, 37, 97 ff.; Jescheck (Fn. 45), S. 692 f. 48 Kühl (Fn. 44), S. 673 ff. 49 Hau (Fn. 47), S. 30; i.E. auch Hsueh, Abschied vom Begriff der Tatbeendigung im Strafrecht, 2013, S. 59, der allerdings nicht auf den fehlenden Rechtsgutsbezug, sondern darauf abstellt, dass die Absichtsverwirklichung ihrerseits eine Straftat ist. 50 Kühl (Fn. 45), S. 665; anders die h.M.: BGH NStZ 2014, 516 m. Anm. Chr. Becker; Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 46. Aufl. 2016, Rn. 842; Hau (Fn. 47), S. 107 ff. 51 So BGHSt 5, 280 (281); 13, 27 (29); 22, 114 (117); 39, 249 (250); 49, 8 (11); 52, 44 (46); zum Streit um das geschützte Rechtsgut m. Nachw. ferner Sowada (Fn. 37), § 316a Rn. 7. 52 Krit. auch Kulhanek, NStZ 2016, 609 (610). Kriterien und damit letztlich in kaum vorhersehbarer Weise bestimmt. c) Ausreichender Tatbeitrag des G? Mit diesen Erwägungen ist aber noch nicht gesagt, dass es sachgerecht wäre, G als Mittäter zu bestrafen. Selbst wenn man den Beendigungszeitpunkt wie hier bestimmt und zudem eine sukzessive Mittäterschaft nach Vollendung nicht generell ablehnt, stellt sich nämlich die Frage, ob G wirklich einen ausreichenden Tatbeitrag erbracht hat. Dabei sollte man zunächst sehen, dass nach der hier vertretenen Auffassung das Stadium zwischen Vollendung und Beendigung bei § 316a StGB sehr lang sein kann. 53 Hinzu kommt, dass eine sukzessive Mittäterschaft zu einem drastischen Strafrahmensprung führen kann. Insofern sollte also besonderes Augenmerk darauf gerichtet werden, wenigstens hinreichende Anforderungen an die gemeinschaftliche Tatbegehung zu stellen.54 Solche Voraussetzungen mag man bei G noch als erfüllt ansehen: Dieser war die ganze Zeit „dabei“, hatte ein eigenes Tatinteresse, hat das Bargeld weggenommen und die Gewalthandlungen waren beliebig austauschbar. Es lassen sich aber auch andere Fälle denken: Soll ernsthaft denjenigen, der für einen anderen den Pkw, in dessen Kofferraum der gefesselte Fahrer liegt, ein Stück fährt – vorbehaltlich des § 316a Abs. 2 StGB – Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren erwarten? Insofern verdient der Gedanke Beachtung, entsprechend der funktionalen Tatherrschaftslehre im Beendigungsstadium sogar ein Plus an Mitwirkung zu verlangen, wenn ein Minus im Ausführungsstadium zu verzeichnen ist.55 2. Versuchter Verdeckungsmord Der Senat hat offenbar keine prinzipiellen Bedenken gegen die Annahme des LG, dass hier ein versuchter Verdeckungsmord in Betracht kommt. Der Schuldspruch wurde insofern nur deshalb aufgehoben, weil der Senat nicht ausschließen konnte, dass das LG in neuer Hauptverhandlung einen Tötungsvorsatz bereits bei Beginn des Überfalls feststellen würde. Damit würde aber ein anschließender versuchter Verdeckungsmord nach gefestigter Rspr. ausscheiden.56 Dass S, F und G lediglich mit Eventualvorsatz handelten, wird nicht einmal mehr problematisiert. Hier zeigt sich insofern eine 53 Vgl. auch Kulhanek, NStZ 2016, 609 (610), der die verschiedenen Aspekte zusammenführt und Beendigung annimmt, „wenn entweder die überschießende Innentendenz verwirklicht wurde, die Fortwirkung des ursprünglichen Angriffs aufgehoben ist, oder ein längerer zeitlicher und räumlicher Abstand zur Vollendung des Angriffs eintritt“. 54 Dazu allgemein schon BGH bei Dallinger, MDR 1971, 365 (366); Küper, JZ 1981, 568 (572 f.). 55 Vgl. Kühl (Fn. 45), S. 682. 56 Grundlegend BGH NStZ 2002, 312 (313); zur Kritik etwa Schneider, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 4, 2. Aufl. 2012, § 211 Rn. 244 ff. _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 120 BGH, Urt. v. 28.4.2016 – 4 StR 563/15 Krell _____________________________________________________________________________________ ebenfalls gefestigte Rspr. zu den – sich überschneidenden57 – Themenkreisen Eventualvorsatz und Unterlassen bei der Verdeckungsabsicht. Geht man einmal davon aus, dass insofern beim Unterlassungsdelikten die gleichen Grundsätze gelten,58 ist entscheidend, ob die Verdeckung nur durch den Todeserfolg erreicht werden konnte – dann ist Absicht erforderlich – oder ob die Tathandlung condicio sine qua non für den Verdeckungserfolg ist.59 Da es hier um ein Unterlassen geht, kommt es also auf die gebotene Rettungshandlung an.60 Wegen ebendieser befürchteten die Täter aber entdeckt zu werden; sie gingen nach den Feststellungen nicht davon aus, das Opfer könnte sie identifizieren. Insofern befindet sich das Urteil auf dem Boden der h.M., ohne sich allerdings mit der daran geübten Kritik61 auseinanderzusetzen. Prof. Dr. Paul Krell, Hamburg 57 Siehe etwa Geppert, Jura 2004, 242 (245 f.); Kaspar/ Broichmann, ZJS 2013, 346 (351 f.); Mitsch, in: Leipold/ Tsambikakis/Zöller (Fn. 38), § 211 Rn. 80. 58 Schneider (Fn. 56), § 211 Rn. 243. 59 Schneider (Fn. 56), § 211 Rn. 238. 60 Vgl. Geppert, Jura 2004, 242 (246); Theile, JuS 2006, 110 (111). 61 Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 2, 4. Aufl. 2013, § 211 Rn. 102; Mitsch (Fn. 57), § 211 Rn. 81. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 121 BGH, Beschl. v. 15.9.2016 – 4 StR 90/16 Theile _____________________________________________________________________________________ E n t s c h e i d u n g s a n m e r k u n g Falsches Überholen im Straßenverkehr Das Tatbestandsmerkmal des Überholens wird auch durch ein Vorbeifahren von hinten an sich in derselben Richtung bewegenden oder verkehrsbedingt haltenden Fahrzeugen verwirklicht, das unter Benutzung von Flächen erfolgt, die nach den örtlichen Gegebenheiten zusammen mit der Fahrbahn einen einheitlichen Straßenraum bilden. (Amtlicher Leitsatz) StGB § 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. b BGH, Beschl. v. 15.9.2016 – 4 StR 90/161 I. Einleitung Im Zentrum der Entscheidung steht die alles andere als leicht handzuhabende, aber hochgradig praxis- und ausbildungsrelevante Strafvorschrift des § 315c StGB. Es handelt sich – anders als § 316 StGB – um ein konkretes Gefährdungsdelikt, das zahlreiche dogmatische Fragen aufwirft. Im Unterschied zu § 315b StGB erfasst die Norm gerade Angriffe auf die Sicherheit des Straßenverkehrs, die von innen aus dem Verkehr heraus und nicht etwa von außen auf den Verkehr hinaus verübt werden. Dies ergibt sich aus der in § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB enthaltenen Wendung „einen ähnlichen, ebenso gefährlichen Eingriff“. Im konkreten Fall geht es um die Auslegung des Merkmals des falschen Überholens aus § 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. b StGB, das eine der enumerativ aufgeführten sieben Todsünden des Straßenverkehrs darstellt. Jenseits der vom BGH behandelten Auslegungsfrage bietet die Entscheidung Gelegenheit, sich noch einmal mit einigen Problemen dieser Strafvorschrift auseinanderzusetzen. II. Sachverhalt Der einen PKW steuernde Angeklagte wollte sich einer polizeilichen Kontrolle entziehen und überfuhr daher bei großer Beschleunigung eine rote Ampel, um sodann nach links in eine dreispurige Straße einzubiegen. Indes war ihm hier nach kurzer Weiterfahrt die Fahrbahn wegen einer weiteren roten Ampel versperrt, zumal auf der linken und mittleren Spur zwei Fahrzeuge hielten und der rechte Fahrstreifen durch einen an einer Haltestelle wartenden Linienbus blockiert war. Zur Ermöglichung der Flucht vor der ihm folgenden Polizei lenkte der Angeklagte seinen PKW über einen Bordstein schräg auf den rechten Gehweg und fuhr in einem Abstand von weniger als einem Meter an zwei Mädchen auf einem Fahrrad vorbei. Anschließend setzte er die Fahrt, an den auf der Straße wartenden Fahrzeugen vorbei, deutlich schneller als mit Schrittgeschwindigkeit über den Bürgersteig fort. Überdies hielt er auf einen ihm entgegenkommenden Passan1 Die Entscheidung ist in NJW 2016, 3462 abgedruckt und abrufbar unter: https://www.juris.de/jportal/?quelle=jlink&docid=KORE301 712016&psml=jurisw.psml&max=true (12.1.2017). ten zu und berührte ihn; der empörte Passant geriet zwar aus dem Tritt, ohne jedoch das Gleichgewicht zu verlieren oder zu Boden zu stürzen. Insoweit bestand – was dem Angeklagten klar war und womit er sich jedoch abfand – die naheliegende Gefahr eines Zusammenstoßes, so dass es nur dem Zufall zu verdanken war, ob sich der Fußgänger erheblich verletzen würde. Nachdem er im weiteren Verlauf noch ein an einer Hausfassade befestigtes Reklameschild gestreift hatte, hielt er schließlich an und setzte seine Flucht zu Fuß fort. III. Rechtliche Würdigung 1. Der vom BGH zu würdigende Vorgang fand zweifellos „im Straßenverkehr“ statt, da das Fahrmanöver auf dem seitlich von der Fahrbahn gelegenen Gehweg und damit im öffentlichen Verkehrsraum stattfand: Unabhängig von Eigentumsverhältnissen oder einer Widmung sind alle Straßen, Wege und Plätze öffentlich, die mit ausdrücklicher oder stillschweigender Duldung des Verfügungsberechtigten von der Allgemeinheit genutzt werden.2 2. Als Verkehrsverstoß läge es nicht völlig fern, auf eine Nichtbeachtung der Vorfahrt abzustellen, da der Angeklagte bereits im Vorfeld der eigentlichen Gefährdungssituation eine erste rote Ampel überfahren hatte. Von § 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. a StGB werden Verkehrssituationen erfasst, in der sich die Fahrlinien zweier Fahrzeuge kreuzen oder so stark annähern, dass ein reibungsloser Verkehrsablauf nicht mehr gewährleistet ist.3 Dies soll auch der Fall sein, wenn der Täter bei Rotlicht in eine Kreuzung einfährt und dadurch den Vorrang des Querverkehrs missachtet.4 Immerhin stellt eine Ampel der Sache nach nichts anderes als eine Vorfahrtsregelung dar, da sie den vor dem roten Signal befindlichen Verkehrsteilnehmern ein Halten gebietet. Jedoch sah sich der BGH an diesem Punkt offenbar deswegen zu keiner Stellungnahme genötigt, weil es zunächst noch zu keiner konkreten Gefährdung gekommen war und die „kurze Strecke“ bis zu der späteren Gefährdungssituation wohl doch immerhin lang genug war, um diese nicht mehr dem ersten Verstoß zuordnen zu können. 3. Allerdings kam ein Verstoß im Sinne des § 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. b StGB in Betracht, wenn der Angeklagte falsch überholt oder bei Überholvorgängen falsch gefahren wäre. 2 Eisele, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1, 3. Aufl. 2014, Rn. 1107; Rengier, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 17. Aufl. 2016, § 43 Rn. 4. 3 Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 64. Aufl. 2017, § 315c Rn. 5a; König, in: Laufhütte/Rissingvan Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 11, 12 Aufl. 2008, § 315c Rn. 71; Sternberg-Lieben/Hecker, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl. 2014, § 315c Rn. 14. 4 OLG Frankfurt NZV 1994, 365; OLG Düsseldorf NZV 1996, 245; kritisch Fischer (Fn. 3), § 315c Rn. 5a; König (Fn. 3), § 315c Rn. 72; kritisch Kudlich, in: v. HeintschelHeinegg (Hrsg.), Beck‘scher Online-Kommentar, Strafgesetzbuch, Stand: 10.1.2017, § 315c Rn. 40; Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, Kommentar, 28. Aufl. 2014, § 315c Rn. 13; Sternberg-Lieben/Hecker (Fn. 3), § 315c Rn. 14. _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 122 BGH, Beschl. v. 15.9.2016 – 4 StR 90/16 Theile _____________________________________________________________________________________ Zwar referiert § 5 StVO auf den Begriff des Überholens, ohne ihn jedoch näher inhaltlich zu bestimmen. Unter Überholen versteht man einen zielgerichteten Verkehrsvorgang, bei dem ein Verkehrsteilnehmer von hinten an einem anderen vorbeifährt, der sich auf derselben Fahrbahn in der gleichen Richtung bewegt oder nur mit Rücksicht auf die Verkehrslage anhält.5 Demgegenüber liegt ein schlichtes Vorbeifahren vor, wenn der andere Verkehrsteilnehmer nicht verkehrsbedingt angehalten hat, etwa weil er parkt oder eine Panne hat.6 Da die auf der dreispurigen Fahrbahn haltenden Fahrzeuge verkehrsbedingt ihre Fahrt unterbrochen hatten, lag kein bloßes Vorbeifahren vor. Der Annahme des Überholens steht demnach nicht entgegen, dass die vor der Ampel stoppenden Fahrzeuge ihre Fahrtbewegung unterbrochen hatten; entscheidend bleibt, dass die Fahrzeuge aktiv am Straßenverkehr beteiligt sind.7 Das Überholen ist falsch, wenn der Täter eine der in § 5 StVO normierten Regeln missachtet, die freilich nicht erschöpfend sind, so dass auch ein Überholen unter Verletzung anderer der Sicherheit des Überholvorgangs dienender Verkehrsvorschriften den Tatbestand erfüllt.8 Dies ergibt sich schon daraus, dass neben dem falschen Überholen das sonst bei Überholvorgängen falsche Fahren in § 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. b StGB erfasst wird.9 Das eigentliche Problem liegt darin, dass der Angeklagte die anderen Fahrzeuge nicht auf der Straße, sondern auf dem rechts seitlich gelegenen Gehweg überholte. Kann demnach noch von einem Überholen im Sinne des § 315 Abs. 1 Nr. 2 lit. b StGB gesprochen werden, zumal § 5 StVO erkennbar auf Verhaltensweisen zugeschnitten ist, die auf ein und demselben Straßenteil stattfinden? Indes können identische Begriffe in verschiedenen normativen Zusammenhängen durchaus unterschiedlich ausgelegt werden, da Rechtsbegriffe relativ und vor dem Hintergrund des jeweiligen normativen Regelungszusammenhangs auszulegen sind.10 Der BGH war deswegen keineswegs gehindert, seiner Entscheidung eine spezifisch strafrechtliche Interpretation des Begriffs des Überholens zugrunde zu legen. Es handelt sich bei § 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. b StGB um eine vollständige Strafrechtsnorm und nicht um eine ausfüllungs- 5 BGHSt 26, 74; OLG Düsseldorf NJW 1980, 1116; OLG Hamm NJW 1972, 652; OLG Karlsruhe NJW 1972, 963; König (Fn. 3), § 315c Rn. 77 ff.; Sternberg-Lieben/Hecker (Fn. 3), § 315c Rn. 15. 6 BGH VRS 11 (1956), 171; OLG Hamm VRS 28 (1963), 128; König (Fn. 3), § 315c Rn. 87; Sternberg-Lieben/Hecker (Fn. 3), § 315c Rn. 15. 7 Siehe in diesem Zusammenhang auch Sandherr, NZV 2016, 585 (587). 8 Sternberg-Lieben/Hecker (Fn. 3), § 315c Rn. 18. 9 Zu den verfassungsrechtlichen Konnotationen BVerfG NJW 1995, 315. 10 Siehe hierzu Eisele, in: Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 12. Aufl. 2016, § 7 Rn. 67; Rengier, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2016, § 5 Rn. 13. bedürftige Blankettnorm, bei der das Gericht inhaltlich gebunden gewesen wäre.11 Vor diesem Hintergrund führt der BGH in etwas umständlicher Formulierung aus, dass das Tatbestandsmerkmal des Überholens auch durch ein Vorbeifahren von hinten an sich in derselben Richtung bewegenden oder verkehrsbedingt haltenden Fahrzeugen verwirklicht werden kann, das unter Benutzung von Flächen erfolgt, die nach dem örtlichen Gegebenheiten zusammen mit der Fahrbahn einen einheitlichen Straßenraum bilden; dies ergebe sich aus der Wortbedeutung und unter Berücksichtigung des Umstands, dass das Sichbewegen auf derselben Fahrbahn kein taugliches Kriterium für eine abschließende Erfassung besonders gefährlicher Fälle des Vorbeifahrens liefere.12 Ähnliches hatte der BGH bereits in der Vergangenheit judiziert, indem etwa das Vorbeifahren über Seiten- oder Grünstreifen,13 über Ein- und Ausfädelspuren oder über lediglich durch abgesetzte Radoder Gehwege unter die Vorschrift subsumiert wurde.14 An diesem Punkt wird man dem BGH durchaus zustimmen können, da das Überholen im Sinne des § 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. b StGB in erster Linie einen aktiven Bewegungsvorgang beschreibt und dieser Vorgang jedenfalls solange unter das Tatbestandsmerkmal subsumiert werden kann, wie er in den öffentlichen Straßenverkehr – und sei es: den Fußgängerverkehr – eingebettet ist. Systematisch könnte sich etwas anderes daraus ergeben, wenn man das Verhalten des Täters nicht mehr als einen Vorgang aus dem Verkehr selbst heraus, sondern als einen von außen auf den Verkehr einwirkenden Vorgang verstehen würde. Wäre dies der Fall, wäre § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB einschlägig, unter den etwa die bewusste Zweckentfremdung eines Kfz subsumiert wird, sofern es nicht als Fortbewegungsmittel, sondern als Mittel zur Verletzung von Menschen oder Schädigung von Sachen eingesetzt wird.15 Indes bleibt eine trennscharfe Abgrenzung zwischen § 315b StGB und § 315c StGB auch dann möglich,16 wenn man mit dem BGH den Gehweg als einen mit der Fahrbahn verbundenen „einheitlichen Straßenraum“ ansieht. Denn ein solches Verständnis ändert nichts daran, dass es sich im konkreten Fall um eine aus dem Verkehr heraus entstehende Gefährdungslage handelt. Anders als in den Zweckentfremdungskonstellationen, in denen der Verkehrsbezug des Verhaltens hinter die Verletzungs- und Schädigungsintention zurücktritt, ist dieser Bezug hier noch gegeben. Teleologisch spricht sowieso alles für die vom BGH gewählte Auslegung, da § 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. b StGB gerade dem Schutz der Verkehrsteilnehmer vor grob verkehrswidrigen und rücksichtslosen Fahrmanövern dienen soll. Dies muss erst recht gelten, wenn der Überholvorgang auf dem 11 BVerfG NJW 1995, 315 (316). BGH NJW 2016, 3462 (3463). 13 BVerfG NJW 1995, 315. 14 OLG Hamm VRS 32 (1965), 449. 15 Siehe hierzu Eisele (Fn. 2), Rn. 1150 f.; Rengier (Fn. 2), § 45 Rn. 26; Wessels/Hettinger, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1, 39. Aufl. 2015, Rn. 980 f. 16 Zweifelnd Kubiciel, jurisPR-StrafR 23/2016. 12 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 123 BGH, Beschl. v. 19.6.2016 – 4 StR 90/16 Theile _____________________________________________________________________________________ Gehweg stattfindet, da die sich dort aufhaltenden Personen nicht nur völlig ungeschützt sind, sondern auch viel weniger mit derartigen Verhaltensweisen rechnen müssen als am motorisierten Verkehr beteiligte Personen.17 Dass der Angeklagte nach Abschluss des Manövers nicht wieder auf die Fahrbahn einscherte, ändert ebenso wenig an dieser Interpretation, da Wortlaut, Systematik und Zweck des § 315c Abs. 1 Nr. 2 lit. b StGB keineswegs verlangen, dass der Täter nach Abschluss des Vorganges einen erneuten Spurenwechsel vollzieht und die Fahrt dort fortsetzt:18 Entscheidend ist das zielgerichtete Passieren der verkehrsbedingt vor der roten Ampel stehenden Fahrzeuge sowie des an der Haltestelle wartenden Linienbusses. Der BGH argumentiert zudem mit Praktikabilitätserwägungen, indem er darauf hinweist, dass die rechtliche Einordnung des Verhaltens nicht so lange unklar bleiben dürfe, bis der Verkehrsvorgang insgesamt abgeschlossen sei.19 Dass es sich um einen objektiv besonders schweren Verstoß gegen das Verbot falschen Überholens handelt und der Täter deswegen grob verkehrswidrig im Sinne des § 315c Abs. 1 Nr. 2 StGB handelte, liegt auf der Hand: Geht man davon aus, dass die Vorschrift auf die Sicherheit des Straßenverkehrs abzielt, wird man das abrupte Ausweichen auf einen Gehweg als besonders gefährliches Verhalten ansehen können. 4. Als konkretes Gefährdungsdelikt setzt § 315c Abs. 1 StGB die konkrete Gefährdung von Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremder Sachen von bedeutendem Wert voraus. Gemeint ist ein Zustand, der auf einen unmittelbar bevorstehenden Unfall hindeutet und den Eintritt eines Schadens so wahrscheinlich macht, dass es vom Zufall abhängt, ob das Rechtsgut verletzt wird oder nicht.20 Konkret ist die Gefahr nur, wenn eine andere Person oder fremde Sache in die unmittelbare Gefahrenzone und dort in eine riskante/ kritische Verkehrssituation gerät, die nach Lage der Dinge fast zu einem Unfall geführt hätte und gerade noch einmal gut ausgegangen ist.21 An diesem Punkt kam sowohl eine Gefährdung der beiden Fahrradfahrerinnen durch das in einem Abstand von weniger als einem Meter erfolgende Vorbeifahren sowie das Touchieren des Fußgängers in Frage. Insoweit führt der BGH aus, dass der Angeklagte deutlich schneller als mit Schrittgeschwindigkeit fuhr,22 ohne jedoch genauere Angaben zu machen, was im Nachhinein wohl auch nur schwer möglich war. Bei höheren Geschwindigkeiten wird man dem BGH hier durchaus folgen können, auch wenn sich ein gewisser Zweifel daraus ergibt, dass die Geschwindigkeit offenbar nicht so hoch war, dass der Fußgänger trotz des Touchierens stürzte. Das Streifen des Reklameschildes hat offenbar keinen größeren Schaden nach sich gezogen bzw. zu einer diesbezüglichen Gefahr geführt, so dass die nach wie vor bestehende Wertgrenze von 750 € offenbar nicht überschritten wurde.23 5. Der Zurechnungszusammenhang war hier unproblematisch (vgl. „und dadurch“). Gleichwohl ist in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass die konkrete Gefahr stets auf dem Pflichtverstoß beruhen muss. 6. Hinsichtlich der Personengefahren ging der BGH davon aus, dass der Angeklagte hinsichtlich des Fußhängers die Gefahr eines Zusammenstoßes sah und sich gleichwohl damit abfand, um seine Flucht fortzusetzen.24 Insoweit liegt hier eine Vorsatz-/Vorsatz-Kombination vor und auf § 315c Abs. 3 StGB war nicht abzustellen. 7. Das dem Unrechtstatbestand und nicht der Schuld zugehörige subjektive Tatbestandsmerkmal der Rücksichtslosigkeit lag deswegen vor, weil der Angeklagte zur Ermöglichung seiner Flucht potentiell über Leichen zu gehen gewillt war.25 Rücksichtslos handelt, wer sich aus egoistischen Gründen bewusst über seine Pflichten als Verkehrsteilnehmer hinwegsetzt oder bei unbewusster Fahrlässigkeit aus Gleichgültigkeit von vornherein erst gar keine Bedenken gegen sein Verhalten aufkommen lässt und unbekümmert um etwaige Folgen drauflosfährt.26 Prof. Dr. Hans Theile, LL.M., Konstanz 23 17 BGH NJW 2016, 3462 (3463). 18 BGH NJW 2016, 3462 (3463); anders scheinbar Kubiciel, jurisPR-StrafR 23/2016. 19 BGH NJW 2016, 3462 (3463). 20 Eisele (Fn. 2), Rn. 1131 f.; Rengier (Fn. 2), § 44 Rn. 12; Wessels/Hettinger (Fn. 15), Rn. 990. 21 Eisele (Fn. 2), Rn. 1136; Rengier (Fn. 2), § 44 Rn. 13. 22 BGH NJW 2016, 3462 (3463). BGHSt 48, 119 (121); BGH NStZ 2013, 167; zu Erhöhungstendenzen siehe OLG Thüringen StV 2009, 194; Rengier (Fn. 2), § 44 Rn. 21; Sternberg-Lieben/Hecker (Fn. 3), § 315c Rn. 31. 24 BGH NJW 2016, 3462 (3463). 25 Zur Einordnung siehe Rengier (Fn. 2), § 44 Rn. 8; Sternberg-Lieben/Hecker (Fn. 3), § 315c Rn. 28. 26 BGHSt 5, 392 (395); Eisele (Fn. 2), Rn. 1130; Rengier (Fn. 2), § 44 Rn. 8. _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 124 Weller/Prütting, Handels- und Gesellschaftsrecht Szalai _____________________________________________________________________________________ B u c h r e z e n s i o n Marc-Philippe Weller/Jens Prütting, Handels- und Gesellschaftsrecht, 9. Aufl., Verlag Franz Vahlen, München 2016, 420 S., € 29,80. Im November 2016 erschien die 9. Auflage des vormals von Prof. Dr. Günther H. Roth begründeten Lehrbuchs zum Handels- und Gesellschaftsrecht. Die 9. Auflage erschien unter Mitwirkung von Prof. Dr. Jens Prütting, nachdem zuvor Prof. Dr. Marc-Philippe Weller die Vorauflagen (7. und 8. Auflage) nach dem Ausscheiden von Prof. Dr. Roth allein fortgeführt hatte. Auch die 9. Auflage behält die Grundstrukturen der Vorauflagen im Wesentlichen bei und ist (weiterhin) thematisch gegliedert. Im ersten (Grundlagen-)Teil werden (1.) der Begriff des Handelsrechts, (2.) das Handelsregister und seine Funktionsweise sowie (3.) der Unternehmens- und Kaufmannsbegriff erläutert. Neben den zahlreichen Beispielen setzen die Autoren besondere Schwerpunkte auf klausurträchtige Normen bzw. Konstellationen wie bspw. § 15 HGB. Zudem werden auf sehr anschauliche Weise Bezüge zu allgemeinen Rechtsgrundsätzen (etwa Vertrauensschutz und Rechtsscheinhaftung) hergestellt. Der zweite Teil befasst sich ausschließlich mit dem kaufmännischen Unternehmen. Dabei werden (1.) Einzelkaufmann und Handelsgesellschaften, (2.) die Personengesellschaften, (3.) die Kapitalgesellschaften mit knappen Ausführungen zum Konzern, (4.) die kaufmännische Rechnungslegung und (5.) das kaufmännische Personal (Handlungsgehilfen und Handelsvertreter) dargestellt. Die vertiefte Darstellung beschränkt sich dabei auf deutsche Gesellschafts- und Handlungsformen. Hier kommt die Stärke des gewählten Aufbaus zum Tragen. Die thematische Gliederung erlaubt es insbesondere, Unterschiede und Gemeinsamkeiten der einzelnen (Personen-)Gesellschaftsformen und ihre Strukturmerkmale gegenüberzustellen sowie hieran anknüpfend etwa Bezüge zum Steuerrecht herzustellen. Bereits bei den einzelnen Gesellschaftsformen werden Besonderheiten des Umwandlungsrechts oder der Eintragung im Grundbuch (§ 899a BGB) dargestellt. Anschaulich sind auch die Ausführungen zur GmbH und zum e.V. Auch hier bietet die gewählte Art der Darstellung insbesondere mit Blick auf die zeitsparende Klausurvorbereitung Vorzüge, wofür das Kapitel zur Haftungsverfassung der GmbH nur ein nicht abschließendes Beispiel bildet. Gut nachvollziehbar und sehr leserfreundlich sind auch die Ausführungen zu den Handelsbüchern und Publizitätspflichten. Der dritte Teil stellt das Unternehmen im Rechtsverkehr dar. Hier werden das Unternehmen und die Firma ebenso ausführlich dargestellt wie die Vertretung des Kaufmanns sowie Besonderheiten im Zusammenhang mit der Einbringung des Unternehmens, der Erbfolge inklusive etwaiger Nachfolgeregelungen, Verschmelzungsvorgängen oder Ähnliches. Der thematische Aufbau erlaubt hier Verweisungen auf bereits Dargestelltes (etwa im Zusammenhang mit § 15 HGB). Der vierte Teil befasst sich schließlich mit den Handelsgeschäften und stellt hierbei zunächst die allgemeinen Vorschriften und Folgen der Kaufmannseigenschaft in Abweichung von den Regelungen im BGB dar. In dem Abschnitt zu den besonderen Handelsgeschäften werden Handelskauf, Kommissionsgeschäft, aber auch Fracht-, Speditions- und Lagergeschäft sowie andere Hilfsgeschäfte dargestellt. Das Werk richtet sich an junge Juristen und Juristinnen und will die Grundzüge des Handels- und Gesellschaftsrechts vermitteln. Der thematische Aufbau und die passenden Querverweise auf verwandte Themen kommen insbesondere Studenten entgegen, was zügiges und vernetztes Lernen ermöglicht. Zu Beginn eines jeden Kapitels finden sich kleine Fälle, anhand derer das Gelernte bzw. Erarbeitete im Anschluss überprüft werden kann. Der Fußnotenapparat sowie die übrigen Literaturhinweise sind studentenfreundlich auf die wesentlichen Punkte beschränkt und ermöglichen eine zügige Vertiefung, wo dies dem Leser angezeigt erscheint. Knapp dreißig Schaubilder verdeutlichen an passender Stelle Besonderheiten (etwa zur Haftung in der Gründungsphase der GmbH) oder Prüfungsschemata (etwa zur Untersuchungsund Rügeobliegenheit nach § 377 HGB). Die einzelnen Problemkomplexe werden dicht am Gesetz dargestellt, was das Auffinden von Problemen in der Klausur, das Argumentieren dicht am Gesetz und das systematische Lernen in der Vorbereitung auf die Klausur erleichtert. Dabei eignet sich das Werk nicht nur für jüngere Semester und das erstmalige Erschließen des Lehr- und Lernstoffes, sondern auch für fortgeschrittene Studenten und Referendare zur Wiederholung bzw. Auffrischung vorhandenen Wissens. Dies gilt nicht nur aufgrund des ausführlichen Inhaltsverzeichnisses und dem gut geführten Stichwortverzeichnis. Vielmehr ist dies auf sinnvoll eingesetzten Fettungen und der Behandlung auch prozessualer Fragestellungen (etwa im Rahmen der. der Klage gegen einen Personengesellschafter) zurückzuführen. Aufgrund der thematischen Gliederung eignet sich das Werk zudem gut zum Nachschlagen als Einstieg für einzelne Problemkomplexe. Die 9. Auflage des „Weller/Prütting – Handels- und Gesellschaftsrecht“ sei hiermit insbesondere Studenten ans Herz gelegt, die sich mit wenig Aufwand einen guten Überblick über die wesentlichen Regelungsgegenstände des Handelsund Gesellschaftsrechts verschaffen wollen und sich dabei nicht eine Vielzahl von Publikationen oder Lehrbüchern zurückgreifen möchten. Referendaren bietet dieses Buch eine gute Grundlage, ihr Wissen aufzufrischen. Berufseinsteiger können das Buch gut als Nachschlagewerk verwenden. So ist der Weller/Prütting zweifellos eine gute Investition für eine sehr breite Leserschaft. Dr. Stephan Szalai, LL.M., Leipzig _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 125 Schoch, Kommentar zum Informationsfreiheitsgesetz Rosenau _____________________________________________________________________________________ B u c h r e z e n s i o n Friedrich Schoch, Kommentar zum Informationsfreiheitsgesetz, 2. Aufl., Verlag C.H. Beck, München 2016, 1112 S., € 139,-. Das Informationsfreiheitsgesetz des Bundes ist mittlerweile seit etwas mehr als zehn Jahren in Kraft. Dieses Jubiläum hat Friedrich Schoch, Professor an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg i. Br. und Richter im Nebenamt am VGH BW, offensichtlich zum Anlass genommen, um seinen Kommentar zum IFG des Bundes in zweiter Auflage zu veröffentlichen. Die Neuauflage erscheint dabei in einem größeren Format und hat innerhalb des Beck-Verlags von der Reihe der „Gelben Erläuterungsbücher“ in die „Graue Reihe“ der Großkommentare gewechselt. Nach eigenen Angaben des Autors war dies notwendig, „um den Herausforderungen des Informationsfreiheitsrechts auch vom Umfang her gerecht werden zu können.“1 Inhaltlich wurde der Kommentar, der Nachweise zu Rechtsprechung und Schrifttum bis einschließlich Februar 2016 berücksichtigt, dementsprechend um rund ein Drittel und damit deutlich erweitert. Auch das Landesinformationsfreiheitsgesetz Baden-Württemberg vom 17.12.2015 sowie das Landestransparenzgesetz Rheinland-Pfalz vom 27. 11. 2015 haben in der Neuauflage bereits Beachtung gefunden. Die Gliederung der neuen Auflage entspricht im Wesentlichen der vorherigen: Der Erläuterung der Einzelvorschriften des IFG geht eine umfassende Einleitung voraus, die fast 180 Seiten umfasst. Dort wird eingangs die allgemeine Entwicklung der Informationszugangsfreiheit skizziert (A.). Sodann folgen verfassungsrechtliche (B.) und unionsrechtliche (C.) Erläuterungen. Behandelt werden in der Einleitung weiterhin Aspekte des internationalen Rechts (D.), das allgemeine Informationszugangsrecht der Bundesländer (E.), kommunalrechtliche Informationsfreiheitssatzungen (F.) sowie das allgemeine Informationszugangsrecht des Bundes (G.). Wie in der ersten Auflage bildet auch in der Neuauflage eine Betrachtung der Erfahrungen mit dem Informationsfreiheitsrecht auf Unions-, Bundes- und Landesebene den Abschluss der einleitenden Ausführungen (H.). Weil nach zehn Jahren Geltungsdauer die im Zusammenhang mit dem IFG gesammelten Erfahrungen naturgemäß wesentlich umfangreicher ausfallen müssen als bei der ersten Auflage, bei deren Erscheinen das Gesetz rund drei Jahre in Kraft war, fällt dieser Abschnitt freilich deutlich umfassender als in der Vorauflage aus. Es folgt eine ausführliche Kommentierung der einzelnen Vorschriften des IFG, in der die reichhaltige Literatur und Judikatur der vergangenen Jahre von Schoch sorgfältig verarbeitet wird. Dies geschieht in einem dreischrittigen Aufbau: Eingangs wird ein allgemeiner Überblick über die betreffende Vorschrift gegeben (A.), an den sich deren Einzelerläuterung anschließt (B.). Zuletzt erfolgen Hinweise auf Defizite des geltenden Rechts sowie rechtspolitische Überlegungen (C.). Den dritten Teil des Werks bildet ein umfangreicher Anhang, der landes-, bundes- und unionsrechtliche Vorschriften 1 wiedergibt, die im Zusammenhang mit dem Recht auf Informationszugang stehen. Außerdem sind dort ein Auszug aus der Aarhus-Konvention sowie das Übereinkommen des Europarates über den Zugang zu amtlichen Dokumenten abgedruckt. Judikatur und rechtswissenschaftliches Schrifttum zur Informationszugangsfreiheit haben sich in den vergangenen Jahren stark entwickelt. Von daher tat eine Neuauflage des „Schoch“ als Standardkommentar für alle, die sich mit dem IFG des Bundes befassen, not. Es bleibt zu hoffen, dass die dritte Auflage keine sieben Jahre auf sich warten lässt. Mag. iur. René Rosenau, Köln Schoch, in: Schoch, IFG, 2. Aufl. 2016, S. V. _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 126 Enz, Verminderte Schuldfähigkeit im deutschen und US-amerikanischen Strafrecht Babucke _____________________________________________________________________________________ B u c h r e z e n s i o n Bettina Enz, Verminderte Schuldfähigkeit im deutschen und US-amerikanischen Strafrecht, Schriften zum Internationalen und Europäischen Strafrecht, Bd. 25, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2016, 659 S., € 98,-. Der Schuldgrundsatz ist eine der essentiellen Grundlagen des deutschen Strafrechts, „nulla poena sine culpa“, keine Strafe ohne Schuld. Die Schuld wird dabei als eine Voraussetzung verstanden, die im Falle von Erwachsenen als im Regelfall gegeben angesehen wird. Anlassbezogen ist sie indessen im Detail zu prüfen. Nur wenn diese Prüfung im Einzelfall ergibt, dass die Schuld völlig fehlt, also Schuldunfähigkeit gegeben ist, ist ein Strafausschluss begründet. Wie wird nun aber in Fällen einer bloß graduellen Abweichung vorgegangen? Was passiert, wenn die Schuldfähigkeit in Teilen vorhanden, insofern also eingeschränkt ist? Was bedeutet es überhaupt, zwar grundsätzlich schuldfähig zu sein, dies aber im konkreten Fall nur in eingeschränktem Maße? Enz befasst sich in ihrem Werk mit einer Thematik, die bisher in dieser Präzision und Ausführlichkeit noch nicht behandelt wurde. Sie konzentriert sich auf die verminderte Schuldfähigkeit. Sie betrachtet dabei das deutsche System in all seinen Facetten und sucht gleichzeitig den Vergleich und Kontrast zum US-amerikanischen System, was die Besonderheiten der deutschen Rechtslage deutlich herauszuarbeiten gestattet. Enz beginnt ihre Abhandlung recht zügig. Der Leser findet sich gleich auf der ersten Seite in der historischen Entwicklung der Regelung zur verminderten Schuldfähigkeit in Deutschland wieder. Enz zeigt die verschiedenen Entwicklungsschritte bis hin zu der heutigen Regelung zur verminderten Schuldfähigkeit auf, inklusive der dabei diskutierten Reformentwürfe. Sie erläutert Hintergrundüberlegungen, leitende Zielideen und Diskussionspunkte, wobei sie auch die Referenz zu anderen kontinentaleuropäischen Kodifikationen sucht (S. 75). Leider wird im Rahmen der Darstellung der Reformentwürfe und -ideen nicht erörtert oder beschrieben, warum diese letztlich nicht in den Gesetzestext aufgenommen wurden (vgl. S. 383). Die entsprechenden Erklärungen fehlen zwar nicht völlig, sie erfolgen allerdings erheblich später, wodurch die Darstellung etwas auseinandergerissen wirkt und der Lesefluss etwas leidet. Schön wäre es gewesen, hier auch etwas Näheres zu den Gründen für die erst 1934 erfolgte Integration der „verminderten Schuldfähigkeit“ als „verminderte Zurechnungsfähigkeit“ in die Regelungen des RStGB zu erfahren. Insofern müssen, trotz des erheblichen Umfangs dieser Arbeit, gleichwohl inhaltliche Grenzen konstatiert und Abstriche gemacht werden. Weiter ordnet Enz die deutsche Regelung zur verminderten Schuldfähigkeit in den grundrechtlichen Kontext ein und sieht die gesetzliche Normierung der verminderten Schuldfähigkeit als eine Form der Verwirklichung des Gebotes der schuldangemessenen Strafe (S. 81). Gerade an dieser Stelle offenbart sich aber auch eine Schwierigkeit der Arbeit. Die Konzentration auf die Regelung zur verminderten Schuldfä- higkeit ist bezogen auf die deutsche Kodifikation anspruchsvoll, da hier diverse Schnittstellen zur Schuldunfähigkeit bestehen. Diese müssen angesprochen werden, um auch die verminderte Schuldfähigkeit adäquat in den normativen Kontext einzubetten. Enz gelingt insoweit allerdings der Spagat zwischen dem Fokus auf das eigentliche Thema der verminderten Schuldfähigkeit und dessen Einordnung in das große Ganze. Schade ist dennoch die recht kurze Thematisierung des Schuldprinzips und seiner philosophischen Dimensionen (S. 344/345), die im Rahmen der Einordnung der Regelung zur verminderten Schuldfähigkeit ebenfalls eine enorme Bedeutung haben. Die aktuellen neurowissenschaftlichen und biologischen Erkenntnisse bezogen auf die Willensfreiheit sind hingehen weitaus differenzierter dargestellt. Diese Passagen vermitteln interessante Einblicke (S. 346 ff.). Hinsichtlich der prozessualen Umsetzung, insbesondere bezogen auf das deutsche Strafverfahren, bleiben ihre Ausführungen hingegen etwas oberflächlich. Hier hätte, gerade mit Blick auf die Praxis der gerichtlichen Heranziehung Sachverständiger zur Frage der Schuldfähigkeit im Strafprozess, auf diesbezügliche Forschung eingegangen werden können.1 Die extensiven Ausführungen zum ICD-10 sowie DSMIV-TR wiederum unterstreichen den wissenschaftsübergreifenden, interdisziplinären Charakter der Arbeit, die so dem § 21 StGB als Norm an der Schnittstelle von Rechtswissenschaft und Psychologie/Psychiatrie gerecht wird. Enz hat sich hier sehr ausführlich, man könnte schon sagen für eine juristische Dissertation überobligat, mit dem Bereich der Psychiatrie und Psychologie auseinandergesetzt. Sie gibt so aber dem rechtswissenschaftlich ausgerichteten Leser recht wertvolle und gleichzeitig verständliche Einblicke in eine Wissenschaft, die in so vielen Teilbereichen des Strafrechts Bedeutung erlangen kann und daher, in Teilen, in die juristischen Ausbildung integriert sein sollte. Diese Forderung lässt auch Enz anklingen (S. 636 ff.). Im Rahmen der Betrachtung des US-amerikanischen Rechts beginnt Enz mit einer Einführung, in welcher die drei relevanten dogmatischen Modelle der Regelungen zur verminderten Schuldfähigkeit dargestellt werden (S. 422 ff.). Hier ist Enz nun sehr schnell und kommt kaum auf die Einbettung der verminderten Schuldfähigkeit in das US-amerikanische Strafrechtssystem zu sprechen. Schön eingeordnet werden hingegen der Modal Penal Code sowie die diesbezüglichen Ideen und weiteren Entwicklungen (S. 428 ff.). Die weiteren Abschnitte, in denen das US-Bundesstrafrecht (S. 468 ff) sowie die verminderte Schuldfähigkeit im kalifornischen Strafrecht (S. 524 ff.) dargestellt werden, sind ebenfalls übersichtlich und nachvollziehbar. Auch hier werden Reformideen sowie Schlüsselmomente in der politischen Debatte und juristischen Entwicklung aufgezeigt, die zu einem recht kurzweiligen und spannenden Lesen führen (vgl. u.a. S. 546 ff.). 1 Vgl. Böttger u.a., MschrKrim 1991, 369; Maneros u.a., Angeklagte Straftäter, Das Dilemma der Begutachtung, 2002. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 127 Enz, Verminderte Schuldfähigkeit im deutschen und US-amerikanischen Strafrecht Babucke _____________________________________________________________________________________ Enz zeigt darüber auch anschaulich die generelle Struktur des US-amerikanischen Rechtssystems auf. Sie geht wissenschaftlich unvoreingenommen sowie sehr differenziert mit den US-amerikanischen strafrechtlichen Ideen ins Gericht und zeigt kritische Punkte auf. Gleichzeitig verweist sie auf Ideen zur Neustrukturierung (S. 444 f.). Einige Erwartungen, die beim Leser angesichts des Titels entstehen mögen, werden allerdings auch enttäuscht. Befasst man sich mit der verminderten Schuldfähigkeit, also einem Teilbereich des im deutschen Strafrecht grundlegenden Prinzips der Schuld als Basis für Sanktionen, im Vergleich zu einem anderen Rechtssystem, so stellen sich unweigerlich über diesen Teilbereich hinausgehende Fragen nach Grundkonzeptionen. In Deutschland ist der Schuldgrundsatz als Basis unverzichtbar und zentral. Während dies von Enz ausführlich erläutert wird, bleibt offen, ob sich dieses Prinzip ähnlich, völlig anders oder gar nicht im US-amerikanischen Strafrecht widerfindet. Im Rahmen der abschließenden Bilanz werden spezifische Aspekte und Debatten dargestellt, die im US-amerikanischen System aufkommen und die so auf das deutsche Rechtssystem nicht übertragbar sind (S. 603). Hierdurch werden einmal mehr bestehende Unterschiede anschaulich dokumentiert. Schön ist ebenfalls die daran schließende Defizitanalyse bezogen auf die Regelung im deutschen Recht. Hierdurch werden Impulse gesetzt, die zu einer konstruktiven Diskussion führen können. Durch die Formulierung eines reformierten § 21 StGB wird auch ein eigener Beitrag zu einer solchen Debatte geleistet. Der enorme Umfang der Arbeit ist unter anderem den recht ausführlichen und informativen Fußnoten geschuldet. An manchen Stellen wirkt die Arbeit allerdings auch etwas langatmig. In der Summe sind die Analysen und Ausführungen von Enz jedoch hoch interessant und beleuchten differenziert und aufschluss- sowie materialreich einen gerade in der komparativen Wissenschaft vernachlässigten Teilbereich an der Schnittstelle von Rechtswissenschaft und Psychologie/ Psychiatrie. Die Arbeit leistet einen erheblichen Beitrag zur Intensivierung bestehender Diskussionen der Schuldfähigkeit im Strafrecht. Es wäre sehr wünschenswert und zu hoffen, dass die damit gesetzten Impulse – auch international – aufgegriffen werden. Diplom-Juristin Lea Babucke, Hamburg _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 128 Ambos, Internationales Strafrecht Gölly _____________________________________________________________________________________ B u c h r e z e n s i o n Kai Ambos, Internationales Strafrecht. Strafanwendungsrecht – Völkerstrafrecht – Europäisches Strafrecht, 4. Aufl., Verlag C.H. Beck, München 2014, LXI, 697 S., kart., € 42,90. Wenn ein „Lehrbuch-Klassiker“ in neuer Auflage erscheint, von dessen Vorauflagen man bereits um die hohe Qualität des Werkes weiß, überrascht es nicht, dass eines schon vorweg festgehalten werden kann: Auch in der vierten – überarbeiteten und erweiterten – Auflage seines Studienbuches „Internationales Strafrecht“ hält der Göttinger Universitätsprofessor und Richter Prof. Kai Ambos den hohen Standard erwartungsgemäß aufrecht. Für jene, die mit den Vorauflagen dieses Werkes bislang nicht vertraut sind, soll im Folgenden zunächst der Inhalt desselben kurz zusammengefasst werden: Sein Studienbuch hat der Verf. in drei große Bereiche unterteilt: Der erste (1. Teil, §§ 1 bis 4) widmet sich dem deutschen Strafanwendungsrecht, also der Frage nach der Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts auf eine bestimmte Tat. Ambos gibt in diesem ersten Teil seines Buches zunächst eine grundlegende Einführung in die Thematik des Strafanwendungsrechts und geht danach insbesondere auf die unterschiedlichen Anknüpfungspunkte, die einen Nationalstaat im Allgemeinen bzw. Deutschland im Speziellen zur Strafverfolgung legitimieren können, ausführlich ein. Dabei erläutert er zu Beginn die (völkerrechtlichen) Grundlagen des jeweiligen Anknüpfungspunktes (z.B. Territorialitätsprinzip, Flaggenprinzip, Weltrechtsprinzip etc.) und im Anschluss daran die deutsche Rechtslage. Besonderes Augenmerk legt der Verf. sodann noch auf den Umgang mit (positiven) Jurisdiktionskonflikten. Nach diesen knapp einhundert Seiten zum Strafanwendungsrecht widmet sich Ambos dem Völkerstrafrecht (2. Teil, §§ 5 bis 8). Hier behandelt er als Einführung in die Thematik zunächst wiederum die Grundlagen, bevor er die Entwicklung des Völkerstrafrechts bzw. der zu dessen Durchsetzung berufenen internationalen Instanzen bis hin zur Schaffung eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) mit Sitz in Den Haag nachzeichnet. Daran anschließend stellt Ambos – der aufgrund seiner Erfahrungen in diesem Bereich wie kaum ein anderer dazu berufen ist – das Völkerstrafrecht instruktiv dar, wobei er der aus dem nationalen Strafrecht bekannten Unterteilung in materielles und formelles Völkerstrafrecht folgt. Im das materielle Völkerstrafrecht behandelnden Kapitel (§ 7, S. 160 ff.) erläutert der Verf. zunächst den „Allgemeinen Teil“ des Völkerstrafrechts, wobei er besonders auf die unterschiedlichen Täterschaftsformen bzw. die Teilnahme sowie auf sog. „defences“ (Straffreistellungsgründe) eingeht. Daran anschließend stellt Ambos den „Besonderen Teil“ des Völkerstrafrechts dar, also die völkerstrafrechtlichen Verbrechen (Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, etc.). Im folgenden Kapitel (§ 8, S. 348 ff.) wird schließlich das Völkerstrafprozessrecht beschrieben, wobei der Verf. sowohl das Verfahrensrecht des IStGH, als auch jenes der Ad-Hoc-Tribunale für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) und Ruanda (ICTR) gemein- sam dar- bzw. einander gegenüberstellt. Die auch in diesem Kapitel regelmäßig zu findenden Schaubilder (insbesondere tabellarische Übersichten) und kleinen Beispielsfälle samt Lösungen machen das – für kontinentaleuropäische Verhältnisse zum Teil doch etwas ungewohnte – Prozessrecht vom Vorverfahren über das Hauptverfahren bis hin zum Rechtsmittelverfahren gut nachvollziehbar und verdeutlichen die Unterschiede zwischen den Vorschriften für Verfahren vor dem IStGH, dem ICTY und dem ICTR. Zum Abschluss dieses zweiten, das Völkerstrafrecht betreffenden Teils, wendet sich Ambos schließlich noch der strafrechtlichen Zusammenarbeit der nationalen und internationalen Gerichte auf dem Gebiet des Völkerstrafrechts zu. Gerade dieser Teil des Buches hat in der aktuellen Auflage umfassende Ergänzungen erfahren, da unter anderem die ersten Urteile des IStGH eingearbeitet wurden. Im letzten Teil seines Studienbuches behandelt der Verf. das Europäische Strafrecht. Auch dieser 3. Teil, der in die §§ 9 bis 13 unterteilt ist, wird mit einer Einführung in die Thematik eingeleitet, wobei insbesondere auf den Begriff des Europäischen Strafrechts, dessen Kompetenzgrundlagen sowie relevante Rechtsquellen eingegangen wird. Danach wendet sich Ambos dem europäischen Grundrechtsschutz zu, den insbesondere die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und die EU-Grundrechtecharta im Kontext des Strafrechts bieten (§ 10, S. 456 ff.). Zudem wird in diesem Kapitel das Doppelverfolgungsverbot des Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) ausführlich dargestellt. Ähnlich wie im vorhergehenden Teil das Völkerstrafrecht wird hier auch das Europäische Strafrecht unterteilt in materielles Strafrecht (im weiteren Sinne) und Verfahrensrecht dargestellt (§§ 11 und 12 des Studienbuches, S. 550 ff.). Die eingängigen Ausführungen zum Verfahrensrecht betreffen allerdings weniger klassisches Prozessrecht im engeren Sinne, sondern vielmehr die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit innerhalb Europas bzw. der Europäischen Union. Danach wird noch überblicksartig auf sonstige Rechtshilfebestimmungen mit Schwerpunkt auf Beweiserlangungsvorschriften und die Vollstreckungshilfe eingegangen. Zuletzt gibt der Verf. noch einen Einblick in europäische Strafverfolgungs-Institutionen (UCLAF bzw. OLAF, Europol, Eurojust sowie die geplante „Europäische Staatsanwaltschaft“). Die beiden Teile über das Völkerstrafrecht und das Europäische Strafrecht präsentieren sich mit über 330 Seiten bzw. mehr als 230 Seiten deutlich umfangreicher als der knapp hundertseitige 1. Teil über das Strafanwendungsrecht. Beim raschen Überschlagen der angeführten Seitenangaben gelangt man zu dem Ergebnis, dass dieses Buch mehr als 650 reine Textseiten umfasst. Angesichts dieses Umfangs mag es auf den ersten Blick verwundern, dass das gegenständliche Werk in der Reihe der „Juristischen Kurz-Lehrbücher“ des C.H. Beck-Verlages erscheint. Doch wenn man sich den enormen Umfang dieses vielseitigen Rechtsgebietes vor Augen führt, wird schnell klar, dass es sich bei „kurz“ um keine euphemistische Beschreibung handelt. Vielmehr erkennt man die besondere Leistung des Verf., das inhomogene Themengebiet des internationalen Strafrechts gleichzeitig _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 129 Ambos, Internationales Strafrecht Gölly _____________________________________________________________________________________ ausführlich und tiefgehend darzustellen und dennoch einen Rahmen einzuhalten, der das Werk noch zu einem Lehrbuch und nicht zu einem reinen Nachschlagewerk macht – wenngleich es sich auch dazu hervorragend eignet. Die besondere Studierendenfreundlichkeit dieses Werkes zeigt sich aber noch in mehrerlei anderer Hinsicht: Zunächst verfügt das Buch über besonders für ein Lehrbuch außergewöhnlich umfangreiche Fußnoten. Der Grund für deren Ausmaß liegt unter anderem darin, dass der Verf. zahlreiche interessante Informationen, die aber für studentische Nutzer regelmäßig nur von untergeordneter Bedeutung sein werden, in die Fußnoten verschoben hat. Dadurch lässt sich der Fließtext durchgehend gut lesen und vermittelt der studierenden Leserschaft alle wichtigen Inhalte. Gleichzeitig ermöglichen die zahlreichen Quellennachweise das rasche Auffinden weiterführender Informationen, falls ein bestimmtes Thema noch tiefgehender betrachtet werden möchte. Auch der konsequente Fettdruck wichtiger Schlagworte im Fließtext kommt den Bedürfnissen der Studierenden (wie auch der übrigen Leserschaft) ungemein entgegen. Dasselbe gilt für die Verwendung unterschiedlicher Schriftgrößen, die als erstes Indiz für die (Prüfungs-)Relevanz der jeweiligen Ausführungen dienen können und es Studierenden durch das Hervorheben der besonders bedeutsamen Inhalte erleichtern, sich zunächst einen Überblick über die Materie zu verschaffen. Als ausgesprochen instruktiv erweisen sich auch die regelmäßig abgedruckten Schaubilder, welche die zuvor textlich vermittelten Informationen noch einmal anschaulich zusammenfassen, und die zahlreichen praktischen Fälle inklusive der Lösungen, die den Stoff noch weiter veranschaulichen; dadurch werden die theoretischen bzw. dogmatischen Inhalte ergänzt und leichter nachvollziehbar gemacht. Insgesamt erweist das gegenständliche Studienbuch damit nicht nur studentischen Einsteiger/-innen, sondern durchaus auch in diesem Bereich bereits erfahreneren Leser/-innen regelmäßig wertvolle Dienste. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Verf. im vorliegenden Studienbuch das internationale Strafrecht so kurz und prägnant wie möglich, gleichzeitig jedoch so umfassend und vielseitig wie für eine fundierte Wissensvermittlung nötig, dargestellt hat. Durch den übersichtlichen Aufbau, die Schaubilder und die Fallbeispiele sowie den klaren, gut verständlichen Schreibstil gelingt es Ambos, den Studierenden mit diesem Werk ein ausgezeichnetes und didaktisch vorbildliches Studienbuch in die Hand zu geben, das dabei dennoch so ausführlich ist, dass es allen wissenschaftlichen Ansprüchen in höchstem Maße gerecht wird und in dem nachzuschlagen sich auch für erfahrene Strafrechtswissenschafter und -praktiker jederzeit lohnt. Univ.-Ass. Mag. iur. Sebastian Gölly, Graz _____________________________________________________________________________________ ZJS 1/2017 130
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