Diarys of Death

Lesungsexemplar
Meinen treuen Lesern und Hörern gewidmet mit amüsierten
Grüßen von Fridolin
1
Susanne Hoge
Diarys of Death
Der Nebel von Morta Sant
Bnd.1
ISBN: 978-3-7347-7123-1
2
Prolog
Heute!
~Stille Nacht, heilige Nacht~
Doch die Nächte waren nicht still, und nicht heilig. Leichter
Wind ließ die Eiskristalle in den kahlen Ästen melodisch klingen.
Ein winterliches Lied dem kaum jemand Beachtung schenkte,
und mir heute bedrohlich schien. Denn mehr als Schnee und
Eis und Weihnacht lag in der Luft.
SIE waren nah! SIE hatten uns gefunden, einmal mehr. „Shhht,
Shhht Papa findet dich, dir passiert nichts aber um aller Mächte
Willen, sei leise.“
Beschwor ich den kleinen Jungen der mich aus den Augen seines Vaters ansah und zufrieden brabbelnd und quietschend am
Daumen nuckelte.
Mein Jüngster, erst einige Monate alt.
Jemand vom Clan würde ihn finden und wissen, dass etwas
nicht in Ordnung war. Sie wussten das ich die Neugeborenen
das erste Jahr kaum aus den Augen ließ, geschweige denn erlaubte das man jene, und sei es nur kurz, von mir nahm.
Bei Ary-Tias war es so schlimm gewesen das ich selbst seinen
Vater mit Argusaugen *bewacht* hatte wenn er seinen Sohn
hielt, mit ihm spielte oder ihn zu Bett brachte.
Clarissa Gabrielle war ohnehin total Papas Mädchen und ich
war ein kleines bisschen ruhiger. Was nicht hieß das ich sie
deshalb weniger im Auge behielt.
Und so wie ich nach jedem Kind beschwor das ich mir das
nicht wieder antun würde, und mein Umfeld inklusive meines
Mannes mit schöner Regelmäßigkeit in den Wahnsinn getrieben hatte, so hielt ich es bei über das erste Lebensjahr des Kindes übermäßig zu wachen.
3
Sie würden wissen, dass etwas nicht stimmte und sie würden
mich finden.
Solange musste ich einfach durchhalten und so viel Abstand
zwischen IHNEN und mein Kind bringen wie es mir möglich
war.
Ich überprüfte zum tausendsten Mal seit ich das Haus verlassen
hatte, das der Kleine warm genug eingepackt war, ehe ich ihn
an einer windgeschützten Stelle sicher vor den Augen Sterblicher verbarg.
„Mama ist bald zurück, ich verspreche es!“ wisperte ich und
hauchte dem Kind einen Kuss auf die Stirn ehe ich davonstob.
Ich kam keine fünfhundert Meter weit, bis ich mich IHNEN
stellen und um mein Leben und das meines Kindes kämpfen
musste. Ich hatte nicht den Hauch einer Chance, trotz Alter,
trotz Kraft und Erfahrung nicht. SIE waren unerbittlich und
perfekt ausgebildet.
Entgegen dem was ich immer wieder lehrte, konnte ich mich
nicht konzentrieren, konnte ich meine Gefühle nicht ausblenden wie sonst.
Meine Gedanken kreisten um das verborgene Kind und ich war
der Mehrzahl der Jäger weit unterlegen. Ich floh schwer verletzt, ich hatte keine andere Wahl, wenn ich nicht fallen wollte.
Lief fort von dem versteckten Kind, weg von den Häschern
auch wenn ich darauf achtete, dass sie nicht zu weit zurückfielen.
Denn solange sie mir folgten, wäre das Kind sicher und das war
das einzige das zählte.
Ich hörte die Lieder hinter den verschlossenen Fenstern, sah
den Festschmuck, innerhalb und außerhalb der Häuser.
Der Schnee beinahe Kniehoch machte jeden Schritt zu einer
Qual und der Wind der mir neue Flocken ums Gesicht schlug,
machte es nicht besser.
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Vorwärts. Einfach weiter. Sie durften mich nicht finden, doch
mich zu übersehen wäre wohl schwieriger.
Die dunkle Kleidung hob mich von der winterlichen Pracht ab
und als reichte das noch nicht war die Spur aus dunklem Rot,
das tropfend den Schnee tränkte, und klebrig warm meine
Glieder herabrann beinahe wie eine leuchtende Neonreklame
die rief:
Hier bin ich! Kommt und holt mich!
Sie wüssten worauf sie achten mussten und sie wussten das ich
verletzt war. Aber selbst bei anderen Bedingungen als diesen,
günstigeren für mich, wussten sie genau wie sie mich und meinesgleichen fanden. Bluthunden gleich die ein Opfer witterten.
Aber ich war nicht gewillt aufzugeben. Das war nie meine Art
gewesen.
Zum Leidwesen mancher die meinen Weg gekreuzt hatten. Die
versucht hatten mich zu lenken, mich zu brechen oder lehren.
Ich lächelte matt bei dem Gedanken daran.
Eine starke Windbö brachte mich aus dem Gleichgewicht, ließ
mich taumeln und straucheln. Mein langer Mantel verfing sich
in meinen Beinen und bald umfing mich das kalte Weiß. Es
wäre so leicht.
So leicht einfach liegen zu bleiben. Dem Wind und den dicken
Flocken zuzusehen, die über mich hinwegwirbelten.
Den festlichen Liedern zu lauschen die aus den Häusern drangen und darauf zu warten, das SIE mich einholten und all dem
ein Ende bereiteten.
Es wäre kein rasches Ende, gewiss nicht das war nicht Ihre Art.
Trotzdem. Es wäre so leicht.
Es war ein friedfertiges, harmonisches Bild.
Ein Bild das mich widerlich an einen kitschigen Film erinnerte,
die in dieser Zeit zuhauf auf den zahllosen Sendern liefen.
Doch dies war kein Film, und ich war mir nicht einmal sicher,
dass es ein Happy End gab.
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Mühsam und langsam rappelte ich mich auf, blickte auf die
dunkelrote Spur in dem Abdruck, den mein Körper hinterlassen hatte und seufzte müde. Ich hätte darauf achten müssen zu
essen!
Vielleicht wären die Verletzungen dann nicht so schwerwiegend. Würden dann rascher heilen, aber noch während ich diesem Gedanken folgte, wusste ich das ich irrte.
Die Klingen waren geweiht. Ihre Kugeln waren es auch, auch
wenn SIE sich nur außerhalb der Ortschaften auf Geschosse
verließen.
Man sollte annehmen, ein Schwert oder Langdolch würde
mehr Aufsehen erregen als eine einfache Pistole, aber erschreckenderweise war dem nicht so.
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~Alles Schläft, einsam wacht~
Die Menschen waren blind und taub geworden. Die übermäßige Informationsflut hatte sie abgestumpft, man konnte auf offener Straße getötet werden und niemandem würde es auffallen.
Drohte mir dasselbe Schicksal wie vielen anderen meiner Art
zuvor?
Gleichwohl SIE heute zum größten Teil aus Menschen bestanden, waren sie eine nicht zu unterschätzende Gefahr. Ihre Informationen waren präzise, ihre Methoden grausam.
*Bitte nicht Vater* flehte ich stumm und in Gedanken, während
ich den Weg durch den Schnee und die wie im Schlaf liegende
Stadt fortsetzte.
Schritt um Schritt, während mein unseliges Leben aus mir herausrann und dunkle Spuren auf makelloser Haut hinterließ ehe
es Tropfen um Tropfen meinen Weg makierte.
Nein die Stadt schlief nicht, sie feierten im Schein von Kerzen
und dem leuchtenden Weihnachtsbaum das Fest der Liebe und
der Besinnung.
Einmal im Jahr, für ein paar Stunden entsprang die Welt einer
Postkarte oder einem Werbeplakat oder einem kitschigen alten
Film ala Der kleine Lord.
Piep, piep, piep wir haben uns alle lieb!
Ich verabscheute diese Heuchelei, auch wenn es mir heute
wohl zu Gute kam.
So konnte ich meinen Weg fortsetzen ohne fragende Blicke,
ohne Furcht entdeckt zu werden von diesen armseligen Kreaturen die gedankenlos ihr Leben wegwarfen.
Menschen! Armselige kurzlebige Kreaturen!
Hetzten sich ab, jagten blind durch diese Welt die sie Stück für
Stück zerstörten auch wenn sie endlich begriffen hatten, das sie
genau das taten.
7
Das Wort und die Einmischung meiner Art oder mir ähnlichen
Arten mochten vielleicht für das Umdenken verantwortlich
sein.
Wir waren überall, verborgen, angepasst, unsichtbar wandelten
wir Mal erfolgreicher, mal weniger unter dem Gewürm das uns
zur Nahrung und Unterhaltung diente. Doch das Gewürm war
weit schlimmer als wir.
Immer auf der Jagd nach mehr. Mehr Macht, mehr Geld, mehr
Geschwindigkeit nur einmal im Jahr Liebe und Besinnung vorheuchelnd.
Was wussten sie schon von Liebe? Sie liebten so schnell wie das
Wetter in den Bergen wechselte, so schnell wie ein Status der
sozialen Netzwerke wechselte, und natürlich war es jedes Mal
die eine, die große, reine Liebe.
Geschworen auf die Ewigkeit. Was wussten sie schon? Was
wussten sie von Liebe, oder der Ewigkeit?
Meine Lippen verzogen sich angewidert, während ich den
Textpassagen der einzelnen Weihnachtslieder aus den Häusern
lauschte und versuchte meine Gedanken von diesem Weg fort
zu lenken und stattdessen versuchte mich zu orientieren.
Ich hatte ein bestimmtes Ziel. Alle paar Jahre suchte ich diesen
einen Ort auf, um mir vor Augen zu führen wie alles begonnen
und zu erkennen wohin es mich geführt hatte. Sentimental,
war wohl der passende Ausdruck dafür.
Ein Hauch der Menschlichkeit derer ich zu früh beraubt worden war. Jahre vor der eigentlichen Zeit.
Unwichtig, sollte man mich sentimental nennen, oder meine
dann und wann auftretende Hilfsbereitschaft in Frage stellen.
Man hatte mich schon ganz anders betitelt.
Weit weniger freundliche Namen für mich gefunden.
Es machte mir nichts mehr aus.
Ich hatte gelernt mich zu nehmen wie ich war, und wer das
nicht konnte oder wollte durfte sich gern beim Ältesten ausheulen und mir fern bleiben.
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Und je mehr Jahre vergangen waren, umso mehr hielten sich
an letzteres und mir war es durchaus Recht.
Ich war nie dazu geschaffen mich mit vielen zu umgeben, hatte
nie die Geduld für andere aufbringen können. Eine Weile hatte
ich es ernsthaft versucht.
Aber ich hatte ebenso festgestellt, dass die Lernresistenz und
Dummheit der meisten mich weit mehr erzürnten als das ihre
Gegenwart mir gut getan hätte.
Zorn war gut, ein guter Indikator, wie ich feststellte.
Meine Schritte schienen nicht mehr ganz so schwer zu sein,
nicht mehr ganz so träge wie eben noch. Nur wenige ertrug ich,
oder waren es wenige die mich ertrugen? Es spielte keine Rolle.
Die wenigen reichten um mir ein gutes Gefühl zu geben, mich
zu stärken oder mich auf den Boden zurück zu reißen. Beim
Gedanken an den Clan wurde ich ruhiger und entspannte Zusehens.
Verdammt! Nicht gut! Ich brauchte Zorn um weiter zu kommen, um auf den Beinen zu bleiben. Aber wie es eben war,
wenn man sich darum bemühte bestimmte Emotionen hervor
zu rufen – es gelang mir nicht sonderlich gut. Nagut es gelang
mir gar nicht.
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~Nur das traute hoch heilige Paar~
Trotz der Festbeleuchtung, trotz der Lieder und der Heuchelei
und der andauernden Lernresistenz dieser armseligen Kreaturen wollte es mir nicht gelingen den willkommenen Zorn aufrecht zu halten.
Zu sehr erschöpft hatten mich Kampf, Blutverlust und Furcht
um das zurückgelassene Kind.
Ich hatte es versprochen. Ich musste durchhalten. Musste mich
Schritt um Schritt weiter vorkämpfen. Nie gab ich ein Versprechen das ich nicht halten konnte, hatte es nie getan.
Vieles konnte man mir vorwerfen – Folter, Erpressung, Mord,
ungewollter Ehebruch aber ein gegebenes Wort hielt ich.
Natürlich, es gab immer ein erstes Mal – doch hoffte ich, dass
ich noch weit, weit davon entfernt war.
Der schneebedeckte Kirchplatz lag direkt vor mir, der Schatten
des Turmes fiel beinahe drohend auf mich herab und schien
mich zu verhöhnen, auf mich herab zu deuten während ich
mühsam jeden Schritt darum kämpfe auf den Beinen zu bleiben.
Die Messe war lange zu Ende, doch drang noch fahles Kerzenlicht aus den bunten Scheiben der Kirche und bereits verschwindende Spuren zeugten von den vielen Besuchern.
Natürlich war man in der besinnlichen Zeit auch besonders
gläubig. Ich schnaubte, blickte flüchtig auf die bunten Scheiben.
Geschichten die längst vergessen waren und falsch berichtet,
fanden sich auf den farbenfrohen Abbildungen wieder.
Gewalt verherrlichend.
Mörder, Verräter wurden so hoch gepriesen und boten weit
mehr Zeugnis von der Seele der Menschen als irgendetwas
sonst es könnte.
Verrat, Jagd, Mord aber natürlich waren sie die *Guten*.
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Plagen, Kindsmord, Vergewaltigung – das ach so heilige Buch
war voll davon, aufgefordert von den *Guten*.
Aber wenn Sie die Guten waren, wenn *ER* für das Gute stand,
wer oder was war dann das Böse?
Tatsächlich jene die SIE jagten? Jene die verborgen lebten unter
den niederen Wesen und im geheimen den Lauf der Geschichte
mitbestimmten und lenkten?
Sie, nein wir, waren jene die manche Katastrophe abgehalten
hatten, verhindert hatten, ohne dass irgendjemand außer den
Beteiligten davon wusste.
Die Schafe brauchten nicht zu wissen, das weit mehr existierte
als sie sehen konnten, das hinter der alltäglichen Fassade etwas
anderes nebenher existierte.
Es ließ sich nicht leugnen, dass hinter einigen Kriegen, meine
Art steckte. Ein Wort hier, eine harmlose Frage dort und schon
bekämpften Menschen einander.
Und in diesen Kämpfen und Kriegen, fielen Menschen nicht
auf, die verschwanden. Kriegsopfer eben. Ich grinste, stolperte
kurz und schüttelte den Kopf. Konzentration! Weiter! Ich
musste weiter.
Kurz nur wand ich mich um, verfolgte meinen Weg mit den
Blicken zurück und seufzte tonlos. Es würde ein leichtes sein
meiner Spur zu folgen. SIE würden sich nicht von Wind und
Wetter abhalten lassen.
Das haben SIE nie getan, solange ich denken konnte hatte ich
es nur ein einziges Mal erlebt das einer von ihnen nicht tat was
er tun musste, aber das war unsäglich lang her.
Sie waren wie Bluthunde, hatten sie ein Ziel im Auge, würden
sie nicht aufgeben bis es erlegt war.
In diesem Fall war ich die Beute die es zu erlegen und auszumerzen galt.
Mein Haupt verfiel in sachtes Schütteln. Weiter! Keine Zeit
zum Grübeln! Ich musste weiter.
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Jedes Hadern erhöhte das Risiko, das sie mich einholten, das sie
mich zur Strecke brachten, bevor die anderen mich finden
könnten.
Ich schlang den weiten Mantel enger um meinen Leib.
Meine Haltung war geduckt, meine Schritte schleppend und
schwer und nichts erinnerte mehr an die Jägerin, das Raubtier
das seit jeher in mir schlummerte.
Nie war ich einem Menschen ähnlicher als in diesem Moment
und ich hasste mich für diese Schwäche.
Hasste jeden Tropfen kostbaren Vitaes der meine Haut herabrann, meine Kleider tränkte und deutliche Spuren auf meinem
Weg hinterließ.
Ich überquerte den Kirchplatz während der Schnee unter meinen Stiefeln vernehmlich knirschte.
Keine Menschenseele wanderte außer mir noch hier rum. Sie
waren beschäftigt mit der Heuchelei, getrieben von der Gier
nach noch mehr Dingen, die ihnen am Ende nichts nutzten.
Ich durchschritt ein altes Gusseisernes Tor hinter dem sich das
Denkmal, die Ehrenbezeugung dessen der Nie besiegt werden
konnte ausbreitete.
Verherrlichung des Todes, von einer Rasse die zu leben vergessen hatte, es verlernt hatte.
Konnte ich mich davon freisprechen? Ich wusste es nicht zu
sagen. Nicht immer vermutlich, aber ich hatte mir Mühe gegeben, immer wieder aufs Neue.
Reihe um Reihe, dicht bei dicht! Steine, Kerzen, Blumen und
Statuen um jene zu ehren, denen man zu Lebzeiten kaum Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Noch mehr dreckige Heuchelei!
Natürlich waren die Verstorbenen wahre Engel gewesen, geliebte Väter, Söhne, Mütter oder Töchter.
Vergessen das der geliebte Bruder zwei Mädchen grausam vergewaltigt und getötet hat.
Vergessen das die geliebte Mutter eine schwarze Witwe war
oder die gute Schwester eine Crackdealerin.
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Sie waren doch allesamt so gute Menschen gewesen, die man
viel zu früh aus dem Leben gerissen hatte.
Über die Toten spricht man nicht schlecht, heißt es. Aber um
ehrlich zu sein habe ich niemanden mit gesunden Menschenverstand gekannt, der etwas Gutes über Hitler gesagt hätte, seid
jener sich eine Kugel durch den Kopf jagte.
Oder was auch immer mit dem Geschehen war, denn auch
meine Art hatte seine ganz eigenen Theorien.
Ich war nicht dabei, und hielt mich mit Mutmaßungen über
den Verbleib oder das Schicksal des vermeintlichen Führers
zurück, dessen Werdegang wir, wie den aller anderen, mit mäßigem Interesse verfolgt hatten.
Zweifellos waren hier und da Diskussionen aufgekommen, jenem ein Ende zu bereiten, aber eine Idee starb nicht mit jenem
der diese Idee in die Köpfe der Menschen setzte. Wie wir mehr
als einmal erleben durften und es bisweilen noch immer am
eigenen Leib spürten.
Die Idee musste vernichtet werden, sonst hatte sie weiter Bestand, wie sich immer wieder aufs Neue gezeigt hatte, sogar
über Jahrhunderte hinweg.
Ich blickte herab, auf den Grabstein der mir als Halt und Stütze
diente betrachtete fasziniert meinen blutigen Abdruck auf dem
Stein.
Und beim Zurückschauen fiel mir auf, das es einige dieser Abdrücke gab. Ich hatte nicht darauf geachtet. Ein dummer Anfängerfehler der jetzt vermutlich keine Rolle mehr spielte.
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~Holder Knabe im lockigen Haar~
Ich war am Ende meiner Kraft, und würde einem Kampf nicht
mehr standhalten können.
Je weiter ich taumelte, umso verwitterter, umso ungepflegter
wurden die Gräber, umso Älter und weniger zugänglich die
Wege dorthin.
Doch das spielte keine Rolle, ich würde den Weg selbst unter
anderen, schwierigeren Umständen finden auch wenn mir grade kein Umstand einfiele der noch schwieriger wäre.
Mein Ziel war der älteste Teil des Friedhofes, schon als ich jung
war, war er alt.
Aber jetzt - jetzt waren die Steine verwittert, Gras und moosbewachsen, halb zerfallen und jene die dort ruhten lange, lange
schon in Vergessenheit geraten und zerfallen.
Die Welt verschwamm vor meinen Augen, fast blind taumelte
ich vorwärts.
Kraftlos schleppte ich mich weiter bis zu einem alten Stein.
Haltsuchend stützte ich mich an jenem ehe ich mich daran herabgleiten ließ.
Die Kälte des Bodens und des Steines ließen mich erzittern. Ich
wusste nicht zu sagen, wann ich das letzte Mal vor Kälte gezittert hatte und ja - ja es machte mir Angst.
Und im Augenblick wäre ich sogar gewillt, dies zu zugeben.
Meine Fingerspitzen strichen über eine eingemeißelte Schrift,
die lange nicht mehr zu erkennen war, allenfalls wage zu ertasten.
Aber selbst in tausend Jahren, wenn der Stein vollkommen dem
Wetter zum Opfer gefallen wäre, würde ich diese Stelle aufsuchen und würde wissen was einstmals dort gestanden hat wie
ich es auch heute wusste.
Jeden Buchstaben, jede Zahl kannte ich.
Zahllose Male waren meine Fingerspitzen nachdenklich über
die eingemeißelten Lettern und Ziffern gefahren, während ich
versuchte mir über das Eine oder Andere klar zu werden.
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✝
Danielle Falodir
1333 – 1350
Das Grab auf dem ich herabgesunken war, war bis auf einen
inzwischen vermutlich verrotteten Sarg leer, war es immer gewesen. Ich musste es wissen – Es war mein eigenes Grab.
Vor einer Ewigkeit war ich hier begraben worden.
Die unschuldige Kaufmannstochter, die scheue Zofe die einzig
ein wenig der Welt kennen lernen wollte und mehr gefunden
und gelernt hatte, als sie sich je hätte träumen lassen. Mehr als
sie je hatte wissen wollen.
„Vater bitte…“
Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, ein Hilferuf, an
jenen der ein jede Seele auf dem letzten Weg begleitet. Vielleicht war es an der Zeit.
Und vielleicht war mein eigenes Grab der perfekte Ort um
vollends zu gehen. Vielleicht… NEIN! Nein.
Ich hoffte dem war nicht so. Betete zu allen Mächten die mir in
den Sinn kamen, und das waren eine ganze Menge, das Hilfe
käme und ich Rettung erfuhr.
Ich presste mich enger an den kalten Stein, versuchte dem
Wind zu entgehen.
Mein dicker schwarzer Mantel war um mich gebreitet, fächergleich auf dem Boden, das es beinahe wirkte wie absichtlich
drapiert.
Von den feinen Säumen ausgehend, zeichnete dunkles kräftiges
Rot den Schnee mit wirren funkelnden Mustern.
Ich war so müde. So unglaublich müde und die Kälte ließ mich
abermals erzittern, erschaudern und fürchten. Ich fand nicht
die Kraft wieder aufzustehen, weiter zu gehen und einen geschützteren Platz als diesen zu suchen.
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Schneeflocken verfingen sich in meinen Wimpern, tränkten
mein helles Haar und bedeckten meine ewig jugendlichen Züge.
„Bitte, Hilfe!“
Was ein Ruf werden sollte, war ein heiseres leises Wispern das
niemand hörte.
Meine Lider senkten sich, die Sicht auf die wirbelnden Flocken
wurde mir geraubt, doch die tiefe grausame Kälte, die im Inneren als auch von außen an mir zerrte, blieb.
„Bit...te…“
Verwaschen diese Silben, kraftlos und matt, ehe gnadenvolle
Dunkelheit mich umhüllte und mich der Wirklichkeit entriss.
~Schlafe in himmlischer Ruhe, schlafe in himmlischer Ruhe~
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Die Rettung
Das Wiehern meines Pferdes weckte mich und einen Moment
lang war ich irritiert was diese Störung zu bedeuten hatte, und
wo ich war. Dann sah ich sie, wie sie auf mich zustürmten. Mit
einem Fluch auf den Lippen sprang ich auf.
Ich war so was von Tod! Ich war mir sicher, das konnte ich
nicht überleben.
*Ist heute die Nacht, mein Freund? Tanzen wir heute ein letztes
Mal?*
Wieder stellte ich die Frage in meinem Geiste aber ich erhielt
keine Antwort, kein Lachen wie sonst.
Mein Kopf schaltete vollkommen ab, ich überließ mich meinen
Instinkten und Reflexen und legte mein Leben in jene Hände.
Mit einer Hand riss ich meinen Umhang von den Schultern,
Teile der Decke und des Efeus mitreißend während die andere
das Schwert zog.
Ich war jung, hungrig, müde und vermutlich tot, aber ich würde nicht kampflos untergehen.
Ich schleuderte die Decke dem Ersten entgegen, wehrte den
Hieb des Zweiten mit meiner Klinge ab und sprang auf eines
der Mauerstücke.
„Du verdammtes Miststück!“ brüllte der Erste sich aus der Decke befreiend, wobei er sich fast darin verhedderte und mir ein
Grinsen entlockte.
„Du wirst sterben, und wir gewähren dir gewiss keinen raschen
Tod!“ versprach der Zweite.
Und genau das fürchtete ich, genau darum hatte ich gehofft
zwei am Tag töten zu können.
Sie würden mich nicht einfach so töten, sie würden dafür sorgen, dass es lange dauerte.
Wenn ich zuließ, dass sie mich in die Hände bekamen.
Aber das hatte ich nicht vor.
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„Komisch so was winselten eure Brüder auch bevor ich ihnen
den Gar ausmachte!“
Ich musste sie reizen. Musste meine geringe Größe und mein
Gewicht ausnutzen. Und genau das tat ich. Ich sprang von Säule zu Säule, von Mauerstück zu Mauerstück, verhöhnte sie,
reizte sie denn nur wenn sie blind vor Zorn wären, hätte ich
vielleicht die Chance auf ein schnelles Ende.
Wie einfach doch alles wurde, wenn man davon überzeugt war,
das das letzte Stündlein geschlagen hatte. „Oh bitte wenn ihr so
Jagd müsstet ihr verhungert sein!“
„Schnapp sie dir, verdammt!“
„Ich versuch es doch! Warte ich…“
Die Worte erstarben in einem gurgelnden Laut. Ich staunte,
erschrocken, überrascht.
Ich war von einer Säule auf ein Mauerstück gesprungen und
einige Steine hatten sich gelöst und mich das Gleichgewicht
gekostet.
Ich hatte ihn mir mit der Klinge nur vom Hals halten wollen
als er auf mich zustürmte, und könnte nun genau aufzeigen was
es hieß mehr Glück als Verstand zu haben.
Einen Moment starten wir beiden, die noch lebten auf den Gefallenen ehe der Ältere auf mich zustürmte und ich jubelnd auf
die Beine sprang.
Gut er war richtig zornig, seine Hiebe abwechselnd mit Klauen
und Schwert kamen rasch, rascher als ich hätte reagieren gönnen. Ich wehrte ab was ich konnte, aber mehr noch steckte ich
ein. Hiebe, Schnitte, Stiche.
Ich hörte irgendwann auf zu zählen. Was ich austeilte war
nicht der Rede wert, und langsam bedauerte ich, das ich ihn
unbedingt hatte reizen müssen. Langsam begann die Nacht dem
Tag zu weichen.
Streifen in blassem Lila zierten den Himmel bereits und von
den zahllosen Gestirnen waren nur noch wenige Tupfen auf
dem dunklen Gewand zu erkennen.
18
Die ersten Vögel stimmten ihr Lied an, und boten einen eigenwilligen Hintergrund für den Kampf der hier gefochten ward.
Ich wagte nicht an mir herunter zu sehen. Wenn ich nur halb
so aussah wie ich mich fühlte, war ich nur noch eine breiige,
blutige Masse. Mein Gegner indes war nahezu unversehrt. Gewiss hatte er einige Hiebe abbekommen aber ich war zu sehr
damit beschäftigt zu parieren, als das ich angreifen könnte und
selbst das offensichtlich nicht sehr erfolgreich.
Wieder ein Hieb, noch einer, noch einer. Ich wich zurück,
Schritt für Schritt und dann geschah es – ich stolperte über ein
paar Steine und vermochte es nicht das Gleichgewicht zu halten. Ich verlor das Schwert das scheppernd nach mir auf dem
Boden aufschlug.
„Jetzt wirst du sterben.“
Drohend und riesig stand er über mir und hob seine Waffe. Ein
Teil von mir war erleichtert das es vorbei war, der andere, größere Teil fluchte innerlich darüber das mir die Kraft fehlte dem
anderen irgendwas entgegen zu setzen. Das Schwert sauste herab und ich schloss die Augen.
Das Nächste was ich spürte, war Blut. Neues Blut das in mein
Gesicht spritzte. Ich war irritiert, warum lebte ich noch? Ein
dumpfes Geräusch ließ mich die Augen öffnen. Nicht mein
Gegner stand über mir, sondern ein Fremder. Mein Gegner oder dessen Körper folgte seinem Kopf hinab auf den feuchten
kalten Boden.
Der Fremde sah auf mich herab, prüfend und forschend. Ich
kannte diese Präsenz… mein … Beobachter?! Was wollte er?
Warum hatte er das getan?
Ich versuchte zu sprechen, aber es gelang mir nicht, selbst dazu
fehlte mir die Kraft. Er indes schaute mit silbern leuchtenden
Irieden auf mich herab. Versuchte sich ein Bild von meinem
Zustand zu machen, abzuwägen ob es überhaupt noch Sinn
machte mich zu retten.
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Hochgewachsen und Schlank stand er dort und sah auf mich
herab. In seinen langgliedrigen Fingern hielt er eine Klinge von
dessen Schneide noch das Blut des Gefallenen tropfte.
Seine Gewandung allein war mehr wert als alles was ich bei mir
trug.
„Heute nicht, schwarzer Rabe, heute nicht.“ erklang seine
Stimme warm und freundlich, doch mehr als ein Ächzten erhielt er nicht zur Antwort.
Und als er Schwert in die kunstvoll gefertigte Scheide schob,
senkte sich gnadenvolle Bewusstlosigkeit über mich.
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Der erste Blick
Ich bemerkte nicht, dass mein Beobachter mich auf seinen Arm
hob. Und das andere zu ihm kamen und sein Pferd mit sich
führten.
„Lebt sie?“
Noir, das war der Name meines Beobachters, nickte, während
er mir von seinem Blut einflößte.
„Ja aber wenn wir sie nicht rasch zu Vater bringen, nicht mehr
lang.“
Die Gruppe bestehend aus fünf augenscheinlich jungen Männern und mir, preschte durch den Wald. Wir ließen die Tawariswälder ohne weitere Stopps hinter uns. Mit ernsten ausdruckslosen Mienen versuchten sie so rasch wie möglich heim
zu kehren.
Ihre Mienen entspannten sich erst, als sie die Grenzen der
Heimat überquert hatten. Morta Sant, das dunkle Reich. Sie
steuerten das Schloss an, mich sicher im Arm bergend.
Im Inneren des Schlosses schritt der Oberste an der Seite seiner
Vertrauten Rosanna und gab einige Anweisungen, doch verebbten seine Schritte als Noir die Landesgrenze überquerte.
„Fremdes Blut…“ wisperte Rosanna und bestätigte den Gedanken des Ältesten.
Gemeinsam sie machten sich auf den Weg, der Gruppe entgegen zu gehen um zu sehen, zu erfahren was vorgefallen war, zu
sehen wessen Blut es war, das diesen Tag schwängerte. Ich
schwankte zwischen Wachen und Bewusstlosigkeit.
Immer wieder flatterten meine Lieder. Ich hörte schwere
Schritte auf kaltem Boden, sah eine hohe Decke über mich
hinweg gleiten, dann wieder schwärze.
Die Schritte verebbten. Wie aus weiter Ferne hörte ich Stimmen, Satzfetzen. Der Blick des Ältesten ruhte auf dem Sohn,
kalt und streng.
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Eisige Stimmen waren es, die mich abermals weckten, mich
zwangen die Augen wieder zu öffnen. Und sei es nur für einen
Moment.
„- Sie es nicht kann, bitte ich Euch um das Willkommen für sie
und Eure Hilfe, Vater.“
Willkommen? Hilfe? Ich bat nie um eines von beiden wenn es
sich vermeiden ließ, hier war es wohl nicht der Fall. Ich spürte,
hörte wie jemand näher trat, spürte Blicke die auf mir ruhten
und zwang mich abermals die Augen zu öffnen. Und mir die
ich glaubte nichts zu fürchten, stockte der nicht benötigte
Atem als ich in ein paar eisig kalter Irieden blickte, aus dem
selben flüssigen Silber so schien mir, wie die meines Beobachters.
Nur um so vieles härter als alles was ich bisher gesehen hatte.
„Wer ist das? Woher kennst du sie und warum glaubst du das es
Sinn macht dieses Mädchen zu retten Noir?“
Strenge Worte die nach einer Erklärung verlangten.
„Du bittest um das Willkommen für sie?“
Ein Schmunzeln das kurz über die Züge huschte kaum einen
Wimpernschlag lang.
Hatte er wieder einmal sein Herz verloren? So sehr das er Rettung erhoffte, für das blutige Ding in seinen Armen?
Schritt um Schritt trat der Jäger nun näher an den Sohn begutachtete und musterte das Geschöpf das jener sicher trug. „Sie ist
noch jung Noir, jung und sehr schwer verletzt ich kann dir
nichts versprechen.“
Die Erklärung erklang gleichmütig und ohne die geringste Gefühlsregung. Der Bengel schleppte ständig halbtotes an, zuletzt
war es Sidh gewesen.
Der Bauernlümmel den er für sich als Bruder verlangt hatte.
Jetzt ein halb totes Küken.
„Noir du musst endlich davon absehen, mir halb Tote in Schloss
zu bringen als wärest du ein kleiner Junge der verletzte Tiere
mitbringt.“
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Die Antwort auf die Bitte des Anderen.
Die Arme wurden gehoben und dem Jungen das Kind der
Nacht abgenommen als sei sie –ich - leicht, einer Feder gleich.
Ich quittierte es mit einem schmerzhaften Stöhnen, doch blieb
es mir erspart, das Bewusstsein wieder zu erlangen.
„Rosanna wir unterreden uns später weiter" flüchtig bekanntgebend ehe der eisige Blick wieder den Sohn traf.
„Geh trainieren Noir bis eine Stunde vor Sonnenaufgang will
ich dich, deinen geschenkten Bruder, und die dir Unterstellten
hier nicht wieder sehen. Mir scheint ihr habt zu viel Zeit wenn
ihr halbtotes durch die Gegend tragen könnt.“
Und mit den Worten waren die Schritte der Tür hinaus gesetzt
der eigenen Kammer gen, während Noir schmunzelnd das
Haupt neigte und seine Jäger mit sich winkte.
Ich spürte nur wage, dass ich von einem Arm zum anderen
wanderte, spürte wie ich abermals davon getragen wurde.
Wie lang der Weg dieses Mal war, ich würde es nicht sagen
können, die Bitte Noirs: „Rettet Sie“ bekam ich kaum mehr mit
und selbst wenn so gab es keinen Platz für neue Informationen
für den Moment auch die Bitte um das Willkommen war längst
wieder aus meinen Gedanken verbannt.
Der Sargdeckel stand noch offen und ruhig bettete der Älteste
mich in jenem.
„Was hast du nur an dir das Noir dich nicht sofort tötete?“
Worte die mehr als Gedanken an ihn selbst gerichtet wurden
bevor er sich mit den eigenen Reißzähnen die Pulsader aufriss
und mir sein Blut gab, das Blut das im Moment Landesweit das
Stärkste war.
Aber würde das ausreichen? Er klingelte schließlich und Rosanna eilte heran blieb wortlos stehen.
„Rosanna eine Tagesreise nördlich liegt ein kleines Dorf der
Wald dahinter beheimatet eine Tropfsteinhöhle schick eine
Botin hin jungfräulich.
23
Überzeuge dich davon, dass sie Jungfrau ist. Sie soll mit niemanden sonst sprechen außer der Frau der sie in der Höhle der
Edelsteine vorfindet. Nur ihr soll sie Botschaft bringen das ich
sie zu sehen wünsche.“
Er als auch Rosanna wussten die Botin würde nicht zurückkehren. Doch dafür kam die einzige, deren Blut noch Mächtiger
war.
„Schickt mir eine Zofe Gräfin Cromwell vielleicht, mit sauberen Leinen und heißem Wasser.“
Der Bezug des Sarges war dahin das würde keiner mehr reinigen können.
Gräfin Cromwell reinigte meine Wunden damit der Sarg nicht
weiter litt und kleidete mich neu ein. Man brachte dem Ältesten einen Ohrensessel und er zog jenen an den Sarg heran.
Der Jäger ließ sich darauf nieder, überschlug die Beine leicht
ehe er sich einigen Pergamenten zu wand, die seine Aufmerksamkeit erforderten.
Immer wieder versorgte er mich mit seinem Blut, aber davon
bemerkte ich nicht viel. Schon in der Nacht des zweiten Tages
legte sich eine Hand die Schulter des Oberhauptes und seine
eigene fand den Weg auf diese, während er erst das Haupt sacht
neigte um dann aufzusehen.
„Verzeiht Mutter das ich Euch stören lies und seid mir Willkommen.“
Eine einfache Deutung mit der Hand des Sarges gen folgte dem
Grußwort.
„Noir bat um Rettung und um das Willkommen für das Küken
ich bin mir sicher er hat seine Gründe denn - “
Die Älteste würde Wissen der Enkel schleppte nicht einfach so
belangloses an.
Ja und auch sie ließ sich, wenn auch wiederwillig dazu herab,
nicht viel, aber ausreichend Blut an das Küken zu geben,
hauchte dem Sohn einen Kuss auf den Scheitel und verschwand
so leise wie sie erschienen war.
24
Er selber senkte die Lider und sann nach. Wie oft er sich mehr
Zeit mit seiner Mutter ersehnte doch hatte er gelernt von den
flüchtigen Begegnungen und Berührungen sehr lang zu zerren.
Und ich? Immer wieder schnappte ich Wortfetzen auf, aber
vergaß sie direkt wieder. Weitere Tage vergingen ich bekam
Blut, meine Verletzungen heilten und mehr als einmal stöhnte
ich unter den Schmerzen dieses Prozesses auf.
„Öffne die Augen Kind, öffne sie und sieh mich an.“
Es dauerte bis ich die Augen schwerfällig öffnete, ich dem kühl
gesprochenen Befehl nachkam. Ihn anzufahren, das ich kein
Kind war, dazu fehlte mir die Kraft.
„Ge - gefangen…?“
Was war auf der Lichtung geschehen? Warum war ich nicht
Tod? Hatte der letzte mich gefangen um mich ausgiebig für den
Tod seiner Brüder leiden zu lassen?
Ich wusste es nicht.
Ich hatte es vergessen oder verdrängt. Die Stimme in der tatsächlich leichte Belustigung mitschwang zwang meine Überlegungen abzubrechen und meine Aufmerksamkeit wieder auf
den anderen zu lenken.
„Gerettet.“
Da war die Gefangenschaft mir doch lieber.
„V… Ver – dammt.“
25
Abschied
Ohne es zu merken, war die Entscheidung gefallen. Ich musste
gehen, denn sonst würde ich ein Spielzeug sein, eine von vielen.
Lieber würde ich barfuß durch alle Höllenfeuer marschieren,
als das zuzulassen. Ich wollte und würde niemals eine von vielen sein können, eher wählte ich die Einsamkeit. „Wirst du irgendwann widerkommen?“
Marius schien zu spüren, das die Entscheidung mit der ich mich
die ganze Zeit herumgeschlagen hatte nun endlich gefallen war
und er erntete ein kurzes Lächeln und ein Nicken.
„Natürlich, und wenn ich widerkehre, werde ich eine Herausforderung sein und kein Zeitvertreib für dich und die anderen
Krieger. Ich werde euch ebenbürtig sein.“ versprach ich und
erhob mich, ihm kurz eine Hand auf die Schulter legend.
Seine Hand legte sich auf meine und sein Lächeln war ehrlich
und aufrichtig.
„Das hoffe ich doch. Pass auf dich auf Nebel.“
„Nein, das wäre doch langweilig.“
Ich lachte und verließ den Saal. Ich wies einen Diener an, mein
Pferd zu satteln, ehe ich in die Kammer zurückkehrte, ein letztes Mal noch und jede Kleinigkeit in mich aufnehmend. Mehr
als jeder andere Ort, war mir dieses Schloss ans Herz gewachsen, und seine Bewohner nicht minder. Naja fast alle.
Ich legte meine Reisekleidung an, legte den Waffengurt um
sowie Umhang und Schal.
Ich verbarg meine Züge wie ich es getan hatte, bevor ich hergekommen war und schritt die Stufen hinauf zum Turm.
Ich war mir sicher, dass er mir bald folgen würde.
Wenn jemand mit seinen Gewohnheiten brach, bedeutete das
in der Regel, dass etwas nicht in Ordnung war.
26
Und ich schätzte Alexander so ein, dass er dem auf den Grund
gehen würde. Natürlich hätte ich warten können, warten bis
die übliche Zeit gekommen war, könnte morgen aufbrechen.
Aber ich war mir sicher, das aus morgen, das nächste morgen
entwuchs und am Ende würde ich doch nicht weg kommen.
Ich trat wie üblich an die Brüstung und sah hinab aufs Land.
Ich brauchte nicht lange warten bis der Oberste erschien. Alexander schien tatsächlich überrascht, mich in voller Montur auf
dem Turm vorzufinden, den Blick in den Hof gelegt wo ein
Bursche grade ein Pferd sattelte und mit leichten Bündeln bestückte.
Abschiedsgeschenke der anderen Krieger? Als ich sein Nahen
bemerkte atmete ich einige Male unnötigerweise tief durch,
ehe ich mich umwand und meine Schritte ihm entgegen lenkte.
Ich zog das Tuch von meinen Zügen um seine Lippen sacht mit
meinen zu streifen.
„Es wird Zeit für mich aufzubrechen.“
Er sah mich einfach nur an, er sagte nichts, stellte keine Fragen,
seine Züge wirkten so verschlossen wie am ersten Abend hier
oben und ich lächelte matt. Ob er ahnte, wusste warum ich hier
war?
„Wenn du erlaubst komme ich irgendwann wieder. Zuwenig
habe ich bisher gesehen, zu vielen Spielern begegnete ich als
das ich wieder als Spiel enden wollte. Und wenn ich bliebe,
wenn ich bliebe dann… dann würde ich genau das sein. Opfer
Deines Spieles. Zu sehr mag ich dich bereits um zu wissen das
es nicht gut endet. Leb wohl Alexander!“
Er schwieg, schwieg während ich sprach und ich erntete lediglich ein knappes Nicken zur Antwort als ich geendet hatte.
Ich konnte nichts erkennen, er war beinahe noch verschlossener als ganz zu beginn.
Ein Teil von mir wünschte sich, das er mich aufhielte, das er
irgendetwas sagte. Sagte ich wäre kein Spiel, sagte ich sollte
bleiben.
27
Aber er tat es nicht und der andere Teil von mir war froh darüber. Ich zog die Maske wieder vors Gesicht und eilte an ihm
vorbei.
Es fiel mir schwer, dem Drang zu wiederstehen mich noch
einmal an ihn zu schmiegen, mir noch einen Kuss zu stehlen
aber ich schaffte es, auch wenn jeder Kampf den ich bisher gefochten hatte mir unsagbar leicht hier gegen vorkam.
Ich stürmte die Stufen hinab, aus dem Schloss hinaus, das mir
in den wenigen Wochen die ich hier zugebracht hatte, bereits
mehr Heimat war, als jeder andere Ort es gewesen war. Ich
floh, floh vor mir selbst, meinen Gefühlen, meiner Angst, floh
vor ihm.
In der Hoffnung das das ich mein Herz zum Schweigen bringen
könnte, wenn ich nur weit oder lang genug weg wäre.
Ich spürte den Blick Alexanders auf mir, als ich mich aufs Pferd
schwang, das Nicken Noirs und seiner Freunde oder Krieger
erwiderte und zum Tor hinaus preschte.
Ich blickte nicht zurück, ich wollte nicht, dass sie die Tränen
sahen, die meine Wangen herabflossen und meinen Schal
tränkten.
Ich sah nicht zurück, und so entging mir, dass ER regungslos
auf den Zinnen, an der Brüstung harrte.
SEIN Blick auf mir ruhte, lange nachdem ich das Schloss und
den Hof verlassen hatte, bis die Entfernung mich selbst seines
Blickes entriss….
28
Susanne Hoge
Diarys of Death
Der Nebel von Morta Sant
Bnd.2
ISBN 978-3-7347-9366-0
29
Prolog:
~Raindrops keep falling on my head~
Tränen rannen ungehindert über mein Gesicht und ausnahmsweise hieß ich den kalten Regen willkommen der grade begann.
Denn die kalten dicken Tropfen, mischten sich mit den salzig
heißen Tränen, verwischten die Spuren meines Schmerzes.
Selbsterwählt oder nicht. Was spielte es für eine Rolle? Was für
eine Wahl hatte ich denn gehabt?
Ich glaubte seine Stimme zu hören, die mich zurück in seine
Arme rief und presste aufschluchzend meine Hand vor den
Mund.
Ich hatte es doch so gewollt oder nicht? War es das Richtige?
War es falsch? Mein Herz schrie das es falsch war, das ich umkehren sollte.
Das mein Platz an seiner Seite war. Mein Kopf indes fragte hämisch ob ich wieder ein Spielzeug sein wollte.
Ein Spielzeug das man wegwarf, sobald man es nicht mehr
brauchte. Nicht mehr wollte.
Ob es mir beim letzten Mal nicht gereicht hatte. Wohin hat-te
mein Herz mich denn bisher geführt? In die Arme meines
Schöpfers der perfide Freude daran gefunden hatte, mich zu
quälen.
Ans Kreuz zu binden, auf die Streckbank. Mein Herz gegen
mich eingesetzt, verraten, verkauft. Wollte ich das wirklich
noch einmal?
Er war nur ein Spiel für ihn. Was erwartete ich auch mehr? Ich
war ein Küken, ein halbes Kind, ein niemand - und er?
Nun er war bedauerlicherweise jener der mein Herz und meine
Seele in Händen hielt.
30
Nur jemand der glaubte ich sei ein weiteres Spiel. Nur jemand,
dessen starke sichere Umarmung ich ersehnte.
Aber ich musste gehen! Ich hatte keine Wahl. Wind und Regen
raubten mir den nicht benötigten Atem, nahmen mir die Sicht.
Ich neigte mich nach vorn, umschlang den Hals meines Pferdes
mit den Armen und weinte lautlos in die Mähne. Niemand sah
mich, es war egal. Ich konnte schwach sein, wenn ich nicht
gesehen wurde.
Und vielleicht, wenn ich mir genug Mühe gab, könnte ich vergessen, was im Reich Morta Sants geschehen war.
Die Stunden auf den Zinnen, die Berührung seiner Lippen.
Vielleicht konnte mein gestohlenes Herz lernen zu schweigen.
Vielleicht könnte ich die Stimme in mir zum Schweigen bringen, wenn ich das Sehnen nur lang genug ignorierte?
Aber ließ sich das Sehnen das glühend mir die Brust durchbohrte ignorieren? Würden meine unnötigen Atemzüge je frei
von dem bohrenden Schmerz sein?
Das Sehnen und der Schmerz waren alles was mir von ihm geblieben war.
Und die Erinnerung, von der ich nicht wusste, ob ich mich daran klammern sollte, oder sie hinab auf die tiefen Gründe meines Unterbewussten schieben sollte.
*Ich bin mir sicher, in Ketten gefällst du mir auch ausgesprochen gut – Dass alle Männer denselben Wunsch haben,
mich in Ketten- … Und hast du Zweifel daran, dass ich meinem
Wort nicht folgen könnte?*
Ich klammerte mich in die Mähne des Tieres, unterdrückte ein
gequältes aufstöhnen als seine Stimme in meinen Gedanken
widerhallte.
*Und wieder wirkst du, als wolltest du dich vom Turm stürzen*
Ich löste meine Finger vom Tier, legte mir die Hände auf die
Ohren.
Ja vom Turm zu stürzen klang plötzlich gar nicht so schlimm.
*Wie war das? Grundgütiger?*
31
„SCHWEIG!!! Oh bitte…bitte schweig doch!“
Mein Schrei hallte weit über das Land, aufgeschreckt vom
plötzlichen Lärm stoben Kaninchen davon und der Ruf einer
Eule danke mir für die leichte Beute.
*Du bist in Sicherheit, in meinem Haus.*
Ich schüttelte vehement den Kopf.
„Nein bitte…“
Ich flehte stumm alle Mächte an, den Schmerz zu nehmen, das
Sehnen zu nehmen und mir ein Herz aus Stein und Eis zu
schenken.
Aber das war nicht ihre Art. Wenn es denn Mächte gab die auf
Erden wirkten, so waren sie ebenso sadistisch wie mancher
Mann.
Erfreuten sich am Leid und Schmerz der kleinen Wesen die
wuselnd ihren kleinen unwichtigen Belangen nachgingen.
Keine Macht würde mir nehmen was ich sosehr verabscheute,
was mich quälte. Es war meine eigene Schuld. Selbstgewähltes
Leid wenn man so wollte.
Doch das es so schwer sein würde hatte ich nicht erwartet.
Niemand würde es mir ersparen, niemand mir nehmen.
Ich wusste das, aber zu beten, zu bitten das dieser Schmerz genommen würde, konnte man doch, oder?
Vielleicht half es, vielleicht erhörte jemand mein Bitten, mein
Flehen. Vielleicht geschah ein Wunder, das ich sosehr brauchte.
32
~And just like the guy whose feet are too big for his bed Nothin'
seems to fit~
Kein Bitten half wie ich feststellen musste. Niemand erhörte
mein Flehen, meine Gebete. Nicht die lichte Seite, nicht die
Dunkle.
Die Welt schien mir grau und trist, die Sonne zu hell und die
Vögel zu laut. Das Blut das ich zu mir nahm war fad und hatte
jeden Geschmack verloren, wie alles seinen Reiz.
Ich erwachte schweißgebadet in langen Nächten.
Tränenspuren im Gesicht, weil seine Lippen im Traum auf
meinen lagen, seine Arme mich sicher und fest umfingen während wir Nichtigkeiten austauschten.
Ganz gleich was ich sah, was ich hörte es erinnerte mich an die
Stunden die wir gemeinsam verbracht hatten.
Der silberschein des Mondes, der Wind auf meinem Gesicht,
der Ruf der Eulen, der nahende Sonnenaufgang, die verblassenden Sterne am Himmel.
Einem Geist gleich wandelte ich durch die Welt, ohne Ziel,
ohne Plan. Ich versuchte dem Reißen in meinem Inneren zu
entkommen, versuchte mir einzureden, dass es mir gut ging.
Doch unter dem Ruf der Eule und dem Gesang der Nachtigall
überrollten meine Gefühle mich immer wieder ungehindert,
mit einer Wucht die ich nie für möglich gehalten hatte.
Ich wollte nur noch, dass es endete. Ganz gleich auf welche Art
und Weise.
Ich hatte geglaubt zu wissen was Liebe ist. Oh wie hatte ich
geirrt. Wie hatte ich das, was ich einmal für meinen Schöpfer
empfunden hatte mit Liebe verwechseln können?
33
Wie hatte ich in meiner dummen Naivität glauben können diese kleine Schwärmerei wäre Liebe gewesen?
Nein Alexander sprengte alles was ich bisher gekannt hatte.
Seine Ruhe, seine Stärke, sein Blick waren erschreckend, einschüchternd.
Nie hatte mich jemand derart in Schrecken versetzt wie er und
nirgendwo hatte ich mich je so sicher und geborgen gefühlt wie
in seiner Nähe.
Niemand hatte mich so schnell für sich eingenommen, niemand
hatte mein Herz je so für sich eingenommen.
Und niemand würde es je wieder.
Ich war mir sicher. Sicher das der Schmerz nicht vergehen
würde, war sicher das niemand mein Herz wieder auf diese intensive Weise berühren würde, die mich so sehr ängstigte. Wie
konnte ein Mann mich derart aus dem Ruder werfen?
Wie konnte Angst und Sehnen so nah beieinander liegen?
Und warum konnte ich ihn nicht einfach vergessen? Warum
konnte ich ihn nicht einfach freigeben? Es wäre besser, ohne
jeden Zweifel. Ich war jung. Ich könnte vergessen. Vergessen
wie glücklich ich war.
Auf den Zinnen, die wenigen Augenblicke am Tag oder in der
Nacht, in denen es nur uns gegeben hatte.
Ich musste vergessen.
Vergessen wie seine Lippen auf meine gelegen hatten, wie angenehm sein Duft gewesen war, wie sicher ich war für ein paar
flüchtige Momente.
Ich musste, aber ich konnte nicht. Wahrscheinlich wollte ich es
auch nicht. Vielleicht war das Leid das ich empfand meine gerechte Strafe. Strafe dafür, dass ich fortgelaufen war?
Nein!
Ich wollte nicht. Ich wollte nicht loslassen, wollte nicht vergessen und ihn freigeben, mein Herz zurückfordern.
Und wenn es mir Herz und Seele zerreißen würde, wenn es
mich mein Leben kostete, ich wollte nicht vergessen.
34
Und vielleicht würde ich irgendwann den Mut besitzen und
zurückkehren. Meinen Fehler zu gehen eingestehen durch diese Rückkehr.
Vielleicht gäbe es dann Hoffnung für ein Küken und einen Ältesten.
Vielleicht…
Irgendwann…
~Those raindrops are falling on my head, they keep falling~
35
Die Katakomben
Marques und ich wirbelten gleichzeitig herum, zogen unsere
Waffen und wollten den anderen zur Hilfe eilen, als der Bo-den
unter unseren Füßen verschwand und wir in die Tiefe stürzten.
Als ich hochsah und mich aufrappelte sah ich wie eine Fall-tür
sich wieder schloss.
„Nebel…“
Ich sah Marques an und folgte seinem fassungslosen Blick, während ich mir die schmerzenden Knochen rieb.
Das ganze Kloster schien von weitläufigen Katakomben untertunnelt zu sein.
Wir befanden uns in einem großen Raum, von dem ein paar
Tunnel weg führten und der voll mit Käfigen war. Käfige in
denen die Anderen mit demselben irritierten Aus-druck harrten wie ich es tat.
„Die Idee ist gut.“ musste ich zugeben und legte meine Finger
um die Gitterstäbe. Ein Fehler und nicht der Erste. Das Zischen
und der Schmerz zeugten davon, dass diese verfluchten Bastarde selbst an die Gitterstäbe gedacht hatten.
Weihwasser! Was auch sonst?
Der Geruch verbrannten Fleisches mischte sich unter die vorhandenen Gerüche.
Es roch nach Tod, Verwesung, Ausdünstungen, Fäkalien, Urin
und Weihrauch. Eine absolut widerwärtige Mischung bei der
ich unwillkürlich würgen musste.
Bei solchen Extremen wie hier vergaß ich manchmal noch,
meine empfindlichen Sinne zu unterdrücken.
„Das ist nicht dein Ernst. Die Krieger sind gefangen und du befindest die Idee der Inquisition als nicht schlecht?“
Ein paar lachten nervös und ich zuckte mit den Schultern.
Unter anderen Umständen hätte es mich gereizt zu sehen wohin jeder einzelne Gang führte, jetzt musste ich mich auf Wichtigeres konzentrieren. Hier raus zukommen.
36
„Man kann sagen was man will, mein Freund. Aber an Einfallsreichtum mangelt es der Inquisition nicht.“
„Und woran, Bestie, mangelt es der Inquisition?“
Die Blicke aller ruckten zu der Rotgewandeten Person, die
flankiert von zwei Kriegern in die Mitte des Raumes trat. Ein
Kardinal. Tauchte ein Kardinal an einem Ort auf, konnte man
davon ausgehen, dass nie wieder von diesem Ort gesprochen
wurde.
Das er einfach dem Erdboden gleich gemacht und aus allen
Karten getilgt wurde.
„An Verstand würde ich sagen, anders kann ich mir dieses fanatische Gebaren nicht erklären.“
Irgendwann würde ich lernen den Mund zu halten. Irgendwann - ich war mir sicher. Wenn ich denn noch die Möglichkeit bekommen würde zu lernen.
*~Wenn ich heute gehen muss, wenn heute die Nacht ist, dann
bitte, bitte mach das es schnell geht. ~*
Stumm flehte ich den ewig dunklen Gevatter an. Der Kardinal
lächelte lediglich dünnlippig, und deutete auf die erste Zelle.
Mein Blick wie der aller anderen folgte jenem Deuten wo im
nächsten Moment die zwei Krieger die dort festsaßen zu Boden gingen.
Wie? Mein Blick glitt suchend umher und fiel auf die Schützen.
Zwei Schützen, zwei Vampire die zusammen gebrochen waren
und nun aus den Zellen geschleift wurden. Erst jetzt sah ich die
silbernen Geschosse die aus ihrer Brust ragten, das Herz durchbohrt. Ich schluckte vernehmlich.
Woher nahmen sie das Wissen?
Hatten sie einfach solange probiert bis etwas funktionierte?
Hatte jemand ihnen gesagt was zu tun war?
Ich sah Marques an ehe meine Aufmerksamkeit wieder dem
Rotgewandten galt.
37
„Keine Sorge, ihr anderen kommt auch noch an die Reihe.“
Damit wand er sich um und schritt hinaus.
„Auch keine schlechte Idee, aber sollten wir dafür sorgen das er
damit kein zweites Mal durchkommt.“
Schreie erklangen und ich sog unnötig den Atem ein. Wir alle
wussten, dass uns das was dort geschah auch bevorstand.
„Wir könnten warten und hoffen dass die anderen uns hier
rausholen… oder irgendwie selbst einen Weg rausfinden.“
Marques Blick legte sich auf mich.
Mich auf andere zu verlassen lag mir nicht und wir mussten
davon ausgehen das nicht nur wir in die Falle gelockt wurden.
Aber hier raus zukommen schien ebenfalls kein einfaches Unterfangen zu werden. Im Gegenteil.
Die Schreie meiner Waffenbrüder erschwerten das Nachdenken, während ich mich umsah und auch die anderen nach
Schwachstellen suchten. Mein Blick glitt wieder hinauf zur
Falltür.
Würde Marques mich *werfen* würde ich heran kommen, aber
ich war mir ziemlich sicher die feinen Metallstreben waren
genau wie die Zellengitter nicht unbehandelt.
Und wenn ich irrte?
„Marques?“
Ich deutete hinauf und legte ihm meine Hände auf die Schultern und hob ein Bein an. Er folgte meinem Blick und nickte
langsam.
„Wenn die behandelt sind…“
„…wird es schmerzhaft, ja!“
Aber ich musste es genau wissen. Seine Hände legten sich unter
meine Stiefel und mit mäßigem Schwung schleuderte er mich
hinauf.
Ich streckte meine Hände hoch und stieß einen schmerzhaften
Laut aus, als meine Finger, meine Hände das Metall berührten.
„K… kein Ausweg.“
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Gespannt hatten die anderen dem Versuch zugesehen. Der ein
oder andere mochte vielleicht dieselbe Idee gehabt haben.
Wie ein gefangenes Tier – und ja vielleicht war ich das – wanderte ich auf und ab, fuhr mir mit gespreizten Fingern immer
wieder durch mein Haar und versuchte mich zu konzentrieren.
Das Streichen meines Haares war Dank der Verbrennungen
durch Weihwasser schmerzhaft, aber der Schmerz half mir
nicht in Panik zu geraten.
39
Von den feuchten Wänden hallten die Schreie der anderen wider, während der Rest von uns auf das Unvermeidliche wartete.
Sollte es das wirklich schon alles gewesen sein?
Es musste einen Weg hier raus geben, wir konnten ihn nur
noch nicht sehen. Wenn wir uns nur genug konzentrierten,
würden wir hier raus kommen. Wir mussten einfach, oder?
Irritiert verebbten meine Schritte. Es war zu still. Wann hatten
die Schreie geendet?
„Achtung…!“
Ich nahm festen Stand ein, eine Hand am Griff meines Schwertes. Noch einmal würde ihr Spiel mit den Schützen nicht funktionieren.
Es dauerte nicht lang und man schleifte das was von den beiden
Kriegern übrig war wieder herein und warf es mit hochmütigem Grinsen in die für sie vorgesehene Zelle.
Wortlos verließen sie uns wieder, ohne Eile, ohne Furcht und
Sorge.
Da wir alle auf unsere Waffenbrüder achteten, bemerkte niemand dass der Kardinal ebenfalls eingetreten war und einen
nach dem anderen musterte.
Erst als die Wachen sich zurück zogen bemerkten wir den
Rotrock und so wie er uns musterte, musterte ich ihn.
Seine Lippen umspielte ein falsches Lächeln, das Haar das unter
der Mitra hervorlugte war dünn und von einem dreckigen,
schlammigen Braun.
Die Augen hatten ein wässriges Blau aber die Härte und Kälte
darin, der Hass der darin loderte ließ selbst mich erschaudern.
Der scharlachrote Talar wirkte beinahe bedrohlich, seine Haltung war aufrecht und stolz.
Wie viele Dörfer hatte er bereits zerschlagen?
Wie viele Leben genommen, unschuldige Leben im Namen eines unsagbaren Krieges? Unter dem Banner des *Guten*?
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Unsere Namen würden seiner Liste zugefügt werden, da war
ich sicher.
Er wand sich um und ging. Ließ uns zurück. Schweigen. Ei-ne
unnatürliche Stille brach über uns herein, ehe unsere Blicke auf
die Verletzten fielen.
„Tötet sie!“
Ich brach das Schweigen zuerst und erntete zornige Blicke. Ich
seufzte, deutete der Zelle gen, den blutigen Haufen der einmal
meine Waffenbrüder war.
„Sie sind längst nicht fertig! Sie werden weitermachen. Sie
werden dafür sorgen dass sie, das jeder von uns um den Tod
bettelt! Tötet sie und wer klug ist folgt ihnen in den Tod. Denn
das ist das mindeste das jeden von uns erwartet.“
Sie wussten dass ich Recht hatte, aber das machte es nicht besser, nicht leichter. Zwei zogen die Bewusstlosen näher an die
eigene Zelle heran, darauf achtend, dass sie die geweihten Gitterstäbe nicht mit der bloßen Haut berührten.
Es war kein leichtes Unterfangen, es dauerte eine ganze Weile
doch endlich hatte man die beiden soweit herangezogen, dass
man ihnen den Kopf abschlagen könnte und genau das taten
sie.
Sie schlugen ihnen den Kopf ab und ersparten ihnen weitere
Folter.
Ich gewährte meinen Waffenbrüdern einen gnädigeren Tot als
SIE es getan hätten.
„Denkst du die Anderen…“
Marques beendete seine Frage nicht, aber ich ahnte auch so
wovon er sprach.
„Ich gehe davon aus, dass sie in ähnlichen Situationen stecken
wie wir es tun. Und ich weiß noch nicht wie um alles in der
Welt wir hier raus kommen sollen, Marques.“
Ich wusste es wirklich nicht. Nie hatte ich in einer so ausweglosen Situation gesteckt wie in diesem Moment.
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Und wenn uns nicht irgendetwas einfiele, dann würde ich auch
nicht wie-der in vergleichbaren Situationen enden.
Die Zeit floss dahin wie zähflüssiges Harz an einem heißen Tag
den Baum herabrann. Das Schweigen in den Katakomben war
bedrückend.
Spärliches Licht wurde von Fackeln geworfen und doch schien
sich ein dichtes Leichentuch über die Insassen der Zellen gelegt
zu haben, das Hoffnung und Mut unter sich begrub und alles
Licht schluckte.
Alle überlegten fieberhaft aber niemandem von uns fiel et-was
ein das uns retten könnte. Sie mussten irgendwo einen Fehler
gemacht haben, irgendetwas übersehen haben.
Niemand arbeitete perfekt.
Selbst Wesen die weit Älter waren als diese verdammten Bastarde machten Denkfehler, also war es nur logisch das auch SIE
Fehler machten.
Warum konnte ich es dann nicht sehen? Marques Blick ruhte
auf mir, aus den Augenwinkeln beobachtete ich ihn immer
wieder, versuchte zu ergründen was er dachte oder was zu tun
war. Wie lange saßen wir hier bereits fest?
Wie lange bis SIE wieder kämen um den nächsten, die nächsten
zu holen? Wie lange bis wir an der Reihe waren? Bis ich an die
Reihe kam?
Und wenn sie kämen, wäre ich stark genug zu schweigen? In
meinem Kopf tauchten Fetzen aus dem Notizbuch auf. Teile
ihrer Verhörmethoden. Sollte ich selbst Teil davon werden?
Angst wuchs in mir, unaufhaltsam.
„Nebel?“
Ich wand meinen Blick und meine Aufmerksamkeit auf
Marques der mich besorgt musterte. Ich straffte meine Haltung
und atmete unnötigerweise tief durch.
42
„Ich denke nach, was willst du?“ verlangte ich zu wissen. Seine
Hand legte sich um den Schwertgriff, er sagte kein Wort aber
sein Blick sprach Bände.
Er spürte oder sah meine Furcht, er würde verhindern, dass ich
in IHRE Hände fiel, wenn ich es wünschte.
Es war verführerisch, einen schwachen Moment lang war es
verführerisch.
Einen schwachen Moment lang, war ich gewillt meiner Angst
zu erliegen, darum zu bitten das er mir ersparte was uns allen
bevorstand. Einen schwachen Moment lang. Doch… Ich schüttelte den Kopf und trat an die Gitter heran. „Nein mein Freund.
Ich muss ein wenig ausruhen. Wache zuerst, danach übernehme ich.“
Ich sah zu den anderen.
„Haltet es genauso, wacht über euren Zellenbruder. Ihr seid
füreinander verantwortlich.“
Wir würden bei Kräften bleiben müssen und wach genug um
bei Sinnen zu sein. Ich trat in die Mitte der Zelle und setzte
mich, während Marques hinter mich trat und seinen Blick über
das Innere der Katakomben gleiten ließ.
Ich lehnte mich an seine Unterschenkel und schloss die Augen. Man lernte tatsächlich zu schlafen wenn man konnte, man
lernte mit wenig Schlaf auszukommen, zumindest eine Weile.
Ich hatte es irgendwann im Laufe der vergangenen Jahre und
Schlachten gelernt.
Ein paar wehmütigen Gedanken, die ich für gewöhnlich an
höheren Orten und allein hatte, gab ich mich hin ehe ich in
einen leichten Schlaf fiel.
Ich wusste nicht wie lange ich geschlafen hatte, wieder ein-mal
hatte ich jedes Zeitgefühl verloren.
Das Geräusch von einzelnen Wassertropfen die auf die Erde in
eine kleine Pfütze fielen, war das Einzige was ich hörte.
43
Als Marques mich weckte und unsere Zellennachbarn es ihm
gleich taten, fühlte ich mich erfrischt und übernahm meine
Wacht. Die Mauern der Katakomben waren dick, kein Laut
drang zu uns hinab.
Ich atmete tief durch und nahm mir einen Moment mich genauer umzusehen, mich mit unserem Gefängnis vertraut zu
machen.
Die Katakomben waren riesig, zumindest soweit ich das beurteilen konnte. Fünf Gänge führten aus dem großen Raum der
vielleicht einen Durchmesser von etwa fünfzig Metern maß.
Ich zählte insgesamt zehn Zellen, fünf waren von mir und den
anderen belegt. In der Mitte des Raumes war eine freie Fläche
von schweren Säulen umgeben.
Die Platten dort schienen abschüssig zu sein, und ein kleines
rundes Gitter verriet mir, das es als Abfluss diente.
Wofür, darüber wollte ich mir keine Gedanken machen. Ein
paar Fackeln erhellten den Raum mehr war nicht zu sehen.
Ich fragte mich, wohin die Gänge wohl führen mochten, fragte
mich hinter welchem der Ausgang liegen mochte oder ob weitere Zellen und Folterzimmer dahinter lagen. Ich versuchte
irgendwelche Geräusche zu erkennen die von außen kamen,
aber nichts.
Trotz meines Gehöres nahm ich nichts wahr. Müssten nicht
direkt über mir Messen und Gebete stattfinden? Schritte. Eine
leichte Berührung an der Schulter meines Waffenbruders um
ihn zu warnen und die anderen taten es mir gleich.
Fünf Männer.
Der Kardinal, zwei Schützen, zwei Schergen mit Eimern in der
Hand. Sie blickten von Zelle zu Zelle. Ich starrte zurück als sie
bei unserer ankamen.
44
Der Kardinal zeigte auf die letzte Zelle, die Schergen traten vor
und ich hielt den nicht benötigten Atem an.
Die beiden Krieger zogen ihre Waffen und machten sich
kampfbereit. Wir hatten keine Chance, aber wir würden nicht
kampflos untergehen.
Mein Blick löste sich von den Kriegern, legte sich auf den Kardinal der das ganze beinahe belustigt beobachtete. Warum?
Die Schützen legten an und zielten.
Ich blickte zu den Schergen, den Eimern und mit einem Mal
wusste ich was darin war. Noch ehe ich einen Warnruf ausstoßen konnte kippten die Schergen den Inhalt schwungvoll
auf die beiden Krieger. Weihwasser!
Reflexartig hoben die Krieger die Arme um das Gesicht zu
schützen, die Schützen hatten darauf nur gewartet und feuerten
zielsicher mit der Armbrust.
Meine Waffenbrüder sanken zu Boden und man zerrte sie aus
der Zelle, hinein in den mittleren Gang.
Ich konnte nicht umhin anerkennend zu schmunzeln. Auch
das war nicht dumm, das musste ich – wiedermal – zugeben.
Aber von dem was ich bisher gesehen hatte schienen sie sehr
genau zu wissen was sie taten.
Hinter der schweren Tür des mittleren Ganges erklangen die
Schmerzensschreie meiner Waffenbrüder und ich wollte mir
nicht genau vorstellen was dort geschah.
Eine weitere Tür schwang auf und ein paar Schergen kamen
mit Ketten und Säcken herein, ihre Lippen umspielte ein widerlich selbstsicheres Lächeln.
Sie befestigten die Ketten an Haken an der Decke und hängten
an die Glieder weitere Haken. Was sollte das werden wenn es
fertig war?
Ich und meine verbliebene Meute beobachteten das Gebaren
der anderen.
45
„Verdammt.“
Marques brach das Schweigen als wir entdeckten was sie taten.
Aus den Säcken holten sie Kopf um Kopf der anderen Krieger
hervor.
Jener anderen Gruppen die sich um andere Klöster und Abteien
hatten kümmern sollen.
Mit perfider Freude an ihrem Werk hängten die Häscher Kopf
um Kopf an die Haken. Aus toten leeren Augen starrten unsere
Waffenbrüder zu uns herüber.
Spuren getrockneten Blutes zierten die Münder die zum stummen Schrei geöffnet waren.
Blut troff langsam und klebrig von den abgeschlagenen Häuptern, die Gesichter mit Dreck und Blut beschmiert. Manches
Haupt hatte anstelle der aufgerissenen Augen, nur schwarze
ausgebrannte Höhlen.
Mit glühenden Stäben oder Stöcken hatte man sie erst geblendet und dann die Augapfel herausgefischt.
Und wir? Wir konnten den Blick nicht abwenden. Lärm in der
Zelle neben mir ließ mich zusammenzucken und meine Aufmerksamkeit dorthin lenken. Die beiden Krieger neben uns
waren auf den Boden zusammen gesackt und ich wäre ihrem
Beispiel gern gefolgt.
Aber stattdessen legte mein Blick sich wieder auf den skurrilen
Deckenschmuck.
„Jetzt haben wir Gewissheit.“
Meine Stimme war mir selber fremd, sie klang rau und dünn
und beinahe furchtsam. Wir hatten Gewissheit. Wir wussten
nun, dass wir keine Hilfe von außen zu erwarten hatten. Das
die anderen uns nicht retten würden.
Marques Hand legte sich auf meine Schulter, seine Nähe beruhigte mich tatsächlich. Ja wir hatten Gewissheit, Gewissheit
was mit ihnen war, Gewissheit was mit uns geschehen würde.
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Die Schergen hatten ihr Werk vollendet. Fünf Ketten hin-gen
von der Decke, vier davon waren gespickt mit jeweils zehn
Köpfen.
An der fünften waren die abgetrennten Köpfe der ersten aus
meiner Gruppe angebracht und wir alle wussten, dass nach und
nach wir alle dort unseren Platz finden würden.
„Wir werden hier sterben oder?“
Danyel hatte gesprochen und ließ sich auf den Boden sinken,
Torben tat es ihm gleich und nur noch Marques und ich standen regungslos und Statuen gleich in unserer Zelle.
Ich wusste wenn ich dem Zittern in den Beinen nachgeben
würde, mich hinsetzen würde, ich meine Kontrolle ganz verlieren und mich die Angst überrollen würde.
Wieder und wieder drangen Schreie zu uns, die Dekoration
zerrte zusätzlich an meinen Nerven und ich war sicher auch an
denen der Anderen.
~Bitte! Bitte, heute nicht. Heute nicht! ~
Abermals flehte ich lautlos, doch dieses Mal bekam ich keine
Antwort von ihm. Kein Wort des Trostes, kein Lachen. Gar
nichts. Und was die meisten beruhigen würde, steigerte meine
Sorge nur.
Jeder von uns hing seinen eigenen Gedanken nach, bedrückendes Schweigen das einzig durch die Schreie unserer Freunde in
dem anderen Gewölbe durchbrochen wurde. Was man ihnen
auch antun mochte, wir anderen waren da-zu verdammt hier
zu warten und aus toten Augen von toten Kameraden angestarrt zu werden.
„Die Frage ist nicht ob wir sterben, sondern wie lange es dauert.“
Danyel sah mich entsetzt an und Torben seufzte gequält.
„Nebel, nicht.“
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Marques Stimme war warm und freundlich, beinahe entspannt.
Ich schenkte ihm ein kurzes Lächeln.
„Du weißt, dass ich Recht habe. Wenn wir nicht einen Weg
raus finden oder ein Wunder geschieht ist die Frage nicht ob
wir sterben, sondern wie lange es dauern wird.“
„Ja das weiß ich und die Anderen ebenso, aber deswegen muss
es nicht ausgesprochen werden. Nur weil es wahr ist, will man
es nicht auch hören.“
Ich zuckte mit den Schultern. So war ich eben, ob man et-was
nicht hören wollte oder nicht, ob man nun etwas wissen wollte
oder nicht – ich scherte mich nicht darum.
Ich musste es aussprechen, ich konnte nur dann eine Lösung
finden. Hoffte ich.
„Schweigen ändert nichts an den Gegebenheiten.“ gab ich zurück, als die mittlere Tür aufschwang und man unsere Kameraden wieder herein zerrte.
Man kettete sie an der Wand fest. Kopfüber einen halben Meter
über den Boden.
Unter ihnen stellte man kleine Fässer ehe man ihnen die Kehlen aufschnitt, das Blut floss über die schmerzverzerrten Gesichter herab in die Fässer. Man würde ihr Blut dazu verwenden um uns am Leben zu halten.
Das taten sie um uns länger befragen zu können um uns länger
Foltern zu können. Ich betrachtete die Beiden. Bis auf die Hosen waren sie unbekleidet.
Unter anderen Umständen hätte ich den Anblick der durchtrainierten Leiber vielleicht genossen. Aber nun…
Alles Training hatte ihnen nichts gebracht. Niemandem von
uns. Der Brustkorb der Krieger war geöffnet worden, dem Geruch nach hatte man heiße Kohlen in den Leib gegeben.
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Und die Wölbung oder die Wölbungen der Oberkörper, die nur
grob vernäht worden waren bevor man sie herbrachte, zeugten
von den gebrochenen Rippen die schief zusammenwuchsen.
Brandspuren zierten ihre Seiten, Peitschenspuren zierten die
Rücken und noch immer flossen feine Rinnsale den Rücken
hinauf.
Beide waren nicht bei Bewusstsein und das war vermutlich das
Beste, das ihnen passieren konnte… Für den Moment waren sie
besser dran als der Rest von uns.
Nicht nur wegen der schmerzhaften Heilung, sondern auch
weil sie die anklagenden Blicke der Toten nicht sehen mussten,
oder darauf warten mussten was als nächstes geschähe.
Vielleicht hätten sie es bald hinter sich und zwei weitere tote
Augenpaare würden uns die wir noch lebten anklagend anstarren.
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Heimkehr
Als ich beinahe fünfzehn Jahre fort war, gab ich auf. Ich könnte, ich wollte mich nicht noch länger von ihm fern halten, und
wenn das meinen Untergang bedeuten mochte, es war mir
gleich. Das Herz will, was es will.
Und entgegen aller Vernunft wollte mein Herz ausgerechnet
ihn. Also ritt ich zurück, dem Reich Morta Sant gen.
Ich schwankte zwischen Vorfreude und Angst.
Was wenn er mich vergessen hatte? Was wenn er mir meine
Abreise zürnte?
Was – und das machte mir am meisten Angst – wenn jemand
anderes die Nächte auf den Zinnen mit ihm teilte? Was wäre
wenn ich nicht länger willkommen wäre?
Was wenn ich es war?
Ich hätte schreien können. Da war es wieder das verfluchte
Chaos und nur weil ich entschieden hatte zurück-zukehren.
Je näher ich meinem Ziel kam, umso öfter war ich nah dran
wieder umzukehren. Doch spätestens als ich die unsichtbaren
Grenzen überquert hatte waren die Gedanken an eine Flucht
vergessen.
Das Adrenalin jagte durch meine Venen und ich fühlte mich
frei und lebendig. Ich war zuhause! Naja, fast.
Den restlichen Weg würde ich auch noch überwinden, und
dann wäre ich wieder da wo ich hingehörte. Dort wo es mein
Herz mit aller Macht hinzog. Ich war ausgelassen, glücklich allerdings hatte das zur Folge, dass ich nicht Acht gab.
Ich stolperte direkt in ein kleines Rudel von Lycanern.
Ich hatte nicht einmal gewusst, dass sich hier welche aufhielten, sonst wäre ich zweifellos wachsamer gewesen.
Wäre und hätte waren nicht mehr wichtig. Spätestens als mein
Pferd unter den Klauen der Tiere zusammenbrach verloren alle
Wenn und Aber an Bedeutung. Im Reflex zog ich meine Dolche und Kämpfte um mein Leben. Ihre Klauen zerrissen meine
Kleider und meine Haut.
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Ihre Zähne gruben sich unnachgiebig in mein Fleisch und rissen es erbarmungslos von meinen Knochen.
Meine schmerzhaften Schreie mischten sich zusammen mit
dem Knurren und Grollen der Lycaner in die Nachtkulisse.
Ungeachtet aller Gegenwehr war ich einem Rudel Lycaner
nicht gewachsen, kaum ein Erwachsener wäre es.
Ich stieß meine Waffen in ihre felligen Leiber, versuchte Kehlen aufzuschlitzen und manch heißer Strom rann über meinen
Leib, von dem ich hoffte, dass es nicht der eigene war.
*~Bitte nicht! Nicht heute! Nicht wo ich doch endlich zurückgekommen bin. Bitte nicht, bitte nicht! ~*
Flehte ich im Geiste und kämpfte mich wieder und wieder auf
die Beine, stieß die Bestien von mir, trat, biss, stach und schnitt
mit jedem Fünkchen Kraft das ich irgendwo finden konnte.
Plötzlich fiel Fackelschein auf uns herab und eine Handvoll
meiner Art stürmte über eine Hügelgruppe zu uns, warf sich in
das Getümmel und Tränen der Erleichterung rannen über mein
Gesicht, mischten sich mit Dreck und Blut und zeichneten wirre Muster auf die erschöpften Züge.
Ich war gerettet, ich hatte eine Chance zu überleben.
Mit jeder Verletzung sank die Chance zwar, aber ich würde
auch dieses Mal nicht aufgeben.
Ich kämpfte weiter, auch wenn meine schwachen Versuche zu
Kämpfen nichts waren im Gegensatz zur Kampfkraft der Vampire die mir zur Hilfe geeilt waren.
Ich hörte Fetzen der Rufe, Schmerzens und Sterbelaute.
Ich kannte jene die mir zur Hilfe geeilt waren nicht, aber das
hatte nichts zu sagen.
Sah man von der Horde ab mit der ich geritten war, hatte ich
wenig Kontakt zu irgendwem gehalten.
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Ich war nicht dazu gemacht, mich mit anderen zu umgeben.
Das redete ich mir immer wieder ein.
Aber warum das so war, konnte ich nicht genau sagen. Vielleicht ein befreundeter Clan der Vemos? Ich hoffte es waren
keine Feinde des Hauses in das ich zurückkehren wollte.
Das wäre vom Regen in die Traufe und für den Moment hatte
ich genug des Regens.
Der Lärm verebbte, jemand sprach mit mir, aber ich vernahm
nur undeutliches Rauschen und Gemurmel. Meine Sicht verschwamm zunehmend.
Das positive war, das ich keinen Schmerz mehr spürte. Nur wage nahm ich das Gras und das Blut unter meinen Fingern wahr
als ich erschöpft zu Boden sank.
“V… Ve… mo…“ brachte ich mit verwaschener Stimme hervor, ehe ich in die gnadenvolle Bewusstlosigkeit ab-driftete.
Ich spürte nicht wie man mir Blut einflößte, bemerkte nicht
das man die gröbsten Verletzungen verband. Man schickte einen Falken zum Schloss, warnte dort das ein Reiter käme.
Mehr Informationen erhielt Alexander nicht, der Noir in den
Hof schickte, um den Reiter in Empfang zu nehmen.
Noir und die Seinen erwarteten den Reiter im Hof, noch feixten sie und flachsten herum, unter den wachsamen Augen Alexanders der von einem Balkon das ganze beobachtete.
Er wusste nicht was es mit dem Reiter auf sich hatte, nahm an
das es sich um eine Anfrage handelte. Ein Hilfegesuch vielleicht und er war gespannt zu sehen, wie der Erstgeborene das
händeln würde.
Das Feixen endete als der Reiter in den Hof galoppierte und die
Krieger erkannten wen er mit sich trug.
„Thomas, sag ihm Bescheid“
Noir wies seinen Kameraden an, während er mich den Armen
des Reiters entnahm und Armand übergab.
Alexander schenkte Thomas sogar einen Moment lang seine
volle Aufmerksamkeit, ehe er sich Rosanna zu wand.
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„Heißes Wasser und Leinen in meine Kammer und schick eine
Jungfrau zu meiner Mutter. Sie soll lediglich meine Grüße
übermitteln.“
Wie vor fünfzehn Jahren schon einmal, beinahe dieselbe Anweisung. Auch wenn der Wortlaut sich ein wenig geändert hatte, war der Befehl derselbe, der Sinn dahinter derselbe.
Rosanna nickte und machte sich daran dem Wunsch zu entsprechen, während Alexander selbst hinabstieg, mich aus Armands Armen mit den Worten „Gib sie mir, Armand.“ entnahm.
Ich bekam davon kaum etwas mit, nicht mehr als wirre Traumbilder welche die tröstend sichere Schwärze dann und wann
durchbrachen.
Rasender Schmerz der meine Züge verunstaltete und mich immer wieder aus der Dunkelheit riss. Worte gingen an mir vorbei, waren nicht real, nicht wichtig. Die Arme die mich umfingen, die Schritte die gegangen wurden, waren nur Traumfetzen.
„Noir, speise ihn und lass ihn ausruhen und dann lass dir sagen
was passiert ist.“
Alexander sprach während er sich bereits umwand und mich
hinauf in die Sicherheit seiner Kammer trug. Vorsichtig legte er
meinen geschundenen Leib auf sein Bett und betrachtete mich
sorgenvoll.
Er tauchte ein Leinen in das Wasser und reinigte mein Gesicht,
versorgte die Verletzungen vorsichtig, beinahe sanft.
„Öffne die Augen.“
Es war keine Bitte, seine Worte ließen trotz der Zärtlichkeit
und der Besorgnis in jeder Silbe keinen Widerspruch zu. Waren
streng und ruhig und vermochten es die Dunkelheit in der ich
tanzte zu durchbrechen.
Ich wollte die Augen öffnen, wollte diesem Befehl unbedingt
folgen gleichwohl mich davor schauderte.
53
Wach werden, die Augen öffnen bedeutete, das ich den
Schmerz wahrnehmen würde, der mich von innen heraus verbrannte.
Doch ich wollte der Stimme die so oft in meinem Geist, meinem Herz erklungen war und nun so nah schien, folgen. Die
Stimme die Labsal für meine geschundene, gequälte Seele war.
Es wäre richtig, dass ich folgte, tat was er verlangte.
Selbst wenn es nur wäre die Augen zu öffnen. Ich strengte
mich mit aller Macht an, um den Worten welche mein Dunkel
durch-brachen Folge zu leisten und schaffte es sogar.
Nur langsam nahm das Gesicht klare Formen an, erkannte ich
die stählernen Augen die auf mich herabblickten und lächelte
mühsam.
„Bin… wieder… zurück…“
Stockend und atemlos brachte ich diese Worte vor während
meine Augen bereits wieder zufielen und er seinen Ärmel
hochrollte.
„Ja, das sehe ich.“
War das Erleichterung in seiner Stimme? War er erleichtert,
dass ich wieder da war? Wahrscheinlich täuschte ich mich. Ich
war zu erschöpft als das ich wirklich darüber nachdenken
könnte.
Es schien als hätte ich ein Fass Rum geleert und der Alkohol
benebelte meine Sinne. Zumindest wenn man den Berichten
Trunkener glauben konnte.
„Gerettet?“
Ich musste es wissen, musste es fragen. Es war nur ein Wispern,
ein Flüstern wie jene die ich mit dem Wind auf die Reise geschickt hatte, aber ich wusste das er mich trotzdem hören würde. Es war das einzige das grade wichtig war, von Bedeutung
war. Er schmunzelte, ich spürte es mehr als ich es sah, während
er mir einen Arm in den Nacken legte um mich aufzurichten
und zu stützen.
„Gefangen!“
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Der Engel oder Angekommen
Aus der bösen Vorahnung erwuchs beinahe etwas wie Angst.
Was ging hier vor? Und was war das für eine Präsenz die ich
nicht zuordnen konnte?
Ich war mir sicher, ich kannte es irgendwoher, hatte sie irgendwo schon einmal wahrgenommen.
Auf die Schlacht die mir das extreme Training eingebracht hatte, kam ich nicht. Alexanders Miene und Haltung änderte sich
nur um einiges, während wir der Ruine und den anderen näher
kamen.
Auch nicht sehr beruhigend. Plötzlich kam ich mir nicht mehr
vor wie die Kriegerin die ich sosehr sein wollte. Ich kam mir
vor wie die Kaufmannstochter, die Zofe und wünschte mir beinahe die dazugehörige Unsichtbarkeit zurück.
Zahllose Krieger und Bewohner des Schlosses hatten sich an
der Ruine eingefunden. Ein Kreis aus Kriegern umrahmte den
Platz, auf umgestürzten Säulen oder halb zerfallenen Torbögen
und Mauerstücken hatten sich andere niedergelassen.
Grade die *Damen* des Hofes trugen ein hämisches Lächeln zur
Schau.
Fragend sah ich zu meinem Gefährten hinauf, der mich am Unterarm in den Kreis führte.
„Noir sagte, du hättest dich beim Training recht annehmbar
gemacht.“
Annehmbar? Tze. Das sollte mir erst einmal jemand nach machen. Ich hatte nicht aufgegeben, egal wie hart es war.
Ich hatte weiter gemacht egal wie oft ich gewünscht hatte, dass
es enden möge und ungeachtet der schmerzenden Knochen
und Muskeln. Annehmbar war weit untertrieben. Aber ich
schwieg.
Noch wusste ich nicht, was das alles sollte und Alexanders
Rückkehr wollte ich nicht direkt mit einer Diskussion feiern.
„Du wirst bei Patrouillen und Schlachten nicht mehr oder weniger Grund zur Sorge geben als jeder andere.“
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Ich war mir in zwei Dingen vollkommen Sicher: Erstens: das
war eindeutig ein großes Lob, das mich zwei Meter wachsen
ließ – bildlich gesprochen.
Zweitens: Es folgte sicher noch ein Aber. Warum sonst waren
alle hier, warum sonst war er so amüsiert gewesen? Auch wenn
das Amüsement gewichen war, je näher wir den anderen kamen.
„Aber wir wollen auf Nummer sicher gehen, nicht wahr? Sicher stellen das du wirklich solche Fortschritte gemacht hast.“
Da war das Aber. Alles in mir schrie lauthals NEIN!!!! Aber ich
fiel in das unmerkliche, langsame Nicken Alexanders ein.
„Und wie?“
Ich könnte mich selbst ohrfeigen. Warum musste ich nachfragen, warum hatte ich nicht nein gesagt? Die Antwort kam
nicht direkt von ihm. Stattdessen traten Armand, Torben,
Andrej und Mariusz beiseite und gaben eine Gestalt frei, die in
Ketten zwischen ihnen harrte.
Und ich erkannte. Ich erkannte nun woher die Präsenz mir
bekannt vorkam. Erkannte was dort in Ketten lag. Mein Mund
war staubtrocken, während ich das Himmelswesen anstarrte.
Seine Gewandung sah schlimmer aus, als es Alexanders Auf-zug
getan hatte, frisches Blut färbte teile des dreckigen Gewandes
noch dunkler. Er war verletzt. Man hatte ihm vor nicht langer
Zeit neue Verletzungen zugefügt.
Er schien erschöpft und müde. Doch trotz der Verletzungen,
trotz des Dreckes und der fehlenden Schwingen umgab ein seltsamer Glanz den Gefangenen.
Und obwohl ich wusste, obwohl ich ganz genau wusste was SIE
taten, sie und ihre sterblichen Gefolgsleute, empfand ich Mitleid für dieses Geschöpf. Es war nicht richtig und nicht gut,
dass er hier war.
Sein Blick ruhte auf meinem. Er hielt mich gefangen, alles
ringsum verblasste.
‚Lass mich gehen. Noch ist es nicht zu spät‘
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Ich runzelte irritiert die Stirn.
Er hatte nicht gesprochen, seine Lippen sich nicht bewegt.
Aber es waren seine Worte, seine Bitte. Da war ich sicher. ‚Lass
mich gehen.‘
Alexanders Hand an meiner Schulter riss mich zurück ins Hier
und Jetzt. Ich blinzelte, schüttelte den Kopf und das Gefühl ab
das mich erfasst hatte. Drecksvieh!
„Besiege ihn, und dein Training ist abgeschlossen. Besiege ihn
und ich werde zukünftige Bitten von Dir nicht abschlagen,
wenn du auf Patrouillen oder in Schlachten mit uns ziehen
willst.“
Ich sah fassungslos zu ihm auf. Ich sollte einen Engel besiegen?
Wie um alles in der Welt sollte ich das schaffen? Ob er mitbekommen hatte was grade geschehen war? Er schenkte mir ein
flüchtiges Lächeln ehe er auf den Engel zutrat und die Ketten
ergriff.
„Besiege sie und du bist frei. Besiege sie und du kannst gehen
und versuchen deine Flügel zurück zu verdienen.“
Versprach Alexander dem Geflügelten und löste die Ketten.
Ich hatte keine Zeit mehr darüber nachzudenken, ob Alexander
jetzt vollkommen den Verstand verloren hatte, denn der Engel
stürmte mit wutverzerrtem Gesicht auf mich zu.
Trotz der offensichtlich frischen Verletzungen war er unglaublich schnell.
Wenigstens hatte man ihm nicht seine eigene Waffe wieder
gegeben, wie ich feststellen durfte weil ich mich nicht gerührt
hatte nach dem Versprechen oder der Aufforderung meines
Gefährten.
Ich versuchte mir noch klar zu werden, ob das wirklich sein
Ernst war, während der Engel bereits angriff.
Der Hieb aber riss mich aus meiner Starre, meine Klauen fuhren kraftvoll durch die feinen Züge des Engels, ehe ich versuchte Abstand zwischen uns zu bringen.
„Und so was holt er sich ins Bett.“
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„Na er hat doch eine nette Methode gefunden sie daraus zu vertreiben.“
Ich knurrte. Nicht jetzt! Ich zog mein eigenes Schwert, parierte
den nächsten Hieb des Entflügelten und in diesem Moment
ging eine Wandlung in mir vor.
Alle Unsicherheit, alle Angst, alle Fragen fielen von mir ab. Ich
überließ mich meinen Instinkten, meinen Reflexen. Nichts
existierte außer mir und meinem Gegner. Alles wurde unwichtig.
Hieb um Hieb parierte ich, nicht jedem konnte ich entgehen
aber das machte nichts. Ich beobachtete nur. Haltung, Bewegung.
Nicht lange und ich konnte die nächsten Züge meines Gegenübers voraussehen und leichter blocken. Block folgte Block.
Weichen, vortreten, drehen, weichen, vortreten, drehen, drehen ein Tanz. Mein Tanz. Das konnte ich, das lag mir im Blut.
Angriff, Block und Rückgabe.
Wir könnten das Stunden, Tagelang machen ohne das sich ein
Sieger heraus kristallisierte und ich wusste es ebenso wie der
Geflügelte es wusste.
Ich vermied direkten Augenkontakt.
Ich würde nicht dulden, nicht erlauben das er wieder in meinen Geist eindrang. Das wäre mein Ende.
Ich bemerkte nicht Alexanders sorgenvollen Blick, hörte nicht
das Gerede, hörte nicht Anfeuerungsrufe. Ich spürte nicht den
Schmerz meiner Verletzungen, spürte nicht die Erschöpfung
die sich zwangsläufig einstellte.
Das einzige Denken das ich zuließ, war die Frage, wie man einen Engel tötete. Engel hatten Noir und ich nicht besprochen.
Warum auch?
Ich hatte nicht erwartet, dass ich je einem dieser Geschöpfe
entgegen treten müsste. Geschweige denn dagegen kämpfen
sollte.
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Vor denen als Gegner hatte ich einen Heidenrespekt und hätten die anderen ihm nicht zuvor Verletzungen zugefügt hätte
ich nicht einmal den Hauch einer Chance gehabt und war mir
dessen sehr wohl bewusst.
Aber darüber nachzudenken brachte mir nichts, also ließ ich es
sein. Einzig die Möglichkeiten die ich hatte sollte ich wieder
und wieder abwägen.
Genauso wie ich beobachtet hatte, hatte der Engel mich beobachtet. Meine Art mich zu bewegen, wie meine Hiebe kamen.
Und so wie ich mich angepasst hatte, passte er sich mir an. Kurze Vorteile mussten ausgenutzt werden, bevor der Gegner die
Möglichkeit hatte auf Veränderungen im Tanz, im Rhythmus
einzugehen.
Die Zeit verlor genauso an Bedeutung wie alle Anwesenden.
Der Lauf der Sonne war nicht mehr als eine weitere leichte
Umstellung. Schatten die Wanderten, Licht das schwand. Nicht
von Bedeutung.
Ich ging auf in dem Rausch des Kampfes, genoss das Adrenalin
das durch meine Adern jagte.
Leben oder Sterben.
Engel oder Vampir, Licht gegen Dunkelheit.
Episch und klischeehaft zugleich.
Und dieser Moment, dieser Tanz und Kampf gehörte mir. Wieder ein Hieb, Hass und Zorn von seiner Seite in jenen gelegt.
DA! Nur eine Sekunde, eine Sekunde während des Schlages wo
die Deckung nicht mehr perfekt war.
Ich lächelte, meine Augen funkelten amüsiert. Jetzt wusste ich
was zu tun war. Jetzt wusste ich wie man den Engel töten
könnte. Ich provozierte einen weiteren Schlag herauf und er tat
mir den Gefallen.
In dem Moment in dem er zum Schlag ausholte, ließ ich mein
Schwert fallen, meine Hand gestreckt nach vorn schnellen.
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Ich spürte den Schmerz meiner brechenden Finger, und der
Knochensplitter seiner Rippen welche in meine Haut schnitten.
Es spielte keine Rolle.
Der Schmerz würde vergehen, das tat er doch immer. Viel präsenter als der Schmerz, war der entsetzte Blick des Engels.
Jetzt erwiderte ich seinen Blick wieder. Meine Finger schlangen sich um den schlagenden Muskel. Ich grinste kühl, während ich meine Faust zurück riss, das Herz des Engels aus seiner
Brust und betrachtete wie der Blick des Himmelswesens brach
und alles Leben aus ihm wich.
Selbst außerhalb des Körpers pumpte der Muskel noch ein,
zwei Mal. Spritzte dunkles Vitae auf meine Hand, meinen Arm.
Es schien mir unwirklich – Die Art in der der Geflügelte zu
Boden sank. Wie in Zeitlupe. Der Blick brach, er stand noch da.
Verwirrung, Entsetzen, Überraschung spiegelte sich auf den
Zügen wieder.
Dann gaben die Beine nach und er sackte einer Puppe gleich
einfach herab.
Langsam kehrte alles andere wieder in mein Bewusstsein. Die
Krieger, die Bewohner des Schlosses, Alexander. Ich sah reihum, betrachtete die Gesichter.
Überraschung stand in den Augen der meisten. Noir und die
Seinen schienen ausgesprochen zufrieden. Auch wenn sie ebenso gut wüssten wie ich selbst, dass ich nie gesiegt hätte, wenn
der Engel nicht derart verletzt gewesen war.
Ob mit mir oder auf das Ergebnis ihres Trainings, konnte ich
nicht sagen. Und vermutlich war das nicht sonderlich wichtig.
Ich ließ das Herz fallen und nahm mein Schwert auf. Noch war
das nicht vorbei.
Noch brauchte ich das Adrenalin, noch brauchte ich was auch
immer mich auf den Beinen hielt, was auch immer mich hatte
kämpfen lassen. Ich war noch nicht fertig.
Ich hatte gesiegt, den Engel besiegt, wie Alexander es gefordert
hatte.
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Er würde meinen zukünftigen Bitten entsprechen, sofern sie
Schlachten oder Patrouillen betrafen. Er hatte sein Wort gegeben und ich keinen Zweifel daran, das er es halten würde.
Aber reichte mir das? War das alles? Nein! Ich warf einen letzten Blick auf den gefallenen Engel. Nein getötet aber nicht gefallen. Langsam wand ich mich Alexander zu, lenkte meine
zaghaften Schritte jenem gen.
Ich ignorierte Geflüster, ignorierte Fragen oder die Hände die
mir gratulierend auf die Schulter klopften.
‚Nicht der Mann von den Zinnen. Nicht der Mann mit dem ich
das Bett teile.‘ mahnte ich mich bei jedem Schritt der mich näher zu dem Oberhaupt führte.
Der Weg schien mir auf der einen Seite sehr sehr lang, doch auf
der anderen Seite schrecklich kurz.
Ich mahnte mich wie vor langer Zeit das dies nicht der Mann
war der mein Herz in Händen hielt. Ich mahnte mich das ich
auf das Oberhaupt des Clanes zutrat, auf den Ältesten.
Ich wusste was ich tun wollte, hatte nicht etwa Zweifel, dass
meine Entscheidung falsch wäre. Ich hatte eher ein wenig
Angst vor seiner Reaktion.
Als ich ihn erreichte, atmete ich noch einmal unnötig durch,
straffte einen Moment lang meine Haltung, brachte meine Züge
wieder unter Kontrolle ehe ich mich auf die Knie sinken ließ.
Ich bot ihm mein Schwert dar und senkte den Blick.
„Ich habe erfüllt was mir aufgetragen wurde. Ich besiegte den
Engel den Ihr hergebracht habt.“
Meine Stimme war klar und fest, auch wenn ich innerlich zitterte.
„Ich folgte Euch und dem Heer in die Schlacht. Ihr fandet
mich, Ihr habt mich vor dem Tod bewahrt, mich trainiert und
gelehrt.“
Er hatte noch einiges mehr getan aber ich versuchte krampfhaft
nicht daran zu denken.
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„Ich biete dem Haus Vemo, dem Clan mein Schwert und bitte
darum Teil Eures Hauses zu werden.“
Das Schweigen war lauter als ein Heer. Lauter als jede Schlacht.
Alle Blicke waren auf uns gerichtet, wechselten zwischen ihm
und mir. Ich bemerkte nicht das amüsierte Schmunzeln das
seine Lippen umspielte.
Bemerkte nicht wie Vater und Sohn einen kurzen Blick wechselten. Warum sagte er nichts? Warum tat er nichts? Sekunden
zogen sich wie klebriges, zähes Harz, Minuten wurden zu kleinen Ewigkeiten.
Und er schwieg, schwieg solange das ich gewillt war aufzustehen und einfach den Kreis aus Kriegern zu verlassen und das
alles als dummen Versuch abzustempeln.
Vielleicht hatte ich einen Fehler gemacht, irgendeine Regel
gebrochen die man in so einem Fall einhalten musste und mir
fremd war? Woher sollte ich denn wissen wie man ordnungsgemäß um Aufnahme in einen Clan bat?
Sah man von diesem Haus ab, SEINEM Haus, hatte ich nie den
Wunsch verspürt einem Clan anzugehören. Frei zu sein war
mir immer das wichtigste gewesen, aber meine Prioritäten hatten sich gewandelt. Hatten sich verändert wie ich mich verändert hatte.
Ich zuckte unwillkürlich zusammen als seine Finger sich unter
mein Kinn legten. Ich war so in meine Gedanken vertieft gewesen das ich alles andere ‚vergessen‘ hatte.
Ich folgte dem sachten Druck seiner Finger und sah auf. Sah
direkt in das schimmernde stählerne Silber seiner Augen und
mir stockte der Atem.
Warum, konnte ich nicht einmal genau benennen, aber diesen
Blick, diese Intensität kannte ich nicht und konnte sie nicht
deuten. Ein kurzes Lächeln umspielte seine Lippen, seine freie
Hand legte sich auf meine Klinge.
„Nebel…“
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Die Nennung meines Namens jagte mir zahllose Schauder über
den Leib. Hoffen und Bangen rangen in mir um die Vorherrschaft.
„Zwei Mal trug man dich mehr tot als lebendig über meine
Schwelle. Du hast viel gelernt seit dem ersten Mal als wir einander begegnet sind.“
Ich erinnerte mich. Erinnerte mich an die Stimme die mich
aufforderte die Augen zu öffnen.
Erinnerte mich an sein Versprechen, das ich in Sicherheit in
seinem Haus wäre.
Erinnerte mich an die erste Nacht auf den Zinnen. Und meine
Angst, vor der Intensität meiner Gefühle für ihn.
„Du wurdest mehr und mehr Teil dieses Schlosses. Selbst als du
fortgelaufen bist, warst du niemals fern. Du folgtest uns in die
Schlacht, auch wenn ich dich bat, zu bleiben.“
Ich biss mir auf die Lippen, schenkte ihm einen entschuldigenden Blick.
„Du hast ohne zu Zögern, ohne jeden Widerspruch die Strafe
angenommen die ich dir dafür auferlegt habe. Sogar hier hast
du gegen den Engel gekämpft, der als Abschluss dieser Strafe
galt. Warum, wenn du nicht längst Teil dieses Hauses wärest,
hättest du das tun sollen?“
Ich starrte ihn an. Das war nicht sein Ernst?
Natürlich war es das, er sah nicht aus als würde er scherzen,
nicht im Geringsten. Er hatte mich bereits als Teil seines Hauses, seines Clanes angesehen?
Ja natürlich als Clanlose hätte ich mich der Strafe verweigern
können, einfach weiter ziehen können.
Aber ich hatte entschieden das nicht zu tun, hatte die Strafe
angenommen, weil mir nichts anderes in den Sinn gekommen
war.
Ausnahmsweise hatte mein mangelndes Denkvermögen in seiner Nähe etwas für sich gehabt. Seine Finger schlossen sich um
meine Klingen.
63
„Führe deine Waffe und deine Zunge klug, mein Nebel.“ Feine
Rinnsale seines Blutes zierten mein Schwert, ehe er es freigab
und mir seine Hand darbot.
Fasziniert betrachtete ich wie die Schnitte in den Fingern vor
meinen Augen heilten, ehe ich meine Hand in seine legte und
mich auf meine zittrigen Beine ziehen ließ.
Ein unsicheres Lächeln umspielte meine Lippen und als wolle
er mich beruhigen, drückte er sanft meine Hand.
Mancher sah aus als habe er in eine Zitrone gebissen, aber das
bemerkte ich kaum. Von denen bei welchen ich es bemerkte
war es mir gleich.
Seite an Seite mit Alexander verließ ich den Kreis und die Ruine, kehrten zurück in das Schloss. Auch wenn unsere Wege
sich dort erst einmal trennten.
64
Susanne Hoge
Diarys of Death
Der Nebel von Morta Sant
III
ISBN: 9783738657104
65
Bis der Tod uns scheidet
Ich starrte sie an. Die Schönheit die mir gegenüber stand, umgeben von Ankleidedamen. Das lange blonde Haar kunstvoll
frisiert, umschmeichelt von dem zurückgelegten Schleier und
gekrönt von einer feinen silbernen Tiara.
Aus geweiteten Augen die feucht schimmerten wie kristallene
Bergseen starrte sie zurück. Unbehagen? War es das wovon ihre
Haltung sprach?
Unsicher und furchtsam wirkte sie. Die Wangen in den zeitlos
schönen Zügen leicht gerötet. Nachtblaue Gewänder bestickt
mit silbernen Ornamenten umschmeichelten die zierliche Gestalt.
Die feingliedrigen Finger schienen nicht zu wissen was sie anstellen sollten, und zupften imaginäre Fussel weg und strichen
die Stoffe glatt.
Ich machte einen Schritt auf sie zu, und sie tat es mir mit ängstlichem Blick gleich. Ich hob eine Hand, und meine kühlen Finger berührten ungläubig die spiegelnde Oberfläche.
Wie um alles in der Welt war das nun wieder geschehen? Wie
hatte das passieren können? Die Damen legten mir Schmuck
an, während ich noch immer das Bild anstarrte das sich mir bot,
dass ich bot.
*Du wolltest Antworten, mein Nebel. Du sollst sie bekommen*
Ja aber das war keine Antwort. Das war eine Kathedrale! Eine
wunderschöne Kathedrale fürwahr. Dennoch…
*Wenn du mich willst Nebel, wenn du mich zum Manne willst,
warte ich am Altar auf dich.*
Man hatte mich in wundervolle Kleider gesteckt, angefertigt
von der Hand Joycelins, dem Samhainmädchen. Und nun starrte ich seit einer halben Ewigkeit mein Spiegelbild an und versuchte zu begreifen, wie genau das jetzt wieder passieren konnte.
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Zu begreifen was ich wollte und was hier geschah. Zweifellos
war dies der eigenwilligste Antrag dessen ich je Zeuge wurde.
Und er galt mir?!?
Wollte ich ihn zum Mann? Als meinen Ehemann? Ich liebte
ihn, daran bestand kein Zweifel. Würde sich etwas ändern
durch diese Hochzeit? Ich hatte mich damit abgefunden, dass es
war wie es eben war.
Hatte mich abgefunden vielleicht nicht mehr als eine Maitresse
zu sein.
Was würde sich verändern, wenn ich ihn zum Gefährten
nahm? Zum Ehemann? Ich glaubte ich müsse zusammenbrechen, mir wurde übel und alles drehte sich. Was sollte er grade
mit mir?
Warum wollte er grade mich zur Frau? Das Küken das ihm in
den Krieg folgte und in ein Rudel Lycaner gestolpert war. Das
Kind das furchtsam vor ihm davon gelaufen war und seinen
Gefühlen für ihn.
Ich atmete tief durch. Versuchte all jene auszumachen, welche
sich in der Kathedrale aufhielten: Noir, Ary, der dunkle Gevatter, Sidh, natürlich die Freunde Noirs, Rosanna.
Einige deren Präsenz ich nur wage oder gar nicht zuordnen
konnte.
So viele. Freunde, Bekannte, Vertraute. Die gekommen waren
um zu sehen, ob das Küken sich hinaus wagte.
Getuschel. Leises Geflüster.
„Ist noch jemand derart aufgeregt?... Nicht? Nein?“
Mein Lächeln mischte sich in das leise Lachen vereinzelnder
die die Worte Alexanders quittierten. Er war nervös? Warum?
Er war Alexander Vemo.
Er war jener der mein Herz mit nur einem Blick fing. Er war
jener, der mich immer wieder das Kaninchen vor der Schlange
sein ließ.
Und ich? Ich war niemand. Nichts. Ein Küken das Krieger
spielte.
67
Glaubte stark zu sein und doch immer wieder Schwäche und
Unwissenheit an sich erkennen musste. Ein weiteres Mal noch
atmete ich durch, ehe ein Nicken den Damen bedeutete, dass
ich bereit war.
*Wenn du mich auch willst….*
Natürlich wollte ich ihn. Koste es mich was es wollte. Mein
unseliges Leben, meine Freiheit… Die Stoffe raschelten sacht
während ich meine Schritte setzte. Langsam und unsicher, vorsichtig.
*…warte ich vorn am Altar auf dich*
Ich musste nur bis zum Altar kommen, nur bis zum Altar.
Unnatürlich laut hallten meine Schritte in meinen Ohren wider, als die Absätze auf dem polierten Marmor auftrafen. Bis
zum Altar.
Ich bog um die Ecke, trat in den Altarraum und meine Schritte
wurden von dicken Teppichen geschluckt. Meine Lider senkten
sich, unnötigerweise zog ich den Atem ein und versuchte mich
zu fassen, zu fangen.
Er war der Mann von den Zinnen, der Mann aus dem Schnee
und dem Kerzenmeer. Ich öffnete die Augen und alles ringsum
verschwand.
Nur er war dort und ich. Raum und Zeit existierten nicht mehr.
Näher und näher kam ich ihm und er mir.
Er griff meine Hände und drückte sie sanft.
„Du bist so wunderschön.“
Seine Stimme war nur ein sanftes Flüstern, das den Zauber
durchbrach und mich der Situation und all der Anwesenden
gewahr werden ließ.
Noir und Ary die Statuen gleich zu unseren Seiten standen, der
Dunkle Gevatter der offenkundig dazu gedacht war, die Zeremonie abzuhalten.
Die zahlreichen Kerzen und Rosen, die Gäste, das Dämmerungslicht das durch die Hohen Fenster einfiel und die Schatten
die über Wände und Boden tanzten.
68
„Dann vergibst du meine Verspätung, dieses Mal?“
Meine Stimme musste irgendwann einmal Klang gehabt haben.
Ich hatte Befehle über ein Schlachtfeld gebrüllt, hatte ein Herr
geführt und Widersachern getrotzt.
Ich hatte die Amazonen herausgefordert, hatte jene verlacht die
mich in die Knie zwingen wollten.
Aber nun war nichts von Kraft und Klang in meiner Stimme, in
meinen Worten.
Er lächelte milde und sein Blick verriet dieselbe Liebe und
Nervosität die ich empfand.
„Der Nebel der Zeit verschleiert den Ursprung, das göttliche
Geschlecht gebiert in der Nacht.“
Die Stimme des Gevatters unterbrach unsere stille Konversation und zwang unsere Aufmerksamkeit auf sich.
„Unter diesem Leitsatz haben wir uns heute hier versammelt
um Alexander Vemo und -„
Er unterbrach sich, um ein Haar wäre ihm der tote Name entfleucht, doch grade noch war ihm dies aufgefallen und nach
einem kurzen Räuspern fuhr er fort.
„ Alexander Vemo und seinen Nebel in den Stand der Ehe zu
geleiten.“
Er schwieg und musterte uns eine gefühlte Ewigkeit. Niemand
sprach, niemand wagte sich zu rühren. Seinen Nebel. War das
aus der Kaufmannstochter Danielle Falodir geworden?
Der Nebel Alexanders? Vielleicht. Ja vermutlich. Wollte ich es
denn anders? Nein, nein ganz sicher nicht – schätzte ich. Das
hatte ich nicht erwartet und nicht ahnen können. Aber es war
was ich wollte…
„Alexander, in jener Nacht als Euer Erstgeborener Euch ein
halbtotes Geschöpf ins Haus brachte wurde das Schicksal vieler
neu geschrieben, auch das Eure.
Als Ihr dieses halbe Kind in Eure Arme gezogen habt, entzogt
Ihr sie nicht nur den Armen Eures Sohnes, sondern gleichsam
den meinen.“
69
Alexander schmunzelnde und warf einen kurzen Blick auf
mich, und ich biss mir flüchtig auf die Unterlippe.
Ich entsann mich als wäre es gestern erst gewesen. Die Decke
die an mir vorbei zog, die stählernen Augen die in meine sahen…Ich hatte verloren.
Dieser eine Blick hatte gereicht um mich für immer an ihn zu
binden.
„Nebel, nicht einmal hast du mir deine Hand entzogen wenn
ich sie dir zum Tanze reichte. Treue Freundin es tut mir
Leid…“
NEIN! Das konnte er nicht tun. Nicht heute, nicht jetzt. Er
würde doch nicht? Mir entging Alexanders Blick der zwischen
Sorge und Bestürzung und Zorn wechselte.
Den dunklen Gevatter sollte man nicht rufen eine Zeremonie
wie diese zu abzuhalten, da war ich mir sicher.
Er der die Seelen holte lächelte.
„Ich muss auf unseren letzten Tanz verzichten und gebe ihn in
die Hände deines Gefährten.“
Ein kollektives Ausatmen folgte diesen Worten und ich musste
leise auflachen. Alle schienen ebenso erleichtert zu sein wie
ich, wie wir es waren.
„Alexander. Ich frage Euch, wollt Ihr den Nebel zu Eurer angetrauten Ehefrau nehmen? Sie lieben und ehren solang Euer Leben währt?
So antwortet mit * Dies ist mein Wille*.“
Alexander sah vom Dunklen auf mich und abermals um-spielte
ein Lächeln seine Lippen.
Unsere Blicke hielten einander einen Moment lang gefangen.
Er nickte langsam und ich musste an mich halten nicht in das
hypnotisch langsame Nicken einzufallen.
„Dies ist mein Wille.“
„Nebel. Ich frage Euch, wollt ihr Alexander zu Eurem angetrauten Ehemann nehmen? Ihn lieben und ehren solang Euer Leben währt? So antwortet mit *Dies ist mein Wille*.“
70
Wir hielten den Blickkontakt auch während mein dunkler
Tänzer sprach.
Seine Worte schienen aus weiter Ferne zu kommen und drangen auch so zu mir.
Die Welt war wieder in weite Ferne gerückt. Ich nickte, langsam und zaghaft. Natürlich wollte ich.
„Dies ist mein Wille.“
„Alexander, so sprecht nun das Eheversprechen.“
Einige neigten sich vor um besser zu sehen, besser zu hören.
Der Griff Noirs um sein Schwert festigte sich um weniges. Störenfriede würde er ohne mit der Wimper zu zucken niederstrecken.
Arys Blick wand sich nur kurz von der Menge ab und legte sich
auf den Älteren, auch er würde eingreifen, wenn es nötig wäre.
Doch hoffte die sanfte Seele, dass es nicht müsste.
Alexander wand sich mir vollends zu, ergriff sanft meine Hände. Bevor er zu sprechen begann, küsste er meine Fingerknöchel ohne meinen Blick freizugeben.
"Mein geliebter Schatten am Tag, mein Herzenslicht in der
Nacht... mein geliebter Nebel der mich sanft umfasst.
Vor vielen Jahren, brachte dich mein ältester Sohn Noir mit in
das Schloss.
Verletzt und geschwächt, lagst du in seinen Armen als er um
dein *Willkommen* und fast um Hilfe bat."
Sein Blick löste sich für einen Moment von mir und legte sich
auf seinen Erstgeborenen.
„Ob er das wohl grade in diesem Moment mehr bereut denn
je?“
Vater und Sohn schmunzelten gleichsam. Es war ein offenes
Geheimnis das Noir nicht angetan war, mich an der Seite oder
im Bett seines Vaters zu wissen.
Seine Aufmerksamkeit wieder auf mich legend fuhr er fort.
71
"Sei es drum... mein Nebel. Dein*Willkommen* bekamst du als
ich dich aus seinen Armen in die meinen barg und dich in meinem Sarg zur Ruhe bettete, dich trinken lies und du langsam
wieder zu Kräften kamst.
Schon bald durchzogen wir die Nächte gemeinsam und du
wurdest mir eine treue Gefährtin. Du gebarst meinen zweiten
Sohn, Ary Tias.“
Er lächelte, strich mit seinen Fingern über meine und legte
kaum merklich den Kopf auf die Seite.
Den Blick kannte ich. Für gewöhnlich sah er mich so an, wenn
er mich halbernst für etwas tadelte.
„Mein Nebel du bist noch jung und den ein oder anderen Fehler kann ich Dir verzeihen ohne das er zur Sprache kommt.
Bringe niemals eines der Clanmitglieder oder gar den Clan in
Gefahr und ich verspreche, dir ein treuer Gefährte zu sein in
aller Ewigkeit der für dich genauso wie für seine Kinder mit
seinem Leben einsteht.
Du magst jung sein, ein Küken und doch fandest du einen Weg:
Deinen Weg zu mir und in mein kaltes Herz. In jenes schließe
ich uns beiden für die Ewigkeit.
Ich liebe dich."
Alle lauschten den Worten des Ältesten, welche Balsam für
meine Seele waren. Sie waren so typisch er.
Eine Mischung aus Tadel und Versprechen, aus Liebesbezeugung und Mahnung.
Nur er brachte es fertig mich im Ehegelübde zu tadeln und ermahnen.
„Danke Alexander, das war sehr …anrührend. Nebel nun
sprich dein Versprechen.“
Täuschte ich mich oder schwang Amüsement in der Stimme
des ewigen Tänzers mit? Ich überlegte einen Moment lang. Er
hatte sich vorbereiten können, und ich?
Hier stand ich nun und sollte ein Ehegelübde aus dem Hut ziehen.
72
Abermals suchte ich den Blick Alexanders, gewährte mir einen
Moment lang in den tiefen seiner Seelenspiegel zu ertrinken.
Die Worte kamen ohne das ich darüber nach-dachte.
„Einst bat ich eine Hexe darum, mir ein Herz aus Stein zu geben. Einst bat ich einen Dämonenmeister darum mir mein Herz
zu nehmen, denn um wie vieles einfacher, um wie vieles amüsanter wäre es, ohne dieses dumme Ding.
Einst füllte der Kampf meine Nächte.
Einst füllte die Jagd meine Nächte und die Schreie meiner Opfer...
Doch auch ein Nebel fällt früher oder später, und als ich ins
Dunkel tauchte, war ich bereit mich der tröstenden Umarmung
des Nichts hinzugeben.
Du hast mich den Armen des Nichts und denen des dunklen
Tänzers gleichsam entrissen.
Dein Blut stärkte mich, heilte mich und mit der Zeit war es das
nicht einzig mehr Kampf und Jagd meine Nächte füllte, und mit
der Zeit war ich froh, dass weder Hexen noch Dämonen mir
meinen Wunsch erfüllen konnten oder wollten.
Unbemerkt hast du dich in mein Herz geschlichen, hast du
meine Gedanken mehr und mehr für dich beansprucht, und die
Nacht heller und strahlender sein lassen als der Tag es je könnte.
Du hast mich besiegt.
Nicht mit einem Schwert, nicht einem Dolch oder deiner Kraft,
sondern deinem Herzen, deiner ganzen Art, nahmst du mich
gefangen, hieltest du mein Wesen fest.
Nun, lange nachdem du mich in deinen Sarg legtest, stehen wir
hier und ich will versprechen was ich dir viele Male in Zweisamkeit versprach.
Was ich tun kann, dir an Last zu nehmen will ich dir nehmen,
jeden Moment den ich wandle, einzig zu dir gehören. Deine
Wege sind die meinen, dein Ziel das meine und meine Liebe
ganz die Deine…bis zum Ende."
73
Der Dunkle gab uns einen Moment lang uns zu fassen, ehe er
nickte.
„Danke Nebel. Nun habt ihr zwei es beinahe geschafft.“
Auf ein deuten hin, trug ein Knabe das Ringkissen herbei. Zwei
silberne Ringe waren sorgsam darauf platziert, über welche der
Gevatter seine Hände gleiten ließ.
Tonlose Worte wurden gemurmelt und noch ehe ich oder Alexander bemerkten was geschah, umspielte Noirs Lippen bereits
ein Lächeln.
Dunkle Schatten kamen aus dem Norden, dem Süden, dem Osten und dem Westen und durchdrangen das kostbare Metall.
Und was eben noch wie neu glänzte und funkelte, war nun von
einem schwarz das selbst die dunkelste Nacht noch übertrumpfte.
„Eure Ringe werden nun auf ewig verbunden sein. Solltet ihr
einander einmal verlieren, so werden sie euch wieder zueinander führen.“
Wir hatten kaum einen Blick für das Schauspiel, welches uns
geschenkt war und die Ringe behaftete. Wir hatten nur Augen
für uns.
„Alexander. Bitte stecke deiner Gefährtin den Ring an mit den
Worten * Bis ans Ende der Zeit*“
Wie konnten seine Finger so ruhig sein? Wie seine Stimme ohne das kleinste Zeugnis von Nervosität?
„Bis ans Ende der Zeit.“
„Nebel?“
Nichts. Keine Reaktion.
„Nebel… Nun stecke deinem Gefährten den Ring an, mit den
Worten *Verbunden in alle Ewigkeit*“
Es war wieder nur ein Wispern das ich hervorbrachte, während
ich ihm den Ring mit zitternden Fingern überstreifte.
„Verbunden in alle Ewigkeit.“
Jener der die Seelen geleitete lächelte milde und nickte zufrieden.
74
„Nun seit ihr bereit für eine gemeinsame Ewigkeit. Und was das
Zeitlose bindet, soll niemand je trennen. Ich erhebe Euch mit
meinen Worten in den Stand der Ehe und ernenne euch zu
Mann und Frau. Alexander, Ihr dürft Euren Nebel, Eure Gefährtin nun küssen. Meine Segenswünsche sind mit Euch.“
Und Alexander tat was der andere erlaubte und zog mich in
seine Arme, versiegelte meine bebenden Lippen mit seinen.
Das deuten des Gevatters bemerkten wir nicht, ebenso wenig
wie die Worte *Verneigt euch vor dem angetrauten Paar* auf
welche die gesamten Gäste sich erhoben und in die Knie sanken.
Der ewige Tänzer besah sich uns noch einen Moment lang, ehe
er wortlos im Nichts entschwand. Er wusste – bei meinem Talent- würden wir einander bald schon wieder sehen.
Noirs Worte zwangen uns ins hier und jetzt zurück, zwangen
uns den Kuss zu lösen, der wäre es nach mir gegangen ewig
angedauert hätte.
„Vater… entlasst die Knieenden.“
Amüsement schwang in seinen Worten mit, während Alexander sich dauernd von mir löste und eine Hand zum Zeichen das
man sich erheben durfte hob.
„Meinem Sohn zuliebe und damit seine Frau mit ihm tanzen
kann…“
Seite an Seite schritten wir den Mittelgang entlang, gefolgt von
unseren Söhnen. So schön und eindrucksvoll die Kathedrale
war, mit ihrer hohen Decke, den Lüstern, den Kerzen und Figuren, den schimmernden Fenstern so wenig hatte ich auch
nur den geringsten Blick dafür über.
Meine volle Aufmerksamkeit galt jenem Mann der mich den
langen Flur entlang führte, eine breite Treppe hinauf. Ein riesiger Saal war festlich geschmückt und in Kerzenlicht getaucht.
Einige Türen führten ab, aber was sich dahinter verbarg war
mir gleichgültig. Meine Neugierde hatte sich für den Moment
im Nichts aufgelöst.
75
Ich hatte nie getanzt. Es fiel mir ein als seine Arme sich um
mich legten.
Nun gut, mit dem Dunklen Gevatter zwischen Leben und Tod
aber das war etwas vollkommen anderes.
Ich hatte nie mit *Lebenden* getanzt und sollte nun mit meinem Ehemann – Mhh allein in Gedanken war dieses Wort unbeschreiblich, hob mich in ungeahnte Höhen- tanzen. Was
wenn ich das nicht konnte?
Ich hatte keine Gelegenheit darüber nach zu denken, denn
längst hatte die Musik begonnen und während ich noch haderte und dachte und fürchtete, hatte er mich bereits in den Tanz
gezogen.
Ich verlor mich in der Musik, ob es nun jene war, welche für
uns aufgespielt wurde, oder eine die nur für uns existierte - in
unseren Herzen vorhanden war. Ich konnte es nicht sagen.
Unsere Blicke fingen einander ein, und hielten sich gefangen.
Und wenn wir könnten, wir würden die Zeit stillstehen lassen
in diesem Moment.
Dieser eine, erste Tanz. Dieser Moment der nur uns beiden gehörte. Danach würden sie kommen. Uns gratulieren, mehr oder
weniger erfolgreich ihre Missgunst verhehlen.
Aber dieser eine Moment war unserer.
Dieser eine Tanz.
76
Markttag
Der große Markt in Tyses fand jedes Quartal eine Woche lang
statt.
Händler aus aller Welt, für wirklich jede erdenkliche Ware war
vorhanden.
Pergamente, Lampen, Öle, Kerzen, Speisen und Gewürze, Waffen, Sklaven, Vieh und Wagen, Bücher, Werkzeuge, Kleider
und Felle.
Überall priesen laut schreiend die Händler ihre Waren an.
Doch weder mich noch den dunklen Gevatter, den Seelentänzer scherte das Geschrei wirklich.
Es stank fürchterlich. Pferdemist und menschliche Ausdünstungen mischten sich mit den schweren Gerüchen der Gewürze, der Tinte und des Viehs.
Wir blendeten es aus, sonst hätte ich zweifellos brechen müssen. Und es gab kaum etwas das widerlicher war als sich zu erbrechen.
Der Geschmack blieb ewig auf der Zunge, gleich wieviel Petersilie und Pfefferminzblätter man kaute und auch der Geruch
schien sich in allem festzusetzen.
Vielleicht war es nur meine Einbildung, aber sei es wie es sei –
es war widerlich.
Wir ließen unseren Blick über die Auslagen schweifen bis…
Bis etwas meine Sinne kitzelte. Eine Präsenz, ein Geruch mich
geradezu zu sich befahl. Wie in Trance schritt ich durch die
Menge, über den riesigen Markt.
Der ewig Dunkle, der mir Freund und Vaterersatz war, passte
auf mich auf. Darauf das ich in niemanden hineinlief, darauf
das niemand mich bestahl.
Mit sorgenvollem Blick betrachtete er mich, wie ich weiter
ging, immer weiter. Ohne Blick oder Ohr für das drum herum
zu haben. Alle Wachsamkeit schien von mir abgefallen zu sein.
77
Ich musste diesem Ruf den scheinbar niemand sonst vernahm
folgen. Doch der Schein trügte. Unterschiedlichste Wesen vernahmen diesen Ruf, folgten ihm.
Gleichwohl nicht derart extrem wie ich es tat. Sie schienen ihre
Sinne noch beieinander zu haben, während ich nicht gegen die
Dringlichkeit des inneren Rufes angehen konnte.
Sie sahen sich um, hielten vielleicht inne.
Gingen ein paar Schritte in die richtige Richtung, aber ließen
sich ablenken und setzten ihre Wege fort.
Etwas abseits war ein weiterer Handel für Sklaven.
Gut gebaute Männer und Frauen, für die verschiedensten
Dienste. Bett, Haus, Feld. Nichts was ich benötigte. Nichts
nachdem mir verlangte.
Sie gingen ohnehin viel zu schnell kaputt. Ich hatte es ein oder
zweimal versucht. Aber hatte feststellen müssen, dass meine
Hand bisweilen zu stark war, um diese Geschöpfe lang halten
zu können.
Sie waren meinem Zorn oder meinen Launen selten gewachsen, aber wen wunderte das? Und es war nicht meine Schuld,
das andere Wesen so schnell kaputt gingen.
In einer abgelegenen Ecke des Platzes stand ein Wagen über
den eine Plane ausgebreitet war. Was war darunter, was wollte
man dort verstecken?
Manches Wesen blieb stehen, schien sich umzusehen, zu suchen. Einige kamen sogar nah an den Wagen heran zu dem es
mich unbarmherzig zog.
Doch sie taten nicht was ich tat. Hätten sie es getan, wie vieles
wäre anders gelaufen. Für mich. Für Alexander. Für uns alle?
Und vor allem für ihn.
Ich hob die Plane an und schlug sie zurück. Meine Neugier
trieb mich dazu und dieser Ruf der in meinem inneren widerhallte.
Ein Schwall heißer, abgestandener Luft kam mir entgegen, ließ
mich kurz innehalten und würgen.
78
Der Gestank der aus diesem kleinen Käfig kam, war beinahe
ebenso schlimm wie der äußere zusammen.
Mein Blick fiel auf die Gestalt im Inneren des Wagens. Zusammengekauert in Fötus Stellung. Verdreckt und verletzt auch
wenn diese Verletzungen nur gering schienen.
Der Ruf kam von jenem, ich war sicher. Sein Geist, seine Magie
schrie nach mir, oder zumindest nach Rettung. Von wem war
gleich. Darum hatten andere sich umgesehen, darum hatte
mancher inne gehalten.
Ich streckte meine Hand durch die Gitter, hob das Gesicht der
Kreatur am Kinn an.
„Sieh mich an Leckerchen!“
Ich war amüsiert - noch. Dann öffnete er die Augen und die
Welt stand still.
Etwas war nicht Recht, etwas war absolut falsch. Ein böses
Omen vielleicht, wie Legenden in denen die Sonne am Tag
vom Himmel schwand, und gleichsam so richtig wie Wind und
Regen.
Und ich war Teil davon, ebenso wie diese Kreatur. Das hier
durfte nicht geschehen, auch wenn ich nicht wusste, was genau
hier geschah. Ich war gefangen von seinem Blick, ebenso wie er
von meinem.
Wir konnten den Blick nicht abwenden, sahen in die Seele des
anderen. Ich erkannte Schmerz und Hoffnung, doch was ich
nicht sah, war Leben.
Leblose Augen, kein Funke in ihnen. Einer Puppe gleich, die
ich als Kind besessen hatte. Ausdruckslos und leer.
Die Zeit schritt voran, die Schicksalsschwestern woben ihren
Teppich mit neuem Muster weiter, verflochten das Schicksal
des Elben der hier lag mit dem meinem.
Ob das nun gut war oder nicht – würde einzig die Zeit zeigen.
„Der gehört mir!“
Es war eine belustigte Mahnung an den ewigen Gevatter. Ja der
würde mir gehören und noch nicht ihm.
79
Ich ging zu dem Händler, und jener schien nicht die geringste
Ahnung zu haben, welch kostbares Objekt er in seinem Besitz
hatte.
Der Bursche sei eigentlich ganz guterzogen, aber hatte die
dumme Eigenart abzuhauen. Was die Erziehung dann wohl in
Frage stellte.
Seit der letzte Besitzer ihn vor einigen Tagen zurück gebracht
hatte, war er nun bereits in dem Käfig und man würde ‚später‘
dafür sorgen das er nicht mehr fliehen würde. Ich war mir sicher, was genau das heißen sollte, wollte ich für den Moment
nicht wissen.
Was ich wissen wollte war, was ich bezahlen sollte, um diese
Kreatur vor ihrem Ende zu bewahren. Alles weitere, würde
sich ergeben.
Das Alter des Sklaven konnte man mir nicht nennen, noch von
seiner Herkunft konnte man mir viel berichten.
Es war nicht wichtig. Ich hatte meine eigenen Methoden um
diese unwichtigen Dinge herauszufinden.
Ich zahlte ohne zu handeln. Der Händler hatte offensichtlich
keine Ahnung welchen Schatz er hier hatte. Elben überlebten
für gewöhnlich nicht in Gefangenschaft, oder nicht lang.
Dieser hier hatte bereits vier Besitzer hinter sich.
Ich tippte vom Aussehen auf Hochelb, Sidhe. Langes verfilztes
hellblondes Haar, hochgewachsen, schlank aber muskulös.
Er musste mindestens einen Meter achtzig groß sein, wenn ich
schätzen sollte, und die Spitzen seiner Ohren lugten zwischen
den Strähnen hervor.
Famarion sah ihm in gewisser Weise ähnlich, auch wenn der
etwas kräftiger war und das blond der Haare einen anderen Ton
hatte.
Ich hatte Zeit es heraus zu finden. Vorerst würde ich ihn hier
vom Markt schaffen. An das vom Händler gestellte Halsband
befestigte ich eine feingliedrige Kette.
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Sollte er ruhig versuchen mir zu entkommen. Diese Flausen
würde ich ihm austreiben. Aber sein Zustand ließ ohnehin keine ernstgemeinte Flucht zu.
Der dunkle Tänzer musterte mich und ihn prüfend. Der kurze
Stillstand im Gefüge war ihm nicht entgangen. Ebenso wenig
wie der Umstand das es bis zu dem Moment an dem ich ihn
hinausholte, nicht mehr lang gedauert hätte bis er den Jungen
zum letzten aller Tänze geholt hätte.
Er schwieg. Er hatte keine Antworten auf Fragen die ich zweifellos gehabt hätte. Darum würde er mir keine Grundlage für
Fragen geben, indem er eigene stellte.
Wie auch manch andere macht würde er warten und beobachten.
Wir verließen den Markt. Der Dunkle und ich erhobenen
Hauptes und einer Haltung die keinen Zweifel daran ließ das
wir uns durchaus unserer Stellungen bewusst waren.
Der Bursche ging langsam und gebeugt.
Als würde jeder Schritt ihm eine Pein sein. Vielleicht war dem
auch so.
Wir pausierten an einem nahegelegenen Fluss und ich genoss es
endlich wieder tief durchatmen zu können.
Nicht des Atems wegen, sondern all der Geschmäcker und Gerüche wegen die im Wind mitschwangen. Das Gras, die Bäume
sogar der Fluss hatten einen eigenen Geruch und Geschmack.
„Wasche dich, ruh aus!“
Ich warf ihm ein paar Äpfel zu, die ich vom Baum gepflückt
hatte und deutete auf den Fluss. Er brauchte seine Kräfte noch,
wenn er den Weg schaffen wollte oder musste.
Denn danach was er wollte, ging es nicht.
Trotz seines Zustands sah er merklich besser aus, nun wo er
unter der Plane weg war und wieder frei atmen konnte.
Er tat was ich gefordert hatte.
81
Wusch sich gründlich und verschlang die Äpfel und trank als
hätte er lang nichts bekommen. Was gar nicht so unwahrscheinlich war. Ich konnte jede Rippe zählen.
Ich stellte keine Fragen über seinen Zustand, seine Herkunft
oder gar seinen Namen. Die Zeit war noch nicht gekommen.
Ich musste ihn erst einmal zur Burg schaffen, lebendig nach
Möglichkeit.
Dann konnte ich Fragen stellen und Anweisungen geben. Das
mein dunkler Freund schwieg fiel mir nicht auf, er machte nie
viele Worte. Und selbst wenn er sprach, würde ich kaum schlau
daraus werden.
Und so schweigend setzten wir unseren Weg zurück in den
Bergkessel. Der junge Elb machte keinen Versuch zu fliehen.
Er genoss es frische Luft atmen zu können, das Gras unter seinen Füßen.
Er sah sich ständig um, aber die Kette wurde nicht einmal gespannt. Er achtete tunlichst darauf nicht zu sehr zurück zu
bleiben.
Er betrachtete die Wolken die am Himmel dahin zogen, berührte die Pflanzen und die Büsche die wir passierten und in
seiner Reichweite lagen.
Ich ließ ihn gewähren, tat so als würde ich es nicht bemerken.
Tatsächlich aber beobachtete ich alles genauestens. Die Faszination und Begeisterung mit der er sich umsah, die Ehrfurcht mit
der er die Pflanzen berührte.
All das gab mir Auskunft über sein bisheriges Leben. Und das
schien sich nur selten im Freien abgespielt zu haben. Das Versprechen auf Ausgang, könnte ihn gefügig machen.
Es war bereits dunkel, als sein Stolpern mich wieder an ihn erinnerte. Während des Gehens hatte ich ihn schlichtweg vergessen.
Ich hatte das Ende der Leine locker um mein Handgelenk geschlungen, und da der Elb darauf achtete, die Leine nicht anzuspannen, hatte ich ihn schlicht vergessen.
82
Die Erschöpfung spiegelte sich in seiner Haltung und seinen
Zügen wieder. Er taumelte und stolperte immer wieder und ich
seufzte.
Der Dunkle und ich tauschten einen Blick, ehe ich mich an den
Elben wandte.
„Nicht weit von hier ist eine Lichtung, da kannst du ausruhen.
Halte durch und versuche nicht die wilden Tiere des ganzen
Waldes mit deinem Lärm auf uns aufmerksam zu machen.“
Er nickte nur, beließ den Blick gesenkt und folgte dem leichten
Zug der Kette. Wir holten Holz, sammelten ein paar Beeren
und holten Wasser. Nicht für uns, sondern für mein neues
Spielzeug.
Auch wenn ich dieses Spielzeug erst wieder zu Kräften kommen lassen musste, bevor ich zu spielen beginnen konnte. Ich
deutete ihm zu essen, zu trinken und lehnte mich an den
Stamm einer alten Eiche.
„Wenn du hungrig oder durstig bist oder eine Pause brauchst,
wirst du es mir sagen. Ich muss die Umgebung im Auge behalten und kann nicht zusätzlich noch darauf achten.
Iss, trink dann leg dich hin und schlaf. Wenn es hell wird geht
es weiter. Ich will bis zum Mittag wieder in der Burg sein.“
Er zuckte unter dem Hall meiner Stimme zusammen, aber folgte meinem Wort wie ein gut abgerichteter Hund.
Ob das so blieb, war zwar fraglich aber ich würde es auf mich
zukommen lassen.
Er würde seine Grenzen ausloten. Sehen wie weit er gehen
konnte. Er würde sich eingewöhnen, und vielleicht, vielleicht
sogar bleiben.
Nicht zerbrechen, verenden wie es andere vor ihm getan hatten.
Er war interessant, etwas an ihm faszinierte mich über die Maßen. Auch wenn ich noch nicht sagen konnte was genau es
war.
83
Warum hatte ich ihn unbedingt haben müssen? Warum hatte
ich seine Magie gespürt, warum hatte mein innerstes auf seinen
Ruf reagiert?
Ich schloss die Augen. War es wichtig? Nein, vermutlich nicht,
zumindest für den Augenblick. Ich würde ruhen. Ruhen und
sehen was der Morgen bringen würde.
Vor allem sehen, ob ich den neuen Tag mit einer Jagd nach
dem neuen Eigentum beginnen müsste.
84
Akina
Ich kehrte von der Jagd zurück. Ein Fest am Fuß des Berges in
welchem der Kessel verborgen lag hatte mir Kurzweil und Nahrung geboten. Eine kleine Hochzeit. Ein junger Müller der seine Liebste zur Frau genommen hatte.
Ich hatte ein Faible für Hochzeiten, von dem Moment an, an
dem ich in dieser Kathedrale gestanden hatte. Zitternd und
bang. Lebendiger als zu Lebzeiten.
Die Ausgelassenheit des Brautpaares führte mir unseren ersten
Tanz vor Augen.
Bei Festen wie diesen, vergaß ich meine Abneigung gegen diese
Rasse und all ihre Dummheiten. Bei Festen wie diesen, waren
sie mir so ähnlich, das ich vergessen konnte.
Aber jedes fest endete. In diesem Fall mit meiner Mahlzeit. Einem frechen kleinen Jüngling der dem Brautpaar nachgeschlichen war um für sich zu bezeugen, dass die Ehe auch vollzogen war.
Er schmeckte großartig und sein naiver Erfahrungsschatz bot
mir ein wenig Unterhaltung und Freude.
Schenkte mir eine Leichtigkeit, die ich noch in mir trug als ich
in den Bergkessel zurückkehrte.
Sie war in jedem festen Schritt den ich tat, in jedem unnötigem
Atemzug, jeder noch so kleinen Bewegung. Das Echo meiner
Stiefelschweren Schritte hallte vom Pflaster des Marktplatzes
wider.
Aber alle Leichtigkeit fiel mit einem Schlag von mir ab, war
vergessen und verdrängt wie alles andere um mich herum. Es
schien als schrumpfte meine Welt auf sie und mich zusammen.
Nur wenige Schritte vor mir war sie aufgetaucht. Hatte sich zu
Boden sinken lassen, ehe die fedrigen Schwingen sich zusammenlegten.
Ich zog meine Kurzschwerter aus der Scheide und nahm festen
Stand ein. Und sie? Sie lächelte.
85
Akina war ein junger Engel, vor nicht langer Zeit auf die Erde
herab gesandt um die verbotenen Geschöpfe zu jagen und vernichten.
Das sie jung war, hieß nicht zwangsläufig, dass sie ein leichtes
Opfer wäre. Sie war dazu geschaffen mich und meinesgleichen
zu bekämpfen und zu besiegen.
Und grade jene, welche nicht lang auf Erden wandelten, waren
eine Gefahr. Denn zu wenig haben sie gesehen, zu wenig getan
das ihre himmlische Macht abschwächen würde, ihren Glauben
mindern könnte.
Ihre Züge waren milde und sanft, ein zartes Lächeln um-spielte
ihre Lippen und ihre Augen wirkten als habe sie nie etwas Unreines und Böses gesehen oder getan.
Doch hinter dieser leuchtend schönen Fassade verbarg sich eine
furchtbare Dunkelheit.
Eine Dunkelheit, die sie niemals in sich erkennen würde. Ja,
sogar verleugnen würde.
Menschen würden sich, ohne dass sie es erklären könnten, unvermittelt zu ihr hingezogen fühlen. Gleich ob sie die Flügel
nun verbarg oder offen zeigte wie es hier der Fall war.
Ein offenbarter Engel – Ihre Schönheit trieb einem Wesen die
Tränen in die Augen.
Und selbst mir fiel es schwer, diesem Geschöpf das meinen Tod
bedeuten konnte, die nötige Vorsicht entgegen zu bringen.
Ihre Stimme war reiner Glockenhall, volltönend und freundlich. Ich konnte den Blick nicht von ihr lassen. Konnte mich
nicht abwenden, oder sie gar angreifen.
Ich wusste, ich sollte etwas tun. Fliehen wäre wohl das klügste,
aber wohin sollte ich fliehen? Wo mich verstecken? Kämpfen
vielleicht?
Um mein Leben kämpfen. Ja das wäre doch eine ebenso sinnvolle Idee.
86
Stattdessen stand ich da, und starrte dieses Wesen an. So rein,
so schön. Wie könnte sie eine Gefahr für mich sein? Oder meine Art? Das war nicht möglich.
Es war nicht möglich, das ein Geschöpf wie sie, etwas Unrechtes täte.
„Es ist nicht nötig, dass Ihr Euch wehrt. Habt keine Angst. Es
wird schnell gehen, das verspreche ich Euch.“
Und ich glaubte ihr. Glaubte, dass ich mich nicht zur Wehr
setzen musste. Warum sollte ich auch? Warum sollte ich mich
gegen ein Geschöpf wie sie wehren wollen?
Nur einen flüchtigen Moment lang, dann festigte sich der Griff
um die Schwerter wieder. Ich war tatsächlich im Begriff gewesen meine Waffen fallen zu lassen.
Ich schüttelte den Kopf, versuchte ihren Einfluss auf mich zu
mindern. Ihre Macht von mir abzuschütteln. Oh sie war gut,
wirklich gut.
„Verschwinde Himmelsbote. Du hast hier nichts verloren!“
Meine Stimme war ruhig, kühl wie der Arktiswind und mit
jedem Wort das ich sprach, straffte sie meine Haltung, und etwas ihrer Wirkung auf mich ließ nach.
Es blieb zu hoffen, dass das anhielt. Ich ihr widerstehen konnte,
auch wenn das was von der Kaufmannstochter übrig war, sosehr nachgeben wollte.
Der Kaufmannstochter, die jeden Sonntag in die Messe ging, an
der Seite ihres *Vaters*. Der Kaufmannstochter, welche glaubte,
dass Engel ebenso wie Gott gut und gütig waren.
Ihr Blick wurde mitleidig und es zerriss mir beinahe das Herz.
Das Seufzen das von ihren Lippen perlte zeugte von solcher
Sorge, dass ich an mich halten musste nicht um Vergebung zu
bitten. Wofür auch immer.
„Siehst du denn nicht, dass ich dir nur helfen will? Warum bist
du so feindselig?“
87
Ja, ja sie wollte mir doch nur helfen. Was tat ich denn hier?
Was tat ich hier? Ich schüttelte den Kopf. Ich musste denken,
nachdenken. Ich durfte ihr nicht zuhören.
Aber ich brachte nicht die Kraft auf, sie anzugreifen, schaffte es
genauso wenig einfach fort zu gehen.
Es schien beinahe als würde ihr Wille mich an Ort und Stelle
halten. Ihre Wirkung wäre beängstigend, würde sie nicht eine
solche unnatürliche Ruhe ausstrahlen, die ansteckend war.
Nein es war nicht eine ansteckende Ruhe, es war einer Lähmung gleich.
Ich kannte ähnliches bei den alten Vampiren denen ich begegnet war. Eine Präsenz die Stärke und Ruhe und macht ausstrahlte.
Ich nutzte eine ähnliche Ruhe um meine Opfer ruhig zu stellen
damit ich mich nähren konnte. Nur war ich bei weitem nicht
so stark.
Ich hatte nicht einmal geahnt, dass diese Himmelsboten solche
Fähigkeiten hatten. Alexander hatte nichts davon erzählt, und
er hatte mir einiges von der Jagd nach dem Engel erzählt.
Dieses kleine Detail muss ihm entgangen sein, oder einfach
nicht wichtig genug um erwähnt zu werden.
Ich hasste es. Hasste es wenn wichtige Details, Informationen
einen Feind betreffend nicht an mich herangetragen wurden.
Nun hatte ich den Schlamassel. Vielleicht hätte ich anders entschieden, wenn ich das gewusst hätte. Ich wusste viel zu wenig
um überhaupt eine Chance zu haben.
Was hatte ich mir nur dabei gedacht nicht nach Alexander zu
schicken?
Mein Hochmut würde mich irgendwann noch einmal umbringen, das war so sicher wie das Amen in der Kirche.
„Helfen? Wobei?“
Wo war der starke feste Klang in meiner Stimme geblieben, mit
dem ich Gardisten angewiesen hatte und die Elben befehligt
hatte? Wo war die Kraft in meinen Worten geblieben?
88
„Du gehörst nicht hierher. Der Allvater hat diese Welt nicht
für dich und die deinen geschaffen.“
Es wäre einfacher wenn sie schweigen würde. Nun kam ich mir
vor wie ein ungehöriges Kind, das ohne Erlaubnis und verdreckt den feinen Salon der Eltern betreten hatte.
Das Geräusch ihrer gebogenen Klingen, die wie gleißendes
Licht wirkten und aus der Scheide gezogen wurde riss mich aus
meinen Überlegungen und Gedanken.
Sofort nahm ich wieder festen Stand ein und verengte die Augen misstrauisch. Waren dies die berüchtigten Engels-klingen?
Diese Klingen waren furchtbar. Verletzungen, selbst Kratzer
die damit zugefügt wurden heilten nur sehr langsam. Eine Engelsklinge, konnte jedes verbotene Wesen, jeden der Dunklen
Art vernichten.
„Lass mich dir helfen, diesen Makel von der Welt zu nehmen.
Lass mich dir helfen, diese Welt zu verlassen.“
War das ihr ernst? Offensichtlich, denn sie stand nun nicht
länger wie eine Statue einige Schritte von mir entfernt sondern
griff an.
Mit einer Schnelligkeit die ich nicht erwartet hatte. Wenn ich
es Recht bedachte, dann war mir ein verletzter und erschöpfter
Engel grade um so vieles lieber als ein putzmunteres Exemplar.
Ein Surren, ein Flirren in der Luft. Ein Schrei in meinem Inneren der mich ins hier und jetzt zurückrief:
WILLST DU TANZEN? NICHT? DANN KÄMPFE, KIND!
Nein ich wollte nicht tanzen! Ich riss meine Arme hoch, wehrte ihren Hieb ab und sprang zurück.
Nein, nein ich wollte nicht tanzen. Nicht heute!
Sie lächelte aber es hatte etwas Wahnhaftes und entbehrte der
Freundlichkeit, welche sie eben noch zur Schau getragen hatte.
Es erinnerte mich an das Grinsen der Kirchenmenschen.
„So leicht nicht Federvieh!“
Ich knurrte auf, zwang mich zur Konzentration und parierte
die rasche Folge an Schlägen nur mit Mühe.
89
Und sie… sie lächelte einfach. Versuchte die Freundlichkeit
und Sanftheit zurück zu beordern.
„Mach es dir nicht so schwer. Es geht rasch, lass es zu. Monster
wie du dürfen nicht wandeln.“
Monster? Ich duckte mich unter dem nächsten Hieb weg, rollte
mich zur Seite und sprang wieder auf die Beine, meinerseits
zum Angriff ansetzend.
„Ich halte hier den Frieden und nur ihr verdammten fanatischen Narren brecht ihn wieder und wieder!“
Ich war das Monster? Ich war die böse? Was bitte stellten sie
dann da? WIR kümmerten uns um die Menschen in unseren
Domänen. Wir schützten Sie.
Ja wir nährten uns von ihnen, wir trieben Steuern ein wie jeder
Herrscher, aber war dieser Preis zu hoch dafür, dass sie in Frieden leben konnten?
SIE zerrissen Familien, töteten Unschuldige. Jagden uns und
gaben keine Ruhe.
„Armes irregeleitetes Geschöpf.“
Wieder dieses herzzerreißende Mitleid in ihrer Stimme, dem
ein scharfer Schmerz in der Seite folgte. Ich war unachtsam
gewesen. Nur eine Sekunde lang und das kostete Blut.
Mein Blut verursacht nur von der Spitze des gleißenden
Schwertes. Es brannte wie Feuer, mein Leib schien in Flammen
zu stehen und nichts konnte diese Flammen löschen.
Unwichtig.
Der Schmerz half mir. half mir klar zu sehen und zu denken. Es
half mir zu kämpfen, zu widerstehen. Ganz gleich wieviel Mühe es mich auch kostete.
Ich knurrte. Ich war der Nebel. Hochmütig, naiv, verloren vom
ersten unnötigen Atemzug den ich getan hatte. Und ich würde
es diesem verdammten Mistviech nicht so einfach machen,
mich meinem Ende zu zuführen.
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Das hatten schon andere versucht und waren gescheitert. Das
das oftmals mehr Glück als Verstand gewesen war, war vergessen. Es zählte nicht. Ich gab auf.
Meine Disziplin, meine Zurückhaltung.
Ich entfesselte die Bestie die in mir ruhte und welche ich bisher
immer erfolgreich gebändigt hatte. Meine Augen waren pures
Eis, der aufkommende Abendwind zerrte an meinem langen
Haar und meinen Kleidern ebenso wie an ihren.
Sie wollte das Monster?
Dann würde sie es auch bekommen. Aber ob sie wirklich wollte, was sie bekam, war eine andere Sache.
Dunkel grollend wie ein aufziehender Gewittersturm hallte
mein Knurren über den Marktplatz und eine Sekunde lang, eine flüchtige Sekunde erkannte ich etwas in ihrem Blick das
wahrer wirklicher Angst gleichkam.
Ich überließ meinen Instinkten meinen Leib, schaltete jedes
Denken ab. Es würde mich behindern. Mich einschränken.
Eiskalte Finger schlangen sich um die Griffe meiner Schwerter
und ein Lächeln umspielte meine Lippen, als ich zum Angriff
ansetzte.
Akina war erschrocken, erstaunt. Wieder und wieder klang der
Hall unserer aufeinandertreffenden Klingen über das Land. Unser beider Blut zierte den kalten Boden, tränkte unsere Kleider.
Es war ohne Belang. Ich spürte den Schmerz nicht, das käme
später, wenn ich begriff. Wenn ich Ruhe hatte und der Kampf
lange vorbei war.
Es schien mir, als wäre die dort kämpfte nicht ich. Als würde
ich das ganze Szenario von außerhalb beobachten.
Die Kämpfenden, die Kontrahenten, wir schenkten sich/uns
nichts. Fochten mit aller Kraft und Macht die sie aufbringen
konnten.
Das Monster und der Engel.
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Meine sonst so ruhigen, beinahe emotionslosen Züge waren
hassverzerrt, die Zähne gebleckt, die Augen so kalt und gnadenlos.
Meine Ohren waren taub für die Worte des geflügelten Wesens, mein Leib unempfänglich für den rasenden Schmerz den
die Engelsklingen verursachten.
Ein Scheppern erklang, wir beide hatten eines unserer Schwerter verloren, und während mein Körper bereits den nächsten
Angriff vollzog, betrachtete ich welchen Bogen die Klingen
nahmen, wie sie vom Boden zurückprallten um nach einem
letzten Scheppern liegen zu bleiben.
Ich hatte nicht gewusst, wie spannend das sein konnte. Oder
zumindest erschien es mir grade sehr, sehr spannend.
Ich wurde zurückgeschleudert und erhob mich mit neuem
Grollen und erstarrte. Was tat sie?
Das zweite Schwert hatte sie fallengelassen und ich gewährte
mir einen Moment der Musterung.
Das reine Weiß ihres Gewandes war vom dunklen satten Rot
ihres Blutes befleckt, oder war es meines?
Das silberne Haar schien dreckig und strohig, einzelne Federn
waren blutbefleckt zu Boden gesunken.
Aber nichts desto trotz strahlte sie Ruhe du Kraft und Zuversicht aus von der ich nur träumen konnte.
Ich vermied es eine Inventur meiner eigenen Verletzungen zu
machen, das würde sie real werden lassen und der Schmerz
würde kommen.
Der Engel hob die Hände dem Himmel gen, tonlose Worte, ein
stummes Gebet das sie dem Allvater sandte. Sollte sie ihr letztes
Gebet sprechen, es war mir recht.
Ich grinste und umfasste meine verbliebene Klinge fester und
stürmte düster Knurrend abermals auf sie zu.
Dann geschah alles ganz schnell. Und trotzdem erschien es mir
wie in Zeitlupe, als würde die Zeit langsam vergehen, ganz
langsam damit mir auch ja nichts entginge.
92
Damit ich genau sah und begreifen konnte, aber immer noch zu
schnell als das ich eine Chance gehabt hätte, dem zu entgehen.
Sie führte die Hände einer Schale gleich vor den Bauch.
Und was ich bereits bei Noir gesehen hatte, wenn er die Schatten formte geschah hier mir einem Licht das so grell und gleißend war das ich die Augen schließen musste.
Noirs Dunkelheit war mir bei weitem lieber.
Sie sammelte, formte eine Kugel aus Licht ließ sie wachsen.
Nährte sie mit ihrem Glauben und ihren Gebeten und Kraft ehe
sie jene auf mich schleuderte, meinen Angriff abwehrte. Ich
versuchte noch auszuweichen, versuchte mich zu schützen
aber meine rechte Seite wurde dennoch getroffen.
Das Metall meines Harnisches schmolz und vereinte sich mit
meiner Haut, ich roch verbranntes Fleisch, hörte einen unnatürlichen Schmerzensschrei und brauchte eine Weile um zu
erkennen das ich es war, die schrie.
Ich ließ mein Schwert fallen, meine Handfläche pochte unter
dem Schmerz des erhitzten Metalls. Ich sackte auf die Knie
herab und stieß keuchend meinen Atem aus als sie mein Haar
ergriff und meinen Blick mit einem festen Ruck hinaufzwang.
Der Geruch ihres Blutes widerte mich an und ich widerstand
dem Drang mich an ihr zu Stärken einfacher als gedacht.
Nichts war hinderlicher als Hunger in der Schlacht. Schmerzen
konnte man herabzwingen, Mutlosigkeit vergessen, aber ein
Hunger der alles verzerrend war den konnte man nicht ignorieren.
Ihr Blut würde mir nicht helfen, es würde mir schaden.
Auch wenn ich nicht sagen konnte, woher ich das wusste, war
ich mir doch sicher, dass ich Recht hatte.
Ihr Blick war warm und freundlich, selbst jetzt noch. Ich erwiderte ihren Blick hasserfüllt.
Wenn sie glaubte, dass sie gewonnen hatte, so irrte sie. Ich ignorierte weiter jeden Schmerz, ballte eine Hand probeweise zur
Faust und lächelte zufrieden.
93
Es würde gehen, musste gehen, und was spielten gebrochene
Knochen jetzt noch für eine Rolle? Wie schlimm oder gefährlich konnte eine weitere Verletzung schon sein?
Ich holte aus, zog meinen Arm schwungvoll nach hinten und
ließ ihn mit gestreckten Fingern vorschnellen. Sie sah es kommen.
Hob den Oberkörper und statt die Rippen zu durchbrechen
fuhren meine Klauen in das weiche Fleisch des Bauches. Statt
des Herzens das ich umklammern wollte spürte ich die Wärme
ihrer Eingeweide.
Schmerz und tiefes ehrliches Mitgefühl spiegelte sich in ihrer
Miene und ihrem Blick. Doch woher sie plötzlich den Dolch
hatte, konnte ich nicht sagen.
Ihr Griff in meinem Haar festigte sich, und ein stückweit höher
riss sie mich daran hoch.
Das durfte nicht das Ende sein. So konnte ich nicht gehen. Von
einem verdammten Engel getötet.
Ich versuchte mich ihr zu entreißen, versuchte meine Kraftreserven zu mobilisieren, die Bestie in mir ein weiteres Mal zu
entfesseln.
Aber es wollte mir nicht gelingen.
Zu erschöpft hatte mich der bisherige Kampf auch wenn er
nicht lang gedauert haben mag. Die Klinge schnellte auf meine
Kehle zu.
Ich schloss die Augen. Vorbei. Engel gegen Monster, und das
Monster unterlag?
„NEBEL!“
Ein Schrei. Wer schrie? Der Engel verharrte inmitten der Bewegung, folgte dem Schrei mit ihrem Blick und ich tat das Selbe.
Mate? Mate! Was tat er hier? Er sollte nicht hier sein! Bald
würde es dämmern, sein Ausgang war beendet. Er durfte nicht
in die Nähe dieses Geschöpfes.
94
„Bist du gekommen den Tod des Monsters zu bezeugen? Komm
heran, mein Junge und lege Zeugnis ab.“
Es war Akina die sprach und Mate blickte von ihr auf mich und
wieder zurück.
In seinem Kopf rasten die Gedanken. Sein Mienenspiel entspannte, wurde weich und sanft, und im nächsten Augenblick
wurde der Ausdruck hart und kalt.
Er musste fliehen! Er musste laufen, bevor sie ihn umgarnte
und vereinnahmte. Er durfte nicht in ihre Hände fallen, das
durfte ich nicht erlauben.
Ich hatte versprochen auf ihn aufzupassen. Aber jetzt in diesem
Zustand konnte ich das nicht. Ich konnte nicht einmal mich
selbst retten, wie sollte ich dann ihn retten?
„…Lauf, Mate!“
Ich schrie ihn an, versuchte mich dem Griff des Engels zu entziehen, solange sie irgendwie abgelenkt war.
Aber die Ablenkung war nicht groß genug und mein Zustand
schlimmer als ich erwartet hatte.
Ich stöhnte schmerzhaft auf, blickte schwer atmend zu Boden.
Woher kam das ganze Blut? Zwischen dem Kopfsteinpflaster
flossen feine Ströme dahin, wie sich ein Fluss durch das Land
schlängelte. War das mein Blut?
„Lauf Mate!“
Er musste weg, musste sich retten. Er wäre frei. Mit meinem
Tod wäre er frei.
Aber er blieb. Widersetzte sich meinem Befehl. War er gekommen um mein Ende zu bezeugen? Langsam trat er näher
heran. Hatte er am Ende doch die Seiten gewechselt? Hatte ich
sosehr geirrt?
War er seines Lebens in meiner Hand überdrüssig geworden?
Der Engel legte den Blick wieder auf mich und Mates Blick
folgte ihr. Ich konnte seinen Blick nicht deuten.
Sie würde vollenden was sie begonnen hatte, und mein Eigentum dürfte Zeuge dessen werden.
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„Der Herr sei deiner Seele gnädig, Monster.“
Ich schloss abermals die Augen. Vorbei.
Ich wartete auf den letzten Schmerz der mich erlösen und in
die Arme meines Tänzers führen würde. Aber er kam nicht.
Stattdessen erklang der Schrei Mates.
„IHR SEID DAS MONSTER NICHT SIE!“
Ein Schwall warmen Blutes ergoss sich über mir als die Worte
erklangen, und der Griff in meinem Haar lockerte und löste
sich. Ich öffnete die Augen und glaubte nicht was ich dort sah.
Mate hatte das Schwert des Engels aufgelesen und stand hinter
dem Himmelsboten.
Eine rote Linie zog sich über den Hals, Unglauben spiegelte
sich in ihrem Blick wieder.
Der Dolch fiel unnatürlich laut zu Boden. Und mir schien es
wie viele einzelne Bilder und viel zu langsam das der Kopf des
Boten sich vom Rumpf löste und hinabfiel. Ein gleißendes
Licht hüllte uns ein, blendete mich, blendete uns.
Mates Blick traf auf meinen, als das Leuchten, das Licht verlosch. Nie hatte ich eine solche Entschlossenheit in seinem
Blick gesehen, wie in diesem Moment.
Was hatte er getan? Warum hatte er das getan? Er hätte einfach
zuschauen brauchen und wäre mich los gewesen. Ich sackte
zusammen.
Schmerz, Erschöpfung und Verletzungen raubten mir die Kraft
um auf den Beinen zu bleiben, geschweige denn Knien.
Abermals erklang das Scheppern des Fallenden Schwertes, das
in tausend Splitter zerbarst nun wo des Engels macht es nicht
mehr stärkte.
„Nebel…“
Atemlos gesprochen mein Name, ehe das Eigentum mich aufnahm und in die Burg trug. Das ergab keinen Sinn.
Nicht das er den Engel getötet hatte und noch weniger, das er
mich zur Burg trug. Ich wollte protestieren aber fand keine
Kraft dazu.
96
Wenn die Erde aufbricht
Der Wald wurde von Tag zu Tag lichter. Und auch im Elbenhain, gab es Veränderungen. Die heißen Quellen waren inzwischen so heiß, dass ein Bad darin undenkbar war.
Fontänen aus kochendem Wasser stießen in die Luft und die
verbliebenen Elben waren ebenso ratlos wie ich es war.
Nach und nach verließen die Menschen den Bergkessel. Wie
konnten sie bleiben? Der Regen kam spät in diesem Jahr, die
Brunnen bezogen ihr Wasser aus derselben Quelle wie der See
kam, und wurden unbrauchbar.
Regenwasser hätte man sammeln und nutzen können, aber so?
Wären die Menschen geblieben, sie wären verdurstet.
Ein paar hartnäckige blieben, versuchten zu überleben, und das
nicht selten indem sie plünderten.
Die verlassenen Häuser, und als dort nichts mehr war, versuchten sie es an der Burg.
Die Garde hielt die Plünderer ab, und selbst wenn ich gewollt
hätte, konnte ich den Menschen nichts geben. Ich musste das
Personal versorgen.
Stunde um Stunde, Tag und Nacht verbrachte ich in der Bibliothek und versuchte eine Lösung zu finden.
Versuchte Antworten zu finden auf Fragen die ich nicht kannte. Ich wusste nicht wonach ich suchen sollte.
Kein Buch konnte mir sagen was hier vor sich ging.
Ich befragte Mate, ob er irgendwas ins Wasser gekippt hatte.
Irgendein Gift, das mir fremd war und alles vergehen ließ. Aber
er verneinte und ich erkannte keine Lüge in seinen Worten
oder seinem Blick.
Frustriert schlug ich das Buch zu, indem ich grade nach einer
Lösung suchte zu und lehnte mich im Sessel zurück als es begann.
97
Ein Grollen lauter als alles was ich bis dahin gehört hatte erklang. Es schien von überall her zu kommen vor allem aber…
aus der Erde.
In das Grollen mischte sich ein plötzliches Beben das den ganzen Berg zu erschüttern schien. Was um alles in der Welt ging
hier vor?
Ich sprang auf, versuchte dem Beben zu widerstehen, festen
Stand zu finden, während die Mauern des Schlosses um mich
herum zu bersten begannen und Teile der Decke als auch die
Lüster herabstürzten.
Ich vernahm Schreie, Schreie von Wachen, der Garde und Personal und mit einem Mal war ich froh, dass ich Ary und Lissa
aus der Burg hatte schaffen lassen.
„Was geht hier vor sich?“
Ich steckte den Kopf zur Tür der Bibliothek raus.
„Das wissen wir nicht, Milady. Wir müssen raus hier, los!“
Der Gardist wies mir durch ein deuten, das ich verschwinden
sollte.
Wieder bebte und rumorte die Erde, ein Riss tat sich auf und
verschlang die Garde unter meinem entsetzten Blick.
Das war nicht möglich! Ich wich zurück in die Bibliothek,
starrte auf die herabfallenden Bücherreihen, die umstürzenden
Regale.
Die Burg konnte nicht auseinanderfallen, auseinander brechen.
Die Erde verschlang ihre Bewohner nicht einfach. Es war nicht
möglich, nicht real. Ich war mir sicher, dass ich träumte.
Ein dummer Alptraum, auch wenn ich mich nicht erinnern
konnte, wann ich das letzte Mal geträumt hatte. Das ich ruhte
und schlief, hieß nicht das ich träumte.
Glas splitterte, Statuen fielen dröhnend um und zerbarsten unter dem Schlag der Steine welche nach ihnen fielen. Ich erwachte aus meiner Starre.
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Die Garde hatte Recht. Ich musste hier raus! Bevor die Burg
beschloss mich zu erschlagen, oder die Erde mich zu verschlingen.
„MATE!“
Verdammt wo steckte mein Eigentum? Kurz hielt das Beben
inne, tiefer dunkler das Grollen das stattdessen erklang und
dann ein Knall eine Explosion die mein Spiel mit den Pulverfässern wie ein Flüstern erscheinen ließ.
Ich duckte mich reflexartig, hielt die Hände über den Kopf und
abermals erschütterte ein wildes Beben Burg und Berg. Das
konnte doch nicht wahr sein! Das durfte nicht sein!
Ich stürmte aus der Bibliothek, sah Küchenjungen unter schweren Gesteinsbrocken begraben, eine Lache von Blut unter seinem Kopf, färbte das blonde Haar kupfern. Eine weitere Garde
kam auf mich zu. Er wollte mich herausschaffen aber plötzlich
stand Furcht in seinem Blick und im nächsten Augenblick,
wurde er samt des Bodens auf dem er stand in die Tiefe, ins
Nichts gerissen.
Die Burg schien eine Garde nach der Anderen verschlingen zu
wollen.
Risse taten sich auf, Risse die sich bis ins Berginnere zu ziehen
schienen und alles in ihrer unmittelbaren Umgebung herabrissen.
Tief am Grund der Risse die Gräben gleichkamen schien ein
Feuer zu brennen, heißer und heller als tausend Sonnen.
„MATE!“
Ein lauter Donnerschlag oder zumindest vergleichbares erklang
und der hintere Teil der Burg brach zusammen schwand im
Nichts und stattdessen schoss…eine Feuerfontäne? …aus der
Erde heraus.
Hoch und höher während die Erde bebte und alles was einst
mühsam aufgebaut worden war, zusammen brach, herabstürzte.
„Nebel!“
99
Mate… Ich stürmte auf meinen Elben zu riss ihn an mich und
lief.
„Halt dich fest, oder du bist tot!“
Seine Finger klammerten sich in meine Stoffe, meine darunter
liegende Haut. Es spielte keine Rolle, es war nichts zu dem
Schmerz den wir erfahren würden, wenn wir nicht schnellstens
hier raus kämen.
Wir mussten hier raus! Schnell! Irgendwie oder wir wären beide des Todes. Ich wich Gesteinsbrocken und Burgresten aus
während ich rannte.
Versuchte der Fontäne aus glimmendem, leuchtendem Gestein
auszuweichen und schlug manches Mal herabstürzendes aus
dem Weg.
Mate schrie irgendwas, aber ich hörte es nicht. Ich rannte, hielt
ihn dicht bei mir. Der Boden vor uns riss auf, eine tiefe
Schlucht aus deren Inneren das leuchtende Feuer hervorquoll.
Nie hatte ich vergleichbares erlebt, gesehen oder auch nur davon gehört.
Ich sprang über den Graben. Weiter! Ich durfte nicht anhalten.
Ich musste Mate hier rausschaffen.
Der Türbogen brach direkt vor uns zusammen. Riss die Decke
und einen Balkon der darüber lag mit sich.
Ich riss die Augen erschrocken auf. Kurz hielt ich inne, sah
mich um. Wo lang? Was wäre der einfachste Weg. Nach dem
sichersten brauchte ich nicht zu suchen, denn hier und jetzt
gab es keine Sicherheit.
Ich festigte meinen Griff um Mates Hüfte. Wir müssten klettern, springen und irgendwie aus der Todesfalle die meine Burg
geworden war.
Ich sprang von Gesteinsbrocken zu Gesteinsbrocken. Fürchtete
die unsägliche Hitze welche mit der Fontäne aus Feuer gekommen war. Zumindest hielt ich es für Feuer. Wie sonst sollte
ich das hier betiteln?
100
Immer wieder mussten wir umstürzenden Säulen und einstürzenden Fluren und Torbögen ausweichen. Es kam mir vor,
als wären wir ewig in diesen mauern und suchten unter Beben
und Feuer einen Weg ins Freie.
Als wir ihn gefunden hatten erstarrte ich abermals. Der Himmel über uns schien beinahe schwarz.
Dicke Aschewolken verdunkelten die Sonne und das Rot der
Fontäne färbte die Unterseite in gespenstisches Rot.
Die Luft war dick und Mates Husten ließ mich kurz innehalten.
Er musste atmen. Aber das hier?
Das konnte man nicht atmen, ich war mir sicher, dass diese
Luft ihn umbringen würde. Ich hatte ihn nicht aus der Burg
geschafft um ihn elendig ersticken zu lassen!
Ich ließ meine Schritte ausklingen, riss ein breites Stück meines
Gewandes ab und deutete ihm es sich vor Nase und Mund zu
binden, während mein Blick über das Land, den Kessel glitt.
Ein breiter heißer Strom schlängelte sich den Berg herab, und
verbrannte alles was sich ihm näherte.
Begrub alles gleich ob Haus, Baum oder Stein was immer ihm
im Weg war.
Da wo noch Minuten zuvor meine Burg, meine Zuflucht gestanden hatte, klaffte ein großes Loch aus dem der rote Fluss
hervorquoll.
Große Gesteinsbrocken wurden aus dem Inneren des Berges
zusammen mit dem tödlichen Fluss und Asche aus dem Inneren
des Berges geschossen.
Ich war fasziniert von dieser Kraft und Macht und vergas einen
Moment sogar das ich, das wir fliehen sollten.
„Nebel…?“
Ich sah Mate an, mein Gewand schützte ihn vor der stickigen
Luft und ich nickte, riss ihn wieder an mich und lief. Mehr als
einmal sorgte das unerbittliche Beben dafür, das sich Gestein
unter meinen Füßen löste und ich den Halt verlor, aber noch
konnte ich uns ansatzweise auf den Beinen halten.
101
Ich vermied es zu stürzen, oder meinen Elben fallen zu lassen.
Beides wäre der sichere Tod.
Der Marktplatz…Die Gebäude versanken in der Flut, die Dächer aus Stroh rannten lichterloh.
Der Turm des Gotteshauses brach in sich zusammen und mit
einem letzten dröhnendem *DONG* verklang die schwere Glocke für immer.
Alle Arbeit für nichts, und alle Geheimnisse welche der Kessel
in sich geborgen hatte blieben verborgen und würden in Vergessenheit geraten.
Ich rannte, rannte am Rand des Kessels entlang, nutzte alte
ausgetretene Pfade, die eigentlich dazu dienten der Burg Proviant und Waffen bei Belagerung zu liefern, um nun so schnell
wie möglich fort zu kommen.
Flüchtige Blicke galten meinem Rückzugsort der mehr und
mehr unter dem breiten Strom zu schwinden schien. Nebelschwaden stiegen auf, als der Strom den See erreichte.
Meine Schritte verebbten abermals. Würde der See die leuchtend rote Flut aufhalten können?
Wasserdampf stieg zischend auf, ich betete und flehte das das
Wasser das Feuer zu löschen vermochte.
Aber mein Flehen wurde nicht erhört. Kurz schien sich der
Strom zwar zu verlangsamen aber schon einen Wimpernschlag
später rollte er mit unvermittelter Kraft weiter.
Ich hustete erstickt.
Die Luft brannte mir in Nase, Rachen und Augen. Man konnte
kaum ein paar Zentimeter weit sehen und die auf-steigenden
Tränen, ausgelöst von der brennenden Luft, waren nicht grade
hilfreich, meinen weg zu finden.
Ich blinzelte die Tränen weg, festigte den Griff um meinen Elben erneut. Weiter! Wir mussten weiter. Egal wohin nur weiter.
Wohin, ich konnte es nicht sagen, ich wusste es einfach nicht.
102
Zum Pass kämen wir vermutlich nicht, auch wenn ich das
nicht mit Bestimmtheit sagen konnte, war ich ziemlich sicher,
das der unter den andauernden beben zusammen gebrochen
war.
Wenn dieses Beben und alles andere, eine starke Burg niederreißen konnte, dann auch einen Durchgang, eine Höhle die aus
dem Kessel herausführen würde.
Aber das Wichtigste war ohnehin, erst einmal aus der unmittelbaren Gefahrenzone heraus zu kommen, und zu hoffen das
die Beben die den Kessel auseinander zu reißen drohten uns
nicht das Genick brechen würden.
Die Fontäne aus leuchtendem Rot schien langsam abzuklingen,
aber der zählflüssige Strom setzte seinen Weg fort, verschlang
alles was sich ihm in den Weg stellte.
Inzwischen hatte die rote Flut die alte Ruine erreicht und riss
sie nieder als wäre sie aus Papier. Ich löste meinen Blick vom
Bild der Zerstörung.
Weiter! Weiter! Schritt für –
NEIN! NICHT! Ein falscher Schritt?
Ich wusste es nicht, aber war mir sicher das dem nicht so war,
es nicht sein konnte.
Unter meinen Stiefeln brach die Erde auf, als wollte die Erde
selbst ihr breites Maul öffnen und mich in die feurigen Höllen
hinabreißen, wie alles das nicht fliehen konnte hinabgerissen
wurde.
Ich rannte, versuchte schneller zu sein als die Erde ihr Maul
öffnen könnte. Mate schrie etwas aber ich hörte es nicht.
Zu laut das Grollen und das Geräusch der aufbrechenden Erde.
Zu konzentriert auf jeden Schritt den ich tat als das ich hören
könnte was er sagte.
Ich hielt ihn fest, würde ihn nicht aus meinem Griff entlassen,
konnte nicht, durfte nicht. Ein Leben für ein Leben, wenn man
so wollte. Wir wären quitt!
103
Er hatte mich vor dem Tod durch den Engel bewahrt und ich
würde nicht zulassen, dass die Erde ihn verschlang. Ich würde
nicht zulassen, dass er so sein Ende fand.
ICH würde sein Ende bestimmen und ich verbot, dass es so geschah.
Ich würde sein Leben nehmen, auch wenn ich noch nicht
wusste wie, oder wo und wann. Aber es war mein Vorrecht
und das würde ich mir nicht von einem gottverdammten Berg
nehmen lassen!
Zorn war noch immer ein großartiger Indikator, auch wenn er
mir hier nichts nutzte. Ich hörte das zornige Grollen des Berges, spürte die unter meinen Schritten nachgebende Erde, die
unsägliche Hitze die aus dem Schlund heraufstieg und den Elben an meiner Seite.
Aber auch das nutzte mir am Ende nichts, als ich spürte, dass
mein Schritt ins Leere ging und Mates Griff sich festigte, ebenso
wie mein eigener.
Ich schlug mit einem eigenen Grollen die Klauen der freien
Hand in das an uns vorbeiziehende Gestein.
Tiefe Furchen bezeugten unseren Sturz und verlangsamten
mich nur um weniges.
Weiter hinab, Meter um Meter der unsäglichen Hitze entgegen.
War das dort, was die Priester als Hölle bezeichneten? War das
alles die Strafe für den toten Engel?
Waren diese heißen Fluten denen wir uns unbarmherzig näherten dazu gedacht uns und unsere Seelen zu verschlingen?
Schmerzhaft stöhnte ich auf, meine Nägel rissen unter dem Gestein ein, und meine Fingerkuppen sahen furchtbar aus. Das
Fleisch schälte sich schichtweise vom Knochen, aber es war mir
gleich.
Meine Knöchel schmerzten, immer wieder trafen wir auf kleine Vorsprünge, kleine Erhebungen und Vertiefungen im Stein
aber nichts das uns halten konnte.
104
Dieselbe Panik die ich verspürte, erkannte ich in Mates Miene.
Mit jedem Meter den wir in die Tiefe stürzten, verringerte sich
die Chance das hier zu überleben, und wuchs jene dass wir in
den flammenden Tot gingen.
105
Susanne Hoge
Diarys of Death
Der Nebel von Morta Sant
IV
ISBN: 9783739238944
106
Zwischenspiel
„Ich werde das Reich nicht aufgeben!“
Das hatte er auch jener gesagt. Das hatte er IHR auf den Zinnen
gesagt. Aber warum? Warum konnten wir nicht einfach gehen?
Weit weg, wo niemand uns kannte.
Wo die Häscher nur ein böser Traum waren. Warum konnte er
Morta Sant nicht aufgeben, damit wir in Frieden und Sicherheit
leben könnten?
„…weil es keinen Frieden, keine Sicherheit geben kann, solang
SIE leben.“
Ich nickte verstehend. Ja das machte… Moment!!! Ich hatte
nichts gesagt, hatte meine Gedanken nicht ausgesprochen…
oder?
Nein ich war mir fast sicher, dass ich nichts gesagt hatte.
Aber wenn ich nichts gesagt hatte…und er geantwortet
hat…bedeutete das…
Alexander beobachtete mich amüsiert, während die Erkenntnis
tröpfchenweise in mein Bewusstsein drang.
Wenn ich nicht gesprochen hatte, dann… ich wagte nicht den
Gedanken zu beenden.
„Ja.“
„Ja?“
„Ja! Wenn du nicht sprichst und ich antworte bedeutet das, dass
ich deine Gedanken lese.“
„Aber warum?“
Ich klang jämmerlich und er lachte leise.
Ich erbleichte und riss die Augen auf als mir die gesamten
Ausmaße dieses Geständnisses bewusst wurden. Fassungslos
schüttelte ich den Kopf.
DAS konnte nicht wahr sein, das DURFTE nicht wahr sein. Oh
scheiße! Verdammt!
107
In diesem Moment wünschte ich mir, die Erde würde sich
abermals auftun um mich zu verschlingen, ich würde einfach
…in den Schlund springen der mich verschlingen wollte.
Einer Flut gleich kamen mir tausend Begebenheiten in den
Sinn, als ich mich absolut irrational verhalten hatte und er nur
amüsiert schien.
Als ich mich vor dem Training mit ihm mahnte das er nicht der
Mann war, der die Stunden mit mir auf den Zinnen verbrachte.
Mein wirres Chaos, wenn ich ihm zufällig begegnet war.
Als ich mir überlegt hatte das ich irgendwann stark genug wäre
um seinen Erstgeborenen zu besiegen.
Aus den Augenwinkeln sah ich das Schmunzeln das seine Lippen umspielte.
Ich wusste nicht, mal mehr wann ich den Blick von ihm und
auf das Feuer gelegt hatte.
Mein Kampf auf den Zinnen, als ich hin und hergerissen war
zwischen gehen und bleiben.
Als ich versucht war vom Turm zu springen oder ob das nicht
sicherer wäre als in seinen Armen diese beängstigende Sicherheit zu finden.
Er musste mich für vollkommen geisteskrank gehalten haben.
Immer wieder hatte ich selbst diesen Verdacht gehabt, wie sollte er es da nicht gedacht haben?
Wie oft hatte ich mich über Verbote hinweg gesetzt, fest davon
überzeugt das es nie herauskäme.
Er unterdrückte ein auflachen. Verbote… Ich weitete die Augen. Er hatte es gewusst! Als ich ihm und den anderen Kriegern
gefolgt war. Er hatte gewusst, dass ich es vor gehabt hatte. Er
hatte es von vornerein gewusst!
Trotzdem hatte er es nicht unterbunden? Warum? Gut er hatte
mich bestraft oder wie auch immer man dieses Spektakel eines
Extremtrainings auch nennen wollte, aber mich nicht abgehalten obwohl er es zweifellos gekonnt hätte.
108
Zumindest eine Weile. Warum hatte er mich nicht aufgehalten,
denn eines war mir durchaus bewusst- er hatte es gewusst.
Wenn jemand wie ich, plötzlich ergeben und fügsam war sollten bei jedem die Alarmglocken schrillen und ich bin mir sicher auch bei ihm war das der Fall gewesen.
War es da nicht absolut logisch und nachvollziehbar, wenn er
seine verdammte Fähigkeit einsetzte um den Grund zu erfahren?
Und wenn nicht das, dann gab es ja noch die Erfahrung. Wenn
man es genau betrachtete hatte mein Mann bereits ein Alter
zwischen Gut und Böse erreicht.
Es hätte mir auffallen müssen! Im Nachhinein betrachtet, war
ich blind gewesen.
Sein unglaubliches Timing, vor allem wenn ich Unfug im Kopf
hatte, wie auf dem Weg zum Anwesen als er mich das erste Mal
mitnahm.
Meine weniger sittlichen Gedankengänge als wir die Nacht im
Kerzenmeer verbracht hatten. Ein Blick hatte gereicht und wie
auf ein unsichtbares Zeichen hin, hatten wir uns erhoben und
hatten uns zurückgezogen.
Es war gruselig. Aber unter dem Gesichtspunkt dieser Fähigkeit
erklärte sich so manches.
Meine weniger sittlichen Gedankengänge, das Durchspielen der
Dinge die wir im Schein der Kerzen vollzogen, hatten schlicht
den Wunsch oder die Lust geweckt, es zu widerholen.
Alexander beobachtete mich schweigend. Er wartete. Wartete
darauf, dass ich etwas sagte oder tat.
Aber die Erkenntnisse riefen einen lang vergessenen Effekt
hervor: Nach gefühlten Ewigkeiten war ich wieder das Kaninchen vor der Schlange.
Ich wusste nicht wie ich reagieren sollte, was ich denken oder
sagen sollte. Unwillkürlich rückte ich näher an meinen Mann
heran und er legte seinen Arm um meine Schultern.
109
Ich spürte seinen Fingern nach, die über meinen Oberarm strichen. Er hatte stets gewusst was in mir vorging, wusste es auch
jetzt da war ich mir sicher. Scheinbar abwesend folgte er meinem Blick ins Feuer.
Ich wusste jedoch, dass seine volle Aufmerksamkeit vorerst mir
galt. Das war seine Art mir trotz der Nähe Raum zum Nachdenken zu geben. Nicht das es viel brachte.
Immer mehr kleine Begebenheiten kamen mir in den Sinn.
Mehr und mehr versank ich in meinen Gedanken, Erinnerungen, Überlegungen.
Alles um mich herum verblasste, wurde unwichtig wie die Fähigkeit meines Mannes selbst auch.
Spielte es eine Rolle? War es wichtig, dass er in der Lage war,
meine Gedanken zu lesen wie ich ein Pergament las? Vermutlich nicht.
Seine sanfte Berührung an meinem Handgelenk durchriss den
Gedankenfetzen der mich grade noch gereizt hatte.
„Was?“
„Shhht“
Ein belustigter Ausdruck quittierte meinen irritierten. Eine
Gänsehaut überzog meinen Körper, als ich eine vertraute und
zugleich fremde Präsenz spürte. Warum in aller Mächte Namen
amüsierte ihm DIESE Präsenz?
Verlor er jetzt vollkommen den Verstand? Verdammt…
Gedankenlesen, also sollte ich erst einmal meine Gedanken im
Zaum halten.
Ich hätte diese an mich selbst gerichtete Mahnung vermutlich
schneller vergessen als mir lieb wäre, aber erst einmal hatten
wir andere Probleme, auch wenn mein Mann das nicht so zu
sehen schien.
„Komm!“
Noch ehe ich überhaupt an Einspruch denken konnte hatte er
uns auf die Beine gebracht und mich fest an sich gezogen.
110
Mein Kopf war wie leergefegt, aber das schien Alexander nicht
zu stören, im Gegenteil.
Mit der ihm eigenen Geschwindigkeit brachte er uns hinaus,
dieser Präsenz entgegen die Übelkeit in mir aufsteigen ließ und
Furcht weckte. Unser Ziel war die alte Ruine.
Und neben *Jener* Präsenz, die sich wie ich befürchtet hatte als
Himmelswesen herausstellte war noch jemand dort…ich kannte ihn.
Noir? Warum war Noir hier? Was taten die beiden hier und
was um aller Mächte Willen taten wir hier???
Selbst ohne zusätzliche Gefahr von Himmelsboten machte ich
einen großen Bogen um die Ruine und jeder mit einem Fünkchen Selbsterhaltungstrieb hielt sich dort fern.
Denn unterhalb der Ruine in der weitläufigen und labyrinthähnlichen Gruft, pflegte SIE zu ruhen. Und SIE zog es vor von
allen unbehelligt zu bleiben, bis die größte Not nichts anderes
zuließ als nach ihr zu rufen.
Jene beiden Gestalten die sich innerhalb der Ruinen und moosbewachsenen Mauerreste befanden schien das allerdings nicht
zu stören. Im Gegenteil.
Noir schien entspannt und amüsiert, ebenso wie sein Vater es
war. Wir hielten uns im Hintergrund, in Sichtnähe aber in sicherem Abstand.
Das Licht von Mond und Sternen bestrahlte die beiden so unterschiedlichen Gestalten.
Der Jäger, der Vampir hochaufgerichtet und stark. Ein Raubtier
durch und durch und nie war er so offensichtlich Raubtier gewesen wie in diesem Moment.
Die erhabene Selbstsicherheit stand ihm gut zu Gesicht, das
musste man ihm lassen.
Als gäbe es nicht das geringste, dass ihn aus der Ruhe zu bringen vermochte. Ein Windstoß erfasste die dunklen Strähnen
meines *Stiefsohns* und legte sie ihm ins Gesicht und plötzlich
verstand ich die Faszination Sidhs in der Taverne.
111
Man konnte kaum den Blick von ihm nehmen. Auch sein Gegenüber hielt seinen Blick beständig auf Noir. Aber vermutlich
weniger aus Faszination sondern eher aus Vorsicht.
Die Haltung des Himmelsboten war aufrecht, der Stand fest.
Seine Muskeln waren angespannt. Ein Katapult das darauf wartete das man das Seil durchtrennte auf das er seine Munition
fortschleudern könnte.
Anders als es bei Akina der Fall gewesen war, schien er nicht so
*rein* zu sein. Es könnte es den dunklen Haaren, der Lederhose
und der Weste liegen, den schweren Stiefeln und der Klinge die
das Bild vervollständigten.
Akina war so rein, so weiß und lieblich gewesen, das man sich
unwillkürlich zu ihr hingezogen fühlte.
Wäre nicht diese extreme Präsenz und die halb angelegten fedrigen weißen Schwingen, ich würde ihn nicht unbedingt als
Himmelswesen wahrnehmen.
Ich warf einen fragenden Blick auf Alexander. Er schien nicht
einmal darüber nachzudenken ob er eingreifen sollte oder
nicht. Warum?
„Hab keine Angst Nebel. Dir passiert nichts, und unseren Kindern eben so wenig. Vergiss deine Furcht und beobachte. Du
bist durchaus dazu in der Lage, also sieh und erkenne.“
Ich verdrehte die Augen. Eine Unterrichtsstunde? Ehrlich?
Jetzt?
Trotzdem stieß ich unnötig den Atem aus und konzentrierte
mich auf das was ich sah. Aber was genau sah ich?
Ich sah zwei Seiten der gleichen Medaille. Hell und Dunkel.
Schwarz und Weiß. Tag und Nacht. Gut und Böse.
Ein eindrucksvoller Anblick, der ein dunkles Ahnen auf meine
Seele legte. Klischeehaft irgendwo.
Das sah ich. Aber was ich nicht sah, war viel interessanter.
Sie standen einander gegenüber aber sie kämpften nicht. Ich
versuchte zu erkennen was vor sich ging. Warum sie nicht
kämpften.
112
„Mmmhhh es ist beinahe eine Freude dich wiederzusehen.“
Das Ziehen der Silbe kam einem samtigen Schnurren gleich
und das von einer kaum merklichen Drehung des Kopfes begleitet wurde.
Das Gegenüber spiegelte diese Bewegung. Ob bewusst oder unbewusst konnte ich nicht sagen.
„Eine Freude die ich nicht teile Bestie!“
Ich erstarrte. Dieser Klang. Diese Stimme. Viel stärker als ich es
von Akina in Erinnerung hatte.
Eine Stimme die in mir den Wunsch und das unbändige Verlangen weckte auf die Knie zu fallen und um Vergebung zu
bitten. Wofür auch immer.
Verblasste Narben, Spuren auf meiner Haut schienen erneut im
Feuer zu liegen, auch wenn das nur meine Einbildung war.
Durch diese Stimme hervor gerufene Einbildung, Erinnerung
eines längst vergangenen und unvergessenen Schmerzes.
Alexander drückte mich sanft an sich und es wirkte. Beinahe
augenblicklich beruhigte und entspannte ich mich.
In seinen Armen würde ich immer sicher sein, in seiner Nähe
würde mir nichts passieren.
Der Fels in der Brandung, unnachgiebig und stark, gleich wie
stark die Wellen auch dagegen drängen mochten.
„Nanana… müssen wir diese Diskussion wirklich noch einmal
führen, hm?“
Noirs Stimme war tadelnd und schien für das ungeschulte Ohr
sanft zu sein. Aber wir hörten die schneidende Kälte heraus die
in jeder Silbe mitschwang.
Nicht so offensichtlich wie es bei mir der Fall war, wenn ich
mich um Kälte und Distanziertheit bemühte, sondern viel subtiler und gefährlicher.
„Noch einmal?“
Ich wagte nicht lauter zu sprechen als das Wispern das meine
Frage stellte. Ich wagte nicht irgendetwas zu tun, das die Aufmerksamkeit des Engels auf mich lenken könnte.
113
Ich presste mich fester an Alexander, zog Sicherheit aus seiner
Nähe und spürte das knappe Nicken das meiner Frage folgte
und seiner Antwort voran ging.
„Vor beinahe vierhundert Jahren, oder sind es bereits fünfhundert? Ich weiß es nicht genau zu sagen, trafen die beiden schon
einmal aufeinander.“
Ich hatte mir geschworen dieses Himmelsding nicht aus den
Augen zu lassen, aber etwas in Alexanders Stimme zwang mich
dazu ihn anzusehen.
Ein kühles Lächeln umspielte seine Lippen, und in seinen Augen die fest auf die Szene vor uns gerichtet waren spiegelte sich
tiefer Stolz für seinen Erstgeborenen wieder.
„Noir ist begabt, außerordentlich sogar. Die Schatten sind ihm
eine zweite Natur. Gehören zu ihm wie die Sterne zur Nacht.
Er muss ständig kämpfen.
Darum sich nicht in ihrer ewigen Dunkelheit zu verlieren, die
Oberhand zu behalten. Andernfalls…wäre es sein Ende.“
Ein Drahtseilakt der besonderen Art wenn man so wollte. Was
genau er tat oder tun konnte, wusste ich nicht.
Man nannte ihn kurzerhand Schattenwandler oder ähnliches
und ich hatte es nie hinterfragt.
Aber der Stolz in Alexanders Blick sagte da etwas ganz anderes.
Das es mehr war als dieses lapidar hingesagte Wort.
Das die Beschreibung der anderen hinfällig machte.
Noirs Macht war weitreichender als ich bis dahin geahnt hatte
und ich war mir nicht sicher, ob ich die volle Tragweite dessen
begriff.
Der Engel Noir gegenüber begriff ganz offensichtlich. Seine
Haltung war angespannt. Als wollte er entweder jeden Moment
angreifen…oder aber fliehen.
„Erzähl weiter.“
Beinahe atemlos brachte ich meine Bitte hervor.
114
Naive Neugier, wenn ich nicht fürchten müsse vor mir etwas
zu verpassen würde ich an den Lippen meines Mannes hängen,
jedes Wort begierig aufsaugen. Mehr erfahren, mehr wissen.
Wissen war Macht, Macht war Anstrengung und Verantwortung.
Nur Narren strebten nach Macht. Nicht das dieses theoretische
Wissen etwas änderte.
Vielleicht wollte ich es nur wissen um zu erkennen was hinter
der Fassade steckte die Noir Vemo mich und jeden anderen sehen ließ.
Mit Ausnahme von Joycelin vielleicht.
„Nun sie kämpften drei Tage lang, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln. Aller Kraft die sie aufbringen konnten. Noir genoss es.
Genoss es mit seinen Worten das Selbstwertgefühl des Engels
zu untergraben, ihn zweifeln zu lassen. Er war nicht gewillt
aufzugeben.
Die Schatten zerrten an ihm, versuchten die Kontrolle über ihn
zu erlangen und er versuchte die Kontrolle über sich und sie zu
erhalten und den Engel zu vernichten.
Das Dorf lag in Schutt und Asche, die angrenzenden Wälder
waren vollkommen zerstört.
Kein Sieger kristallisierte sich aus diesem eigenwilligen Kampf
heraus. Weiter zu kämpfen hätte bedeutet, dass es noch mehr
Zerstörung gäbe, und keiner von beiden war dazu gewillt.“
Ich sah abwechselnd zwischen Alexander und seinem Sohn hin
und her.
Sie waren sich so ähnlich, und konnten zugleich nicht unterschiedlicher sein. Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, was
Alexander mit jemandem wie mir wollte.
Er war alt und ich wusste nicht einmal wie alt. Mächtig und ich
wusste nicht einmal was für Fähigkeiten er hatte. Nicht einmal
Noirs Macht war mir im Ansatz bewusst gewesen.
115
Ich war ein halbes Kind, in ihren Augen würde ich das ewig
bleiben. Meine Macht und Fähigkeiten würden nie an die der
beiden heran reichen.
Dumm das ich sowas immer dann vergaß, wenn ich auf Kardinäle oder Engel traf und sie nicht da waren.
Oder ich neugierig wurde was mit Bergkesseln passierte. Ich
schüttelte den Kopf. Es brachte nichts darüber nachzudenken.
Es war wie es war, fertig.
Ich spürte Alexanders Blick auf mir, spürte das belustigte Lächeln das seine Lippen umspielte. Ich musste nicht einmal hinsehen.
„Lass das!“
„Ich habe nichts gesagt oder getan.“
„Du hast nichts in meinem Kopf zu suchen, wenn ich es nicht
erlaube.“
Ich wusste es klang trotzig, und ich spürte wie Alexander ein
Lachen unterdrückte, und auch Noirs Lippen umspielte einen
flüchtigen Moment lang ein belustigter Zug.
Ich schenkte meine Aufmerksamkeit wieder dem Treiben vor
uns, versuchte mich nur auf die Beiden zu konzentrieren. Das
war bei weitem nicht so einfach wie es klingen mag.
Sie taten nichts, standen einfach nur da und sahen sich an. Eine
Spannung baute sich mit jedem unnötigen Atemzug auf. Mehr
und mehr.
Und nichts schien zu geschehen. Wie lange sollten wir noch
hier harren? Welchen Sinn hatte diese Zusammenkunft?
„Warum bist du hier mein alter Freund.“
Der Unwille ob dieses Wortes allein stand dem Himmelsboten
ins Gesicht geschrieben. Ich konnte ihn sogar verstehen, andersherum wollte ich von diesen Kreaturen auch nicht unbedingt als *Freund* betitelt werden.
„Eure Zeit neigt sich dem Ende, und weder du noch sonst jemand wird überleben.“
116
Noir lachte leise und ich war irritiert. Was war daran gleich
amüsant?
„Bist du es nicht Leid, ständig solche Botschaft zu bringen, die
Trompeten zu blasen und das Jüngste Gericht zu beschwören?
Oh mein lieber, armer Freund…“
War das Mitleid? Mitleid das in Noirs Stimme mitschwang?
War er noch bei Sinnen? Langsam begann Noir den Engel zu
umkreisen.
Neckend fuhren die Fingerspitzen über die Wulst der halbgeöffneten Schwingen und der Engel erschauderte tatsächlich.
Ich konnte nicht erkennen ob es unterdrückte Wut war, die
den Leib des Engels erzittern ließ oder ob es etwas… anderes
war.
„Und selbst wenn du Recht behalten solltest, was dann, hm?
Was wird dann sein. Wirst du heimkehren?“
„Was kümmert es dich?“
„Sag es mir!“
Noir hatte sich vorgeneigt, die wenigen Worte leise an das Ohr
des Engels geraunt, während seine Finger die reinweißen Federn neckten.
„Sag es mir.“
Der Engel schloss die Augen, schien sich sammeln zu müssen.
„Ja ich kehre heim zu meinem Vater.“
„Und all den anderen?“
„Und all den anderen…“
Wieder lachte Noir leise, setzte den flüchtig unterbrochenen
Gang fort, der ihn wieder weiter um den Engel führte.
Bedauern spiegelte sich auf den feingemeißelten Zügen meines
Stiefsohns wider.
„Wie wirst du es ihnen erklären, mein Freund? All das Blut?“
Er nahm die Hände des Engels in seine betrachtete sie eingehend, ehe er dem Himmelsboten wieder ins Gesicht sah.
„So viel Blut… das Blut Unschuldiger das an deinen Händen
klebt. Sag mir wie viele waren es?“
117
Die Miene des Engels zeigte einen Moment tiefste Qual, ehe sie
wieder vollkommen neutral wurde.
„Schweig!“
Was ein Befehl werden sollte klang jedoch beinahe bittend,
flehend wenn auch nur verborgen unter dem Versuch wenigstens dieses Wort kräftig und klar auszusprechen.
Ich begann zu begreifen, warum Alexander so amüsiert gewesen war, als er diese Präsenzen ausgemacht hatte. Das hier war
tatsächlich unterhaltsam.
Noir s Lächeln hatte etwas Groteskes, Beängstigendes. Er gab
die Hände des Engels frei, nachdem sein Daumen ein letztes
Mal die blasse Haut der Handrücken gekost hatte.
„Wie oft, das der Schrei eines Kindes dich hat inne halten lassen?
Dass ein Kind mit weit aufgerissenen Augen und dicken Tränen
hinter dir und deiner Beute hergerannt ist und laut nach seinem Vater schrie, nach seiner Mutter schrie? Oh Mikal…“
„…schweig …schweig doch einfach…“
Mikals Stimme zitterte, seine Schultern bebten kaum merklich
und nur das Rascheln der fedrigen Schwingen sprach davon.
Aber Noir schwieg nicht. Nein er war – wie sein Vater- ein Sadist wie er im Buche stand. Grausam und kalt. Das Leid des
Gegners war sein Vergnügen und der Engel – Mikal?- litt unsäglich.
„Mikal… oh mein lieber Mikal. Kannst du sie noch hören?
Wenn du die Augen schließt, kannst du sie sehen?
Die Tränen, die Trauer… all das Blut das von deinen Händen,
deiner Klinge tropfte?“
Noir s Hand legte sich kurz nur auf die Schulter des Himmelsboten, strich langsam herab und einen flüchtigen kaum wahrnehmbaren Moment verflochten sich die Finger der beiden
Kontrahenten miteinander.
So kurz, das ich beinahe glaubte, das das nicht passiert war.
118
Wenn man es genau betrachtete, war es auch lachhaft oder?
Warum sollten ein Vampir und ein Engel, ganz gleich wie kurz
auch, Händchen halten?
Der Moment war vorüber, und ein flüchtiges Bedauern spiegelte sich auf den Engelszügen.
Noir s Hand wanderte weiter herab, den Oberschenkel, den
Schwertgriff und die Scheide entlang, welche er kurz umfasste,
ehe er die Berührung aufgab und seinen Gang um den Engel
wiederholte.
„Ich… vernichte das Unreine, in seinem Namen. Und sein
Wort ist Gesetz, sein Wort schenkt Erlösung und Vergebung.“
„Und wie kannst du dir vergeben?“
„…“
„Wie willst du je vergessen?“
„….“
„Die Anderen... wie sollen sie verstehen? Du wirst nie wieder
einer von ihnen sein. Nie wieder so rein sein. Die Schatten des
längst abgewaschenen Blutes werden dich bis zum jüngsten Tag
verfolgen.
Die Schreie niemals verklingen, die Tränen nicht versiegen. ER
mag dir vergeben… aber was ist mit dir?“
Schweigen. So laut, das es beinahe dröhnend schien. Selbst der
leichte Wind hatte sich gelegt, als warte alles darauf, dass der
Engel sprach, Antwort gab, welche Noirs Worte vergessen sein
ließen.
„Und ob ich auch wanderte im finsteren Tal, so fürchte ich…“
„Im finsteren Tal…? Mikal…“
„..ich kein…“
„Er ist nicht hier. Nicht bei Dir. Ich bin es. Ich bin das finstere
Tal, der schwarze Abyss und bin kein…“
„…Unglück…“
„…Unglück…“
Gemeinsam sprachen sie dieses eine Wort und ich erschauderte
unwillkürlich.
119
Noir fuhr abermals durch das helle Gefieder, und ich stutzte.
Einzelne Federn schienen sich unter dem kosenden Streichen
der kalten Finger zu lösen, zu verdunkeln und auf das feuchte
Gras und das zerfallene Mauerwerk herab zu sinken.
Was war das? Wie war das möglich? Schneeweiß, rein und unschuldig wandelte sich in tiefes schwarz, zu Staub zerfallend
kaum das der Grund erreicht ward.
„Nein Mikal, nicht ich bin das Unglück. Nicht ich..“
Abermals neigte Noir sich dem anderen zu, sprach rau und leis
an das Ohr das einst den Allvater gehört haben mochte.
„Er schuf die Erde, Menschen und Tiere, Feuer und Wasser.
Dann betrachtete er sich seine Schöpfung und erkannte, dass es
gut war.“
Ich hatte nicht angenommen das Noir sich mit der Schöpfungsgeschichte auskannte.
Offenbar hatte auch sinnloses Wissen dann und wann seine
Vorteile, besonders wenn es darum ging, einen Feind in Zweifel zu stürzen.
„Wenn er der Allvater ist, und alles schuf was hier wandelt…
dann bin auch ich eine seiner Schöpfungen.“
„Aus Luzifers Schoß entsprangen die Kreaturen der Nacht!“
„Ahhhh der Lichtbringer, der Sohn der Morgenröte… du selbst
fochtst gegen ihn, nicht wahr? Er war der Liebling deines Vaters.
Er war eine seiner Schöpfungen. Der aufbegehrte wie Kinder es
nun einmal tun… Mmmhhh“
Genießend sog Noir den Duft des Engels ein, und weitere
dunkle Federn sanken lautlos zu Boden und wurden Staub.
„Verstoßen, verbannt als sein Sinn und Zweck sich erfüllt hat.
Nicht das Blut unschuldiger klebte an den Händen deines Bruders.
Und doch musste er fallen, hinab in die Tiefe, hinab in die
Dunkelheit. Warum sollte dein Vater grade DIR vergeben?“
„Weil…“
120
„Schöpfung gegen Schöpfung, Bruder gegen Bruder… Aug um
Aug, Zahn um Zahn… wofür Mikal? Für Meere aus Tränen?
Ströme aus Blut? Wehklange im Abendwind?“
„..nein… schweig... schweig!“
„Er verbannte SIE weil sie nicht gewillt war, sich zu unterwerfen. Er verbannte deinen Bruder weil er sich auflehnte. Was
wird er mit dir tun? Wohin willst du fliehen? Wo wirst du deinen Frieden finden?
Bei deinen Brüdern und Schwestern im Paradies? Bei deinem
Vater? Beim Sohn der Morgenröte? Unter den Sterblichen? Wo
Mikal, wird dein Weg enden?“
Mikal schwieg und ich hielt unbewusst den Atem an. Ich wagte
nicht zu blinzeln, aus Furcht ich könnte auch nur eine Winzigkeit verpassen.
Was auch immer das für eine Art zu kämpfen war, sie war offenkundig äußerst effektiv.
„…ich weiß es nicht…“
Nur ein Flüstern, das im Windhauch verloren ging. Nur ein
Flüstern begleitet vom Rascheln der Federn die herabrieselten
wie Schneeflocken.
Schwerelos treibend auf den Strömungen der Luft, sich vereinigend mit dem Grund und vergehend.
Nur ein Flüstern das Noir lächeln ließ. Er hatte gewonnen. Die
Haltung des Engels sackte in sich zusammen. Nichts Kämpferisches war mehr an ihm.
Nichts das mir Angst zu machen vermochte. Ein einziges Flüstern, ein paar wenige Worte hatten alle Furcht beiseite gewischt.
„Soldat eines rachsüchtigen Vaters… Er hasst was er nicht kontrollieren kann, darum jagst du mich. Er zwingt dich Leid zu
bringen. Gegen dein Innerstes zu handeln.
Beschwöre das Jüngste Gericht mein Freund und fürchte was es
für dich bereithält.“
121
Eine im Schein der Nacht silbrig glänzende Träne befreite sich
aus den Augenwinkeln des Engels und hätte wohl für manch
Sterblichen den Wahnsinn bedeutet.
Doch davon war Noir weit entfernt, oder bereits darüber hinaus.
Er betrachtete den Weg des salzigen Tropfens auf der Haut, ehe
er sich vorneigte und jene Spur der puren Verzweiflung mit
den Lippen aufzunehmen.
Der Kampf im Inneren des Engels war an seiner Haltung abzulesen. Den Vampir fortstoßen oder sich in eine kalte Umarmung fallen lassen?
Ich wusste nicht, wann ich das letzte Mal etwas derart aufregendes erlebt hatte, ohne mich selbst in Gefahr zu begeben.
Würde der Engel sich tatsächlich den Worten Noirs ergeben?
Was sollte das mit den fallenden Federn?
Es waren nicht viele, aber genug. Vielleicht zwanzig oder dreißig seit Alexander und ich hier waren.
„Engel können fallen, Nebel.“
Alexander… ich würde mich daran gewöhnen müssen, das er
in meinem Kopf, meinen Gedanken herumstöbern konnte
wenn ihm danach war. Diesmal war es durchaus praktisch.
„Ist es das, was Noir vorhat? Will er ihn stürzen?“
„Möglich.“
Was sollte man mit einem gefallenen Engel anfangen? Außer,
dass der Weg dorthin wirklich spannend war. Die Schultern
des Engels sanken herab, der Blick senkte sich.
Ein Schritt zurück, dann noch einer. Noir ließ ihn gewähren,
lächelte lediglich süffisant, kühl.
Sie sprachen nicht und wir rührten uns nicht.
Alles war von Noir gesagt worden, und trotz allem hatte der
Engel nicht kontern können. Nicht die Wahrheit verleugnen
können, die der Vampir Noir Vemo ihm so schamlos präsentiert hatte.
122
Mikal wandte sich ruckartig um und stob in die Dunkelheit
und Nacht davon. Vom Wind erfasst ein paar wenige Federn,
schwarz wie die Nacht und zum Tode verurteilt.
Und Noir? Sein Blick glitt hinauf in den sternenbehangenen
Himmel, wo zahlreiche Wolkenfetzen Akzente ins nachtblau
setzten.
Ein herausforderndes Lächeln umspielte seine Lippen. Beinahe
als wollte er sagen: War das schon alles? Hast du nicht mehr zu
bieten?
Er ergriff eine Feder, sog tief den Duft des Engels ein ehe er sie
lachend in der Hand zerbröselte.
Das Spiel war vorbei, und in einer Nacht, dieser einen Nacht
waren die Geschöpfe der Dunkelheit auf der Siegerseite.
123
Eine Kutschfahrt
Ein Ruck ging durch die Kutsche und aus Reflex zog ich die
beiden Geschöpfe an mich heran, als die Kutsche sich überschlug. Ich schützte ihren Leib mit meinem, denn sie waren
zerbrechlich und ich nicht.
Ein Rad war gebrochen, sowas kam vor. Allerdings wäre mir
lieber gewesen, wenn nicht. Wir waren nicht mehr weit von
zuhause. Ich kannte diese Gegend, ich kam oft hier lang wenn
ich jagte, und manches Mal hatte ich einfach mit meiner Tochter im hohen Gras und den zahlreichen Büschen verstecken
gespielt.
„Seid ihr in Ordnung?“
„Mama? Aua…“
Lissa hielt mir einen aufgeschürften Ellenbogen hin und ich
pustete sanft darüber und strich ihr über das glänzende Haar.
„Gleich ist es wieder gut, hm? Mate?“
„Ich glaube ich bin unverletzt.“
Ich hob fragend eine Braue und musterte ihn eingehend, ehe
ich mich duckte, und den beiden mit dem Zeigefinger auf den
Lippen bedeutete zu schweigen.
Schritte. Nicht weit von uns weg und sich nähernd. Irgendjemand muss den Sturz der Kutsche oder den Lärm der daraus
resultierte gehört haben.
Ich atmete tief ein, nahm die Gerüche und Geschmäcker auf,
welche in der Luft lagen und erstarrte. WEIHRAUCH! Das war
unverkennbar Weihrauch.
Unser Unfall hatte Kirchenmenschen angelockt. Der Geruch
setzte sich in ihren Kleidern fest, haftete an ihrer Haut, in ihren
Haaren. Sie würden ein Leben lang danach riechen.
Ich bedeutete den beiden anderen zu mir zu kommen und zu
schweigen. Ich zog sie mit hinter ein Gebüsch, als die Fackeln
in meinem Blickfeld erschienen.
124
Ich drückte sie dicht an mich. Hörte ihren Herzschlag, spürte
die Wärme die von ihnen ausging. Ich musste sie beschützen.
Meiner Tochter durfte nichts geschehen.
Mate konnte noch kämpfen, aber auch ihn würde ich mit aller
Kraft und macht beschützen die ich aufbringen könnte.
„Mama?“
Clarissa schniefte und wischte sich mit dem Ärmel über die
laufende Nase. Dicke Kullertränchen rollten über ihre Wange.
Es war mehr Angst und Anspannung als der Schmerz des aufgescheuerten Knies.
„Shhht mein Engel. Sei ganz still. Dir passiert nichts.“
Aus großen ängstlichen Augen sah sie zu mir auf und ich
drückte sie ein wenig fester an mich.
„Alles wird gut, aber jetzt müssen wir alle ganz, ganz still sein.“
Ich hoffte es zumindest. Eine Gruppe von fünf Häschern kam
immer näher. Ich hörte ihre Schritte, ihren Herzschlag. Vernahm Gesprächsfetzen.
„…Da vorn kam es her.“
„Ist das eine Kutsche?“
Mit ihren Fackeln versuchten sie zu erkennen was vorgefallen
war.
Sie erreichten die Kutsche, die auf der Seite lag. Das Pferd
musste irgendwie losgekommen und getürmt sein. Nur wenige
Meter trennten sie von den Büschen hinter denen wir uns verbargen.
Einer von ihnen untersuchte die Kutsche, folgte der Spur die
diese im Fall genommen hatte.
„Schwärmt aus, seht euch um. Sie können nicht weit weg sein.“
Zwei schwärmten zu beiden Seiten aus um die Umgebung zu
untersuchen und zwei kamen auf uns zu.
Sie durften uns nicht finden. Meine Tochter, mein Elb.
Sie durften uns nicht finden. Was mit mir war, oder sein würde
wenn sie mich in die Finger bekämen, war mir vollkommen
gleichgültig.
125
Solange die beiden anderen sicher wären, war alles egal. Mein
Blick glitt über die Umgebung.
Keine Hundert Meter von unserer Stelle entfernt lag ein Waldstück. Schwacher Feuerschein in den Wipfeln verriet mir, dass
die Häscher von dort gekommen waren und dort vermutlich
ein Zwischenlager hatten.
Wenn ich es schaffte ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken
und in den Wald zu rennen, könnte Mate meine Tochter in
Sicherheit bringen.
Mate legte seine Hand auf meine, zwang meine Aufmerksamkeit auf sich und schüttelte mit entschlossenem Blick den Kopf.
Er hatte meine Absicht erraten. Natürlich war er dagegen.
Aber irgendetwas musste ich doch tun! Ich konnte nicht einfach tatenlos warten bis sie uns entdeckten.
Sie kamen immer näher.
Ich schloss die Augen.
*Bitte… hier ist nichts… hier ist nichts. Sie dürfen uns nicht
sehen*
Immer wieder sagte ich im Geiste diese Worte.
*Hier ist nichts, sie dürfen uns nicht sehen. Hier ist nichts! Geht
wieder! Hier ist nichts... Geht wieder!*
Ich war kein kleines Kind mehr, das wenn es die Augen nur
fest genug schloss und sich einredete das nichts Böses unter
dem Bett lauerte, wirklich sicher war.
Aber ich konnte nicht anders. Die Arme fest um die beiden
anderen geschlungen widerholte ich das innere Mantra. Gras
raschelte ganz in unserer Nähe.
Der Schein von Fackeln fiel auf unsere Gesichter.
*Hier ist nichts! Geht! Hier ist nichts! Geht!*
Ich roch Schweiß und Weihrauch, den Geruch meiner Tochter
und meines Elben. Ihre Herzen rasten.
„Hier scheint nichts zu sein. Gehen wir zurück.“
126
Was??? Ich riss die Augen auf, starrte die Flamme der Fackel an
die nur eine Handbreit von meinem Gesicht entfernt war. Ich
spürte die Hitze.
Ich spürte die Nähe des Häschers. Sah ihm geradewegs ins Gesicht, aber er… er sah durch mich hindurch. Er sah einfach
durch mich und die beiden anderen durch.
Warum?
*Hier ist nichts! Geh fort!“
Das konnte nicht sein, oder? Kühler Wind streifte mein Gesicht. Die Fackel und sein Träger entfernten sich von mir, von
meiner Tochter und meinem Eigentum. Sie gingen einfach.
Alle fünf, kehrten in das Waldstück zurück.
In das Lager zurück und ich hockte mit fassungslosem Ausdruck hinter einem Gebüsch und begriff nicht, was hier geschehen war.
Hatte ich sie vertrieben? Das war Unsinn. Ich hatte nichts gemacht, und hatte nicht einmal den Hauch irgendwelcher Fähigkeiten bislang gezeigt.
Aber ich hatte es gewollt. Hatte gewollt, dass sie nichts sahen,
dass sie fortgingen. Und obwohl er direkt vor uns war, hatte er
nichts gesehen. Obwohl sie uns entdeckt haben müssten, hatten sie es nicht und waren gegangen.
„Wir… sollten zusehen, dass wir wegkommen…“
Meine Stimme war tonlos, mein Verstand hatte noch nicht
ganz realisiert, das wir eben einer Gruppe Häschern entkommen waren, ohne das es einen Kampf gegeben hatte.
Es war nicht wichtig. Zumindest für den Moment. Ich musste
Lissa ins Bett bringen. Sie war müde, ich musste sie zurück ins
Schloss und in Sicherheit bringen.
Ich erhob mich, nahm sie auf den Arm und küsste sie sanft auf
die Stirn.
„Nach Hause, meine Kleine?“
„Hause…“
127
Sie kuschelte sich fest an mich, schlang ihre Arme so fest sie
konnte um meinen Hals.
Ich sah prüfend zu Mate und er sah nicht weniger irritiert aus
wie ich, aber zumindest schien er zu wissen, dass dies der falsche Moment war.
„Komm, halt dich an mir fest Mate.“
Gehorsam legte er einen Arm um meine Hüfte und hielt sich an
mir fest. Ich legte einen Arm um ihn, schob meine Finger unter
seinen Gürtel und lief los.
Ich wollte nur noch nach Hause. Bis zum Schloss hatte ich
mich wieder so weit unter Kontrolle das ich meine übliche
Maske vor den Bewohnern und Schutzsuchenden aufrecht halten konnte.
Ich legte Clarissa in mein Bett und kaum das sie sich in die vielen Kissen und die flauschige Decke gekuschelt hatte war sie
eingeschlafen.
Ich ging hinauf auf die Zinnen und wusste das Mate mir folgen
würde.
„Was ist da passiert, Nebel?“
Ich starrte in die Dunkelheit, auf das Land das langsam aber
sicher in den Schlaf glitt. Mates Frage entlockte mir ein Lächeln.
Ja was war da passiert?
Eine gute Frage, aber die Antwort kannte ich nicht. Ich war
mir nicht sicher, was genau passiert war. Und er offenbar auch
nicht.
„Ich habe immer wieder gebetet, dass sie nichts sehen, dass sie
wieder gehen. Immer wieder. Sie müssten uns gesehen haben,
oder?“
Mate nickte zustimmend und schenkte mir ein kurzes tröstendes Lächeln. Natürlich mussten sie, aber sie hatten nicht. Ich
war irritiert, verwirrt und von der Situation vollkommen überfordert.
128
„Ich nahm an, dass er gleich nach seinen Leuten rufen würde,
oder Euch mit der Fackel in Brand setzen würde.“
„Mate?... Denkst du… denkst du… ich war das?“
Mir wurde erst jetzt bewusst, dass ich ängstlich klang. Ich griff
nach Mates Hand, genoss die tröstende Wärme und trat näher
an die Zinnen heran.
„Ja, ich denke das ward Ihr. Ihr habt uns gerettet.“
„Ich habe keine Fähigkeiten, Mate. Ich hatte nie welche. Ich
bin zu alt, als das sich jetzt noch Fertigkeiten ausbilden würden.“
„Offensichtlich irrt Ihr da…“
Er klang neckend, und ich lachte leise, schenkte ihm einen
sanften Blick. Ja offensichtlich irrte ich. Ich wünschte ich
könnte nun Sidh um Hilfe oder Rat bitten.
Er wüsste was ich tun müsste. Oder Alexander.
Er würde mit mir trainieren, damit ich diese Fähigkeit – wenn
es denn eine war und nicht einfach nur unwahrscheinliches
Glück - kontrolliert nutzen könnte.
Sie würden mir sagen können, was ich tun müsste. Könnten
mir erklären, was passiert war, was ich getan hatte oder wie.
Aber sie waren weit fort, und ich hoffte, dass die Gruppe nicht
auf dem Weg hierher war.
„Geh rauf in deine Kammer Mate. Breite alles vor, um meine
Zufriedenheit mit dir in der letzten Zeit angemessen zu zeigen.“
Ich schmunzelte, gab seine Hand frei und blickte noch einige
Momente lang auf das Land hinab, ehe ich ins Schloss zurückkehrte.
Ich musste Grenzpatrouillen aussenden und zumindest jene
davon in Kenntnis setzen, was am Abend geschehen war. Niemand sonst musste es wissen.
Niemand müsste erfahren, dass die Häscher, oder einige von
ihnen viel zu nah an den Grenzen dieses Reiches waren.
129
Ich wollte den anderen noch ein wenig Ruhe und Frieden gönnen. Selbst wenn es nur falscher war.
Erst danach begab ich mich in den Turm meines Eigentums.
Beim Spiel, auf dem Ausflug als auch die Zeit davor, hatte er
sich als überaus nützlich erwiesen.
Als treu und loyal. Er hatte sich Lohn verdient, und nach dem
Schrecken heute, würde es mir nicht weniger gut tun, den ersehnten Schmerz zuzufügen.
130
Der Sturm – Teil 1
Manchmal bevor ein großer Sturm aufzog, färbten sich die
Wolken in ein dunkles trübes Grau. Regenschwer bahnten sie
sich ihren Weg über den weiten Himmel.
Manchmal jedoch, wenn ein besonderes Unwetter heraufzog,
dann war das nicht alles.
Dann baute sich eine unnatürliche Stille auf. Viele Schattierungen aus Grau und scheinbaren Brauntönen verdunkelten das
Blau.
Die Wipfel der Bäume, die Spitzen des Grases oder der Felder
begannen stets vor einem Sturm sich sacht zu wiegen, nur einen Moment.
Ein Moment ehe die Welt stillzustehen schien.
Doch wenn dazu die Luft einen grünen Schimmer erhielt, war
alles beten beinahe umsonst. Denn mit aller Macht tobte Gottes
Zorn dann über seine Welt.
So war es auch an jenem einen Tag. Bis zum Sturm, der in Sekunden hereinbrach und die Welt aus den Angeln hob war es
ein angenehmer Sommertag gewesen.
Einzig Mücken und Gewitterwürmchen kündigten an das der
Tag nicht so freundlich enden würde wie er begonnen hatte.
Als jener Tag begann, hatte Sommernebel weich und sanft die
Bäume umschmeichelt und zarter Tau die Halme und Blätter
und Blüten geküsst.
Der Gesang von Vögeln weckte Jung und Alt. Und wer aus dem
Fenster sah, wusste dass es ein wundervoller Tag werden würde. Alles ging wie von selbst. Keine Mühen, keine Lasten die zu
schwer waren.
Alles war möglich. Man war unbesiegbar und frei.
Die Kinder kühlten sich in den Seen ab, tauchten nach dem
schimmernden Steinen, schwangen sich an einem Seil ins kühle
Nass und fanden zahllose Mutproben und endlose Gründe für
Lachen und Heiterkeit.
131
Und zugleich war ein Ahnen dort, das besonders die Alten verspürten. Jene die mehr gesehen hatten als die ausgelassenen
Stunden des Sommers.
Sie konnten es nicht benennen, keinen Namen dafür finden, bis
es zu spät war. Doch nicht einmal nur für sie.
Es wurde nicht kälter, oder schwüler wie man es vielleicht erwarten würde. Der Himmel zog nicht langsam zu, sondern gespenstisch schnell.
Grade noch strahlte die Sonne vom azurblauen Himmel, und
im nächsten Moment waren dicke regenschwere Wolken soweit das Auge reichte.
An manchen Stellen brach das Licht hindurch, und gab der
Szene einen beängstigenden Schein. Als umhülle man Baum
oder Strauch oder Wesenheit mit einer Corona aus strahlendem
Licht inmitten der Dunkelheit.
Beige, braun und Grau in den verschiedenen Facetten tupften
die Wolken. Vielleicht war es nur eine Sinnestäuschung.
Eine Sinnestäuschung wie auch der grüne Schein, das Flirren,
das in der Luft lag.
Unwirklich. Gespenstisch. Unheilverkündende Stille auf allem.
Ehe das Chaos losbrach. Ein Wind kam auf, riss Bäume aus und
um.
Deckte Dächer ab, warf Marktstände um. Pferde wieherten,
warfen ihre Reiter ab und flohen Hals über Kopf.
Regen in solcher Menge das man beinahe die Hand nicht vor
Augen sah und innerhalb eines Wimpernschlages bis auf die
Knochen durchnässt war.
Hagelkörner - faustdick erschlugen alles und jeden der sich
nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte.
Doch wo könnte man vor dem Zorn Gottes - denn was sonst
sollte es sein? – Schutz finden? Wo wäre man in Sicherheit?
Donner grollte in der Nähe, Blitze zuckten und warfen ihr unwirkliches Licht für einen kurzen Moment auf die Erde. Und in
all diesen Lärm, all dieses Chaos erklangen Rufe.
132
Und weit beängstigender als jeder Donnerhall war das Geräusch der aufeinanderschlagenden Klingen.
Es gab keine Sicherheit, keinen Ort zum Verstecken. Nicht auf
dieser Ebene, nicht an diesem Tag. Der Regen spülte Ströme
von Blut fort.
Der Boden konnte weder Regen noch Blut in der Menge so
schnell aufnehmen. Schwere Stiefel waren innerhalb von Minuten halb in Schlamm und Wasser versunken.
Jeder Schritt war eine Qual, war Arbeit. Schnelligkeit spielte
keine Rolle mehr. Sicht und Gehör waren beinahe ausgeschaltet. Die Vorteile waren durch einen Handstreich Gottes beiseite
gewischt worden.
Ein Chaos aus Lärm. Rufe, Klingen, Donner, Hagel und Regen.
Wasserschwere Federn sanken blutig zu Boden und wurden
mit dem Strom fortgespült.
Körperteile, Äste, Zweige, Blätter, Waffen, alles riss das Wasser
mit sich.
Schreie. Anders als die Rufe zuvor. Ein Blitzschlag und ein ohrenbetäubender Donner. Eine alte Eiche, in der Mitte geborsten, fiel in die Brühe, und nicht lang danach schwere Körper
die ihnen folgten.
Blutverschmierte, dreckige Gesichter. Nasses Haar das an der
Haut klebte. Weit aufgerissene Augen. Bekannte Gesichter.
Viel zu vertraute Augen und Züge.
„Vater!“
„Ältester!“
Wieder hallte der Donner und wieder zuckte ein Blitz, als der
Gerufene die Klinge fallen ließ die in seiner Hand gelegen hatte.
Der Körper brach zusammen, fiel zur Seite, doch das Haupt mit
großen weit aufgerissenen Augen, kippte auf die andere Seite.
Atemloses Schweigen.
133
Der nächste Aufschrei. Der Nächste Name. Ein weiterer Körper
der fiel. Sanfte Augen die den Krieg gemieden und Bücher bevorzugt hatten.
„SIDH, BRUDER! NEIN!“
„Noir wir müssen fliehen! Gib den Befehl!“
Plötzlich war nur noch Stille. Der Regen und der Hagel hörten
auf, der Wind verebbte und von einer Sekunde zur nächsten
war aus dem Lärm drohende Stille entstanden.
Die Zeit stand still, die Welt stand still, hatte einfach aufgehört
sich zu drehen.
Die Wolken verschwanden von Himmel, und zahllose Blicke
legten sich auf die Kadaver die vor dem Schattenwandler lagen. Er regte sich nicht.
Armand kam an seine Seite, zerrte an seinem besten Freund,
rief ihm etwas zu, aber der hörte ihn nicht. Achtete auf gar
nichts.
Eine Klinge blitzte auf. Blut und Wasser tropfte von ihr herab,
von der anderen Seite näherte sich eine weitere Klinge, beinahe
Scherengleich.
Die Schattenkrieger bemerkten es nicht. Sie standen unter
Schock. Warnrufe erklangen. Doch niemand konnte es verhindern. Es war zu spät.
Sie verzogen keine Miene als die scharfen geweihten Klingen
ihre Haut durchdrangen. Ihre Körper knickten ein, ihre Köpfe
fielen Klatschend in die Brühe des Schlachtfeldes…
Manchmal, wenn ein großer Sturm herauf zog, begann der Tag
als gäbe es keinen besseren.
Manchmal ging alles so schnell, das man nicht erkennen konnte woher das Unwetter kam.
Und wenn die Luft grün zu flirren schien, gab es keinen Schutz
vor dem Sturm der aufzog und die Welt aus ihren Fugen riss.
134
Nebels Schöpfung
Plötzlich trat eine Entschlossenheit in seine Miene die ich selten gesehen hatte. Seine ganze Haltung straffte sich, und sein
Blick fing meinen ein.
Der plötzliche Umschwung seiner Haltung und seines Gebaren
sorgten dafür, dass ich nicht einmal daran dachte, seinen Blick
hinab zu befehlen.
„Wandelt mich!“
Ich starrte ihn fassungslos an. Hatte er jetzt vollkommen den
Verstand verloren? Das konnte er nicht ernst meinen, oder?
„Wandelt mich. Ich bin eine Schwäche für Euch. Ich kann
Euch nicht beschützen. Aber als einer Eurer Art, könnte ich
es!“
Er hatte Recht und das Gegenteil zu behaupten wäre eine Lüge.
Er würde meine Schwäche sein. Weil ich stets schauen würde,
das er in Sicherheit war.
Ich hätte im Bergkessel einfach fliehen können, aber ich hatte
mich selbst gefährdet, weil ich nach ihm gesucht hatte.
Weil ich ihn nicht zurück lassen wollte, weil ich ihn retten
wollte.
Beim Kutschunfall war es dasselbe gewesen. Ich wäre mit Lissa
allein, weggewesen und die Häscher wären nie so nah an uns
heran gekommen.
Aber ich war nicht gewillt ihn zurück zu lassen. Ich würde ihn
niemals zurück lassen. Aber ihn wandeln? Ich hatte noch von
keinem Elben gehört, der gewandelt worden wäre.
Ich kannte keinen Vampir der es je gewagt hätte. Mate
schwieg. Er hatte gesagt was zu sagen war, und auch mein
Schweigen löste keine Unsicherheit bei ihm aus.
Er wusste, dass ich das für und wider abwog. Dass ich versuchte
eine Entscheidung zu treffen, oder aber einen Weg zu finden
versuchte.
135
Der Regen hatte aufgehört, und der Tag verabschiedete sich
langsam. Die Wolken färbten sich rot und orange, wurden immer dunkler und vertrauter, während die Sonne langsam tiefer
sank.
„Also gut.“
Freude blitzte in seinen Augen auf und ich hob eine Hand, um
zu zeigen, dass es noch nicht alles war.
„Ich weiß nicht, ob es bei deiner Art möglich ist. Und ich bin
mir ziemlich sicher, dass die Elben im Dorf dich und mich dafür verteufeln werden.
Aber ich weiß, dass du Recht hast. Auf dich wird – wenn es
funktioniert – eine schwere Zeit zukommen. Du wirst vorerst
nicht ins Dorf gehen, und nicht von meiner Seite weichen.
Wir werden trainieren, ich werde dich die Gesetze meiner
Welt lehren und deinen Hunger zu kontrollieren.
Du wirst widerstandslos jeder Anweisung folgen, Mate. Oder
ich werde dich töten müssen. Hast du das verstanden?“
Mate nickte eilig und ich seufzte. Ich trat von der Balustrade
zurück und setzte mich auf eine Bank in der Mitte des Platzes.
Auffordernd hielt ich ihm eine Hand hin und er ergriff sie.
Ich wünschte, er hätte um etwas anderes gebeten, aber er hatte
Recht. Und ihn aufzugeben, weil es irgendwann zu gefährlich
war, lag mir fern.
Ich zog ihn an mich, und zog seinen Dolch. Ich durchtrennte
seine Oberschenkelaterie, und er sah mich entsetzt an, wollte
aufspringen aber ich hielt ihn fest.
„Ganz ruhig. Alles wird gut. Ich verspreche es dir.“
Ich führte seine Klinge über die Handgelenke, betrachtete die
Ströme von Blut die aus ihm hervorquollen.
Ich genoss den Duft, genoss den Anblick, ehe ich die Klinge
beiseitelegte und meine Zähne in seinen Hals stieß.
‚Bitte… tötet mich nicht Nebel.‘
Seine Worte erklangen in meinem Geist und ich lächelte in den
Biss, nahm begierig das kostbare Rot auf.
136
‚Das tue ich nicht. Aber würde ich nicht diesen Weg wählen,
um dich von deinem Blut zu befreien, würde es mich töten.‘
Ich spürte seinen Schrecken. Noch weniger als selbst zu sterben, wollte er mich tot wissen.
Verkehrte Welt. Verrückt.
Ob Schicksal, Zufall oder Glück. Ob Bestimmung oder Verkettung unglücklicher Zustände, die dafür gesorgt hatten, dass ich
auf den Zinnen saß und meinen Elben tötete.
Es spielte keine Rolle mehr. Es war nun einmal so. Er würde
einer meiner Art werden. Und er wäre wundervoll, daran hatte
ich nicht den geringsten Zweifel.
Widerwillig löste ich den Biss, ich musste aufhören. War zu
dicht an der Grenze. Aber der Blutverlust reichte noch nicht
aus. Ich verschloss den Biss nicht, und ließ das kostbare Vitae
ungehindert fließen.
„Schau… Ist der Sonnenuntergang nicht wunderschön?“
Ich hielt Mate sanft im Arm, strich ihm über sein Haar, und
lenkte seine Aufmerksamkeit auf das Farbenspiel des Sonnenunterganges.
„Dein letzter Sonnenuntergang als Caladhir.“
Mate lächelte schwach. Er fand keine Kraft um zu sprechen. Er
verlor zu schnell, zu viel Blut. Ich lauschte dem Schlag seines
Herzens, wie würde mir dieses Lied fehlen.
Aber Besseres erhielt ich zurück, zumindest hoffte ich das.
Langsam und stockend schlug das elbische Herz. Sterbend war
er wunderschön und mit einem Mal verstand ich, warum Menschen von dieser Art derart angezogen waren.
Ich könnte es beenden. Ihn einfach gehen lassen. Ihm die endgültige Freiheit schenken. Das Flirren des Vertrauten schwang
in der Abendluft mit. Ich bräuchte nur abzuwarten.
Abzuwarten, das er einschlief, für immer entschlief. Aber ich
war zu egoistisch, zu selbstsüchtig ihn frei zu geben.
Ich hob meine Hand an meine Lippen, riss das Handgelenk auf
und befreite den lebensspendenden Strom.
137
„Es liegt in deiner Hand Mate. Ein einziges Mal werde ich dir
gestatten frei zu wählen. Trink… und du wirst leben, als Vampir, an meiner Seite. Oder lass es bleiben und finde deinen
Frieden in den Armen des ewigen Tänzers, jenem dem niemand
entkommen kann.“
Ja ich war gewillt ihm die Wahl zu überlassen, damit ich sie
nicht treffen musste. Mein Handgelenk schwebte über seinen
Lippen. Dunkle Tropfen fielen auf helle, pergamentgleiche
Haut.
Hatte er mich gehört? Seine Augen öffneten sich flatternd. Er
hatte mich gehört. Ich jubelte innerlich und hoffte man sah es
mir nicht an.
„Ich würde stets Euch wählen Nebel!“
138
Nur ein TRAUM!
Meine Tochter im Arm trat ich an das Fenster zu. Der Himmel
war wieder blau und die Sonne schien hell und klar. Rinnsale
vom Regen flossen von den Dächern herab, Topfen fielen melodisch in Pfützen.
„Ohhh sööön.“
Clarissa deutete wild herum und ich lächelte als ich den Regenbogen erkannte, den sie entdeckt hatte. Es war nur ein
Traum gewesen.
Das sagte auch Mates Blick als er mir Lissa abnahm.
„Komm sollen wir Lissa baden?“
„Jaaaa!“
Ich und Joy lachten. Doch der schale Geschmack auf meiner
Zunge wollte nicht weichen. Manchmal, war ein Sturm, nur
ein Sturm. Manchmal wurde die Welt nicht aus den Angeln
gehoben. Manchmal waren Träume nur Träume.
Joycelin zog sich wieder zurück. Mate hatte mir Zeit verschafft
um mich zu fangen, aber wirklich gelingen wollte es mir nicht.
Ich griff nach einem neuen Buch, und hatte grade erst begonnen darin zu lesen, als das Wispern erklang.
Ich sah mich um, sah wie die Gefährten meines Sohnes sich aus
allen Ecken des Raumes zusammen zu ziehen schienen. Ich
folgte ihnen in die Mitte des Raumes. Etwas war anders.
Etwas nahm dem Vertrauten, das Vertraute. Denn unter dem
Wispern der ewig Dunklen schwirrte das Flirren der Macht
mit, das meinem Tänzer zu Eigen war.
Es war nur… ein Traum gewesen. Mate trat ins Kaminzimmer,
seine Worte erstarben auf den Lippen als er das Schattenspiel
sah und meine Miene.
Tanzend zogen sich die Schatten zusammen, wichen auseinander, ehe sie sich langsam aber stetig auftürmten. Höher. Höher.
Bis es mich überragte.
139
Das Flirren der Macht, das Wispern der Schatten zerrte an mir,
an meiner Seele, meinem Herzen und dann….
Dann fielen die Schatten in sich zusammen wie ein Kartenhaus.
Gaben frei was sich darunter, darin verbarg. Nicht was! Wer!
Armand stand, Noir kniete an der Seite einer leblosen Gestalt.
Sie alle waren nass bis auf die Knochen, blutverschmiert. So
viel Blut!
Und dann wurde mir klar, über wen Noir gebeugt stand und
meine Welt stand still.
„ALEXANDER!“
Noir s Blick ruckte zu mir, ehe er wieder zu Armand sah.
„Hol SIE Armand. Sag ihr den Preis den sie verlangt zahle ich
später aber sie soll JETZT her kommen!“
Armand nickte, ehe er in den eigenen Schatten hinabtauchte.
Regungslos, fassungslos stand ich dort. Mein Verstand war wie
leergefegt. Das durfte nicht sein. Das konnte nicht sein. NEIN!
„Nebel! Komm her.“
Ich wollte nicht. Ich wollte nicht sehen was ich längst wusste.
Wollte Alexander nicht so sehen. Doch meine Beine gehorchten nicht meinem Willen, sondern seinem Befehl.
Ich kniete mich auf die andere Seite Alexanders. Er war so
bleich, so bleich. Seine Kleider waren blutgetränkt und zerfetzt.
Noir hielt mit seiner Hand eine große Verletzung auf der Brust
zu.
„Er braucht mehr Blut, Nebel!“
Ich verstand, ich zögerte nicht. Armand und Noir hatten ihm
längst Blut gegeben, und es reichte nicht.
Ich riss mein Handgelenk auf, da würde eine Narbe bleiben, so
ungeschickt wie ich es gemacht hatte und hielt meinem Mann
jenes an die Lippen und flehte stumm das er trinken möge, das
er aufwachen müsste.
„Lass mich nicht allein Alexander… bitte.“
Mate trat näher heran, sein Gesicht war schmerzverzerrt.
140
In seinen Augen tobte ein Kampf. Hass auf Alexander, das er
wieder gekommen war, und Sorge um mich. Mich wollte er
nicht leiden sehen.
Er hockte sich an meine Seite und Noirs Keuchen riss meine
Aufmerksamkeit einen Moment lang von meinem Mann los.
„Was hast du getan, Nebel?“
Ich kam nicht zu einer Antwort, denn im nächsten Augenblick
war SIE die man nicht beim Namen rief an unserer Seite. Sah
mit kaltem Blick auf die Reste ihres Erstgeborenen herab.
„Rette ihn…bitte... rette ihn“
Ich bat nicht, flehte niemals, nur dieses eine Mal. Nur diesen
Wunsch hatte ich an sie.
„Rette ihn!“
141
Susanne Hoge
Diarys of Death
Der Nebel von Morta Sant
V
142
Zornig riss ich eine Fackel von der Wand, rannte von Zimmer
zu Zimmer, steckte Vorhänge und Möbel an, steckte mein bisheriges Leben an.
Ich versuchte nicht daran zu denken.
Versuchte die Stunden die ich hier im Glück und Leid verbracht hatte nicht jetzt noch einmal zu durchleben, auch wenn
alles in mir danach schrie, das nicht zu tun.
Als würde ich uns auslöschen, als würden die Stunden auf den
Zinnen nicht mehr existieren, wenn ich das Schloss niederbrannte.
Als würde alles was bisher war, in Rauch aufgehen und Geschichte werden, Legende, Mythos und dann in der Vergessenheit verenden.
Meine Welt stand still, und ich kam mir vor als wäre nichts das
ich tat … genug. Als wären es nur Tropfen auf heißem Stein.
Ich bemerkte nicht das Noir mich beobachtete, meinen Schritten durch das Schloss folgte, hinaus in den Garten wo ich Pferde und meine fuchsähnlichen Haustiere frei ließ.
Es war sinnlos und ich wusste es.
Es würde die Jagd nach uns nicht beenden, würde Alexander
nicht heilen, oder IHREN Zorn mildern. Aber irgendetwas
musste ich doch tun.
Irgendetwas!
Noir verstand, darum hinderte er mich nicht. Vielleicht sah er
auch einfach das ich unter Schock stand und mir das hier das
Gefühl gab etwas Kontrolle auszuüben in einer Situation welche mich aller macht beraubt hatte.
Doch kaum das ich das Stroh und Heu in den Ställen in Brand
gesetzt hatte ergriff er meinen Unterarm und zog mich ohne
Vorwarnung oder die Möglichkeit auf weiteren Aufschub hinab in die Kälte seiner Gefährten.
Ich mochte es nicht. Die Schatten waren Noirs bevorzugte Art
zu reisen. Beinahe ohne jeden Zeitverlust. Die plötzliche Dunkelheit, die Kälte behagten mir nicht.
143
Ich kam mir vor, wie in einem Grab. Ich fürchtete, dass ich nie
wieder Licht sehen würde. Fürchtete beinahe, dass mich die
gnadenlose Dunkelheit nie wieder aus den klammen, kalten
Fingern freigeben würde.
Es dauerte nicht lang, nur Sekunden die mir ewig schienen und
die Dunkelheit perlte von mir ab wie Regen vom Federkleid
eines Wasservogels.
Die Kälte wich der Hitze eines prasselnden Kaminfeuers. Ich
fand mich in einer schlichten Hütte wider, einem Kaminzimmer offenkundig.
Joycelin saß auf dem Sofa, hielt Lissa im Arm, die wieder eingeschlafen war ohne zu wissen, in welcher Gefahr ihr Vater
schwebte. In welcher Gefahr wir alle schwebten.
Noir ließ sich an der Seite seiner Frau nieder, legte einen Arm
um sie und küsste sie sanft auf die Schläfe. Mate hockte am
Feuer, legte Scheite nach und beobachtete mich und die anderen aufmerksam.
Armand saß im Sessel seine Augen sprachen von derselben Erschöpfung welche Noir dazu getrieben hatten, mich das Schloss
in Brand setzen zu lassen.
Mein Blick glitt hinauf, ins Stockwerk über uns. Alexanders
Präsenz, schwach, schwindend aber vorhanden.
Das Flirren jener Macht die ich im Augenblick mehr fürchtete
als die Inquisition. IHRE Präsenz, drohend, stark und ihr Zorn
der gar das Flirren des Gevatters überlagerte.
SIE musste es schaffen!
Sie durfte Alexander nicht dem Tänzer überlassen. Ich ließ
mich auf einem freien Sessel nieder und befahl Mate stumm an
meine Seite.
Niemand sprach. Alle warteten und hofften und bangten. Das
Schweigen lastete drückend auf uns. Einem Leichentuch gleich
das wir nicht zu durchdringen wagten, nicht zu durchdringen
in der Lage wären.
144
Abwesend glitten meine Finger durch Mates Haar, während die
Minuten verrannen und die mechanische Uhr schien mit ihrem
Ticken die Dichte des Leichentuches noch zu verstärken.
Ich schloss die Augen, wollte nicht sehen, nicht wahrnehmen
was um mich herumgeschah.
Brüllendes Schweigen, durchbrochene Stille vom stetigen
Tic…Tic…Tack der Uhr auf dem Kaminsims. Uns verlachend,
weil wir so töricht waren und geglaubt hatten wir hätten ein
Jahr - nur ein Jahr - in Frieden und Ruhe.
Tic… Tic… Tack…
Die Kälte in meinem Inneren wuchs stetig mit dem Ticken der
Uhr. Da war so viel Blut gewesen. Viel zu viel Blut für einen
Mann.
Tic… Tic… Tack…
Er war so bleich gewesen. So reglos und bleich. War SIE zu
spät? Drang noch irgendetwas zu ihm durch?
Tic… Tic… Tack…
War sie stark genug um sie den Händen des Tänzers zu entreißen? War er überhaupt willens ihn gehen zu lassen?
Tic… Tic… Tack…
Tanzte mein Mann nun mit jenem dessen Hand ich stets ergriffen hatte, dem ich vertrauensvoll in die Dunkelheit gefolgt
war?
Tic… Tic… Tack…
Ich sprang auf die Beine, riss einige Haare aus dem Schopf den
ich zur Ablenkung gekost hatte und erntete ein schmerzhaftes
Zischen.
Tic… Tic…Tack…
Ich sprang auf, ergriff die Uhr und warf sie in die Flammen. Ich
ließ mich wieder nieder, fuhr fort Mate `s Haar zu kosen und
erntete skeptische Blicke.
Und das Ticken verstummte, verbrannte und ging in Rauch auf,
wie das Schloss das wohl noch immer lichterloh brannte. Kein
Ticken mehr das meinen Geist peinigte.
145
Dafür war die Stille zurück. Dröhnend und laut. Unnatürlich
und gespenstisch.
Für ein paar sinnlose Atemzüge zumindest, bis Noir das Wort
hob, der bis dahin alles schweigend im Auge behalten hatte.
„Sind wir ein wenig melodramatisch, Nebel?“
Mate sah zornig zu meinem Stiefsohn, bis ich leise lachte. Ich
legte eine Hand an meine Lippen, versuchte das Lachen zu unterdrücken, bevor es hysterisch werden könnte, kämpfte die
Tränen herab die in meinen Augen brannten.
Ich setzte mich wieder, drückte Mates Kopf auf meine Knie
und strich ihm sanft übers Haar. Meine Stimme war nur ein
Flüstern, als ich mich wieder unter Kontrolle hatte.
„Es macht mich wahnsinnig…“
Die Uhr, das Ticken, das Warten. Nichts tun zu können, nichts
zu wissen. Wie würde es jetzt weiter gehen? Würden wir bleiben?
Alle Sicherheit und jeder Halt schienen mir verloren. Die Welt
drehte sich wieder, aber sie war aus den Fugen geraten und
nichts war mehr, wie es sein sollte oder einmal war.
Alles stand einfach … Kopf?!
Ihre Stimme drang von oben herab. Kalt und Sanft zugleich. Sie
ließ mich erschaudern, erzittern und innerlich flehen, das ich
nicht versehentlich ihren Zorn heraufbevor.
„Ohh wir haben doch nicht etwa Schmerzen, mein Sohn? Wir
werden doch nicht etwa in die Bewusstlosigkeit fliehen wollen?
Das erlaube ich nicht…wach auf!“
Unser aller Blicke glitten hinauf, niemand rührte sich. Beinahe
wünschte ich mir das Ticken zurück, irgendwas das diese Stille
durchbrach.
Stummes Flehen in den Augen die hinauf an die Decke starrten, Anspannung in der Haltung eines jeden Einzelnen. Einzig
Lissa schlief umgeben von der Sicherheit ihrer Familie.
„Nebel?... Clarissa?... Ary?... Noir?“
146
„Sie sind wohlauf. Ich könnte sagen, dass ich es Dir Prophezeit
habe, aber das hebe ich mir auf, bis du wieder bei Kräften bist.“
Ich atmete aus, alle Anspannung fiel von mir ab. Er würde leben! Es würde ein *Morgen* geben, wenn das *Heute* überstanden war.
„Wie viele sind allein in dieser Schlacht gefallen? War es das
wert, Alexander? All die Krieger die gefallen sind, Dein angenommener Sohn, nur weil du nicht gehen wolltest? War es das
wert, nur um mein Wort zu missachten?“
All die Leben. Die Erste hatte Recht, es waren so viele gefallen.
Mehr als ich zu diesem Zeitpunkt wissen konnte.
Lange Zeit war nichts zu hören, und in einem Haus voll Vampiren konnte man davon ausgehen, das es nichts gab, das nicht
gehört würde.
Ein Gedanke den man keinesfalls festhalten durfte, und wenn
man es doch tat sollte man ein hohes Maß an Selbstbewusstsein
haben.
Jetzt lauschten alle darauf was zwischen den beiden Ältesten
unserer Art vor sich ging, warteten auf den schwachen Bariton
meines Mannes und die kalten Erwiderung seiner Mutter.
„Nein…“
147
Rebellion
Als ich eintrat, sah ich eben noch wie mein Stiefsohn die Stufen
empor schritt um seinem Vater einen *Besuch* abzustatten.
Dann würde ich wohl noch etwas warten müssen, aber was
machte das schon? Minuten, Stunden, Tage … alles war besser
als Wochen und Monate, vor allem da die Ungewissheit über
seinen Verbleib nun ausgemerzt schienen.
Ich ließ mich in einem Sessel nieder und schloss die Augen,
ließ meine Gedanken ins Nichts gleiten. Ich lauschte den
Schritten meines Stiefsohns, lauschte dem Knarzen des Bettes
als Alexander sich aufrichtete um seinen Sohn zu begrüßen und
„Geht es Dir gut?“
Sorge um seinen Erstgeborenen schwang in den wenigen Worten meines Mannes mit.
„Offenbar besser als Dir. Aber lass Dir trotzdem eines gesagt
sein, Vater: Solltest du uns noch einmal einen solchen Schrecken einjagen, werde ich Dir den Kopf abreißen. Tatsächlich
und nicht nur bildlich.“
Noirs Tonfall war eine Mischung aus kühler Herablassung und
Sorge und jagte mir kalte Schauder über den Rücken. Eine
dunkle Ahnung, dass das nicht gut gehen konnte wuchs in mir.
Doch noch harrte ich regungslos lauschend im Sessel.
Wieder das Geräusch der nachgebenden Matratze, welche mir
sagte, dass Noir sich auf dem Bett niedergelassen hatte.
„Großmutter war also bereits hier? Hat Lissa sie erwischt?“
„Es geht schon wieder, das Blut Deiner Großmutter hat seine
Wirkung nicht verfehlt, und ja sie war heute bereits hier. Aber
was wollte Lissa von ihr?“
Noir lachte leise, und ich musste nicht oben sein, um zu wissen,
dass er den Kopf dabei leicht schüttelte.
„Lissa hat beim Spielen heut in der Früh ein paar Kampfspuren
an mir entdeckt und wollte Ary spielen.
148
Was zu Folge hatte, das sie die Hälfte des Brunnenwassers auf
meine Kleider verteilt hat um die Spuren auszuwaschen. Sie
war wohl der Ansicht, das Großmutter mich trinken lassen
müsste damit ich wieder heil werde.“
Kampfspuren? Ich hatte zugegeben gestern keinen Blick für die
Verletzungen Noirs oder gar Armands gehabt. Sie waren zumindest soweit bei Kräften gewesen, dass sie Alexander retten
konnten und meinen Anweisungen Folge geleistet hatten.
Wieder vernahm ich das Geräusch der Matratze und gleich darauf Noirs Worte.
„Bleib liegen, ich bin mir sicher SIE wird Dir mit Freuden neue
Schmerzen zufügen, wenn du Dich überanstrengst.“
Ohne jeden Zweifel!
„Gib mir keine Ratschläge, Noir. Das Gröbste ist überstanden,
ich muss nur noch zu Kräften kommen.“
Unwille in der Stimme meines Mannes. Manchmal musste ich
mich fragen, wer von uns allen hier am stursten war: Ich, er
selbst oder gar Noir.
„Was machen Deine Verletzungen jetzt? Wenn du etwas
brauchst, dann sage es jetzt, Noir.“
Die Strenge eines Vaters, der bemüht war seinen eigenen
Schmerz zu unterdrücken und die Stärke und Erhabenheit die
er in seiner Position brauchte, an den Tag zu legen. Noirs leises
Lachen antwortete drauf.
„Der Versuch streng zu wirken, wenn ich Dich nur leicht anstoßen müsste um ein Keuchen zu entlocken ist nicht besonders…beeindruckend, Vater. Was meine Verletzungen anbelangt - Ich war jagen und werde es später noch einmal tun.“
Ich runzelte die Stirn. Das konnte nicht gut ausgehen, oder?
„Um alles weitere wird meine Frau sich kümmern. Armand ist
noch einmal aufgebrochen.
Er wird die Gräber verlegen und ich nehme an, danach noch
eine Weile umher ziehen, bevor er hierher zurückkehrt. Das ist
gut. Ich sehe es nicht gern, wenn er allein umherzieht.“
149
Jetzt, nachdem Sidh nicht mehr war, vermutlich noch weniger
als zuvor. Er würde sich sorgen und das wusste nicht nur ich.
„Noch so einen Kommentar Noir, und ich zeige Dir gern wer
von uns beiden zuerst auf keucht.“
Ich erhob mich aus dem Sessel. Die Ruhe im Hall der Worte,
zeugte von unterdrückter, beherrschter Wut ob des mangelnden Respekts.
Natürlich, wir alle machten grade einiges durch, manche offensichtlicher als andere. Aber Alexander würde nicht dulden, dass
sein eigener Sohn auf diese Weise mit ihm sprach.
Als meine Schritte in unserem gemeinsamen Gemach verebbten, sah ich wie Noir amüsiert auf seinen Vater herabsah, und
eine Hand auf dessen Brustkorb legte.
„Ich wurde nicht erzogen Gnade zu zeigen, Vater. Nicht einmal
im Training mit Dir, sollte ich mich in Zurückhaltung üben,
nur weil du mein Vater bist.
Es war kein leichtes Unterfangen…“
Er legte einen Teil seines Gewichts auf die Hand, auf den
Brustkorb meines Mannes, aber ich wagte nicht mich einzumischen. Alexander war sich meiner Gegenwart bewusst und
würde mir die Einmischung erlauben, sollte er sie wünschen.
„…Dich hierher zu bekommen. Ich hielt Deinen Brustkorb zu,
verhinderte dass Dein Innerstes sich nach außen kehrte. Ungefähr wie jetzt, nur etwas mehr Kraft war von Nöten.
Also sei so gut, und spare Dir Gebelle, wenn wir beide wissen,
dass das Beißen noch eine Weile auf sich warten lassen wird.
Ich achte und liebe Dich, aber reize meine Geduld nicht über
Gebühr, son…“
Noirs Worte endeten abrupt, so schien es mir. Vater und Sohn
starten einander an, keiner sprach ein Wort, doch Noirs Haltung schien angespannter als noch vor wenigen Augenblicken.
Keiner von ihnen sprach ein Wort, aber das hatte nichts zu sagen.
150
Die Energie die sich im Raum aufbaute, ließ meine Haut kribbeln, Magie lag in der Luft. Alt und stark. Wozu waren sie beide fähig? Worin lagen ihre Stärken wirklich?
Eine innere Stimme mahnte mich, dass ich das nicht wissen
wollte. Mahnte mich, dass es Dinge gab, die man nicht wissen
musste, dass die Ahnung ausreichend wäre.
Leicht neigte sich Noirs Oberkörper herab, und es schien mir,
als würde Noir alle Kraft dafür aufwenden das das nicht geschähe.
Alexander hob eine Hand, nur leicht und langsam, ohne das er
seinen Blick von dem seines Sohnes nahm. Eine flüchtige Berührung an der Stirn des Erstgeborenen und jener brach über
dem Leib seines Vaters einfach zusammen.
Ein Keuchen von meiner Seite war das Einzige das die unnatürliche Stille durchbrach, dann schleuderte Alexander seinen
Sohn gegen die nächstbeste Wand.
Ausreichend offenbar das Noir seine Sinne wieder zusammen
bekam.
Keiner schenkte dem Anderen das ersehnte schmerzvolle auf
stöhnen, keiner schenkte dem anderen ein Zeichen von Schwäche.
„Wage es noch einmal Noir…“
Die Drohung war eindeutig. Und Noir? Die ewigen Gefährten
hoben ihn an, stellten ihn auf die Beine, ohne das er sich mühen müsste.
„Nett… Aber bei Kräften wäre es bei weitem eindrucksvoller
gewesen. Selbst im Training warst du besser und da meintest du
es nicht halb so ernst wie jetzt.“
Ich weitete die Augen, während Noir wieder an das Bett herantrat, sich die in Unordnung geratenen Kleider wieder glatt
strich und seinen Vater mit belustigter Miene betrachtete.
„Du kannst gehen, Noir.“
151
„Wir wissen beide, Vater, dass ich es noch einmal wagen werde. Doch nicht heute. Dieser Versuch mich in die Schranken zu
weisen, hat Dich übermäßig Kraft gekostet, daran ändert auch
Großmutters Blut nichts.
Also spare Dir Mahnungen oder Drohungen für jemanden der
gewillt ist sich davon beeindrucken zu lassen.“
Was tat er da? Was sollte das?
„Verschwinde! Raus! Kein Wort mehr will ich hören. Tritt
meinetwegen Deiner Frau oder Deinen Schergen so gegenüber.
Aber solange du mich nicht tötest, steht mein Wort über Deinem und du folgst ohne Widerworte!
Und wenn du Dir dessen wieder bewusst bist, Noir, erst dann
trete mir unter die Augen und entschuldige Dich.“
Noir lachte abermals und zuckte gleichgültig mit den Schultern.
„Solange du in diesem Zustand bist, werde ich genau das tun,
was ich stets tat… Deinen Platz einnehmen. Denn das ist wozu
ich ausgebildet und erzogen wurde, ebenso wie du.“
„Geh Noir…“
Er wand sich vom Bett ab, sein Blick legte sich flüchtig auf
mich. Doch die Worte die er sprach, waren weiterhin an seinen
Vater gerichtet.
„Solange du es nicht kannst, werde ich wie stets ein Auge auf
meine Geschwister und dein Küken haben, und mich jener abnehmen die es aus welchen Gründen auch immer, zu Dir zieht.
Also erspare mir die Forderung nach Entschuldigungen, wie ich
sie mir nach Dankbarkeit spare.
Ruhe aus. Je eher du wieder bei Kräften bist, umso eher kann
alles wieder seinen geregelten Gang nehmen.
Grüß Großmutter, sie weiß wie sie mich findet, sollte sie Rechenschaft fordern.“
152
Beerdigung
Zwei kamen, als Alexander und ich aufgebrochen waren um zu
jagen und zu trainieren. Ersteres ging rasch, weil wir kein Aufsehen erregen wollten.
Für letzteres suchten wir uns unwegsames Gelände, das kein
Sterblicher gefahrlos erreichen könnte und für gewöhnlich,
kehrten wir erst früh am Morgen zurück.
So war es an Noir, die Reisenden zu empfangen, und hätten wir
geahnt was da käme, wir wären nicht gegangen.
Denn diese zwei brachten schwere Last für den Erstgeborenen
meines Mannes. Sie trugen den Leichnam Sidhs mit sich. Erbaten das willkommen und verzichteten auf das Kopfgeld.
Eine Nachricht empfing uns auf dem Tisch in der Wohnkammer und wischte die ausgelassene Stimmung fort, der wir eben
noch erlegen waren.
Vater,
zwei kamen und brachten meinen Bruder heim. Sie verzichteten auf ein Kopfgeld und erbaten das willkommen, das ich
unter Vorbehalt aussprach.
Noir
Post Skriptum: Danke
Wieviel Mühe und Kraft ihn diese Notiz – so kurz sie auch wargekostet haben mochte, erfuhr ich wenig später. Ich brach zu
meiner üblichen Runde auf und an einer verborgenen Stelle am
nahen Bach fand ich den Schattenwandler.
Seine Miene zeigte keine Regung, schien wie in Stein gemeißelt
zu sein, doch in seinen Augen stand tiefer und quälender
Schmerz geschrieben.
Vampire verwesen nicht, wie Menschen oder Tiere. Sie mumifizieren und zerfallen früher oder später zu Staub.
153
Allerdings hatte er eine ganze Weile in Schlamm und Matsch
gelegen und das hatte an manchen Körperstellen seine Spuren
hinterlassen.
An manchen Stellen hatte die Feuchtigkeit die Kleidung
durchdrungen und die darunterliegende Haut aufgeweicht. Tiere hatten sich am Kadaver gütlich getan. Käfer und Maden
quollen aus den Körperöffnungen und Bissspuren.
Blutreste und Kampfspuren mischten sich mit den Makeln die
ihm nach dem Tod zugefügt worden sind. Witterungsbedingte
Verschmutzungen, alles musste entfernt werden.
Der Tod war nicht gnädig. Man sah nicht *engelsgleich* aussehen. Im Gegenteil. Doch Noir tat mit stoischer Miene, dass was
getan werden musste.
Er wusch alle Verunreinigungen von der Haut, aus den trockenen Hautfalten. Der Geruch war bestialisch, das Aussehen
grauenhaft, aber das schien meinen Stiefsohn nicht im Geringsten zu berühren.
Ich kam mir vor, als täte ich etwas Falsches. Das es falsch war,
ihn bei dieser Notwendigkeit zu beobachten.
Er nahm mich nicht wahr und ich konnte es nicht einmal verdenken.
So grauenhaft und grausam dieser Anblick war, so intim schien
er mir auch. Nicht wegen des entblößten geschundenen Leibes
sondern weil es der letzte Moment der beiden Brüder war.
Ich wusste nicht, ob ich die Kraft aufbringen könnte, das nötige
zu tun oder gar zu veranlassen, wenn es jemand wäre, der mir
am Herzen lag.
Ich betete, dass ich es nicht herausfinden müsste. Noir entfernte das Getier aus dem Körper des Bruders Käfer für Käfer, Larve
für Larve, Made für Made.
Er sprach kein Wort, verzog keine Miene. Aber sein Blick, seine glimmenden Irieden sprachen Bände, erzählten vom Seelenschmerz des Anderen, erzählte wortlos von der tiefen Trauer
von der Liebe welche Noir und Sidh über Jahrhunderte geteilt
154
hatten. Ein leichter Schimmer legte sich über das Silber seiner
Augen, und zeugten von den Tränen, die er nicht weinte. Nicht
weinen wollte, oder konnte.
Er vernähte die Stellen an denen Tiere Stücke aus dem gewählten Bruder herausgerissen hatten, später würde er den Kopf
und den Körper wieder miteinander verbinden. Aber für den
Augenblick hatte er mit dem Körper selbst genug zu tun.
Ich sollte gehen, ihn allein Abschied nehmen lassen. Aber ich
konnte nicht. Konnte mich keinen Meter bewegen, konnte
nicht wegsehen.
Ich konnte nicht sagen, was mich an diesem Bild so faszinierte,
das ich nicht gehen konnte, nicht wegsehen. Vielleicht war
Faszination nicht der richtige Begriff angesichts des Grauens
das sich vor meinen Augen abspielte.
Es war so surreal. Natürlich wusste ich, dass wir sterben konnten. Das man uns töten konnte.
Ich hatte viele fallen sehen, war Zeugin dessen geworden, wie
meine Art hingerichtet und niedergemetzelt wurde. Aber das
hier war etwas anderes.
Vielleicht weil Sidh lange Teil meines Lebens gewesen war,
weil ich ihn kannte und gern gehabt hatte. Vielleicht weil ich
bisher nicht miterlebt hatte, wie sich jemand so um den Kadaver eines Artgenossen gekümmert hatte.
In den Schlachten oder danach war für solche Sentimentalitäten keine Zeit und kein Raum. Und um der Wahrheit die Ehre
zu geben, hatte ich nie das verlangen verspürt, mehr zu tun als
getan wurde – die Überreste dem Feuer übergeben.
Noir war mit der Waschung und dem Vernähen des Körpers
fertig und begann ihn umsichtig anzukleiden. Vorsichtig, als
fürchte er, das er seinem Bruder wehtun könnte. Natürlich war
das unmöglich, aber dennoch…
Sorgsam achtete er auf den richtigen Sitz jedes Kleidungsstücks.
Der Hosen, des Hemdes, der Weste, Stiefel und Strümpfe, Mantel.
155
Ich schluckte, als Noir sich dem Kopf zu wand. Liebevoll über
die eingefallenen Züge streichelnd betrachtete er was von dem
erwählten noch vorhanden war.
Tiere hatten die Augen aus den Höhlen entfernt und gefressen,
die ledrige, eingefallene Haut bildete Falten und die Wangen
hatten dem Getier als Eingang zur Mundhöhle gedient.
Die Zunge war gefressen worden, jemand – ein Häscher vermutlich – hatten dem gewandelten die Zähne entrissen die
markantestes Merkmal meiner Spezies war.
Blut, Laub und Getier hatten sich in den Haaren und den Hautfalten eingenistet, und neue Qual trat in die eindrucksvollen
Augen, des Jägers.
Während ich zusah, wie er das Viehzeug Stück um Stück hervor pulte und wegschnippte wurde mir klar, das dort auch Alexander liegen könnte. Das ich in diesem Kampf meinen Mann
hätte verlieren können.
Wer hätte ihn mir heimgebracht, wenn nicht Noir und Armand so geistesgegenwärtig reagiert hätten? Es war schlimm
genug gewesen, die Spuren des Kampfes zu beseitigen, von ihm
zu waschen.
Um wie vieles schwieriger musste es für Noir sein, seinen Toten
Bruder in Teilen im Arm zu halten, zu waschen, zu nähen?
Ich schüttelte den Kopf, betrachtete hypnotisiert wie zärtlich
der sonst so kalte Schattenwandler mit den Überresten umging.
Ich wünschte, ich könnte ihm Trost spenden.
Ich wünschte ich könnte ihn umarmen und ihm sagen, das alles
wieder gut werden würde, aber das glaubte ich nicht einmal
selbst, wie sollte ich es jemand anderen glauben machen?
Und Noir? Noir war nicht der Typ, den man umarmte und tröstete. Er war… speziell. Seinem Vater so ähnlich und gleichsam
vollkommen anders.
Selten gelang es mir, eine Verbindung zu ihm aufzubauen.
156
Was an dem Altersunterschied liegen mochte, oder daran, das
ich das Lager mit seinem Vater teilte, während seine Pläne für
mich andere Wege beschlossen hatten.
Ich könnte es nicht mit Gewissheit sagen, und wahrscheinlich
spielte es, wie so vieles, keine besondere Rolle. Es war, wie es
eben war.
Noir ihm die Haare und ich betrachtete die rostbraune Brühe,
die sich aus dem einstmals schimmerndem Schwarz löste und
den Bach verunreinigte.
Blätter, getrocknetes Blut, Erde… alles löste sich aus dem Haar
und rieselte mit dem Wasser das Noir vorsichtig über Sidhs
Kopf goss.
Es wirkte grotesk, skurril und erinnerte mich daran, wie er Clarissa badete. Wie vorsichtig er mit der Hand Wasser aus der
Wanne schöpfte um ihr den Schaum aus den Haaren zu spülen,
darauf bedacht, dass nichts in ihre Augen geriet.
Doch die Augen seines Bruders waren nur noch leere Höhlen,
aus denen der Schattenwandler das gefräßige Getier herausgepuhlt hatte.
Kein Schaum, kein Wasser würde die einstmals lebendigen Augen reizen in denen Schalk und Intelligenz vorherrschend gewesen waren. Keine Klage über nicht vorhandene Grobheit
entkam dem Loch das einstmals der Mund gewesen war.
Sorgfalt und Vorsicht, spiegelte sich in jedem Handgriff. Immer
wieder bürstete er das Haar des Anderen, wusch es erneut aus.
Wieder und Wieder und wieder.
Bis das Wasser das aus dem haar rann so klar war, wie in dem
Moment als es mit der Hand geschöpft wurde.
Und während er das tat, erschauderte ich unwillkürlich. War
an den Moment erinnert als ich Alexander von den Spuren der
Schlacht befreit hatte. Seinen Körper gewaschen, sein Haar gebürstet.
157
Das dort am Bach hätten wir sein können. Er und ich, auch
wenn ich mir nicht vorstellen konnte, so etwas je fertig zu
bringen.
Ich würde dem Wahnsinn anheimfallen, und reißen was sich
mir in den Weg stellte, bis irgendwer oder was mich erlöste.
Aber Noir? Noir tat das nicht. Anders als bei seiner ersten Liebe, jagte er nicht, riss er nicht wahllos. Lief er nicht davon,
sondern tat was getan werden musste und verlangte mir damit
eine Menge Respekt ab.
Ich schluckte vernehmlich, als das Groteske seinen Höhenpunkt erreichte, indem Noir Kopf und Körper wieder zusammennähte.
Die Miene des Schattenwandlers jedoch schien dem Werk eines
grandiosen, eines begnadeten Bildhauers zu sein. Die Blässe die
beinahe wie Elfenbein schien, die stoische unbewegten Züge.
Wunderschön und doch unendlich traurig und verloren.
In den unnatürlich silbernen Augen spiegelte sich eine ungeweinte Träne, oder mehrere. Sie würden nie das Antlitz überqueren und ihr Gefängnis verlassen.
Es wäre ein Frevel, dieses Meisterwerk durch salzige Feuchtigkeit benetzt würde.
Als Noir den erwählten und so geliebten Bruder aufhob, legte
ich eine Hand auf Herzhöhe und neigte im schweigendem Andenken und Respekt das Haupt.
Ich ging, und ließ meinen Stiefsohn, seine schwerste Last von
dannen tragen.
Er würde einen schönen Ort finden, für das Grab und den
Stein. Er würde trauern, auf seine eigene Weise, und wenn er
getrauert hatte, wäre er wie immer.
Das arrogante, hochmütige Prinzchen aus den Schlössern von
Morta Sant!
158
Strafen…
Ich musste jagen, musste trainieren, selbst und meine Tochter.
In dieser Zeit musste ich darauf vertrauen, dass Mate sich angemessen verhielt und Alexander seine Laune genug unter
Kontrolle hatte um sich bei meinem Eigentum zurück zu halten.
Ich musste mir etwas einfallen lassen, und das Schicksal sollte
mir im Oktober 1849 zu Hilfe kommen.
Valentin Streuber wurde von angeblichen Soldaten der preußischen Armee exekutiert. Ich wusste kaum etwas über ihn, nur
eines mit Sicherheit – dass er meiner Art angehörte.
Er war des Hochverrats angeklagt und zum Tode verurteilt
worden. Die Menschen achteten ihn, schätzten ihn, man erkannte es an ihren Blicken, der spürbaren Trauer und verhohlenen Furcht.
Sie wagten nicht aufzubegehren. Das war besser für sie, auch
wenn sie das nicht wussten. In den Uniformen steckten keine
Soldaten, nun zumindest keine der preußischen Armee.
Es waren Häscher, wie es auch Häscher waren, die den Vorwurf erhoben, und das Urteil sprachen.
Es war beängstigend. Sie waren überall. Auch wenn wir uns
verbargen, waren sie überall. Infiltrierten das einfache Volk,
und beim kleinsten Verdacht schnappten sie zu.
Eine große Mausefalle, welche in diesem Fall in Mannheim
zuschlug.
Es war Nebelig, diesig an diesem Oktobertag. Darum genoss ich
den Oktober: es gab Regen und Stürme und Nebel und im
nächsten Moment verzogen sich die Wolken und die Sonne gab
den Blick auf goldene Blätter frei.
An diesem Tag nicht. Es blieb den ganzen Tag grau und trüb
und trist. Als man Valentin Streuber zum Hauptfriedhof
Mannheims führte waren wir längst vor Ort, um unserer grausigen Strafe zu folgen.
159
Im Vorbeigehen streiften Bewohner unauffällig seine Arme,
seine Hände um Beistand zu signalisieren. Seine Haltung war
aufrecht, auch wenn man ihm die Erschöpfung ansehen konnte. Wie lange von der Anklage bist zur Vollstreckung des Urteils?
Er wusste was auf ihn zukäme. Seine Augen waren matt, er hatte seinen Frieden mit seinem Schicksal gemacht. Zumindest bis
sein Blick auf uns fiel, und Hoffnung und Zuversicht den matten Frieden vertrieben. Oder war es nicht Frieden, sondern
schlichte Aufgabe gewesen?
Unwichtig, denn als er uns sah, wich dieser Ausdruck und mir
zog sich das Herz zusammen. Ich wollte! Wollte ihm helfen,
wollte kämpfen, die Häscher zurückdrängen. Ihnen zeigen, dass
wir noch immer da waren, stark nein Stärker als jemals zuvor.
Ich wollte, ebenso wie mein Mann aber wir durften nicht. Und
die Kälte die unser Rückrad hinaufkroch, zeugte nicht vom
Herbst sondern von IHR, von der dunklen Mutter.
Sie würde wie stets ein Auge darauf haben, dass wir nicht eingriffen.
Unsere Mienen waren kalt, distanziert. Wir waren zeugen,
nicht mehr und nicht weniger. Beobachter.
Wir wussten die Schüsse die auf Valentin abgegeben wurden
nur der Masse als Abschreckung dienten, aufzeigen sollten, das
Hochverrat diese Folge hatte.
Wir wussten, dass wenn man den Leichnam vorgeblich wusch
ihm den Kopf von den Schultern schlagen würde und vermutlich dem Feuer übergeben würde.
Wir kannten das Prozedere. Wir wussten was ihm bevorstand
und das machte diesen Moment indem sich unsere Blicke trafen
noch schlimmer. Es kostete mich Mühe meine gleichgültige
Miene aufrecht zu halten. Alexander ergriff meine Hand.
Es war tröstlich seine Nähe, seine Berührung zu spüren, auch
wenn nicht einmal er es vermochte das Unbehagen zu nehmen.
Das Gefühl hilflos und schlimmer noch nutzlos zu sein.
160
Ich konnte nichts tun ohne mein eigenes Leben oder Unleben
zu gefährden. Nicht wegen der Häscher, auch wenn sie gefährlich waren, so waren sie weit weniger beängstigend als SIE es
war.
„Halte einfach durch, denk an etwas anderes.“
Alexanders Stimme war leise, wirkte beinahe abwesend. Woran
dachte er? Oder suchte er Zerstreuung indem er die Gedanken
der Anwesenden las, wie er offensichtlich meine Gelesen hatte?
„Raus aus meinem Kopf, das ist nicht fair.“
Ich war nicht minder leise als er es gewesen war. Ein mildes
Necken das im Tadel verborgen blieb. Nun nicht für ihn, wie
das kurze Heben der Mundwinkel mir verriet.
Und für ein paar Sekunden vergaß ich. Vergaß ich warum wir
hier waren. Vergaß ich, dass es trist und grau war. Für einen
Moment, gab es nur ihn und mich.
Dann erklang die Salve aus Schüssen und riss mich aus dem
kurzen Zustand des Vergessens heraus.
Ich schlang meinen freien arm um seinen, hielt mich und barg
mein Gesicht an seinem Arm, als mein Artgenosse zusammenbrach.
Es waren gute Schützen. Kopf und Herz waren zerfetzt von den
Bleikugeln, der Geruch von Blut und Hirnmasse vermischte
sich mit dem Geruch des Schießpulvers.
Ich hasste diesen Geruch und ich hasste diesen Lärm. Manchmal schien es mir, als würde die Welt nur noch aus Lärm bestehen. Die Menschen waren zahlreich und zu laut für meinen
Geschmack.
Fuhrwerke wohin man sah, nicht selten gerieten Menschen
unter die schweren Räder oder die Hufe der Pferde die sie zogen, aber das schien sie nicht zu kümmern, schneller, weiter,
lauter schien das Motto zu sein.
Ich schüttelte den Kopf, sah auf die grausige Szene, beobachtete
wie das Blut in die kalte Erde sickerte und sich in einer großen
Pfütze unter meinem Artgenossen sammelte.
161
Die Menschen wichen langsam, die Soldaten näherten sich vorsichtig. Das würde sie jedem anderen Artgenossen verraten, der
Anwesend war. Jacob, Dante, Yves, Roma und einige deren
Namen ich nicht kannte.
Unwichtig. Ich wand mich ab, gab Hand und Arm meines Gefährten frei und erntete einen fragenden Blick.
„Ich werde mich ein wenig umsehen.“
Ich beantwortete die ungestellte Frage automatisch.
Jedes Mal wenn ich allein wandelte verlangte er zu wissen was
ich vorhatte. Er wollte mich nur beschützen, ich wusste es,
aber seine Sorge war in meinen Augen unbegründet.
*Irgendwann wird der Tag kommen, an dem du das Leben eines
Geschöpfes retten könntest und doch zusehen musst wie es
stirbt.*
Die Drohung der Mutter war wie ein Schwert das über uns
hing. Bereit herab zu stürzen und unsere Leben zu beenden.
Irgendwann…
Niemand von uns, würde diese Warnung vergessen. Niemand.
Und so war jene Mahnung der Grund dafür, dass er stets zu
wissen verlangte wohin meine Schritte mich führten.
Ich wollte einfach nur den Kopf frei bekommen, wollte nachdenken wie ich alles unter Kontrolle bekommen könnte.
Oder zumindest für die Sicherheit meines Eigentums zu sorgen.
Aus einer Seitengasse heraus beobachtete mich eine heruntergekommene junge Frau.
Ich musste keine Gedanken lesen können um zu wissen, dass
sie versuchen würde mich auszurauben.
Die Welt der Menschen befand sich an einem Scheideweg. Und
das bedeutete oft genug, das das einfache Volk hungerte, ohne
Arbeit war und mehr denn je das Faustrecht galt.
162
Die junge Frau, vielleicht war sie siebzehn höchstens achtzehn,
war eines der Opfer die dieser Wandel mit sich brachte. Ich
griff in die Tasche meines Mantels und holte etwas Geld heraus.
Beiläufig warf ich es ihr im Vorbeigehen zu, ersparte ihr den
Versuch mich zu berauben und mir mich dagegen zur Wehr zu
setzen.
Unter dem ganzen Dreck könnte sie schön sein. Gut sie war
abgemagert und schmutzig, ihre Haare waren strähnig und fettig.
Aber ich war mir beinahe sicher, dass sie unter dem ganzen
Schmutz mit ein wenig Fürsorge eine annehmbare…ja was?
Warum schenkte ich ihr so viel Beachtung?
Ich schüttelte den Kopf und machte mich auf den Rückweg.
„Wie kannst du einfach so zusehen, Nebel?“
Ich blieb stehen und wand mich ruckartig um. Ich kannte diese
Stimme, aber hatte ihn als *Einbildung* abgetan. Dem sehnen
nach der Vergangenheit abgeschrieben, die ich zurück wollte.
Ich musterte meinen einstigen Trainingspartner eingehend.
Die Mode dieser Zeit stand ihm gut zu Gesicht, aber die Männer waren in der Mode ohnehin weitestgehend besser weggekommen als es bei den Frauen der Fall war.
Wespentaille, Pompöse Ärmel und weite Röcke…ich wäre froh
wenn jemand etwas Bequemeres kreieren würde.
Von den Stiefelletten wollte ich dabei gar nicht erst beginnen.
„Jacob…“
Ich wusste nicht was ich sagen sollte, wie mich verhalten. Es
war so lange her. So verdammt lang und das er jetzt hier war,
das er mit mir sprach, schien die vergangene Zeit neu aufleben
zu lassen.
„Was tust du hier? Was machst du? Wen aus dem… aus der
alten Heimat siehst oder triffst du noch?“
Ich vermied es auf die Frage einzugehen, vermied es wieder
darüber nachzudenken. Jacob lächelte, aber ich erkannte, dass
es kein ehrliches Lächeln war.
163
Höflichkeit, Distanz aber keine Freude mich wieder zu sehen.
„Ich erweise den sterbenden die letzte Ehre. Manchmal treffe
ich ein paar derer die im Schloss Unterschlupf gefunden hatten.
Sag es mir, Nebel.
Wie erträgst du es? Ich habe gesehen, dass du ihnen in die Augen siehst. Wie erträgst du es? Wie kannst du einfach nur so
zusehen?“
Sein Blick war vorwurfsvoll und ich konnte es ihm nicht einmal verübeln. Er hatte nicht Unrecht.
Ich sah ihnen in die Augen, meine persönliche kleine Qual, die
ich aller Wahrscheinlichkeit verdiente.
Bei allem Leid, dass ich im Laufe meines Unlebens verursacht
hatte, heraufbeschworen hatte war es gewiss die rechte Strafe.
„Jacob…Das verstehst du nicht.“
Ich könnte ihm von der Strafe berichten, aber dann müsste ich
vermutlich auch erzählen wofür wir sie auferlegt bekommen
hatten.
„Es gab eine Zeit, da hättest du es verhindert! Es gab eine Zeit
als du versucht hast jene die gejagt werden zu beschützen! Was
ist aus dieser Nebel geworden?
Was wurde aus der Obersten die alles dafür tat um stärker zu
werden und zu kämpfen für das was ihr wichtig ist? Du bist
nicht besser als SIE es sind.“
Seine Stimme war leise, gefährlich ruhig. Und seine Worte trafen mich bis ins Mark. Ich hatte geahnt, dass unsere Artgenossen uns unser Nichteinschreiten übel nehmen würden, hatte
geahnt das es früher oder später Ärger geben würde, aber obwohl es eigentlich klar war, war ich nicht darauf gefasst gewesen.
Nicht darauf gefasst wie schmerzhaft die Anklage war. Er hatte
Recht. Und das war das schlimmste an allem. Nicht das Brechen des Blickes der Opfer, die kurze Hoffnung oder die Erkenntnis, dass die Hoffnung vergebens war.
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Jacob hatte Recht. Ich war nicht besser als es die Häscher waren.
Ich führte sie weder zum Schafott noch führte ich das Beil –
bildlich gesprochen – aber ich sah tatenlos zu wie einer nach
dem anderen fiel.
Genauso gut könnte ich dort stehen und die Waffen auf meine
Artgenossen richten. Ich antwortete nicht. Sprach nicht aus,
dass ich ihm zustimmte sondern legte meine Maske auf. Ein
kühles Lächeln, aufrechte Haltung und fester Blick. Tausende
male hatte ich die Starke gespielt, auch wenn ich mich am
liebsten verstecken wollte vor mir selbst und der Welt.
Diese Maske anzulegen war nicht schwer und gelang ohne große Anstrengung.
„Langsam aber sicher, sind sie doch alle alt genug um auf sich
aufzupassen und sollten gelernt haben keine Aufmerksamkeit
zu erregen, Jacob, denkst du nicht? Wenn sogar mir das gelingt,
dann sollte es für die anderen ein Kinderspiel sein.“
Belustigung, nur ein Hauch vermischt mit Herablassung
schwang in jedem meiner Worte mit. Er funkelte mich zornig
an, meine Vorstellung war offenbar glaubhaft genug.
Ich warf einen Blick über die Schulter zurück wo der Hauptfriedhof lag.
„Naja… scheinbar können es nicht alle. Wenn du mich jetzt
entschuldigst Jacob… Ich habe weit sinnvolleres zu tun als mir
hier irgendwelche Anschuldigungen von dir anzuhören.
Grashalme auf der Wiese zählen, Wolkenbilder raten…“
Ich drehte mich um, wand mich vollständig von ihm ab.
„…dem fallenden Laub zusehen…“
„Nebel…“
Enttäuschung schwang in der Nennung meines Namens mit
und sie traf mich, wie es seine Worte zuvor getan hatten. Ich
ließ mir nichts anmerken, lachte leise und kalt, ehe ich meine
sinnfreie Liste ein wenig fortsetzte während ich mich Schritt
für Schritt entfernte.
165
Sarah
Erst am Mittag des kommenden Tages erreichten wir das Haus,
und noch ehe ich die Hand an der Klinke hatte wurde die Tür
aufgerissen und meine Tochter schlang die Arme um meinen
Hals und küsste mich auf die Wange.
„Wo warst du? Wir haben uns Sorgen gemacht. Wen bringst du
da mit, und warum?“
Lächelnd erwiderte ich die Umarmung, froh endlich wieder zu
Haus zu sein. Kurz glitt mein Blick über die Erscheinung meiner Tochter, sie sah aus als wollte sie grade aufbrechen, und
meine Ankunft hatte ihr Vorhaben vereitelt.
„Später. Du gehst?“
„Mit Noir und Joycelin. Wir wollen Stoffe kaufen auf dem
Markt in…“
Clarissa legte überlegend den Kopf schief. Die alten Karten und
Bezeichnungen kannte sie. Mit den Neuen tat sie sich ebenso
schwer wie ich. Noir trat mit Joycelin hinter sie.
„na komm, streng deinen Kopf an, so schlimm bist du gestern
nicht drauf gefallen.“
Es war eine Mischung aus Herablassung und liebevollem Tadel,
mit welchem Noir diese Worte sprach ehe er mir kaum merklich zum Gruß nickte und fragend die braue hob ob meines
Mitbringsels.
„Hoffst du, dass er nicht mehr so wütend ist wenn du was oder
wen mitbringst?“
„Ludwigshafen!“
Clarissa jubelte und grinste noch bevor ich überhaupt zur Antwort ansetzen konnte und löste ein Lachen von Joycelin aus.
„Geht doch, dann kommt bevor der dumme Hund aus Langeweile das Pferd und die Kutsche verscheucht.“
Noir trat an mir und Sarah vorbei ins freie und ich zwinkerte
den beiden folgenden Frauen kurz verschmitzt lächelnd zu.
166
Noirs Bedenken waren nicht abwegig.
Marcel hätte damit nicht das erste Pferd verscheucht oder die
erste Kutsche versehentlich zerstört, nur weil er nicht wusste
wohin mit seiner Energie. Ich wusste das Ary überlegte mit
Marcel fort zu gehen.
Das hier war kein Land für jemanden wie Marcel. Er brauchte
Platz und Wald oder Gebirge. Brauchte die Gelegenheit sich zu
wandeln und sein Rudel.
Vermutlich würde Ary seinem Gefährten folgen, wie jener ihm
bislang gefolgt war. Einfach weil er ihn liebte und die Bedürfnisse seines Partners kannte. Sie würden mir fehlen.
Noch spielten sie nur mit dem Gedanken, aber ich wusste, das
aus den Gedanken früher oder später taten werden würden und
sie fort gingen um sich dem Rudel von Marcel anzuschließen
oder seiner Großmutter.
Soweit ich informiert war, befanden sich die Wölfe in Rumänien. Ein perfekter Ort, wenige Menschen, kaum Häscher wenn
überhaupt.
Ich sah der Gruppe kurz nach, hob zum Abschiedsgruß eine
Hand, ehe ich Sarah bedeutete mir zu folgen.
Die Vorhänge in der Wohnstube waren zugezogen, ein paar
Öllampen spendeten Licht und verbreiteten ihren unverkennbaren Geruch.
Im Kamin brannte ein Feuer und als ich meinen Blick umherwandern ließ, fing ich den Blick meines Elben auf.
Er starrte Sarah mit einer Mischung aus Misstrauen und Mitgefühl an. Misstrauen, weil er vermutlich befürchtete, dass sie mir
gehörte, das ich ihn ersetzte oder er mir nicht mehr reichen
würde.
Ich schenkte ihm ein Lächeln und streckte meine Hand aus und
sofort folgte er dem stummen Befehl und eilte zu mir. Den Kopf
gesenkt sank er auf die Knie und presste unmerklich sein Haupt
an meine Hand, als ich wie stets meine Finger durch seine langen Strähnen gleiten ließ.
167
„Willkommen zu Haus, Nebel. Wir waren in Sorge das Euch
etwas zugestoßen ist.“
Ich nickte leicht, gebot ihm schweigend aufzustehen.
„Ja das hörte ich bereits. Wie zornig ist mein Mann?“
Noch ehe Mate zur Antwort ansetzen konnte, antwortete Alexander.
„Das kommt ganz darauf an, welchen Grund mein geliebtes
Weib vorbringen kann, dass sie Tage nicht heim kommt und
keine Nachricht schickt.“
Seine Stimme bebte vor unterdrücktem Zorn, und ich atmete
unnötig durch, ehe ich von ihm zu Mate sah.
„Lass mir ein Bad ein und lege frische Kleider bereit, Mate.“
Erst nach der Anweisung, die zur Folge hatte, das Mate beinahe
fluchtartig das Zimmer verließ um meine Forderung zu erfüllen, wand ich mich Alexander zu und trat an ihn heran.
„Verzeih, ich wollte dich weder erzürnen noch dir Sorge bereiten.“
Ich hauchte ihm einen Kuss auf den Mundwinkel, während er
sich um Haltung bemühte. Er wollte mir zürnen, mich schelten
und ich wusste es.
Ebenso wie ich inzwischen wusste, dass er mir nicht lange böse
sein konnte, vor allem nun, da ich wohlauf vor ihm stand.
Ich schlang einen Arm um seine Seite und lehnte den Kopf an
seine Brust, die Augen schließend, während meine freie Hand
nach seiner fischte.
„Ich weiß, dass es nicht einfach für dich ist. Das alles. Ich weiß,
dass es dir nicht reicht.“
Kurz öffnete ich die Augen und sah zu ihm auf, begegnete seinem verwirrten Blick, der ein leichtes Lächeln auf meine Lippen legte.
„Du warst stets sehr geduldig mit mir. Selbst was meinen Elben
anbelangt. Glaube nicht, ich hätte das je als Selbstverständlich
angenommen, Alexander.“
168
Gut was Mate anbelangte trug ich keine Schuld. Ich konnte
mich gegen meine Zuneigung zu ihm nicht erwehren wie ich
mich nicht gegen die Liebe zu ihm hatte wehren können.
Die Magie des Elben hatte ihn retten wollen und ich…
Nun ich war dort gewesen, war neugierig genug um genauer
hinzusehen. Ein Blick, es war nur ein Blick gewesen und ich
hatte so viele Schicksale neu geschrieben. Wieder einmal.
„Darum war ich fort, ohne Nachricht und ohne Wort. Du
brauchst etwas mit dem du dich beschäftigen kannst, dass deine
Gedanken zu angenehmeren Dingen zieht, wenn dir gewahr
wird wie grausam die Strafe deiner Mutter wirklich ist. Darum
habe ich Sarah für dich als Geschenk.“
Ich löste mich von ihm und deutete auf das immer noch
schweigende Ding, das alles mit riesigen Augen betrachtete.
Alexander war sprachlos, und schien darauf zu warten, dass ich
alles als einen makabren Scherz aufdeckte. Doch ich nickte
schlicht zum Zeichen das sie ihm gehörte.
„Nur um eines lass mich bitten.“
„Um was?“
„Ich will es nicht mitbekommen.“
Mir war klar er würde seine sadistische Ader an ihr ebenso befriedigen wie seine Lust – und was letzteres anbelangte war er
ausgesprochen ausdauernd und immer hungrig. Aber ich wollte
davon nichts mitbekommen.
Ich wollte nichts sehen, nichts hören. Dann würde ich es ertragen können, ich war mir beinahe sicher. Für eine Weile zumindest.
„Bist du dir sicher?“
Gedankenleser… Innerlich verdrehte ich die Augen, lächelte
und schüttelte den Kopf. Unnötig zu lügen.
„Nein. Ich werde jetzt ein Bad nehmen und ausruhen. Viel
Vergnügen mit ihr.“
169
Und so wie ich gelernt hatte, dass er mir nicht lange zürnen
konnte, so wusste ich, dass er ihr den Kopf abreißen würde,
wenn ich es nicht länger ertrug.
Ich raubte mir noch einen Kuss, schenkte ihm ein Lächeln und
verließ die Wohnkammer. Meine Sinne waren auf meinen
Mann fokussiert, während ich den schmalen Flur entlang
schritt.
Mein innerer kleiner Masochist, gierig nach Qual, nach
Schmerz der mir bewies, dass ich noch lebte. Der mir bewies
das ich bei weitem nicht so kalt, nicht so gefühllos war wie ich
selbst manchmal befürchtete.
Alexander verließ mit Sarah das Haus, und ich gab ihn aus
meiner *Beobachtung* frei, als ich die Stufen hinauf schritt und
ins Bad trat.
Genüsslich sog ich den Duft der Bade Öle ein, beinahe auf
schnurrend hieß ich den Wasserdampf willkommen der meine
erschöpften Züge koste.
Mate trat beinahe lautlos an mich her-an, hinter mich um mir
beim Entkleiden zu helfen.
Einzig das leise rascheln seiner Kleider verriet ihn lange bevor
er bei mir war. Ich öffnete die Augen, sah ihn schmunzelnd an
und unterstützte ihn in seinem tun. Manche Dinge änderten
sich nicht, und bei manchen Dingen war es mir sogar Recht.
Mich an seiner Hand haltend stieg ich ins heiße Wasser und
seufzte wohlig als ich mich hineingleiten ließ, Schaum und
Wasser meinen Körper umspielten.
„Komm mit rein, Mate.“
Er könnte sich widersetzen, hier oben hatten wir eine Abmachung. Hier durfte er mir widersprechen und einfordern was
auch immer ihm grade fehlte. Nur hier duldete ich, dass er ein
eigenständiges wesen war, das seinen eigenen Willen hatte.
Er widersprach nicht, sondern folgte meiner Aufforderung und
stieg nachdem er sich entkleidet hatte, zu mir ins Wasser.
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Er nahm den Platz hinter mir, und wortlos zog er mich an seine
Brust und ebenso wortlos folgte ich dem Zug.
Manchmal war es gut. Nicht ich sein zu müssen. Nicht stark,
nicht stolz nicht kalt. Manchmal war es gut, mich fallen lassen
zu können. Selbst wenn es *nur* in seine Arme oder an seine
Brust war.
„Hilf ihr, sich einzugewöhnen, Mate.“
„Wie Ihr wünscht, Nebel.“
Die Antwort kam mit einigem Zögern, aber ich wusste, dass es
nichts zu bedeuten hatte. Er würde sie im Auge behalten, ihr
helfen zu erkennen was wir verlangten und das es besser wäre,
sich einfach mit dem Schicksal abzufinden.
Menschen waren perfekt dazu geeignet. Als Haustiere oder
Sklaven gehalten zu werden. Sie sehnten sich nach einer starken Hand.
Tief in ihrem Inneren sehnten sie sich nach Führung, danach
das man ihnen die Entscheidung abnahm. Auch wenn der verstand ihnen mit irgendwelchen Dogmen vorzugaukeln versuchte, dass es falsch war.
Dabei taten sie es unbewusst ohnehin alle. Folgten brav wie
eine Horde Schafe dem Wolf im Pelz.
Beugten sich widerstandslos Ansichten und Meinungen. Gleich
in welchem Bereich. Kirche, heim, Arbeit. Mir sollte es gleich
sein. Bisweilen tat ich nichts anderes.
Nicht widerstandslos, aber ich tat es. Ich passte mein Erscheinungsbild an, mein Gebaren. Nicht aber meinen Namen . Auch
wenn mancher meiner Art längst einen gebräuchlichen Namen
angenommen hatte um sich weiter noch anzupassen oder weniger aufzufallen, weigerte ich mich dagegen und reagierte
nicht, wenn man es doch versuchte.
Ich hatte einen Namen.
Ende.
171
Küken außer Rand und Band
SIE hatte gesagt, dass der Schattenwandler uns über die Einzelheiten ins Bild setzen würde, soweit er sie denn hatte.
Noir führte uns in die Wohnkammer und bot uns einen Platz
und etwas mit Blut versetzten Wein an, ehe er selbst sich setzte. Er wirkte abgelenkt, und ich wusste, dass er seine Gemahlin
im Auge behielt, auf die ihm eigene Art und Weise.
Darin schienen Vater und Sohn sich nicht zu unterscheiden. Sie
hatten einen extremen Beschützerinstinkt was die unmittelbare
Familie anbelangte.
Ketten die sie als auch ich freiwillig angelegt hatten und die
manches Mal furchtbar schwer wogen.
Ketten die wir niemals freiwillig ablegen würden, und wenn
das bedeutete ständig unter den wachsamen Augen des Partners
zu stehen.
Sarah und Mate verstauten das Gepäck und bereitete die
Schlafkammern vor während wir den Wein genossen und das
feuchte, englische Wetter am Feuer aus den Knochen zu bannen versuchten.
„Also…“
Alexander befand es an der Zeit, das Noir seine Informationen
mit uns teilte und Noir seufzte kurz auf, schloss die Augen und
fuhr sich mit gespreizten Fingern durch das nachtschwarze
Haar.
„Ich kenne den Schöpfer nicht. Er oder sie hält sich vollkommen zurück und im Hintergrund. Ich habe mehrfach auf verschiedenste Weise versucht das herauszufinden.“
Einen Schöpfer auszumachen sollte zumindest theoretisch
nicht schwierig sein. Besonders in den ersten Wochen nach der
Wandlung schwang das Blut unserer Schöpfer noch in uns.
Da eine enorme Blutmenge benötigt wurde und ein vollständiger Austausch Zeit brauchte war es tatsächlich ungewöhnlich
wenn das nicht der Fall war.
172
Aber wäre es ein normaler Fall, wären Alexander und ich nicht
hier. Wir schwiegen, gaben Noir Zeit seine Gedanken zu ordnen und weiter zu berichten.
„Im August wurde eine junge Frau gefunden. Sie wurde mit
neununddreißig Messerstichen getötet, wenn man dem leitenden Ermittler glauben darf, war sie das erste Opfer. Auch wenn
viel Blut am Tatort war, war es mit Sicherheit nicht alles.“
Noir schüttelte den Kopf, zwang sich das Bild vor Augen ehe er
weitersprach.
„Aufgrund der zahlreichen Verletzungen und der Schaulustigen
und Ermittler war es mir nicht vor Ort möglich sie mir genauer
anzusehen. Es hat mich ein halbes Vermögen gekostet, in die
Leichenhalle zu kommen und sie mir genauer anzusehen.“
Was auch immer Noir unter ein halbes vermögen deklarierte,
war sicherlich nicht so viel, dass es ihn wirklich belastete. Woran es ihm auch fehlen mochte, an finanziellen Mitteln ganz
sicher nicht.
„Die Verletzungen durch die Messer waren Präzise und haben
die Spuren des Bisses hervorragend verdeckt. Hätte ich nicht
gewusst, worauf ich achten müsste, wäre es mir nicht aufgefallen.“
Aber nicht nur Noir wusste wonach er schauen musste. Auch
SIE wussten es und ich betete inständig, dass IHRE Aufmerksamkeit noch nicht geweckt worden war.
Alexander und ich hingen geradezu an Noirs Lippen, wartete
ohne Zwischenfragen oder Unterbrechung darauf, dass er weiter sprach, die Geschichte vollendete
„Am einunddreißigsten August wurde die zweite gefunden.
Nachts um kurz vor vier in Whitechapel. Ihre Kehle war
durchtrennt und mehrere Schnitte wurden in der Leistengegend durchgeführt und ihre Gedärme freigelegt.
Auch diese sah ich mir später in der Leichenhalle an und auch
bei ihr fand ich dieselben Spuren, und wieder waren sie gut
verborgen.
173
Das letzte Opfer bisher starb am achten September, also kurz
bevor Großmutter euch aufsuchte, wieder in Whitechapel. Ihre
Kehle wurde mit zwei Schnitten durchtrennt, der Unter-leib
vollständig ausgeweidet und die Gedärme wurden über die
Schulter gelegt. Es fehlte ein Teil der Bauchdecke und der Gebärmutter.“
„Es macht ihm zunehmend Freude.“
Es war eine Feststellung, keine Frage von Seitens meines Mannes. Und er hatte Recht. Das Küken hatte Spaß daran die Opfer
abzuschlachten und auszuweiden.
Was vielleicht damit begonnen hatte seine Spuren zu verwischen, wurde mehr und mehr zu einem Spiel für ihn. Das war
nicht unbedingt hilfreich. Denn das hieß, dass er noch weitere
Morde begehen würde und die Opfer der Öffentlichkeit preisgeben würde, ihre misshandelten Kadaver dem Blick der Menschenmassen ausliefern.
Wir schwiegen, versuchten das Ganze zu verdauen. Die Leichen selbst noch einmal anzusehen, würde nichts bringen. Wir
waren uns sicher, dass Noir mit der notwendigen Sorgfalt an
diese Angelegenheit gegangen war.
Aber was wäre der nächste Schritt? Ich blickte zu Alexander
und konnte seiner Miene ablesen, dass er darüber nachdachte.
„Wissen irgendetwas über das Küken?“
Noir seufzte und schüttelte den Kopf.
„ja und nein. Eine Menge widersprüchliche Aussagen, aus Reihen der Ermittler. Manche behaupten die Taten hätten einen
sexuellen Hintergrund, andere behaupten er sei wahnhaft und
neige zu Gewaltausbrüchen, einige sagen er müsse anatomische
Kenntnisse besitzen, anderen sagen das das nicht zwingend nötig wäre… Also haben wir theoretisch nichts.“
„Liegt ein sexueller Hintergrund vor? Wurde neben dem Mahl
auch die Spuren von einem sexuellem Verbrechen verborgen?“
Wieder schüttelte Noir den Kopf. Ich lächelte.
174
Ja es war unangebracht, aber aus den Augenwinkeln erkannte
ich das amüsierte Schmunzeln, das an den Mundwinkeln meines Mannes zupfte.
Auch er war über Gebühr von dieser Hatz angetan. Ja er sollte
uns nicht freuen aber dennoch… So lang waren wir
*angekettet* gewesen wie Hofhunde. Nicht fähig zu kämpfen
und zu sein wer und was wir waren.
Diese Jagd würde uns Ablenkung bieten. Und es würde Spannend werden.
Wir hatten beinahe nichts mit dem wir arbeiten konnten. Zu
groß war die Stadt, zu viele Gesinnungen als das man sich um
jeden Einzelnen kümmern könnte, befragen oder beobachten.
„Woher weißt du was sie annehmen Noir?“
Ich legte den Kopf schief und sah ihn fragend an. Eine Geste
kindlicher Neugier die ich nie abgelegt hatte und so surreal
wirkte wie die Sonne um Mitternacht.
Noir lächelte zufrieden. Er hatte sich befragt, wann wir danach
fragen würden, ich sah es ihm an. Kurz wand er den Kopf, sah
in den Flur hinaus und als die Haustür sich öffnete und schloss
schien es, als fiele eine große Last von ihm ab.
Seine Frau war zu Haus.
„Inspektor Abbeline ist einer der Ermittler und er verdächtigte
einen meiner Mandanten. Ich verlangte über die Fortschritte
der Ermittlungen auf dem Laufenden gehalten zu werden.
Auch wenn sich mein Mandant inzwischen als unschuldig herausgestellt hat, bekomme ich noch immer die Informationen
die ich benötige. Willkommen zurück, Joycelin.“
175
Weihnachten
„Hilf mir, Alexander! Sie werden bald ankommen.“
Alexander lachte und schenkte mir einen liebevollen Blick. Es
waren nur noch wenige Tage bis Weihnachten und das bedeutete, dass die Familie zusammen kommen würde. Und das wiederrum bedeutete, dass ich ganz vergaß das ich eigentlich kühl,
distanziert und Ernst war.
Und noch was das schlichte Haus am Stadtrand noch nicht ausreichend geschmückt. Natürlich standen Lichtpyramiden – was
genau hatten die mit Weihnachten zu tun? – auf dem Fensterbrett und allerlei Schneeflocken, Schneemänner, Weihnachtsbäume und Santas mit seinen Rentieren tummelten sich in
Form von Abziehbildern in allen Fenstern.
Aber natürlich reichte es mir nicht. Ich übertrieb es nicht wie
es die Amerikaner taten, die einen Volkssport aus dem Schmücken und dekorieren von Haus und Garten gemacht hatten,
aber im Laufe der Zeit, hatte sich meine Weihnachtsdekoration
den Nachbarn und der Zeit angepasst.
Eines der wenigen Dinge mit denen ich mich recht gut arrangieren konnte, auch wenn das meiste der Zeit mich anwiderte
und abstieß.
Die letzten Jahre und Jahrzehnte waren ruhig gewesen. Sah
man von diversen Kleinigkeiten ab, lebten wir ein angenehmes
Leben.
Noir und Joycelin waren zwar überall auf der Welt schon heimisch gewesen, aber ihre Lieblingsheimat war und blieb London. Wusste der Henker warum.
Clarissa lebte in Paris, Ary und Marcel lebten in Los Angeles
und mein Sohn verdiente ein unverschämtes Vermögen mit der
Verschönerung von Körpern.
Er hatte es aufgegeben die Menschheit heilen zu wollen, da es
nichts brachte.
176
Sie waren eine selbstzerstörerische Rasse und er hatte genug
davon den Samariter zu spielen – zum Wohlgefallen meines
Mannes und mir.
Marcels kriminelle Ader hatte sich als sehr praktisch herausgestellt. Er war inzwischen ein Meister darin *Leben* zu schaffen.
Identitätskreation nannte er es, und er war gründlich und sehr
geschickt wenn es darum ging.
Wie genau er tatsächliche Identitäten schuf, konnte ich nicht
sagen. Nicht einmal Ary hatte er das erklärt. Aber auch wenn
er sich als nützlich erwies, konnte er die Finger nicht von Drogen aller Art lassen.
Und mehr als einmal war er verhaftet worden, was meistens
mit einer Depression und Streit zwischen ihm und Ary endete.
Wenngleich viel, viel langsamer als Menschen, alterte Marcel
im Gegensatz zu Ary.
Man konnte Marcel für Anfang vierzig halten, einzelne graue
Strähnen zierte das einstmals schwarze Haar und trotz seines
Alters zog er einige Blicke auf sich. Nicht das er es bemerkte.
Ich hoffte, dass es dieses Weihnachten nicht wieder zu irgendwelchen Streitigkeiten käme.
Alexander und ich blieben in Deutschland, sah man von Urlaubsreisen ab. Meistens lebten wir in der Nähe von Großstädten.
Je nach Laune arbeiteten wir als Therapeuten oder Makler. Eine einfachere Möglichkeit zur Jagd gab es nicht. Bei kaum einem anderen Beruf, war man mit seinen Opfern allein und
gleichzeitig vollkommen öffentlich.
Wir passten uns an. Kleider, Sprache, Benehmen Rituale. Wir
waren nahezu unsichtbar. Das war neben der Bitte vor über
hundert Jahren mit ein Grund, warum Alexander mich in meinem weihnachtlichen Treiben unterstützte.
Schließlich feierten sie alle Weihnachten. Insgeheim genoss er
diese Zeit der Besinnlichkeit und Zusammenkunft vermutlich
nicht weniger als ich es tat.
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Denn wollte er es Partout nicht, könnte ihn nicht einmal die
dunkle Mutter dazu bringen. Sturkopf eben! Wir fuhren zusammen los und suchten einen Baum, stundenlang verglich ich
und prüfte bis ich einen gefunden hatte der mir passend erschien.
Alexander hatte eine unnatürliche Geduld bei diesen Dingen,
und ich gebe zu, das ich jene Geduld nur allzu gern ausreizte,
nur um diesen einen Satz noch einmal zu vernehmen:
Du überstrapazierst meine Geduld, Nebel!
Nicht einmal nur wegen der Worte, sondern vielmehr wegen
der Art, mit der er es sagte.
Seine Augen leuchteten dann unwirklich, seine Haltung veränderte sich, der klang seiner Stimme und da war es wieder – Das
Kaninchen vor der Schlange.
Obwohl nein... das war verkehrt.
Im Laufe der Zeit, hatte ich meinen eigenen Terminus für diesen Zustand gefunden: der Bambi-Effekt: das Reh das paralysiert im Scheinwerferkegel steht.
Und jedes Mal wieder erklang dieselbe Antwort, wie einst in
seinem Arbeitszimmer: Ich weiß! Nicht das ich es geschafft
hätte im Laufe all der Zeit meine Stimme fester klingen zu lassen, aber was machte das schon aus?
Wir waren glücklich. Wir lebten so gut oder angenehm es eben
ging. Aber neben dem Weihnachtsfest und dem Zusammenkommen hatte sich etwas anderes eingebürgert, etwas das uns
half das Schauspiel tagein tagaus fortzuführen.
Jedes Silvester flogen wir in den Urlaub. Irgendwohin wo nur
wenige Menschen vorhanden waren.
Afrika, das australische Outback, die Karpaten – auch wenn das
nach Dracula Filmen leider nicht mehr so einsam war wie zuvor. Dort trafen sich die letzten unserer Art.
Nach diesen Reisen hasste ich die Menschen und ihre blinde
Zerstörungswut und Blindheit.
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Die letzte Schlacht hatte auf beiden Seiten einen Großteil ausgemerzt. Einmal waren wir zahlreich und nun waren wir
weltweit vielleicht noch fünfhundert meiner Art.
Wir waren vom Aussterben bedroht, allerdings würde wohl
keine Organisation dazu aufrufen fünf Euro zu spenden um
diese bedrohte Art zu retten.
Eine Woche dauerte unsere Zusammenkunft. Zeit in der wir
unsere Kräfte maßen, kämpften, unser Geschick zeigten oder
kurz gesagt : Zeit in der wir sein konnten, was wir waren, wer
wir waren bevor der Alltag, das Schauspiel weiter gehen musste.
Aber bis dahin dauerte es noch ein wenig. Erst käme das Besinnliche. Es wäre das erste Weihnachten für meinen jüngsten
Sohn. Im August hatte ich Alexander – nach einer Ewigkeit
sein drittes Kind geboren.
Michael Damian Vemo. Er hatte dieselben Augen wie sein Vater, aber sein Haar glich eher meinem. Wem er letztlich am
ähnlichsten sehen würde, konnte nur die Zeit sagen.
Er würde sich nicht an dieses fest erinnern, aber trotzdem war
es etwas Besonderes – für mich. Ary und Clarissa waren vollkommen vernarrt in ihren kleinen Bruder. Noir war wie immer
eher zurückhaltend, aber Yves und Roma schlichen immer um
mein Jüngstes herum.
Auch die festliche Dekoration konnte nicht verhindern, dass
ich das stets mit einem drohenden Knurren quittierte. Niemand
näherte sich meinem Kind, ohne das ich dabei war.
Alexander kannte es, oder hatte es nicht vergessen und belächelte es lediglich. Er mahnte die Gäste unseres Heims, mich
nicht zu unterschätzen.
Alter und Stärke würden ihnen nicht helfen, wenn es darum
ging mein Kind zu beschützen.
Das es hier gewiss keinen Schutz benötigte spielte dabei keine
Rolle. Aber alle nahmen die Warnung Alexanders Ernst. Das
war besser als meinen Zorn hervorzurufen.
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Jung oder nicht, aber ich hatte Abenteuer bestanden, die mancher anderer in seinem ganzen Leben nicht erlebt hatte. Und
jeder wusste, dass es einen Punkt gab, an dem ich keinen Spaß
mehr verstand. Dann wenn ich meine Familie – besonders die
Jungen – beschützen wollte.
Da konnten auch die Bestechungsgeschenke mich auch nicht
milder stimmen. Ich hatte ein Faible für Vampirfilme. Von Anfang 1900 bis heute hatte ich jeden Film gesehen und jedes
Buch gelesen. Faszinierend wie sich die Ansicht und Einstellung der Menschen zu Vampiren oder über Vampire verändert
hatte.
Wie stark man die Monster plötzlich romantisierte. Den Höhepunkt erreichte diese Romantisierung durch eine Buchreihe die
verfilmt wurde und die ich natürlich auf DVD besaß – Twillight.
Ich könnte nicht mit Bestimmtheit sagen, warum ich mir diese
Bücher durchlas oder diese Filme anschaute, aber vermutlich
waren diese Dinge für mich das was für normale Menschen die
Komödien waren.
Und was sprach schon gegen eine gewisse Romantisierung. Den
Untergang der Titanic würde man immer mit Kate Winslett
und Leonardo DiCaprio in Verbindung bringen. Hunderte Tote
aber ach was für eine schöne tragische Liebesgeschichte.
Jedes Jahr kamen zu Weihnachten ein paar Filme dazu, eine der
wenigen Dinge mit denen ich mich durchaus hatte anfreunden
können.
Für gewöhnlich saßen Alexander und ich nach Jagd oder Training noch beieinander und schauten sie uns gemeinsam an, und
für jedes Mal das er genervt von der Darstellung unserer Art
schnaubte, kassierte er einen Stoß mit dem Ellenbogen, was
mir einen tadelnden Blick einbrachte.
Die ersten zehn Male. Danach folgte ein freundschaftliches
kabbeln und Rangeleien bis wir weiter schauen konnten. Es
war einfach. Ich liebte es.
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Am Heilig Abend packte ich meinen Jüngsten warm ein. Es war
Schnee gefallen – endlich Mal wieder so das es Spaß machte
darin spazieren zu gehen, und die Luft war schneidend kalt.
Ich katte inzwischen ein recht gutes Bild davon, was klirrende
Kälte bedeutete. Und das hier kam dem recht nah, auch wenn
kein Winter denen in Morta Sant ähnelte.
„Bleibt nicht zu lang weg, Nebel.“
Alexander war beunruhigt. Vor wenigen Stunden war seine
Mutter aufgetaucht und nicht nur Alexander sah dies als ein
ungutes Omen an.
SIE mied solche Veranstaltungen und trotz jährlicher Einladungen war sie nie gekommen. Bis auf heute.
„Mach dir keine Sorgen. Ich werde nicht erlauben das unserem
Kleinen etwas geschieht.“
Er lächelte und raubte mir einen Kuss, ehe er – wie ich selbst
zuvor einige Male – ob sein Sohn auch warm genug eingepackt
war.
„Ich will mir nur die Beine vertreten, und ein wenig frische
Luft, wird auch ihm gut tun, hm?“
Das waren die letzten Worte die ich an meinen Mann richtete
ehe wir das Haus verließen und die winterliche Weihnachtskarte in natura durchquerten.
Kein ich liebe dich, kein necken. Doch woher sollte ich wissen,
was nur einige Straßen später auf uns wartete?
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Hehehehe
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