Zum Nachdenken Von Prag ... In Prag nimmt das tschechische Freiheitsdrama seinen Lauf. Die Szene wird täglich düsterer. Nach dem jüngsten Moskauer Diktat werden Regierung und Partei der CSSR „ihre Bemühungen um die Verstärkung der führenden Rolle der kommunistischen Partei aktivieren, den Kampf gegen die antisozialistischen Kräfte intensivieren und die unabdingbaren Massnahmen einleiten, damit die Medien der Masseninformation voll und ganz in den Dienst des Sozialismus gestellt werden“. Ferner werden - immer laut Moskauer Communiqué - die Partei und Staatsorgane in der Tschechoslowakei „durch Persönlichkeiten gefestigt, die klar auf dem Standpunkt des Marxismus-Leninismus stehen“. Aus der orthodoxen Kremlsprache in auch für gewöhnliche Menschen verständliches Deutsch übersetzt, bedeutet das u.a.: Der Versuch, den Sozialismus in der Freiheit zu verwirklichen, ist raschestens abzublasen - wobei natürlich nur die unfehlbaren „Kremlpäpste“ zu entscheiden haben, was sozialistisch oder antisozialistisch ist. Presse, Radio und Fernsehen sind sofort gleichzuschalten und einer lückenlosen Zensur zu unterstellen. Von Informations- und Meinungsfreiheit kann keine Rede mehr sein. Alle jene Männer und Frauen, die, im Einverständnis mit Dubcek, dem tschechischen Sozialismus „ein menschliches Antlitz“ geben wollten, sind aus ihren Stellungen in Staat, Partei und Massenmedien zu entfernen und - wer weiss - morgen oder übermorgen vielleicht im Gefängnis „in Sicherheit zu bringen“. Das ist offenbar der Preis für Moskaus „brüderliche Hilfe“. Noch scheint zwar das bewundernswerte tschechische Volk moralisch standzuhalten. Es lehnt jede „Verbrüderung“ mit den russischen Besatzern ab, namhafte Verräter sind noch keine aufgetaucht. Wie aber soll es weitergehen? Was werden die Tschechen denken und tun, wenn ihre Führer heute all das verleugnen sollten, was sie gestern noch so begeistert und überzeugend gepriesen hatten? Wie soll auf die Dauer das Vertrauen zwischen Führung und Volk erhalten bleiben, wenn beide nicht mehr frei und wahrhaftig miteinander reden dürfen? Soviel jedenfalls scheint sicher zu sein: Wenn kein Wunder geschieht, wird der Sozialismus in der Freiheit für die Tschechen noch für längere Zeit bloss ein schöner Traum bleiben. . .. nach Stockholm Vielleicht der einzige Lichtblick nach diesem in mancher Hinsicht so trüben Sommer: der grosse Sieg der schwedischen Sozialdemokraten bei den Reichtagswahlen. 12 neue Mandate, die absolute Volksmehrheit und 400‘000 Neuwähler haben Schwedens Sozialdemokraten seit 1964 zu gewinnen vermocht. Das war beileibe keine Selbstverständlichkeit, wenn man bedenkt, dass sie seit 36 Jahren praktisch ununterbrochen das Land regieren. Ermüdungserscheinungen, aber auch der Wunsch der Wähler, es einmal mit einer andern Regierungsmannschaft zu probieren, wären gewiss nicht unverständlich gewesen. Dies umso weniger, als sich im Verlaufe dieser 36 Jahre das Land Schweden und seine Bevölkerungsstruktur radikal verändert haben. Aus dem einstigen eher armseligen Bauernland ist die fortschrittlichste Nation Europas geworden, mit der vielleicht modernsten Industrie. Vor 36 Jahren waren die Wähler der Sozialdemokraten zweifellos Arbeiter und Kleinbauern mit kleinem und kleinstem Einkommen: „Proleten“. 1968 ist das ganz anders: Es gibt keine „Proleten“ mehr in Schweden. Aus den „Proleten“ sind Facharbeiter in einer hochmodernen Industriegesellschaft geworden, mit den höchsten Löhnen Europas. Sie sind praktisch gegen alle materiellen Risiken als Folge von Krankheit, Invalidität, Alter usw. geschützt. Nur ein Beispiel: Heute weiss jeder schwedische Arbeitnehmer, dass er, einmal alt und arbeitsunfähig geworden, mindestens 60% des Einkommens aus seinen 15 besten Erwerbsjahren als Rente bekommen wird. Wie in andern modernen Industriestaaten nimmt die Zahl der Arbeiter ab, während das Heer der Angestellten stetig wächst. Damit ändert sich natürlich auch die Wählerstruktur. Es muss aber Schwedens Sozialdemokraten gelungen sein, Hundertausende von Angestellten für sich zu gewinnen. Ganz allgemein wird man sagen dürfen, dass Schwedens SP die Wähler davon zu überzeugen vermochte, dass sie sich ernsthaft um die Gestaltung der Zukunft bemüht. Die einstige Arbeiterpartei ist zur Volkspartei geworden. Haben die Schweden nicht das bereits verwirklicht, was die Tschechen wollten: den Sozialismus in der Freiheit? Mindestens haben sie auf dem Wege zu diesem Ziel ein schönes Stück bereits zurückgelegt. Dabei wollen wir nicht vergessen, dass Schweden und Tschechen von gänzlich verschiedenen Voraussetzungen ausgegangen sind. Dubcek und seine Freunde hatten als Ausgangsbasis den kollektivistischen Staat nach russischem Muster: Total verstaatlichte Wirtschaft, in der alles zentral gelenkt wird von einer einzigen Partei, resp. deren Führung mit diktatorischer Macht. Die Schweden hingegen sind von einem kapitalistischen Staat ausgegangen, wo alles Privaten gehörte und das Volkseinkommen recht ungleich verteilt war. Diese Gesellschaft versuchten sie in den Dienst eines humanistischen Sozialismus zu stellen. Nun, auch Schweden ist kein Paradies. Aber es gibt dort keine Armut mehr, dafür soziale Sicherheit für alle, und es gibt wohl kaum ein anderes Land, wo die Einkommen durchschnittlich so hoch und gleichzeitig so ausgeglichen sind. Sozialismus auch ohne Dogma möglich? Das erinnert mich an einen kleinen Zwischenfall. Wir waren, vor ein paar Jahren, auf einer Studienreise in Schweden. In Stockholm wurden wir u.a. von einem sozialdemokratischen Reichstags-Abgeordneten empfangen. Zu unserer Gruppe zählte eine fanatische Kommunistin. „Genosse Abgeordneter“, fragte sie unseren Gastgeber u.a., „was halten Sie vom Marxismus; haben Sie die Industrie in Ihrem Lande verstaatlicht oder werden Sie es nächstens tun?“ Mit nordischer Ruhe antwortete der Abgeordnete ungefähr so: „Marx war ein grosser Mann. Sein Wunschziel, eine Gesellschaftsordnung, in der die Menschen von der materiellen Not befreit sind und keiner den andern ausbeuten soll usw. ist auch unser Ideal. Über den Weg und die Mittel aber, die zu diesem Ideal hinführen sollen, lässt sich in guten Treuen streiten. Wir haben die Wirtschaft bis heute nicht verstaatlicht und gedenken auch nicht, dies in absehbarer Zukunft zu tun. 90 Prozent unserer Wirtschaft sind also noch immer in privaten Händen. Mit unserer Steuerpolitik haben wir indessen dafür gesorgt, dass aus dieser Privatwirtschaft trotzdem im wahrsten Sinne eine Volkswirtschaft geworden ist. Mit andern Worten: Wir schöpfen mit den Steuern bei den besonders hohen Einkommen und Vermögen wieder ziemlich viel Geld ab. Dieses Geld verwenden wir u.a. für unsere Sozialpolitik. Damit erreichen wir gleichzeitig zwei Ziele: 1. Eine Angleichung der Einkommen, d.h. soziale Gerechtigkeit; 2. Den Schutz der wirtschaftlich Schwächeren durch den stetigen Ausbau der Sozialversicherung und anderer Massnahmen auf dem Gebiete der Sozialpolitik. Bis heute sind wir mit dieser Politik nicht schlecht gefahren. Wir fördern auch die private Wirtschaft, verlangen aber von ihr, dass sie mit ihren Gewinnen kräftig zum Wohle aller Schweden beiträgt.“ Unsere Kommunistin war von dieser Auskunft ganz und gar nicht befriedigt. „Genosse Abgeordneter, es tut mir leid, aber ich muss es Ihnen sagen, was sie hier in Schweden tun, ist Verrat am Sozialismus.“ In ihren Augen loderte jenes fanatische Feuer, in dem man Ketzer verbrennt. Es war eher peinlich für uns. Ein alter Schweizer Kollege hat mich dann getröstet: „Was willst Du, es gibt halt auch Marx-Frömmlerinnen!“ Der schwedische Parlamentarier und Sozialdemokrat aber lächelte bloss begütigend. Die „stille Revolution“ Was er im übrigen nicht sagte, ist u.a. dies: Mit ihrer „stillen Revolution“ haben Schwedens Sozialdemokraten und Gewerkschafter ihr Land zum sozialen Musterstaat gemacht. Dabei haben sie keinen einzigen Menschen weder getötet noch ins Gefängnis geworfen, weil er anderer Meinung gewesen wäre. Es herrscht in diesem Land eine geistige Freiheit, die selbst uns Schweizer staunen lässt. Ferner ist es zwar richtig, dass die Wirtschaft zu 90 Prozent in privaten Händen ist. Daneben aber hat die schwedische Arbeiterbewegung die stärksten Konsumgenossenschaften Europas aufgebaut, mit mehr als 10‘000 Verkaufsläden. Sie können nicht unwichtigen Unternehmen der privaten Wirtschaft jederzeit drohen: „Wenn ihr zu teuer verkauft, produzieren wir selber!“ Bei ihrem Riesenumsatz ist eine solche Drohung schon ernst zu nehmen. Schwedens Städte und Gemeinden haben schon lange fast allen Boden aufgekauft. Damit haben sie die Bodenspekulation weitgehend verhindert; es ist in Schweden nicht so leicht, sich ohne ehrliche Arbeit zu bereichern - auf Kosten wehrloser Mieter. Dafür ist es umso leichter, zeitgemäss durchgeplante neue Städte sozusagen aus dem Boden zu stampfen. Die schwedischen Arbeiter und Angestellten brauchen ihre Arbeitgeber nicht zu fürchten. Grund: Sie sind zu 95 Prozent gewerkschaftlich organisiert (zum Vergleich: in der Schweiz sind es erst etwa zirka 35 Prozent). Fast jeder zweite Schwede (oder Schwedin) ist Gewerkschafter. Schwedens Gewerkschaften unterstützen die sozialdemokratische Partei und Regierung. Mit welchem Erfolg sie das zu tun vermögen, haben sie gerade bei den jüngsten Reichstagswahlen wieder eindrücklich bewiesen. Aber mit ihren Arbeitgebern werden sie auch ohne die Regierung fertig. Daraus ergibt sich eine glückliche Arbeitsteilung zwischen Regierung und Gewerkschaften. Um die Verhältnisse am Arbeitsplatz braucht sich die Regierung wenig oder nicht zu kümmern. Das tun die Gewerkschaften aus eigener Kraft. Und sie tun es sachlich, vernünftig. Es wird wenig gestreikt in Schweden. Arbeitsfriede und sozialer Fortschritt können vor allem deshalb gesichert werden, weil ein freies Spiel ungefähr gleich starker Kräfte besteht: hier die Arbeitgeber und „Kapitalisten“, dort die gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer und die Konsumgenossenschaften. Nicht zuletzt deshalb konnte Wirtschaftsminister Wiekman kürzlich erklären: „Die Regierung greift nur dort in die Wirtschaft ein, wo sich diese nicht selber helfen kann“. Schwedens Volksbildung: Grossartig Schliesslich bleibt noch eine eindrückliche Leistung der schwedischen Sozialdemokraten und Gewerkschafter zu erwähnen: die grossartig ausgebaute Volksbildung. Es studieren in Schweden fast dreimal mehr Kinder aus Arbeiterfamilien als in der Schweiz. Die Schulen werden nach den modernsten Erkenntnissen der Wissenschaft geführt und laufend den Erfordernissen der Zeit angepasst. Es gibt wohl kaum ein Land, wo in den Schulen mit so viel selbstverständlichem Mut neue pädagogische Methoden durchexperimentiert werden. Das Mitspracherecht und „demokratische Spiel der Kräfte“, aber auch Mitverantwortung lernen Schwedens Kinder schon in den Schülerräten ihrer Volksschulklassen. In Schweden hat man auch daran gedacht, den Schulplan der Kinder so weit wie möglich mit der Arbeitszeit der berufstätigen Mütter abzustimmen. Die meisten Kinder nehmen ihr Mittagessen in ihrer Schule ein. Die schwedischen Parteien, Gewerkschaften usw., aber auch Staat und Gemeinden geben unzählige Millionen aus für die Weiterbildung der Erwachsenen. Was in Schweden auf dem Gebiete der Erwachsenenbildung geleistet wird, ist wohl einzigartig auf der Welt. Zweifellos finden wir hier auch einen der Schlüssel für die Stärke der dortigen Arbeiterbewegung: Es fehlt ihr nicht an sachlich geschulten Kadern. Noch einmal: Auch Schweden ist kein Paradies. Es gibt auch dort noch viele Probleme zu lösen. Aber mir scheint, die Schweden hätten doch schon eine gute Strecke zurückgelegt, auf dem Wege zu jener gerechten Gesellschaftsordnung, welcher in Prag der unglückliche Dubcek ein „menschliches Antlitz“ geben wollte. Würde es sich nicht auch für uns lohnen, das schwedische Experiment näher zu studieren? Natürlich ist die Schweiz nicht Schweden. Aber was sich in diesem modernen Industriestaat tut, dürfte uns immerhin näher liegen, als etwa die Verhältnisse in Fidel Castros Kuba, Maos China oder „Che“ Guevaras Lateinamerika. Das sollten nicht zuletzt auch jene unter unsern jungen Lesern bedenken, die mit Recht auch bei uns eine gerechtere und freiere Ordnung der Dinge anstreben und deshalb nach neuen Ideen und Lösungen Ausschau halten. Schwedens Beispiel ist sicher weniger „dramatisch“. Nur sollten ja schliesslich vor allem die Ergebnisse zählen. Bruno Muralt. Täuschen wir uns nicht ... … Doch Denken und Sein sind nicht identisch. Die vernünftige Veränderung der Welt kann nicht durch reines Denken geschehen. Wer mit der Welt zufrieden ist, wer von ihrer Ungerechtigkeit profitiert, will die Welt nicht verändern. Verändern will sie nur der, der ihre unvernünftige Ordnung erkennt, und jene, die durch diese Veränderung eine Verbesserung ihrer unvernünftigen Lage erhoffen, die Ausgebeuteten und Elenden. Täuschen wir uns nicht, das sind heute Millionen und aber Millionen, die Perspektive, die uns die satte Schweiz bietet, ist trügerisch… Friedrich Dürrenmatt. Einmarsch eine Verzweiflungstat Der Einmarsch der Russen in die Tschechoslowakei ist eine Verzweiflungstat. Ihre erste Forderung ist die Wiedereinführung der Pressezensur, die Unterdrückung der Wahrheit. .. Es gibt auch in Russland Wissenschafter, die mit Tatsachen, mit Zahlen arbeiten, ohne ihre Wahrheiten wäre der technische Fortschritt in Russland nicht möglich gewesen. Ihnen müssen auch die Russen Informationsfreiheit zugestehen, auch russische Naturwissenschafter müssen darauf geschult werden, mit der Wahrheit umgehen zu können. Daran müssen die russischen Machthaber verzweifeln, dieses Dilemma ist unlösbar. Peter Bichsel. Diese zwei Textausschnitte entnehmen wir einem kleinen, soeben im Verlag der Arche Zürich erschienenen Büchlein: Tschechoslowakei 1968. Es gibt den vollständigen Wortlaut der Reden wieder, welche die folgenden Schriftsteller am 8. September 1968 an einer Matinée im Stadttheater Basel gehalten haben, die dem Überfall der Tschechoslowakei durch die Russen gewidmet war: Heinrich Bö!!, Peter Bichsel, Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch, Günter Grass, Kurt Marti. Es ist erfreulich, wenn sich auch Schriftsteller zu den politischen Ereignissen äussern, die die Welt erschüttern, besonders wenn sie es wie hier mit so viel Ernst und Einsicht tun. Wir empfehlen dieses Arche-Nova-Bändchen allen unseren Lesern. Preis Fr. 2.80. Bildungsarbeit, Heft 6, November 1968. Personen > Muralt Bruno. Tschechoslowakei. Schweden. Bildungsarbeit, November 1968
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