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Hans-Joachim Steigertahl
Silber
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© 2015 Hans-Joachim Steigertahl
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback:
Hardcover:
978-3-7323-6582-1
978-3-7323-6583-8
Printed in Germany
Umschlag: www.maximeguinard.de
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages
und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Nordhausen, Thüringen, Sommer 1349
Er hielt an, schaute hinter sich und lauschte. Kein Getrappel war zu hören, keine Bewegung zu sehen. So lautlos wie möglich führte er den
Hengst durch das Tor. Mit dumpfem Schlag fiel der rechte Flügel des
schweren Holztors des Klosters Himmelgarten bei Nordhausen hinter
ihm zu, der eiserne Riegel glitt quietschend in seine Verankerung.
Cuno, Cuonradus von Steigerthal, war aus der Welt der alltäglichen
Menschen verschwunden und in die Welt des Klosters eingetaucht.
Er dankte dem Bruder Portenarius und führte sein Ross nach rechts an
den Gesindewohnungen und den Schweineställen vorbei zu den Stallungen. Um kein Aufsehen zu erregen, öffnete er selbst die in der Mitte
geteilte Tür, suchte sich, im Dunkeln tastend, eine leere Box und nahm
Berno, dem Enkel Vážís, das Geschirr ab, hängte es an den Haken an der
Rückwand, legte die nasse, schwere Pferdedecke über die Trennwand
zur nächsten Box und rieb Berno mit trockenem Stroh ab, bevor er ihm
einen Eimer Wasser holte und einen Scheffel Hafer in die Futterkrippe
schüttete. Dann hängte er die zwei Handrohre, das Pulverhorn und den
ledernen Beutel mit den Bleikugeln ebenfalls an den Haken für das
Zaumzeug,
Als er aus dem Stall trat und sorgfältig die Tür wieder verriegelte, brach
das Unwetter, das er schon vor Stunden ertragen hatte, erneut los. Heftige Sturmböen peitschten die Birken an der Klostermauer, im Westen
zuckten erste Blitze. Noch vor dem ersten Regenguss lief Cuonrad eilig
an der Klosterkirche und dem Kreuzgang entlang zum Haus des Abtes.
Ono von Wettin war von Walafried, dem Bruder Pförtner, der den späten Gast eingelassen hatte, schon in Kenntnis des längst befürchteten
Ereignisses gesetzt worden und erwartete Cuonrad mit zwei reich verzierten Kelchen dunklen, roten Weines.
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„Setz dich“. Cuonrad betrat den spartanisch aber erlesen möblierten
Wohnraum des Abtes, der trotz seines Amtes kaum älter war als der
Ritter. Gewebte Teppiche mit Darstellungen aus dem Leben und Wirken
Christi bedeckten die beiden Querwände, direkt gegenüber der Tür befand sich das große Fenster mit der oben zulaufenden Spitze, wie es in
den letzten Jahrzehnten Mode geworden war; völlig ungewöhnlich war
der Luxus der mit Blei gefassten bunten Scheiben, die den ganzen Rahmen ausfüllten und so das Unwetter draußen hielten. Bei jedem Blitz
konnte Cuonrad andere Szenen im Glasfenster erkennen. Unter dem
Fenster stand die schwere, aus Eichenholz geschnitzte Truhe, in der die
Dokumente des Klosters aufbewahrt wurden, auch die, die Cuno über
sich und die Seinen ihm zur Verwahrung übergeben hatte. Zwei Fackeln
in ihren Wandhalterungen rechts und links des Fensters gaben ein
schwaches, aber im Vergleich mit den Blitzen stetiges Licht. Der Abt, ein
großer, kräftig gebauter Mann, kaum älter als Cuonrad, der nach den
langen Jahren des Streitens und Ausgleichens eher wie ein Ritter als wie
ein Kirchenmann erschien, saß, mit der schwarzen, weit fallenden Kutte
seines Ordens bekleidet, den Kopf von der Kapuze fast verdeckt, in einem reich verzierten Armstuhl aus hellem Holz, neben sich ein Tischchen mit Intarsien, auf dem die beiden Kelche standen; zwischen ihnen
lag die – wie Cuonrad wusste – reich illustrierte Bibel, in die sich Ono in
seinen wenigen Mußestunden zu vertiefen pflegte. Er wies auf den
Stuhl an der anderen Seite des Tischchens. „Mach die Tür zu, das Wetter
ist gar zu unchristlich – und außerdem muss niemand zuhören.“
Der Ritter legte seinen schweren Mantel ab, der bisher den wappengeschmückte Brustharnisch verborgen hatte und ließ sich in den Stuhl sinken. Unter den prüfenden Blicken das Abtes lächelte er kurz und sagte:
„Nein, nein, Ihr müsst nicht schauen, ich habe keine Pestbeulen, bin unverletzt und vom letzten Gewitter schon fast wieder trocken, aber
müde, auch des Lebens!“ „Trinke, dann erzähle!“
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Steigerthal, Thüringen, Frühjahr 1316
Cuno hüpfte unbeschwert die zwei Stufen zum Lichthof hinunter,
rannte durch den äußeren Zwinger zum Tor und schaute den beiden
Reitern entgegen, die eben auf die steinerne Bogenbrücke ritten.
Über ihm hatte aus der Wachstube schon der Ruf „Wettin“ gehallt und
war mit „turingia semper“ von den beiden Reitern beantwortet worden.
Auf einem kräftigen Braunen saß sein älterer Bruder Gernot - meistens
nur der „Kleine“ gerufen, um ihn von seinem Vater Gernot, dem „Alten“
zu unterscheiden - wenig standesgemäß gekleidet in einen einfachen,
blauen Bauernkittel ohne Wappen, der hervorragend dazu diente, das
darunter getragene Kettenhemd und das Kurzschwert zu verbergen.
Ihm zur Seite ritt Cuonrad von Hohnstein, Cunos Pate, im glänzenden
Kettenhemd unter dem wehenden Mantel. Er war das Oberhaupt der
weit verzweigten Familie derer von Hohnstein. Hinter ihnen folgten ein
paar von Hohnsteins Leuten und sein Knappe mit dem Schild. Hohnstein, die rechte Hand des Landgrafen Friedrich, des Herrschers über
Thüringen, gehörte zu einem alten Grafengeschlecht, dessen Stammsitz, Burg Hohnstein, etwa drei Tagesritte nach Südosten lag. Burg
Hohnstein war auch das Vorbild für die Burg in Steigerthal gewesen, einer der Gründe, warum Cuonrad von Hohnstein gerne hierher kam.
Cuno schaute seinem Bruder kurz ins Gesicht, um irgendwelche Informationen ablesen zu können. Aber der „Kleine“ war schon so geübt,
dass sich Cuno, ohne seine Neugier befriedigt zu haben, vor Hohnstein
verbeugte und ihn in Steigerthal willkommen hieß, wie es Usus war in
den Burgen der thüringischen Ritter.
Der Graf glitt von seinem grauen Hengst, drückte sein Patenkind kurz
aber herzlich an sich und befahl: „Bring mich zu deinem Vater!“ Cuno
hatte hunderte von Fragen, er hatte ja gesehen, was im Dorf gestern
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Abend geschehen war, aber er wusste, dass Hohnstein erst seinen Vater
sprechen wollte. Zu Cunos Glück kam einer der beiden Stallburschen
herbei um die Pferde zu versorgen, so dass der Junge mit dem Angebot
„Darf ich Euch zu ihm führen?“ wenigstens die Chance hatte, bei dem
Gespräch dabei zu sein.
Stolz lief Cuno vor dem Grafen und seinem Bruder durch den Hof zum
im Süden der Burg gelegenen Wohnhaus der Familie. Sie stiegen die
wenigen Stufen, die immer noch aussahen als wären sie frisch gehauen
worden, hinauf; einer der beiden Torflügel war offen, um die warme
Luft in den Saal hineinzulassen. Der „Kleine“ öffnete auch den zweiten
Flügel und ließ den Grafen eintreten.
Der Boden des Saals war mit frischem Stroh bestreut, die großen Tische
waren mit Sand geschrubbt, Becher und Holzteller standen sauber in
der Mitte. Nur die an der Wand gestapelten Bänke für das Gesinde wiesen darauf hin, dass offensichtlich gerade der Saal geputzt worden war.
Der große offene Kamin am Ostende des Saals war mit einem Strohteppich verhängt, damit die warme Luft des strahlenden Tages nicht gleich
wieder entwich. Cuno stürmte die Holztreppe rechts neben dem Kamin
hoch, klopfte an die dritte Tür und trat ein, ohne auf Antwort zu warten.
„Cuno!“ Die Stimme des Vaters klang unwirsch. „Habe ich ‚Herein‘ gesagt?“ „Entschuldige, Vater, aber ich habe Dir den Grafen Hohnstein gebracht, den Du doch sicher nicht erwartet hast!“ „Ich weiß, dass er da
ist, ich habe sein Wappen auf der Satteldecke schon erkannt, lange bevor er die Zugbrücke mit Gernot betrat, auch wenn der Mantel es meist
verdeckte; und schließlich kenne ich den Herrn Grafen gut genug! Tretet ein!“ wandte er sich an den Grafen „ und verzeiht dem Wildfang
Cuno sein mangelndes Benehmen.“ Cuonrad trat ein, lächelte Gernot
an und legte ihm beide behandschuhten Hände auf die Schultern. „Es
tut gut, Euch wohl zu sehen in diesen unruhigen Zeiten!“
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Die beiden Männer traten an das Fenster, das seit dem Wärmeeinbruch
von seiner Bretterverschalung befreit war, und schauten hinunter zum
Dorf. Zwei verkohlte Ruinen waren deutliche Zeichen für das, was der
Graf meinte.
Der „Kleine“ hatte ihm auf dem Weg hierher berichtet, was geschehen
war: Eine Truppe Reiter unter der Fahne des benachbarten Städtchens
Nordhausen war des Abends angerückt und hatte plötzlich die wenigen
noch anwesenden Bergleute mit Waffengewalt vertrieben, das Windenhaus über dem Schacht angezündet, den zum Löschen herbeigeeilten Schachtmeister niedergeschlagen, ihm den Schlüssel entrissen und
dann in der Schmelzhütte das fertige Silber entwendet, bevor sie auch
diese Kammer dem Feuer überantworteten und unter lautem Gejohle
davonjagten.
Menschen waren wohl nicht zu Schaden gekommen, der Schachtmeister hatte sich bald wieder erholt, aber die Schmelzöfen waren zerstört,
der Schacht ohne Winde nicht mehr benutzbar, das Silber fort. Graf
Hohnstein, den der Landesherr Friedrich zum thüringischen Münzvogt
ernannt hatte, hätte daraus in den kommenden Wochen Münzen schlagen lassen sollen, um die dringendsten Bedürfnisse des Hofes und des
Heeres zu befriedigen.
Während der Alte berichtete, legte Graf Hohnstein die Handschuhe ab
und warf den Mantel über einen Schemel. „Ich habe natürlich gleich
heute Morgen den Kleinen mit zwei landfremden Knappen, die hier bei
mir dienen, nach Nordhausen geschickt, um im Kloster und der Stadt
zu erkunden, wer hinter dem Angriff steckt, aber leider konnte der Magistrat nachweisen, dass die Fahne gestohlen und die Angreifer nicht
aus Nordhausen waren. Der Abt des reichsunmittelbaren Klosters Himmelgarten hat Gernot bestätigt, dass die Kriegsflagge der Reichsstadt
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in der Tat vor Wochen geraubt wurde, als ein kleiner Trupp der Gemeinde auf dem freien Feld vor dem Südtor seine Wehrfähigkeit trainierte.“ „Wer kann es dann gewesen sein?“ „ Fragt besser, wer es nicht
gewesen sein kann“, erwiderte der Alte. Cuonrad von Hohnstein verzog
angewidert den Mund. „Ich weiß, dass alle Ritter in der Umgebung dazu
in der Lage und dazu gewillt gewesen wären, ärgert sie doch immer
noch Eure nicht ganz ritterliche Herkunft und Euer Wohlstand.“ „Weil
sie zu beschränkt sind, um sich in wandelnden Zeiten wandelnde Erwerbsquellen zu suchen!“ antwortete der Alte, ohne auf die versteckte
Kritik einzugehen. „ Silber gibt es doch nicht nur in Steigerthal, sondern
in der ganzen Region bis hinunter nach Böhmen, aber sie sind so ehrversessen und wenig auf Veränderungen bedacht, dass sie es an uns
auslassen, weil wir ein besseres Leben mit ausreichend Essen und Trinken und ohne Kriegswunden führen können, und das ‚wir‘ sind nicht nur
wir Steigerthals, sondern auch die Leute im Dorf und im ganzen Lehen“.
Hohnstein wusste sehr wohl, worauf der Alte anspielte: Das in der Landgrafschaft übliche Fehdewesen führte dazu, dass Kleinigkeiten als Ehrverletzung aufgefasst wurden und jedes Rittergeschlecht versuchte, das
andere zu übertrumpfen. Da waren die Steigerthals gute Sündenböcke,
denn deren Ritterlichkeit beruhte nicht auf langen Reihen von ritterlichen Vorfahren, sondern auf der Belehnung vor kaum fünfzig Jahren
durch den Landgrafen Heinrich aus dem mächtigen Geschlecht der Wettiner, die seit zwei Generationen um die Herrschaft über Thüringen
kämpften. Davor war der erste Gernot erst Leibeigener aus dem Dorf
Steigerthal, dann Diener Heinrichs gewesen, kam also wirklich aus niederstem Stand. Doch nachdem er Heinrich zwei Mal das Leben gerettet
hatte, hatte dieser nicht gezögert, ihn zum Ritter zu schlagen.
Einer der Knappen, die mit dem Kleinen in Nordhausen gewesen waren,
brachte einen Krug und Pokale. Der Alte reichte Hohnstein und seinem
Ältesten ein Trinkgefäß, füllte das des Gastes, dann seines und dann das
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des Sohnes. Cuno hatte nicht verstanden, was die beiden mit der Ehrversessenheit und der Beschränktheit der anderen Ritter gemeint hatten, aber nach der Zurechtweisung durch den Vater vorhin getraute er
sich nicht nachzufragen. Da er wusste, was in dem Krug sein würde,
wartete er auf den Gesichtsausdruck des Grafen, wenn der den ersten
Schluck probiert hatte.
„Wo habt Ihr diesen Tropfen her?“ brach es aus dem Grafen hervor.
Trotz der misslichen Lage musste der Alte lächeln: „Den habe ich bei
meiner lothringischen Verwandtschaft gekauft und der Hansekaufmann Wiebold aus Brügge hat ihn mir neulich mitgebracht, als er meinen Teil vom Silber abholte. Da er von über 50 Landsknechten begleitet
war, ist dem Wein nichts passiert und – soweit ich weiß – auch dem
ganzen Silber nicht, hat er doch bis hinunter ins böhmische Iglau das
edle Metall für den Kaiser Heinrich aufgekauft. Ich verstehe nicht, warum König Johann sein Silber vom Händler seines Todfeindes aufkaufen
lässt…“ Hohnstein lachte bitter: „Aus dem gleichen Grund, aus dem die
Spitzbuben unser Silber gestohlen haben: Gier auf schnellen Gewinn
ohne größere Anstrengung, egal, was passieren könnte, wenn der Plan
nicht aufginge.“
Der Alte wies auf die in die dicke Wand eingelassenen, einander gegenüberliegenden Sitzbänke, auf die Cuno schnell ein paar Kissen gelegt
hatte: „Setzt Euch – wir müssen überlegen, was wir tun können. Bis
wann müsst Ihr die Münzen für Landgraf Friedrich geschlagen haben? “
„Er braucht sie spätestens beim Hoftag im Herbst – dann muss der Sold
der Reisigen ausbezahlt werden und der gesamte Adel Thüringens wird
versuchen, ihm Küche und Keller leer zu fressen und leer zu saufen verratet ihm ja nichts von Eurem Wein, sonst kommt der ganze Haufen
hierher!“, schloss er wieder lachend. „Aber im Ernst: ich muss bis Anfang September das Silber haben, und zwar mehr als 150 Pfund, sonst
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schaffen es meine Münzknechte nicht mehr, daraus die Münzen zu
schlagen.“
„Und das schaffen wir nicht – wir hatten fast 90 Pfund bereit, und selbst,
wenn wir alle Silberadern gleichzeitig ausbeuten könnten, würde es
nicht reichen.“ „Aber ich kann auch nirgendwo anderes Silber kaufen,
denn erstens ist Euer Silber garantiert rein, was ich bei anderen bezweifle, zweitens wüsste ich nicht, womit ich es bezahlen sollte und drittens würde es sofort heißen, dass der Landgraf so schlecht wirtschaftet,
dass er viel mehr verbraucht als er einnimmt. Wenn wir herumerzählen,
dass Diebe Euer Silber gestohlen haben und wir deshalb Silber an anderen Orten kaufen müssen, hat das die gleichen Folgen. Wir können
also nur darauf vertrauen, dass die Gauner hübsch verheimlichen,
wieso sie plötzlich so wohlhabend geworden sind…“
Beide schwiegen lange und leerten ihre Pokale. Der Kleine schenkte
nach und sah seinen Vater fragend an. „Woran denkst Du?“ meinte dieser. „Herr Graf, Ihr habt doch von den letztjährig geschlagenen Münzen
auch Blei für Handrohr- und Kanonenkugeln gekauft, oder habe ich das
falsch gehört?“ „Nein, das ist richtig.“ „Und seitdem haben die thüringischen Truppen doch keine größeren Feldzüge gemacht, oder?“
„Stimmt, wir versuchen, uns in diesen Zeiten des Streites darüber, wer
denn nun der wirkliche Herr des Reiches, Ungarns, Böhmens ist, fein
herauszuhalten.“ „Wenn man die Bleikugeln, die man für das Handrohr
braucht, oder Teile von Kanonenkugeln flachschlägt, dann sind sie doch
etwa so groß wie ein Silbertaler?“ „Worauf willst Du hinaus?“ Wenn
man nun neue Münzprägestöcke machte, die Münzen ergeben, die es
eben nur in diesem Jahr gibt und dann das wenige Silber, das wir haben,
etwas ‚verdünnt‘…“ „Bist Du von allen guten Geistern verlassen“, brüllte
der Alte. „Willst Du die thüringischen Taler verschneiden, so dass wir
alle zum Gespött des Reiches werden? Und wir Steigerthals die Verderber des Reiches?“
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Der Kleine duckte sich auf seinem Hocker und ließ den Kopf sinken: „Das
hatte ich nicht bedacht, Vater, ich suche doch nur nach Auswegen.“
Graf Hohnstein schaute ihn unverwandt an und wandte sich dann an
den alten Gernot: “Wie lange brauchen Eure Leute, bis sie die 150 Pfund
wieder aus dem Berg geholt und in Barren geschmolzen haben?“
„Wenn ich genügend Bergleute und Hilfskräfte hätte und zum Schmelzen genügend Holzkohle, dann könnten wir bis zum nächsten Mai das
Silber zusammen haben, aber ich habe weder das Eine noch das Andere.
Und ich weiß auch nicht, ob der Berg das noch hergibt.“ „Und ich brauche das Silber in vier Monaten!“
„Es ist zum Verzweifeln,“ brach es aus dem Alten heraus, „ wir wissen
einfach viel zu wenig über Silber, den Bergbau – wenn nicht schon
meine Vorfahren hier immer wieder Erz gefunden hätten, wäre ich
wahrscheinlich genauso unwissend wie die Ritter der Umgebung - und
genauso arm!“ Hohnstein lächelte erneut: „Damit gebt Ihr mir fast
schon eine Antwort auf meine noch nicht gestellte Frage! Wundert Ihr
Euch nicht, dass ich so schnell nach dem Überfall schon hier bin?“
„Doch, stimmt, aber…“ „Ich war auf dem Weg zu Euch, weil ich Euch
einen Vorschlag machen wollte.“
Er schaute sich im Refugium Gernots um, entdeckte den fast hinter einem bemalten Kasten versteckten Cuno, winkte ihn zu sich und fuhr
fort: „Ihr wisst, einer meiner alten Kampfgenossen ist Boleslav Přemisl,
der Herr über die Lande um Iglau und damit fast der Herr der bedeutendsten Bergbaustadt Böhmens. Wir haben zusammen als Knappen
bei Heinrich von Meißen gedient, bevor er sein Erbe antreten konnte.
Ich habe ihn vor kurzer Zeit am Hof in Erfurt getroffen, wo er mit Landgraf Friedrich über Hilfen für Jan von Luxemburg verhandelt hat. Ihr
wisst, dass Jan die Krone Böhmens beansprucht. Dabei haben wir unter
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uns bei einem Becher Wein – viel schlechter als Eurer - über die missliche finanzielle Lage Friedrichs gesprochen. Er hat mir ein Angebot gemacht, das es Thüringen möglich machen würde, mit genügend eigenen
Mitteln auszukommen, ohne dass Boleslav große Konkurrenz entsteht.
Er braucht sowieso immer Knappen und er würde einen Knappen aus
Thüringen in seinen Haushalt aufnehmen. Boleslav ist dabei nicht nur
ein erprobter, heldenhafter Ritter, sondern auch der Besitzer vieler Silberbergwerke. Der Knappe, den er an seinen Hof ziehen möchte, würde
in allen ritterlichen Tugenden ausgebildet werden und daneben alles
lernen, was man über Bergbau wissen kann. Allerdings würde wenig
Zeit für Unterricht in Lesen, Schreiben und Minnesang bleiben. Ihr
könnt Euch denken, dass ich sofort an meinen Patensohn Cuno gedacht
habe. Er hat bei eurer Gemahlin ja schon fast alles gelernt, was er als
Page wissen sollte und könnte, wenn auch verfrüht, bei Boleslav dienen.
Du, Cuno,“ wandte er sich direkt an ihn „ würdest alles lernen, was ein
Ritter können muss - und da fehlt dir vieles – aber du würdest auch das
ganze Wissen der Böhmen über den Silberbergbau nach Thüringen holen und unserem Landesherren und deiner Familie eine bessere Zukunft
sichern können! Und das Lesen und Schreiben kann Dir die Mutter oder
der Kleine beibringen, bevor Du nach Iglau gehst. Er selbst hat ja schon
den Ritterschlag erhalten und kann deswegen nicht gehen.“
Cuno erschrak zutiefst, so sehr, dass alle es ihm ansehen konnten. Weg
von zu Hause? Allein in einem fremden Land, in dem er viele Menschen
nicht einmal verstehen würde? Weg von seiner Mutter Ada, die ihn
auch jetzt noch so gut trösten konnte, wenn er wieder einmal von einer
Mauer oder einem Baum gefallen war? Alles zurücklassen? Er war doch
gerade erst zwölf Jahre alt geworden…
Gernot der Alte unterbrach seine Gedanken: „Es ehrt uns, Graf Cuonrad, dass Ihr an Cuno und uns gedacht habt. Eigentlich hatte ich noch
nicht vor, Cuno so bald als Knappe wegzugeben, schon gar nicht so weit,
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aber es ist – nach dem, was gestern geschah – wohl schon besser, wenn
er weiter weg ist als unsere ‚lieben‘ Nachbarn.“ „Sprecht mit Ada darüber und falls Ihr einverstanden seid, werde ich dem Landgraf mitteilen, was wir vorhaben.“
Dann verdüsterte sich seine Miene: „Aber wenn ich das Silber nicht bis
zum Herbst gemünzt habe, wird es kaum noch einen Landgraf Friedrich
geben.“ Dann wendete er sich dem Kleinen zu: „Hast Du eine Handrohrkugel hier in der Burg?“ Des Ritters ältester Sohn nickte und verließ das
Refugium. „Cuno, lauf ins Dorf hinunter und suche in den Resten der
Schmelzhütte, ob du einige Schmelztiegel findest – und schick‘ den Köhler, er soll so viel Holzkohle in den Zwinger schaffen, wie er tragen kann.
Dann schau, ob Du in der Sicherungskammer noch eine Waage findest
und bring alles hier her ins Refugium – dabei kannst Du darüber nachdenken, was Du von meinem Vorschlag hältst!“ Cuno nickte bedrückt
und verließ ebenfalls den Raum.
Als die beiden Älteren allein waren, sagte Hohnstein: „ Ich weiß, Gernot,
dass das, was ich jetzt ausprobieren will, auf keinen Fall Eure Billigung
findet. Ihr habt doch sicher noch reines Silber im Haus? Ich will nichts
unversucht lassen und vor allem keine Zeugen haben!“ Als in diesem
Moment der Kleine mit einer Bleikugel durch die Tür trat, erkannte der
Alte, dass er die Situation nicht mehr verändern konnte und bat seinen
Erstgeborenen, der Hausherrin Ada Bescheid zu geben, dass die Burg
einen hohen Gast beherbergen würde und dass alle hungrig seien.
Cuonrad von Hohnstein grinste und akzeptierte die unausgesprochene
Einladung: „Lasst uns hinuntergehen – Cuno wird noch eine Weile unterwegs sein und alle Mägde, Knappen und Herren in der Burg sollen
sehen, das ich einen ganz normalen Besuch abstatte!“
Als sie die Treppe hinabgestiegen waren und die Halle betraten, wurden
sie von Ada von Steigerthal begrüßt, die schon, bevor sie vom Kleinen
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informiert worden war, längst gewusst hatte, was auf die Familie zukam. Sie trat vor Graf Hohnstein, knickste leicht und als sie sich wieder
aufrichtete, war jedem Beobachter klar, dass es nicht nur die Nähe zum
landgräflichen Haus war, die Gernot den Alten zu dieser Verbindung gebracht hatte:
Ada war hochgewachsen, ihr dunkelblondes Haar war in Flechten um
ihren Kopf geschlungen, die blauen Augen im von der Sonne gebräunten Gesicht zeugten von einer Klarheit, die auch durch die harte Arbeit,
die die Frau eines niedrigen Adligen zu besorgen hatte, nicht gebrochen
wurde. Sie war die Tochter des Landgrafen Friedrich mit einer flämischen Hofdame der Landgräfin, die diese Affäre mit einem Landesverweis büßen musste. Gerade deswegen hatte sich Friedrich umso intensiver um das Mädchen, seine einzige Tochter, gekümmert. Sie war die
Sonne seines Lebens, deren Lebensglück ihm mehr als wichtig war.
Seine Gemahlin war ihm zugeführt worden, als beide noch Kinder waren; sie kam aus dem Hause Luxemburg und sollte den Makel, den er
trug, weil seine Mutter Leila außer einer reichen Mitgift in Edelmetallen
viel Unmut bei den Herren der Landgrafschaft mitgebracht hatte, wettmachen. Als eines Tages Gernot von Steigerthal an den Hof in Erfurt
kam, um mit Graf Hohnstein die Silberabrechnung dem Fürsten vorzulegen, war er in der Vorhalle der jungen Frau begegnet, die zu diesem
Zeitpunkt auf ihren Eintritt ins Kloster vorbereitet wurde. Er war wie
angewurzelt stehen geblieben und da er im Innersten eben doch nicht
den ritterlichen Verhaltensformen entsprach – so wie es seine adligen
Nachbarn immer behaupteten – sprach er sie unverhohlen an: „Bitte
verratet mir, warum an diesem Hof Engel verkehren!“ Ada war nun genauso perplex wie er und antwortete fast schnippisch: “Ich weiß nicht,
welche Engel außer mir hier verkehren, aber ich wohne hier!“ Beide
brachen in Lachen aus und stellten sich dann gegenseitig vor, nicht wie
Herr und Dienerin oder Herrin und Diener, sondern so, wie es zwei
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gleichberechtigte ungewöhnlich offene Menschen tun würden. „Ich bin
die uneheliche Tochter der Kebse des Landgrafs, meine Mutter wurde
verjagt und mein Vater hat mich hierbehalten, obwohl seine Frau mich
immer wieder vergraulen wollte und ich endlos schuften musste und
jetzt ins Kloster soll.“ „Ich bin ein unritterlicher Ritter - erst von Eurem
Großvater wurde mein Großvater zum Ritter geschlagen - der in einem
winzigen Dorf am Rande des Harzes lebt und versucht, der Erde ein paar
Früchte und den Bergen ein paar Brocken Silber abzuringen. Und auch
ich wurde bisher vom Landgrafen hierbehalten.“ „Dann lasst uns diese
Gemeinsamkeit feiern – setzt Euch, ich hole uns einen Tropfen Wein.“
Es blieb bei einigen Tropfen, aber die Unterhaltung vertiefte sich, und
als Hohnstein und Landgraf Friedrich ebenfalls in die Halle traten, waren
Gernot und Ada so ins Gespräch vertieft, dass sie die eintretenden Herren nicht bemerkten.
„Wäre das nicht eine schöne Alternative zum Kloster?“ fragte Hohnstein. Der Landgraf sah ihn erstaunt an und setzte nach:“ Steigerthal ist
ein Ehrenmann, das weiß ich, da er Euch und mich noch nie betrogen
hat. Ist er unbeweibt? Könnte er eine Familie ernähren? Würde er einen
Bastard zur Frau nehmen?“ Hohnstein erwiderte ohne zu zögern: “Er ist
völlig vereinsamt auf seiner neuen Burg, er ist einer der reichsten Adligen in Thüringen, weil er nicht Krieger sondern Unternehmer ist, er wird
von seinen Nachbarn gemieden, weil erst sein Großvater von Eurem
Großvater zum Ritter geschlagen wurde und er damit nicht standesgemäß ist und deshalb würde er nicht im Geringsten zögern, eine Frau zu
ehelichen, die ihm entspricht, gleich welchen Standes.“
„Dürfen wir stören?“ wendete sich der Landgraf an Ada und Gernot.
„Du, Ada, wirst, glaube ich, in der Küche gebraucht, und Ihr, Gernot,
solltet mir eigentlich die Abrechnung vorlegen!“ Beide erröteten, standen auf und gingen in unterschiedliche Richtungen, nicht ohne dass sich
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kurz ihre linke und seine rechte Hand fast unmerklich berührten. Die
Silberabrechnung war wie immer ohne Fehl und Tadel und Gernot von
Steigerthal konnte sich nach der Zustimmung des Landgrafen um einige
Hundert Thaler reicher schätzen, denn wie bei allen anderen Erzproduzenten auch bekam er als Gegenwert für die Mühe des Schürfens und
Verarbeitens den fünften Teil des Erarbeiteten. Eigentlich gehörte alles,
was sich unter der Erde befand, nach Brauch und Sitte dem Kaiser, der
es seinen Lehensmännern gegen eine Gebühr überließ. Da die Bergleute meistens ihr silberhaltiges Gestein an den Grubenbesitzer verkauften, der es dann zu Rohsilber schmelzen ließ, war es nur recht und
billig, dass die Bergherren einen gerechten Anteil erhielten, der das Niederbringen der Schächte, die Verhüttung, also das Ausschmelzen des
Erzes und die Weiterverarbeitung, beinhaltete.
Landgraf Friedrich ließ einen Krug mit rotem Wein bringen und stieß mit
Gernot und Cuonrad von Hohnstein auf den Abschluss an. „Damit ist die
Landgrafschaft für dieses Jahr gerüstet, und Ihr beide seid die Garanten
für Frieden und Ruhe in Thüringen in diesen Jahren der dauernden
Kämpfe um Königs- und Kaiserkrone. Mit Euren Thalern können wir uns
von aller Parteinahme freihalten und unsere Untertanen können sich
dem Vermehren ihrer selbst und ihres Besitzes widmen!“ Er lachte kurz
auf und wandte sich dann Steigerthal zu: “Euer Land lässt sich ja kaum
vermehren, aber wollt Ihr nicht Eure neue Burg, von der mir Hohnstein
erzählt hat, mit ein bisschen mehr Leben füllen?“ „Nichts täte ich lieber
als das, denn seit meine Mutter verstarb, ist außer mir nur noch Dienstvolk in Steigerthal, und da meine lieben Nachbarn uns auch nach drei
Generationen noch schneiden, bleibt mir nur die Vermehrung meines
Reichtums, was auch immer einmal damit geschehen mag.“ „Ihr
braucht eben einen Erben!“ „Ha! Welche Frau, die wirklich einen Erben
gebären könnte, also eine Frau aus ritterlichem Geschlecht, würde einen wie mich, der zwar Lesen, Schreiben und Rechnen kann, aber kaum
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Singen und Fechten, als Ehemann akzeptieren? Mein Großvater hatte
schon einen Sohn, bevor er zum Ritter geschlagen wurde, aber mein
Vater – Gott habe ihn selig – musste sich seine Braut aus Lothringen
mitbringen. Er hat dabei sicher mehr Glück erfahren, als die meisten
unserer Standesgenossen hier, aber die ersten Jahre waren für beide
schon sehr schwer: Der thüringische Adel weigerte sich, mit meiner
Mutter Umgang zu haben, denn zum einen verstand man sie nicht richtig und zum anderen war ihre dunkle Schönheit in dieser Gegend verdächtig und man hielt sie deshalb für eine Hexe…“ Steigerthals Gedanken schienen sich in der Vergangenheit festzuhalten und deshalb fuhr
er erschrocken auf, als Landgraf Friedrich ihn erneut ansprach:“ Ihr habt
eben meine Tochter Ada kennengelernt – würde sie bei Euch am Rande
des Harzes auch als Hexe gelten?“ „Eine blonde, blauäugige Frau ihrer
Statur, dazudie einzige natürliche Tochter des Landgrafen – nie und
nimmer!“ Plötzlich merkte er, in welche Richtung sich das Gespräch
drehte: „Was wollt Ihr damit sagen?“ „Nun, mir schien, als ob Ihr sie
nicht ganz ablehnen würdet, und sie Euch auch nicht. Was läge da näher, als Euer beider Probleme zu verringern?“ „Von Herzen gern, aber
nur, wenn Ada sich freiwillig dahinein fügt!“ „Fragen wir sie, dort
kommt sie mit den Küchenmägden, um die Tafeln zu decken.“
Er hob die Hand und winkte Ada zu sich:“ Meine Tochter, ich weiß, dass
das Leben hier am Hof in Erfurt nicht leicht für Dich ist, deshalb habe
ich ja geplant, Dich ins Kloster zu entlassen. Aber heute hat sich für mich
eine andere Möglichkeit abgezeichnet, und ich möchte, dass Du ganz
im Sinne der Erziehung, die ich Dir angedeihen ließ, selbst entscheidest,
was Du möchtest – auch wenn es allen Sitten und Gebräuchen dieses
Landes widerspricht: Möchtest Du in das Kloster Schöndorf eintreten,
wie es mit der Äbtissin vereinbart ist, oder könntest Du Dir vorstellen,
an der Seite dieses Mannes“, und er deutete auf Gernot, „doch weiter
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ein weltliches Leben zu führen und Herrin auf einer Burg weit im Norden unseres Landes zu werden?“
Ada atmete tief ein und ließ die Luft mit einem Seufzer entweichen.
„Vater, ich bin nur ein Mädchen und kann keine so schnellen Entschlüsse fassen – lass mir Zeit!“ Dann wandte sie sich Gernot zu und
sagte „Und Euch kenne ich viel zu wenig um mit gutem Mut sagen zu
können, ob Ihr eine Alternative zum klösterlichen Leben sein könntet!“
„Ich bin bereit für Euch alles zu tun, aber Ihr müsst selbst entscheiden!“
Fragend wandte er sich Friedrich zu: „Herr, könntet Ihr Eure Tochter
nicht zu uns nach Steigerthal senden oder noch besser, sie begleiten?
Wenn sie sich dort umgeschaut und mich etwas besser kennen gelernt
hat, kann sie doch erst entscheiden, ob Schöndorf oder Steigerthal ihr
eher entspricht.“
Friedrich unterdrückte ein Grinsen, denn genau so hatte er seine Tochter erziehen lassen, und nun schien der passende Schwiegersohn gefunden.
Zwei Wochen später kamen Ada, Friedrich, Hohnstein und eine Truppe
Reisige in Steigerthal an. Die Burg war auf Hochglanz gebracht, die Speisekammern und die Fässer gefüllt. Die Sonne schien zum ersten Mal in
diesem Frühjahr vom Morgen bis zum Abend, die Wiesen glänzten,
Schaumkraut, Gänseblümchen und Löwenzahn zauberten Farbtupfer
ins Grün, selbst das Dorf schien gewaschen – wenn auch nur vom Regen
der vergangenen Tage. Die Pferde trabten über die gepflasterte Straße
– die einzige weit und breit - die Burg und Bergwerk verband. Diejenigen
Bewohner des Dorfes, die nicht unter Tage waren, sammelten sich an
der Straße um die Gäste anzustarren und sich beim Vorbeireiten der
Adligen zu verbeugen – natürlich hatte es bereits Gerüchte gegeben,
warum der Landesherr nach Steigerthal käme. Ada fiel auf, dass diese
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Menschen, auch die Frauen und Kinder, weniger schmutzig und besser
genährt aussahen als all die Leute auf dem Ritt bis hierher.
Gernot erwartete sie unter dem Torbogen der Hauptmauer, seine
Knechte und die vielen Mägde hinter sich. Über dem Tor war das steigerthalsche Wappen in den Bogen gemeißelt und dann bemalt, ein
blauer Schild, von einem Balken schräg halbiert, der die Form einer silbernen Leiter hatte, zwischen deren Rungen drei sechseckige silberne
Sterne standen. Es war kein Bastard-Balken, der bei vielen Geschlechtern die Edlen von den Unedlen trennte, aber es war wie ein Zeichen,
dass ein eigentlich nicht ritterlicher Herr auf dieser Burg mehr als nur
ein Dienstmann war, aber eben keiner der seit Jahrhunderten geachteten Adligen.
Er hatte sein bestes Gewand angelegt, der rotblonde Bart des jungen
Ritters war gestutzt und die langen Haare wehten in dem leichten Wind,
der immer an dieser engen Stelle zwischen Vorburg und Hauptburg
wehte.
„Willkommen in meinem bescheidenen Heim“, begrüßte er die Reiter.
Friedrich sprang von seinem Rappen und drückte Gernot fest die Hand.
„Danke!“ Gernot verschränkte nun die Hände und bot sie Ada als Hilfe,
um aus dem Damensattel zu gleiten. „Verzeiht, aber ich habe völlig vergessen, ein Treppchen für Damen bauen zu lassen“, und ließ sie errötend sanft zu Boden, nicht ohne tief den angenehmen Duft einzuatmen,
den er schon vor zwei Wochen an ihr wahrgenommen hatte. „ Ich kann
durchaus auch selber vom Pferd steigen, aber so ist es natürlich einfacher“ und nach wenigen Sekundenbruchteilen setzte sie hinzu „und angenehmer!“
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Hohnstein begrüßte Gernot nun ebenfalls. Während die Stallburschen
die Pferde in den Stall, der hinter dem Brunnen am Hofraum lag, brachten, entluden die Knappen und Reisigen die Packpferde und brachten
sie in den Stall im Vorhof.
Steigerthal und Cuonrad von Hohnstein, gefolgt von Friedrich von Thüringen, an seinem Arm seine Tochter Ada, gingen durch den Zwinger
und den Lichthof in den Hofraum und die Stufen zum Saal empor. Drinnen wartete Wibke, die alte Amme Gernots, die jetzt die Rolle der Haushälterin übernommen hatte, mit frisch gebackenem weißen Brot, das
nur zu besonderen Anlässen gebacken wurde, Salz und einem Krug
Wein auf sie. Die Männer brachen von dem Brot, tunkten es in das Salz
und spülten alles mit einem Schluck aus den Kelchen hinunter, nicht
ohne den Wein mit behaglich-wohligem Grunzen zu genießen. „Was
darf ich Euch anbieten, Herrin?“ „Gebt mir auch einen Schluck Wein und
Wasser dazu.“
Das war vor zwanzig Jahren gewesen. Alle Anwesenden konnten sich
noch so gut daran erinnern, dass es schwer fiel zu glauben, dass das so
lange her war. Ada war in Steigerthal geblieben, hatte Gernot aus freier
Wahl zum Mann genommen. Der „kleine“ Gernot und der nach seinem
Paten benannte Cuno wurden geboren, so manche Veränderung in Sitten und Gebräuchen wurde nach dem Vorbild des Hofes in Erfurt eingeführt, und über viele Jahre war ein bescheidenes Glück Gast auf der
Burg. War heute der Tag des beginnenden Unglücks?
Ada führte Graf Hohnstein zur etwas erhöhten Plattform an der vorderen Schmalseite des Saals mit dem Tisch für gehobene Gäste, bat Cuonrad, in dem besonders kunstvoll geschnitzten Sessel Platz zu nehmen,
nahm ihrerseits den Platz zu seiner Linken ein, während der Alte sich zu
seiner Rechten setzte, den Kleine rechts neben ihm. Da Cuno noch nicht
wieder erschienen war, hielt Ada den Platz neben sich frei. Als alle sich
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gesetzt hatten, klatschte sie in die Hände, woraufhin die Mägde die
Platten auftrugen: gegrillte Hühnchen mit Äpfeln und Rosinen, Rehbraten mit Rüben, Wildschwein mit Kraut, dazu frisches Brot. Die Knechte
schenkten schäumendes Bier aus.
„Könnt Ihr doch zaubern, wie Euer Gemahl schon immer vermutet hat,
oder wie kommt es zu solch einem Festmahl?“ fragte Hohnstein. „Nun,
natürlich kann ich zaubern, aber eigentlich ist heute Gernots und mein
Hochzeitstag, und da hatten wir im Voraus schon etwas vorbereitet“,
antwortete sie lächelnd. „Greift zu! Und wenn Euch der Wein besser
mundet als das Bier – unsere Leute trinken das Bier gerne alleine weiter!“ und dabei deutete sie auf das Gesinde, das im Saal saß und sich
ebenfalls von Platten und vor allem Krügen bediente.
Die Tür flog auf und Cuno stürmte herein, rannte die Treppe hoch und
rief im Laufen: „Ich wasche mir nur die Hände, dann komme ich zum
Essen!“ „Ja, ja, die Steigerthals und das Waschen und Baden“, schmunzelte Hohnstein. Als Vertrauter beider wusste er natürlich, dass sowohl
am Hof in Erfurt wie auf Burg Steigerthal das heiße Bad eine besondere
Rolle spielte. „Aber im Ernst – damit hat er vor allen verbergen können,
dass er außer sich selbst noch etwas anderes ins Refugium befördert
hat! Ein kluger Junge – das darf ich sagen, auch wenn ich sein Pate bin
– ich bin sicher, dass er der Richtige für Boleslav Przsymel ist.“ Ada
schaute ihn groß an, denn das war eine Aussage, die sie nicht verstehen
konnte. Ihr Gatte Gernot wandte sich an sie: „Graf Hohnstein hat uns
ein sehr ehrenwertes Angebot gemacht. Einer der mächtigsten Adligen
Böhmens, eben dieser Boleslav Przsymel, wäre bereit, Cuno als Knappen zu sich zu nehmen und ihm neben allem, was Ritter können müssen, auch alles beizubringen, was ein Bergmann wissen muss. Das war
die eigentliche Absicht Cuonrads auf dem Weg hierher. Und nach dem
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Unglück von gestern wäre es sicher nicht schlecht, alles über den Bergbau zu lernen, was die Böhmen können. Aber ich wollte dir eigentlich
nicht so plötzlich damit entgegentreten…“
Ada schluckte. Ihr kleiner Cuno? In Böhmen? Ausgerechnet in Böhmen,
wo, wie sie als Tochter des Landgrafen sehr wohl wusste, der Übergang
vom Herrschergeschlecht der Přemisliden auf das Haus Luxemburg
nicht kampflos von statten ging und immer noch nicht ganz vollzogen
war. Gernot der Jüngere war am Hof des Landgrafen in Erfurt als Knappe
ausgebildet worden, das war damit für seinen Bruder nach Rittersitte
ausgeschlossen. Graf Hohnstein konnte ihn auch nicht nehmen, da er
als Pate das auch nicht durfte. Und die ‚lieben‘ Nachbarn? Während die
Männer herzhaft zugriffen und Cuno sich neben sie setzte und ebenfalls
zu essen begann, kamen ihr die Erzählungen über die Familie Steigerthal aus alten Zeiten in den Sinn:
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Pontoise, August 1248
Das Wappenschild Heinrichs von Thüringen aus dem Hause Wettin
zeigte, wer sich beim Kreuzzugsaufruf des päpstlichen Legaten in Pontoise, am wandernden Hof des französischen Königs, seinem lothringischen Cousin Jean de Beaumont anschloss und den Kreuzeid leistete.
Auf blauem Grund war ein aufrechtstehender, nach links gewandter
Löwe dargestellt, dessen Körper weiß und rot gestreift war – das Wappen Wettins und seit wenigen Jahren Thüringens.
Sultan As-Salih Ayyub, bei den Christen bekannt als Saladin, hatte vier
Jahre zuvor das heilige Jerusalem erobert, die christlichen Ritterorden
aus der Stadt vertrieben und die Grabeskirche zur Moschee umbauen
lassen. Die wenigen verbliebenen christlichen Herrscher in einigen
Stadtstaaten Palästinas hatten Papst Innozenz IV um einen weiteren
Kreuzzug gebeten, damit Jerusalem wieder unter christlicher Herrschaft
stehen könnte. Innozenz aber war völlig mit dem Kampf um die Oberherrschaft über die Christenheit beschäftigt. Der Papst und Kaiser Friedrich II aus dem Hause Staufer glaubten, dass jeweils er selbst das alleinige Oberhaupt der Christenheit sei. Innozenz hatte Friedrich ein Jahr
nach der Eroberung Jerusalems förmlich abgesetzt. Friedrich hatte ihn
im Gegenzug als Ketzer und Widerchrist im Reich verkünden lassen, so
dass Chaos und Unruhe herrschte, die den Gedanken an einen Kreuzzug
eigentlich unmöglich machten. Nur Ludwig, der Neunte seines Namens,
aus dem Königreich Franzreich sah die Chancen und Möglichkeiten,
durch einen Kreuzzug seine weltliche und himmlische Lage zu verbessern. Als der päpstliche Legat Odo von Châteuroux in Pontoise anlässlich eines Hoftages erschien und in einer aufrüttelnden Predigt das irdische Leiden der Christen im Morgenland und die himmlischen Freuden
der für die Befreiung des Heiligen Landes gefallenen Kreuzritter in der
Ewigkeit beschrieb, brach ein Begeisterungssturm unter den französi-
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schen Adligen aus: Hunderte nahmen die bereitgehaltenen roten Stoffkreuze und hefteten sie sich an die Rüstung, um anschließend den Eid
zu schwören. Heinrich von Thüringen, der mit dem Sohn seines mütterlichen Onkels den Sommer mit den üblichen ritterlichen Lustbarkeiten
verbracht hatte, wollte nicht abseits stehen und nahm ebenfalls das
Kreuz. Als er mit den anderen zurück zum Zeltlager in Pontoise kam,
zwängten sie sich durch die engen Lagergassen, die zwischen den herrschaftlichen Zelten zwar genug Platz ließen, aber nachdem alle Knechte,
Knappen und Diener den wenigen verbleibenden Wegesraum nutzten,
war der jeweilige Weg durchaus sehr eng. Heinrichdachte jedes Mal mit
Schrecken daran, wie sich diese Situation auswirken würde, wäre das
Lager nicht als Vergnügungsstätte, sondern als eine einem Angriff ausgesetzte Stellung errichtet worden.
Als sie zum Zelt Jean de Beaumonts kamen, schwang sich Heinrich von
seinem Streitross, warf dem herbeieilenden Diener die Zügel zu und befahl ihm, Wein zu holen. Gernot, der Sohn eines unfreien Bauern aus
dem kleinen Ort Steigerthal in Thüringen, führte das Ross in das Zelt,
das als Stall diente, wischte es mit einem Bündel Stroh trocken, gab ihm
Hafer und Wasser und beeilte sich dann, seinem Herren Wein und einen
passenden Pokal aus dem Speisezelt des Prinzen von Lothringen zu besorgen.
„Wo bleibst du denn?“ war der Satz, mit dem er begrüßt wurde, als er
endlich alles beisammen hatte. Oft genug hatte er sich gefragt, warum
der Graf ihn noch in seinen Diensten behielt, obwohl er so oft seine Unzufriedenheit mit ihm äußerte. Die Knechte und Diener anderer Herren,
mit denen er sich unterhielt, wenn die Herren abwesend waren, konnten ihm keine Antwort geben: Sie kannten alle Formen von Auspeitschen bis Missachtung, womit die Herren die Knechte zu behandeln
pflegten. Er wurde sich immer sicherer, dass sein Verbleib im Dienste
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Heinrichs mit einem Eid zusammen hing, den er vor wenigen Jahren in
voller Überzeugung vor dem Inquisitionsgericht abgegeben hatte:
Heinrich war bei einem Jagdausflug im Süden des Harzes in der Nähe
von Nordhausen eine Nacht auf Hof Steigerthal geblieben, keine Burg,
nur ein befestigter Hof. Aber das Mädchen, das ihm und Heinrichs Begleitern Essen und Getränke brachte, machte auf Heinrich einen so großen Eindruck, dass er sie, ohne den damaligen Herren des Dorfes mit
einzubeziehen, fragte, ob sie nach dem Festmahl Zeit für ihn habe.
Ohne zu zögern stimmte sie zu, und die „Zeit“, die sie verbrachten, war
erst eine Nacht, dann kam sie mit ihm nach Erfurt und die verbrachte
Zeit war viele Nächte lang. Als nach Wochen des nächtlichen Glücks und
der täglichen Jagd- und Turnierausflüge mit abendlichem Kartenspiel
Graf Guido von Schwarzburg-Arnstadt, ein Rivale Heinrichs nicht nur um
die Gunst des Mädchens sondern auch um die zukünftige Herrschaft
über Thüringen, die Anschuldigung erhob, Heinrich von Wettin sei nicht
nur ein Betrüger, sondern auch ein Hexer, der von der Inquisition zur
Rechenschaft gezogen werden müsse, änderten sich die Verhältnisse.
Guido hatte nicht nur sein ganzes Geld verspielt, sondern auch in jedem
Turnier eine Niederlage eingesteckt, sei es gegen Heinrich oder andere.
Er hatte auch trotz oder wegen seines herrischen Wesens keine der
anwesenden Damen beglücken dürfen, und immer, wenn er versucht
hatte, das sich Heinrich zugehörig fühlende Mädchen, Hedda, die
schöne Leibeigene aus dem Dorf Steigerthal auf seine Seite zu ziehen,
war er grandios gescheitert.
Der Erfolg der Anklage vor dem Inquisitionsgericht hätte für Heinrich
den Verlust des Anspruchs auf Thüringen und im schlimmsten Fall den
Tod bedeutet. Aber da kam ein von dem Mädchen benannter Zeuge ins
Spiel, ihr Bruder Gernot. Dem hatte sie schon am ersten Tag, noch während des Abendgelages, gestanden, dass sie sich in Heinrich verliebt
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hatte und wie sie in den folgenden Wochen Guido von SchwarzburgArnstadt immer wieder in die Irre und ins Verderben geführt hatte.
Gernot beschwor also vor der Inquisition, dass seine Schwester sich aus
freiem Herzen Heinrich hingegeben habe und alle weiteren Probleme
nur aus dem Neid des Schwarzburg-Arnstadter Grafen entstanden
seien. Da sie keine Frau von Stand war, sprach das Gericht Heinrich frei,
seine Mätresse wurde ihm wieder übergeben. Zum Dank für seine
wahrheitsgetreue, aber mutige Aussage wurde Gernot aus der Leibeigenschaft entlassen, wofür Heinrich dem greisen Herrn von Steigerthal
eine kleine Summe bezahlen musste, und stieg auf zum Leibdiener des
– so hoffte zumindest Heinrich - zukünftigen Landgrafen von Thüringen.
Zu seinem großen Leidwesen überlebte Hedda die Gefangennahme
durch die Inquisition und auch ihre Befreiung nicht lange. Wenige Monate, nachdem sie in Heinrichs Arme zurückgekehrt war, starb sie unter
großen Schmerzen als Folge einer Vergiftung: ihr ungeborenes Kind war
wohl in der Gefangenschaft durch die Entbehrungen und Misshandlungen in ihrem Leib gestorben und hatte sie von innen her vergiftet. Heinrich war untröstlich und fand in seiner Trauer in Gernot einen Mittrauernden, auch wenn er nicht von Stand war. Er behielt den Bruder seiner
Geliebten in seinem Hofstaat und hatte sich mit der Zeit so an ihn gewöhnt, dass er ihn auch mit auf den Zug nach Lothringen nahm.
Kurze Zeit später kam auch Jean de Beaumont ins Zelt zurück, ganz aufgeregt von dem Geschehen: „Wir werden in wenigen Wochen Jerusalem befreien und am Ende unseres Lebens ins Paradies eingehen – ist
das nicht wunderbar?“ Heinrich antwortete wesentlich nüchterner:
“Nun, wir werden vielleicht in wenigen Wochen aufbrechen, aber alles
Weitere sehe ich noch nicht so klar.“ „Bedenkenträger! Seit ich Dich
kenne, bist Du immer voller Zweifel, voller schlechter Laune – außer bei
der Jagd – und scheinst immer Angst vor der Zukunft zu haben.“
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Heinrich konnte dem nicht widersprechen, aber ihre Situation war einfach zu verschieden: Jean de Beaumont war der unumstrittene Erbe
Lothringens, ein gutaussehender, in allen ritterlichen Künsten glänzender Mann in den frühen Zwanzigern, sein Königreich war wirklich reich,
die Feinde schon vom Vater bezwungen und Vater und Sohn wurden
von König Ludwig IX. von Franzreich umworben, weil er Lothringen als
Bastion im Osten brauchte, um sich ohne Einmischung der deutschen
Stauferkaiser mit seinen Vettern aus England um deren Besitztümern in
der Bretagne zu schlagen. Um ihn an sich zu binden, hatte Ludwig ihn
zu seinem Kämmerer gemacht, der die Finanzen des Königreichs Franzreich verwaltete – ein kluger Schachzug, da damit ein Edler betraut war,
der in Franzreich keinen Besitz hatte und deshalb auch nicht Gelder in
seinem Sinn veruntreuen konnte.
Heinrich, Markgraf von Meißen, dagegen hatte als junger Ritter erst im
Jahr zuvor, nachdem Heinrich Raspe aus dem Haus der Ludowinger
ohne Erbe verstorben war, im Kampf mit den Luxemburgern den Sieg
davon getragen und die Landgrafschaft Thüringen für das Haus Wettin
gewonnen. Ohne die Hilfe seiner lothringischen Vettern wäre er sicher
nicht erfolgreich gewesen, da deren Heer die luxemburgischen Stammlande in Schach hielt und er die nach Thüringen entsandten Truppen
aufreiben konnte, ohne dass Nachschub an Kämpfern drohte. Noch immer gab es vereinzelte Adlige, die Widerstand zu leisten versuchten,
aber sein getreuer Marschall, Graf von Hohnstein, hatte Ruhe in der
ganzen Landgrafschaft erzwungen. Als dann die Einladung Jean de
Beaumonts ihn erreichte, ihn zum Hoftag in Pontoise zu begleiten, war
er froh, den Scharmützeln zu entkommen und sich unter die Fürsten
des Abendlandes mischen zu können. Der Gedanke, an einem Kreuzzug
teilzunehmen, hatte ihm fern gelegen – dazu war die Lage in Thüringen
viel zu unsicher, aber die Begeisterung der tausenden von Rittern in
Pontoise hatte ihn zu dem unüberlegten, und wie er jetzt schon ahnte,
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unguten Eid verleitet. Konnte er Hohnstein so lange alleinlassen?
Würde er diesen Eid nicht schon bald bitter bereuen?
Jean reichte „Henri“, wie er ihn nannte einen Becher und gemeinsam
tranken sie auf die Abendteuer, die ihnen bevor standen. „Ist es nicht
toll, wenn Du jetzt schon weißt, dass alle Sünden, die Du begangen hast
und die Du noch begehen wirst, dadurch gesühnt sein werden, dass Du
Dich in ein Abendteuer stürzt? Und das soll genauso verlaufen, wie die
vielen andern, die wir bisher gemeinsam bestanden haben. Erinnerst
Du Dich noch an die Herbstjagd, irgendwo nördlich Deiner Grafschaft?
Wir hatten den ganzen Tag ein Rudel Hirsche verfolgt und kamen
abends in irgendeinem Ort mit unaussprechlichem Namen an, wo wir
im Haus eines Bergwerkbesitzers Unterschlupf fanden.“ „Oh, ja, ich
weiß genau,“ entgegnete Heinrich nun grinsend. „Der Ort heißt Clausthal und der Mann schien unermesslich reich an weltlichen Gütern, war
aber nicht gerade eine Zierde der Menschheit! Du hattest im Lauf des
Tages einen kapitalen Hirsch erlegt, der fast so stank wie unser Gastgeber – vom Hirsch haben wir nur das Geweih mitgenommen, und mir war
eine junge brunftige Hirschkuh vor den Speer gelaufen, die wir die
Knechte aufladen hießen, und mit der wir unser Nachtlager bezahlt haben. Wenn der Mensch gewusst hätte, wie brunftig wir waren und wie
brunftig seine Frau und seine Tochter – ich glaube, den Hirschbraten
hätte er lieber nicht gegessen!“ „Und siehst Du, Henri, das ist ab jetzt
keine Sünde mehr, sondern frommes Tun!“
Lemesós (Limassol), Zypern, September 1248
Genuesische Galeere um genuesische Galeere lief in den Hafen von Lemesós ein, entlud ihre Ladung aus Rittern, Knappen, Knechten, Pferden,
Rüstungen, Waffen, Mätressen, Nahrungsmittel, Weinkaraffen….. Was
immer das riesige Kreuzfahrerheer brauchte, musste herbeigeschafft
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werden, und die Republik Genua konnte ihre Schiffe nicht besser einsetzen als zum Transport all dieses – auch wenn jedes hundertste Schiff
als Spende umsonst fuhr!
Für die meisten Kreuzfahrer, gleich welchen Standes, war die Überfahrt
unangenehm gewesen – das Schwanken des Schiffs auch bei ruhigem
Wind, die Enge, der Gestank, das ständige Getrampel der Tiere, das
meist brakige Wasser, das eintönige, nur aus Getreidebrei bestehende
Essen morgens, mittags und abends. Für einige hundert Ritter und ihr
Gefolge war die Überfahrt allerdings bereits das Ende des Kreuzzuges
geworden.
Ein Verband von 10 Galeeren, wie immer begleitet von zwei wendigen,
schwer bewaffneten Zweimastern der genuesischen Marine, war östlich von Syrakus in einen schweren Sturm geraten. Die Wellen waren so
gewaltig, dass die Ruder wie Zweiglein brachen. Der eine Zweimaster
verlor beide Masten und trieb nach wenigen Minuten kieloben über einen Wellenkamm, der andere ritt, nur mit der Fock segelnd, den Sturm
unter dem Schutz der Küste Siziliens aus und brachte später die Nachricht nach Lemesós, dass alle zehn Galeeren gesunken seien – und mit
ihnen ein fast unersetzlicher Truppenteil.
Jean de Beaumont fluchte gotteslästerlich, als er im Zelt König Ludwigs
die Neuigkeit vernahm. Der Kreuzzug, zu dem er mit solcher Freude aufgebrochen war, hatte in den wenigen Wochen seit dem Kreuzeid seine
Stimmung schwer getrübt. Als Kämmerer des Königs sah er die Ströme
an Gold und Silber durch seine Hände fließen, die nötig waren, um nur
die Kosten des Hofes und den Transport zu bezahlen – die Ritter mussten für sich und ihr Gefolge selbst aufkommen. Und die Beschaffung der
Münzen aus Franzreich war jedes Mal ein gewagtes Spiel, denn längst
hatte sich unter den Piraten herumgesprochen, dass die Schätze Franzreichs in Säcken in ihrer Nähe herumsegelten. Wenn dann auch noch
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viele Kämpfer gar nicht am Etappenziel ankamen, schwächte das die
Kampfeskraft und den Kampfeswillen. Schlimmer aber war, dass der König den Genuesern zusagen musste, dass er für mögliche Verluste aufkommen würde. 10 Galeeren und eine Brigantine würden ihn mehr kosten als die Verpflegung des ganzen Heeres für einen Monat – und es
war schon Herbst!
Heinrich von Meißen sah seinen Freund an und wusste, dass er jetzt die
Seite des Freundespaares sein musste, diefür die schöneren Seiten des
Lebens zuständig war. „Lass das Geschimpfe, Jean. Wir sind um unseres
ewigen Lebens willen hier, und das Geld, das verloren ist, war doch sowieso nicht Deines! Lass uns dieses Zeltlager wenigstens heute Abend
einmal verlassen und uns im Städtchen vergnügen!“ „Du hast Recht!
Genug des Ärgers für heute. Komm, wir kleiden uns wie einfache Soldaten und nehmen nur ein Beutelchen mit meinem Geld mit.“ Gesagt, getan. Der treue Gernot blieb zurück mit dem Auftrag, beide Rüstungen
zu reinigen und für Nachschub an Wein und Käse zu sorgen.
Als sie das Lager verlassen hatten, sagte Jean: „Eine gute Idee von Dir,
Henri. Wir haben bisher noch nicht ein einziges Mal über die Stränge
geschlagen – und das, wo uns unsere zukünftigen Sünden doch bereits
vergeben sind! Pierre La Motte hat neulich im Zelt des Königs Ludwig
von einer Kneipe gesprochen, die noch so unter byzantinischem Einfluss
steht, dass sie sauber ist, aber Zicklein vom Feinsten und vorzüglichen
Wein serviert. Und was Pierre sonst noch so erzählte - lassen wir uns
überraschen.“
Wie von selbst führte sie der Weg vom Lager gleich hinter dem Hafen
den Hügel hinauf in die Richtung der Hochburg. Das geschäftige Treiben
und die Verschiedenheit der Menschen beeindruckten Heinrich immer
wieder. Ein bärtiger, dunkelhaariger Fischverkäufer mit blauen Augen
hatte seinen Stand neben einem Obsthändler, der ganz offensichtlich
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afrikanischen Ursprungs war und für den Thüringer unbekannte Früchte
lauthals anpries. Auf zweirädrigen Karren wurden Waren von Männern
transportiert, die so mancher Erzählung in den trauten Winternächten
entsprungen zu sein schienen: hochgewachsener Berber mit ihren
blauen Turbanen überholten sehnige, aber viel kleinere Araber in ihren
wehenden Gewändern, beide machten einem offenbar wohlhabenden
Juden Platz, der durch seine Kopfbedeckung, die Kippa, und seine Schläfenlocken ganz eindeutig als orthodoxer Jude gekennzeichnet war,
selbst wenn das wegen seines Gesichtsschnittes nicht nötig gewesen
wäre. Sein Knecht, der den Karren schob, war unzweideutig ein Sklave
aus Nordeuropa. Osmanen, Griechen, Italiker, Berber, Nubier, Ägypter
– Lemesós war wahrhaftig ein Schmelztiegel der Völker. Und wie überall
in von Christen beherrschten Gegenden des Orients mischten sich verschleierte wie unverschleierte Frauen und Mädchen in das Gewühl,
während die Kinder zwischen den Erwachsenen herumwuselten. Die
Mischung aus orientalischem Handel, dem Durcheinander von Religionen und Kulturen und der dominanten Anwesenheit von vor allem französischen Knechten und Knappen machten aus der verschlafenen Hafenstadt, die erst durch Richard Löwenherz, der hier während des dritten Kreuzzugs geheiratet hatte, bekannt geworden war, einen brodelnden Kessel aller menschlichen Eigenschaften. Raub, Erpressung, Todschlag, Mord, Vergewaltigung waren hier genauso an der Tagesordnung
wie Hilfsbereitschaft, Almosen, Dankbarkeit und Hingabe.
Als die beiden fast auf dem Hügel angekommen waren, zeigte Jean auf
eine kleine Gasse, die halblinks wieder den Hügel hinabzuführen schien.
„Dort hinein!“ Wenige Schritte später standen sie vor einem zweistöckigen Haus, von dem nur das Eingangstor mit den schweren Türflügeln
und der Inschrift „Λεμεσός“ (Lemesós) darüber zeigte, dass es sich hier
um mehr als eine Mauer handelte. Auf Jeans Pochen hin wurde der eine
Torflügel einen Spalt weit geöffnet und ein finsterer, riesiger Bursch mit
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Vollbart und dem Krummschwert an der Seite musterte sie. „Kein Eintritt für Knechte und anderes minderwertiges Volk“ fasste seinen Eindruck von den beiden, die eintreten wollten, zusammen und er versuchte, den Torflügel wieder zu zudrücken. Jean stellte seinen stiefelbewehrten Fuß in den Türspalt fingerte nach seinem Beutel und drückte
dem Riesen eine Münze in die Hand. Der schaute das Geldstück nicht
einmal an, sondern ließ seinen Daumen über die Oberfläche gleiten, öffnete mit einem schiefen, aber wohlwollenden Lächeln die Tür und
sagte: „Oh, die Herren sind verkleidete Ritter – eine gute Vorsicht! Herzlich willkommen im Lemesós.“
Sie traten durch das Tor und kamen in einen kaum beleuchteten Gang;
in den Nischen der dicken Festungsmauer standen Statuen fremder
Götter und vor allem Göttinnen, die vom Aussehen her wenig mit Küchenfeen zu tun hatten. Am hinteren Ende des Ganges tat sich eine Türwölbung auf, durch die helles Licht fiel. Jean und Henri traten durch
diese Wölbung und standen in einem Innenhof: an allen Seiten gab es
Säulengänge, in der Mitte plätscherte ein Springbrunnen und Heinrich
stellte mit einem Blick an den Himmel erstaunt fest, dass der ganze Hof
mit einem festen Dach überdeckt war. Das Licht, das sie bemerkt hatten, kam von Fackeln, offenen Feuerschalen und Kerzen, die in den beiden Etagen der Säulengänge geschickt verteilt waren, dass das ganze
Atrium erleuchtet, aber nicht allzu hell war. Rund um den Springbrunnen waren Tische so platziert, dass zwischen ihnen und dem Brunnen
ein gewisser Abstand eingehalten war. Überall standen große Tontöpfe
mit blühenden Pflanzen, die Tische waren mit weißen Leinendecken gedeckt, die Stühle und Bänke mit Kissen gepolstert, über allem schwebte
der Duftreifer Feigen, wie er so typisch für Zypern war. Sowie die beiden
Ritter den Torbogen durchschritten hatten, näherte sich ihnen ein barfüßiger Junge in roten, knielangen Pluderhosen und einem weißen
Überwurf und bat sie wortlos mit deutlichen Gesten darum, ihnen einen
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Platz anbieten zu dürfen, von dem aus sie die Darbietung auch gut verfolgen könnten. Erst da wurde ihnen bewusst, dass das regelmäßige
Viereck des Hofes von einer etwas erhöhten breiten Stufe unterbrochen
wurde, die ganz offensichtlich als Bühne gedacht war. Jean und Heinrich
wählten einen Tisch, der etwas abseits stand, so dass sie sehen konnten, ohne allzu genau gesehen zu werden. Kaum hatten sie sich gesetzt,
brachte der Junge weißes Brot und ein Tablett mit vielen kleinen Tellern, auf denen viele kleine Happen von Fleisch und Fischgerichten dekoriert waren. Diese Meze, eine typische Landesspeise, gab einen Querschnitt über die kulinarischen Spezialitäten: frisches, knuspriges Brot,
eingelegtes Gemüse, Jogurt mit Minze, Sesampaste, Fischpastete, Hackfleischbällchen, Oliven, Schafskäse, gebratenen Fisch und vieles mehr;
dazu ein Krug mit kühlem, gewürztem Weißwein und edle Pokale.
Sie schauten sich um und stellten fest, dass etwa die Hälfte der Tische
bereits besetzt war, obwohl es noch früh am Abend war. Die Gäste waren – Lemesós entsprechend – höchst unterschiedlich: An einem Tisch
tafelten bereits Kreuzritter, die ihrem Dialekt und ihrem Gelärm entsprechend aus der Provence zu kommen und sich mit diesem Kreuzzug
dem Kampf um ihre Heimat gegen England zu entziehen schienen; an
einem weiteren Tisch saßen zwei in edle Stoffe gehüllte Araber, die tafelten, und vier Frauen, die völlig in glänzende, dunkelblaue Schleier gehüllt waren und deswegen auch weder essen noch trinken konnten; ein
dritter Tisch war Tafel für eine Runde fröhlicher, zechender Ritter, die
von Sprache, Kleidung und Verhalten wohl als Überreste derjenigen
Kreuzritter einzuordnen waren, die im letzten Jahr von den Muslimen
aus Palästina vertrieben worden waren und nun Zuflucht auf Zypern gefunden hatten; vor den beiden Freunden saß eine Runde von Kaufleuten aus vieler Herren Länder, die – nach ihren eigenen, lauten Bemerkungen - vor allem einen guten Blick auf die Bühne und viel zu Trinken
haben wollten. Ganz am Rande drängten sich genuesische Seeleute an
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einem Tisch, genau beobachtet von der Besatzung einer venezianischen
Brigantine.
Der Junge kam, schaute auf die Teller und machte deutlich, dass er gern
mehr bringen würde. Jean winkte ab und bestellte gegrilltes Zicklein.
Der Junge verneigte sich und verschwand. Die beiden nutzten die Pause
zu einem kurzen Austausch im lothringischen Dialekt, von dem sie sicher waren, dass keiner der Anwesenden ihn verstehen würde: „Was
hat Pierre La Motte gemeint, dass es hier mehr gibt als gutes Essen?“
„Ich weiß es nicht, gerade als er es erklären wollte, kam der König dazu,
aber die Meze sind auf jeden Fall schon mal das Beste, was ich in den
letzten vier Wochen zu essen bekommen habe.“ „Schau mal zu dem
Tisch mit den Arabern – kommt es Dir nicht seltsam vor, dass die Männer Frauen mit in ein öffentliches Gasthaus bringen – und dann auch
gleich vier?“ „Du hast Recht, aber verstehe einer die Muselmänner!“
Bevor Heinrich antworten konnte, erklangen Lauten und von beiden
Ecken der Längsseite traten als Araber gekleidete Musikanten auf die
erhöhte Stufe und begannen eine Melodie zu spielen, die den beiden
Freunden völlig unbekannt war, sie aber an ein süßes Sehnen erinnerte.
Der Lärm im Hof klang ab, alle schienen die gleiche Wirkung zu spüren
und begannen, auch in sich hinein zu hören. Als die Lautenspieler endeten, gab es keinen Applaus, die entstandene Stille dauerte ein wenig an
und wurde erst unterbrochen, als die Kaufleute nach mehr Wein riefen.
Jean und Heinrich hatten ihre Meze vertilgt und baten ebenfalls um einen weiteren Krug Wein, als der Junge die Zicklein brachte. Sie waren
mit Rosmarin gewürzt, hatten eine köstliche knusprige Kruste und einen
so intensiven Geschmack, dass den Beiden das Gespräch nicht weiter
wichtig war.
Auf dem Podium erschien ein Gaukler, wie man sie in allen Städten zu
sehen bekam: behängt mit Musikinstrumenten, Fratzen ziehend und
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mit Bällen jonglierend. Er schien mit sich selbst zufrieden und spielte so
vor sich hin, bis alle Gäste das Hauptgericht verzehrt hatten. Dann aber
stand er auf, legte sich, auf einen Ellbogen und ein Bein gestützt auf die
Bühne und begann – Feuer zu spucken! Die Seeleute beider Städte
schrien auf, die Kaufleute erstarrten, nur die Ritter behielten ihre Haltung. Ohne Worte gelang es dem Gaukler, den Kampf zwischen einem
edlen Sohn Zyperns und dem Drachen darzustellen, indem er immer
wieder blitzschnell die Position änderte und durch kleine Veränderungen seiner Kleidung die Rollen deutlich machte. Als der Drachen dann
zum letzten Mal Feuer spuckte und der siegreiche Zypriot sich über ihm
erhob gab es Beifall von allen Tischen.
Der Junge räumte die Teller mit den abgenagten Knochen ab, brachte
Trinkschalen und Krüge mit anderem Wein und servierte nacheinander
wieder allen Gästen ein Tablett, das reich gefüllt war mit süßen Teigtaschen und eingebackenen Mandeln; beides triefte von Honig und duftete nach vielen Gewürzen; der Wein dazu war rot, schwer und süß.
Die Akkorde eines dreiseitigen Saiteninstruments klangen auf, der Musiker setzte sich auf die rechte Seite der Bühne und lockte durch einen
besonderen Akkord einen Flötenspieler dazu, der mit seinen Tönen der
Melodie des ersten zu folgen suchte; als beide ihren Rhythmus und
Klang gefunden hatten, kam ein Männchen und setzte sich in der Mitte
der erhobenen Plattform an den Rand; sein Instrument schien eine umgekehrte Amphore zu sein, aber die eigentlich offene Seite war mit einer Tierhaut bespannt und durch unterschiedliches Antippen des Trommelfells erreichte der Alte die Klangfülle vieler Instrumente. Als er sich
in den Rhythmus eingespielt hatte, sprangen Männer über die Plattform
in den Kreis rund um den Springbrunnen; sie hatten nackte Oberkörper,
trugen weite Röcke bis zum Boden und auf den Köpfen balancierten sie
Tabletts mit Kerzen. Als die Musik schneller wurde, fingen sie an, sich
um die eigene Achse zu drehen und dabei doch den Raum um den
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Springbrunnen durch weiter kreiselnde Bewegungen zu füllen. Immer
schneller wurde der Rhythmus der Musik, immer schneller drehten sich
die Tänzer und schienen durch ihre Geschwindigkeit das Licht zum Erlöschen zu bringen.
Heinrich erschrak fast, als er spürte, wie in diesem Wirbeln von Noten
und Körpern jemand seine rechte Hand zart anfasste; neben seinem
Ohr sagte eine vibrierende Stimme auf Französisch: „ Kommen, Sie
mein Herr. Ich möchte Ihnen das Besondere des Λεμεσός zeigen.“ „Aber
ich weiß nicht – was ist das? Kann ich das? Die Kosten…“ Nun hörte er
ein leises Lachen und eine aufflackernde Feuerschale erlaubte ihm einen Blick auf seine Gesprächspartnerin zu werfen: Es war eine der blauverschleierten Frauen, die mit den arabischen Vornehmen zu Tisch gesessen hatten. „Nur keine Bange! Meine Freundin kümmert sich um deinen Freund und unser Diener“ sie deutete mit einer Kopfbewegung auf
den Jungen mit den Pluderhosen, „ hat den Inhalt des Beutelchens begutachtet – es reicht für euch beide!“ Damit zog sie ihn von der Bank
hoch und führte ihn im Schatten der Tanzenden zu einer Tür, die hinter
den linken Torbögen versteckt war.
Als die Tür sich hinter ihnen schloss, brauchten Heinrichs Augen Zeit im
Halbdunkel zu erkennen, was ihn umgab: Sie waren in einem mit Teppichen ausgekleideten Raum, geschmackvoll eingerichtet mit kleinen
Tischchen mit Kirschholzintarsien, darauf Schalen mit Duftölen, andere
mit Nüssen und Gebäck, wieder andere mit Pokalen und Krügen; ein
großes Polster mit vielen Kissen darauf lud zum Niederlegen; und über
allem schwebte der berauschende Geruch von Weihrauch.. Ein Fenster
und eine Tür ließen eine Dachterrasse vermuten, wie sie in vielen zyprischen Häusern zu finden war, eine weitere, offene Tür zeigte marmorgetäfelte Wände und Böden. In großen Vasen und am Fenster standen
Blumen, an der Tür konnte man einen Oleanderbusch sehen, der draußen stand.
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Seine Begleiterin löste den Schleier, warf ihn auf einen Hocker und
drehte das Licht einer auf dem Tisch stehenden Öllampe höher. „Ich
heiße Leila und wohne und arbeite jetzt in diesem Haus. Vorher war ich,
wie meine Freundinnen, in der Haremsschule des Scheichs as-Salih
Ayyub in Kairo, wo wir lernen sollten, wie man Männer wie den Sultan
zufrieden stellt. Als der aber den Krieg gegen seinen Vetter an-Nasir
Yusuf verlor und Yusuf der Harem zufiel, wurden wir Novizinnen wie
unser Lehrer, der Eunuch al-Abd Ser, alle verjagt, weil er uns nicht
traute. Deshalb sind wir in unsere Heimat Lemesós zurückgekehrt, wo
wir früher an den Sultan verkauft worden waren.“ Während sie sprach,
betrachtete Heinrich sie gebannt: ein klar geschnittenes schmales Gesicht mit deutlichen Backenknochen, einem vollen roten Mund und
schwarzen Augen, deren Größe durch dunkle Kajal-Striche noch betont
wurde, war umrahmt von einer Fülle schwarzen, lockigen Haares, das
ihr über die Schulter bis auf die Brust fiel; die dünne Tunika, wieder in
dem glänzenden Dunkelblau, enthüllte mehr als dass sie den Körper darunter verhüllte. Heinrich fühlte sich wieder an die Empfindung erinnert, die ihn übermannt hatte, als die Lautenspieler den Abend einleiteten, und wehrte sich nicht im Geringsten, als sie anfing, seine Kleider
zu lösen und dabei sagte: „Ihr Franzen riecht doch immer sehr nach
Krieg und Ungutem – lass dich auskleiden und komm dann mit mir ins
Bad nebenan!“ Nackt folgte er ihr in den Nachbarraum, wo einige Stufen in ein Wasserbecken führten. Sie nahm eine Klingel von einem Hocker, läutete und ließ sofort durch eine nicht sichtbare Tür eine Dienerin
ein, die zwei Zuber mit dampfend heißem Wasser ins Becken schüttete.
Als diese wieder verschwunden war, schob Leila ihn die Stufen hinunter
ins Wasser, das ihn angenehm umspielte. Sie nahm einen runden Gegenstand wie eine kleine Wolke auf, tauchte ihn in eine Schale mit einer
hellen, wohlriechenden Flüssigkeit und reichte ihm das Ganze. Er
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starrte sie an ohne zu wissen, was er tun sollte, wenn auch wohl wissend, was er tun wollte. Sie lachte wieder leise, löste die Knoten an der
Schulter ihrer Tunika, trat ebenfalls nackt aus dem auf den Boden sinkenden Kreis aus Stoff heraus, stieg die Stufen hinab und sagte: „Ich
sehe schon, dass du zum ersten Mal so etwas erlebst! Leg dich ins Wasser und dann zeige ich dir, was zu tun ist!“ Er starrte sie weiter an, aber
nun, als sich durch die Nähe ihr Körper mehr als deutlich machte, war
es nicht das Starren des Unwissens, sondern des Genießens. „Dies hier
ist ein Schwamm – die wachsen hier im Meer und man benutzt sie, um
den Körper zu reinigen; ich habe ihn in Seife getaucht, und wenn du
jetzt wieder aufstehst, kann ich dich einseifen und reinigen!“ Er gehorchte wortlos und genoss die zärtliche Berührung des Schwamms und
des Schaumes am ganzen Körper, schwer mit sich ringend, ob er dieses
Gefühl weiter ertragen konnte, ohne Leila weniger Zärtliches anzutun.
Ab und zu schloss er die Augen, um nicht überwältigt zu werden, aber
immer wieder betrachtete er ihren Körper: schlank, mit schmalen Hüften, die vollen Brüsten fast von den Haaren bedeckt, ein Hinterteil, das
in seiner Festigkeit und Rundung zum Anfassen lud und die schlanken,
wohlgeformten Beine mit den kleinen, ganz offensichtlich gepflegten
Füßen. Als der Schwamm um seine hoch aufgerichtete Männlichkeit
kreiste, wäre es fast um ihn geschehen gewesen, aber Leila verstand ihr
Tun und drückte ihn wieder in das nun schon etwas kühlere Wasser. Sie
selbst fuhr sich mit dem Schwamm über Lende und Po und nahm dann
vom Rand des Beckens ein weiches Tuch, trocknete sich ab und zog
Heinrich aus dem Becken um ihn ebenfalls zu trocknen, bevor sie ihn
mit Duftöl einsalbte. Sie ging vor ihm her zu dem einladenden Polster,
und als er versuchte, sie darauf zu legen, schüttelte sie den Kopf und
bat stattdessen ihn, sich auf den Rücken zu legen. Dann kniete sie sich
über ihn, legte seine Hände an ihre Brüste und senkte sich langsam über
seinen Schaft. Obwohl sie sich nur wenig bewegte, war er so erregt –
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und hatte schon so lange bei keiner Frau mehr gelegen – dass er bald
unter lautem Aufstöhnen in ihr explodierte. Sie lachte wieder ihr leises
Lachen, das weiche Tuch kam noch einmal zum Einsatz und dann
schmiegte sie sich an seine rechte Seite. „Erzähl‘ mir von dir,“ bat sie.
Und während er anfing, sein Herz auszuschütten über seine unsichere
Stellung als Landesherr, den ungewollten Kreuzzugseid, die Sinnlosigkeit des Herumsitzens in Lemesòs, fuhr ihre Linke zärtlich über seinen
Körper und gerade als er sagte: „Obwohl ich Dir sonst nie begegnet
wäre“, war seine Männlichkeit wieder erwacht. Nun legte sie sich auf
den Rücken und bot sich ihm dar und nach wenigen Minuten war Heinrich mehr als befriedigt eingeschlafen
Als er erwachte, war Leila verschwunden. Das Tageslicht schien durch
Tür und Fenster. Auf dem Tisch stand eine seltsame Kanne mit Stiel über
einem kupfernen Gestell, in dem eine Kerze brannte. In der Kanne war
ein schwarzes, wohlriechendes Gebräu, daneben ein kleine Trinkschale
und ein Teller mit Gebäck.. Auf dem Hocker lag seine Kleidung, ordentlich zusammengefaltet, obenauf das Kurzschwert, dass er unter
dem Soldatenkittel verborgen hatte. Er kleidete sich an, trank kleine
Schlucke von dem heißen, schwarzen, süßen Getränk, aß ein paar Kekse
und ging dann in den jetzt menschenleeren Hof hinaus. Nach einigem
Suchen fand er den Gang zum Tor, bei dem – noch oder wieder – der
Riese vom Vorabend wachte. Der grinste ihn an, öffnete den Torflügel,
ließ Heinrich hinaus und verschloss die Tür dann hinter ihm hörbar.
Heinrich ging den kurzen Weg zurück zum Lager, und als er in Beaumonts Zelt trat, erhob sich dieser nahm ihn mit beiden Händen an den
Schultern und bevor einer von beiden irgendetwas sagen konnte, fingen
sie an zu lachen, denn beide bemerkten beim Anderen den Duft von
Reinlichkeit und guter Seife. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie ich …“ Er
konnte nicht weitersprechen, denn Gernot stürzte ins Zelt und stam-
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melte außer Atem: „Verzeiht, edle Herren, aber eben ist drüben im Hafen ein Schnellsegler aus Venedig angekommen und mit ihm ein Bote,
der eine sehr wichtige Nachricht für den Landgrafen bringt!“ „Lass ihn
hereinkommen!“ Gernot stürzte wieder davon und erschien wenige Minuten später mit einem jungen Ritter, den Heinrich aus der gemeinsamen Zeit als Knappen am Hof in Erfurt kannte und begrüßte ihn freundlich. Der Bote, Eginhard, übergab ein versiegeltes Schreiben, das Heinrich erbrach. Er fing an zu lesen und wurde immer blasser: „Graf Hohnstein, mein Statthalter, schreibt, dass die aufsässigen Grafen Thüringens sich wieder zusammenrotten und beschlossen haben, ein Heer
aufzustellen, um mir die Herrschaft wieder zu nehmen; die Anführer
sind natürlich wieder die Grafen von Schwarzenberg, unterstützt werden sie dabei von Ottokar dem Zweiten, aus dem Haus der Přemysliden,
der sich wohl schon als Herzog von Österreich sieht und mit Thüringen
der mächtigste Fürst des Reiches wäre. Hohnstein sagt, dass ich sofort
in die Heimat zurückkommen müsse, da ihm im erneuten Kriegsfall die
Autorität fehle.“ Heinrich wandte sich an Jean de Beaumont; „Ich muss
zurück. Du weißt wie opferreich und teuer meine Herrschaft erobert
wurde.“ „Aber du hast einen Eid geschworen!“ „Ich kann weder Hohnstein noch die Landgrafschaft aufs Spiel stellen – und Du weißt, dass ich
nicht wirklich aus Überzeugung hier bin!“ „Unsinn, Du hast wie jeder
andere, der auf den Kreuzzug mitkommen wollte, hörst du: wollte, den
Eid geschworen und dafür Vergebung der Sünden erhalten. Wenn du
jetzt flüchtest, aus welchen Gründen auch immer, dann verlierst du dein
Seelenheil, und ob du deine Landgrafschaft behältst, ist ja wohl seht
fragwürdig!“ „Jean, nimm doch Vernunft an! Ich muss das Haus Wettin
absichern und Hohnstein helfen – ich kann doch nicht wieder tatenlos
zusehen wie zu Beginn des letzten Jahres, als treue Gefolgsleute hingemeuchelt und ihre Familien vernichtet wurden!“ „Tu, was du willst, aber
meine Unterstützung bekommst Du nicht mehr.“ Damit wandte sich
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Jean de Beaumont ab und stampfte aus dem Zelt. Heinrich sank auf einem Hocker nieder und versuchte, klar zu denken. „Eginhard, wie bist
du hier her gekommen? Wie lange hat das gedauert?“ „Ich bin direkt
von Erfurt nach Venedig geritten, das hat schon zwei Wochen gedauert,
und dann musste ich warten, bis ein Schiff nach Lemesós segelte, also
etwa sechs Wochen bin ich schon unterwegs!“ „Sechs Wochen? Unterdessen kann sich das ganze Reich aufgelöst haben! Wo ist dein Schiff?“
„Es liegt drüben im Hafen und wartet auf eine Ladung, die im Gespräch
der Seeleute auf der Herfahrt als sehr wertvoll eingeschätzt wurde, so
dass sie sich einen gewissen Anteil versprechen!“ „Wann könnte der
Venezianer zurückfahren?“ „Ich denke, wenn die Ladung da ist, schon
morgen.“ „Schau, dass du für uns einen Platz an Bord bekommst – ich
muss zurück!“
Nachdem Eginhard gegangen war, wandte sich Heinrich an Gernot:
„Pack alles zusammen, was mir gehört – wenn Du nicht ganz sicher bist,
lass es hier; pack auch Deine Sachen und tue alles Geld, das wir noch
haben, in meinen Beutel. Rüstung und Waffen müssen blinken, mein
Wappenmantel muss sauber sein - morgen geht es zurück!“
Heinrich trat aus dem Zelt, richtete seine Schritte hinunter zum Hafen
und betrat das Kloster, das direkt an der Hafenmauer lag. Ein Soldat mit
Harnisch und Pike vertrat ihm den Weg. „Meldet mich beim Prälaten
Odo von Châteuroux, ich bin Heinrich, Landgraf von Thüringen und
muss ihn dringend sprechen.“ Der Soldat zog sich zurück und erschien
wenige Minuten später mit einer Geste des Zulassens. Heinrich trat in
den Klosterhof und wurde von einem weiteren Soldaten in das ehemalige Refektorium geleitet, das Odo von Châteuroux als Empfangsraum
diente. Odo saß auf einem erhobenen Stuhl, vor sich ein Tisch mit Pergamenten, Wachstafeln, Tellern, Pokalen, Obstresten, Büchern… Es
schien ein Chaos, das ihm aber offensichtlich wenig ausmachte. Heinrich verbeugte sich und trug dann sein Anliegen vor: „Ich bin Heinrich,
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Landgraf von Thüringen aus dem Hause Wettin. Ich habe den Kreuzeid
geschworen und bin bis hierher mitgekommen. Nun hat mich die Nachricht ereilt, dass meine Stammlande in Aufruhr stehen und ich ihrer verlustig gehen werde, wenn ich nicht zurückkehre und selbst die Rebellion
beende. Ich habe aber den Kreuzeid geschworen. Wie kann ich ohne
Verlust der ewigen Seligkeit diesem Konflikt entkommen?“ „ Das ist einfacher gesagt als getan, mein Sohn! Du solltest sofort zurückkehren, um
dein Erbe zu sichern, und da du den Eid geschworen hast, kehrst Du
anschließend zurück, machst der Kirche eine Schenkung und unterstützt den Heiligen Vater bei der Eroberung des Heiligen Landes!“ „So
einfach?“ „Ja, so einfach! Ich werde dir eine Urkunde ausstellen lassen,
die dir die Heimreise ermöglicht – der Zeitpunkt deiner Rückkehr in den
Kampf und damit ins Paradies steht dir dann frei!“ „Ich danke Euch –
das macht mir eine Entscheidung möglich, die mir das Ewige Leben und
den Erhalt der Landgrafschaft Thüringen möglich machen könnte.“ Odo
winkte einem der Mönche, die im Refektorium arbeiteten „Setz‘ eine
Eidbefreiung auf den Namen Heinrich von Thüringen auf, heutiges Datum, wenn sie fertig ist, leg‘ sie mir zum Siegeln vor!“ Der Mönch verbeugte sich und ging an seinen Platz zurück. Als Heinrich sich ebenfalls
verbeugte und nochmals danken wollte, sagte Odo: „Lasst sie heute
Abend abholen und sagt Jean de Beaumont nicht, wie einfach es das
Kirchenrecht macht, einen solchen Eid kurzfristig zu unterbrechen!
Wenn er davon erführe und den König allein auf dem Kreuzzug ließe,
wären wir in drei Wochen Pleite!“ Heinrich musste lächeln und versprach, Jean nichts zu sagen, auch wenn das sein Verhältnis zu seinem
Vetter auf Dauer trüben sollte.
Als er ins Lager zurückkehrte, war von Beaumont nichts zu sehen, aber
Gernot hatte die meisten Güter des Landgrafen bereits auf einem Haufen gesammelt, das Kettenhemd blinkte, die Farben des Umhangs mit
dem thüringischen Wappen strahlten und als er seinen Herren kommen
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sah, lief er ihm entgegen und bestätigte, dass für ihn und Gernot Platz
an Bord der Sambuke unter venezianischem Kommando sei, die am
Abend auslaufen würde. Das Pferd allerdings könnten sie nicht mitnehmen, dafür sei das Schiff zu klein und zu voll. Heinrich überlegte kurz
und rief dann einen der Knappen Jean de Beaumonts: „Dein Herr weiß,
dass ich Zypern vorläufig verlassen muss. Nimm mein Schlachtross,
präge auf dem Sattel die Initialen des Herzogs von Lothringen ein und
lass‘ es ihn bei nächster Gelegenheit reiten – es gefiel ihm schon immer
und soll mein Abschiedsgeschenk an ihn sein; sag ihm, dass ich zurückkommen und wieder am Kreuzzug teilnehmen werde, solange das Pferd
lebt!“
Gernot kümmerte sich um seine Besitztümer; Jean war ärgerlich, aber
durch sein Präsent könnte er ihn vielleicht wieder freundlich stimmen,
sie waren schließlich Gefährten seit ihrer Kindheit; sein Seelenheil war
nicht in Gefahr – eines drängte sich ihm aber noch auf, was er noch tun
musste.
Wieder schritt er wie gestern Abend den Hügel hinauf, bog halblinks in
die kleine Gasse ein und klopfte an das Tor mit den schweren Türflügeln
und der Inschrift „Λεμεσός“ darüber. Als der Riese die Tür einen Spalt
breit öffnete, sah er vor sich einen Ritter mit Kettenhemd und wappengeschmücktem Umhang und direkt vor seinen Augen auf der Hand des
Ritters eine Silbermünze. „Leila“, sagte der Ritter nur, und an der
Stimme erkannte der Wächter den Besucher von gestern. Er ließ ihn
eintreten, aber nicht weitergehen, sondern pfiff laut durch die Finger,
was einen Diener herbeirief, und sprach in einer für Heinrich völlig unverständlichen Sprache zu ihm. Der Diener verschwand wortlos und
kehrte wenige Minuten später zurück, verbeugte sich und machte Heinrich ein Zeichen, ihm zu folgen und führte ihn in das Zimmer, in dem er
gestern Abend schon gewesen war. Das Zimmer war aufgeräumt, aber
Leila war nicht da. Das helle Sonnenlicht, das durch Tür und Fenster
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strahlte und den Luxus des Zimmers noch verdeutlichte, verdunkelte
sich kurz. Leila kam von der Dachterrasse herein, in einem leichten, seidenen, weißen Kleid, ungeschminkt und noch schöner als in seiner Erinnerung.
„Herr Landgraf,“ war ihre leicht ironische Begrüßung, „ ich hätte trotz
allem nicht gedacht, dass wir uns so schnell wiedersehen!“ Heinrich
stutzte kurz, bis er die Ironie bemerkte und antwortete ernsthaft: „Ich
hätte es selbst nicht geglaubt, aber ich musste kommen. Darf ich etwas
bleiben?“ Wortlos wies sie auf die gepolsterten Stühle am Tisch. „ Ich
muss zurück nach Deutschland. Ich habe Dir doch gestern erzählt, wie
unsicher die Lage in meiner Herrschaft Thüringen noch ist – heute Morgen kam Nachricht, dass es schlimm steht. Deswegen muss ich zurück.
Aber ich konnte nicht, ohne Dich noch einmal zu sehen!“ „Nur sehen?“
„Nein, nicht nur sehen, aber auch sehen!“ Sie stand auf, stellte sich hinter ihn, legte beide Hände auf seine Schultern und sagte: „Aber mit dieser Rüstung bist du nicht der, der gestern hier war, sondern mir fremd.“
Sie half ihm, das leichte Kettenhemd abzulegen und musste dann wieder leise lachen, denn er roch schon wieder wie ein Franze, nach Krieg
und Ungutem. „In Wirklichkeit willst Du doch nur baden, oder?“ Sie lief
ihm voraus ins Bad, klingelte mehrmals, weil natürlich keine Magd darauf vorbereitet war, jetzt ein heißes Bad zu richten, und als es endlich
soweit war, kleidete sie ihn wieder aus und warf ihm den Schwamm zu.
Sie selbst schlüpfte aus dem Kleid und kam dann zu ihm ins Wasser.
Im hellen Sonnenlicht war der unwirkliche Zauber der letzten Nacht verschwunden. Stattdessen sah Heinrich eine Frau vor sich, wie er sie sich
in seinen Träumen nicht hätte vorstellen können und die jetzt doch neben ihm im warmen Wasser lag. Da sie, den Gebräuchen der Harems
entsprechend, am ganzen Körper unbehaart war, wirkte sie im Licht
noch nackter und verletzlicher als im Dämmerlicht des Abends – und
noch anziehender. Sie seiften sich gegenseitig ein, und als der
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Schwamm sich dieses Mal um seinen Schaft wickelte, blieb er stehen
und schaute Leila fasziniert zu, wie sie ihn befriedigte. Das Abtrocknen
geschah langsam und mit Hingabe, galt es doch, jedes Fleckchen des
anderen Körpers zu berühren. Getrocknet liefen sie zum Polsterbett. Als
Leila sich wieder seiner Männlichkeit widmen wollte, schob er jedoch
ihre Hände beiseite und begann, sie mit seinen Lippen zu liebkosen: er
begann an ihrer Wange, glitt über die Halsbeuge, die Brüste, den ganzen
Körper immer weiter hinab bis zu ihren Füßen, und als er den Weg zurück machte, hörte er voller Freude, wie sie leicht stöhnte und küsste
sie mit ganzer Inbrunst, die sie sogleich erwiderte. Sie liebten sich fast
ekstatisch und lagen dann unter einer leichten Decke aneinander gedrängt auf dem Polster und schauten in das helle Licht hinaus. „Leila,
ich weiß, es klingt verrückt, aber glaube mir, ich komme wieder, und
wenn ich dich dann noch hier finde, werde ich dich fragen, ob du vielleicht nur noch für mich da sein könntest – ist das sehr verrückt?“ „Nein,
Henri,“ denn so hatte sie ihn gestern schon genannt, „wenn Du wiederkommst weiß ich, ob ich deine Frage bejahen kann. Jetzt halt mich noch
einmal ganz fest, küss mich und geh – das Schiff wartet nicht auf dich!“
Ein befestigtes Haus an der Adriaküste, November 1248
Gernot saß im hintersten Winkel des Kerkers und beschimpfte sich
selbst zum hundertsten oder gar tausendsten Mal als Esel.
Es war der letzte Tag des Sommers auf Zypern gewesen, als Heinrich
von Thüringen, angetan mit dem wappengeschmückten Kettenhemd
seiner Vorfahren, wehendem Mantel, Schild und Schwert, begleitet nur
von Gernot, der sich um das Gepäck kümmerte, den venezianischen
Schnellsegler bestieg. Es war eine Sambuke, ein zweimastiges Segel-
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schiff, das eigentlich nur in der arabischen Welt vorkommt. Aber die Venezianer hatten einige dieser Schiffe mit den leicht nach vorne geneigten Großmasten und den nach hinten geneigten Besanmasten gekapert
und benutzten sie als Botenschiffe und schnelle Transporter. Heinrich
erhielt einen Platz in der einzigen Kajüte, Gernot wurde mit dem Gepäck
im Laderaum einquartiert, wo er auf die Knechte der anderen Mitreisenden traf. Sie musterten ihn von oben bis unten und fragten dann in
gebrochenem Französisch, wer sein Herr sei. „Ein thüringischer Ritter
aus dem Gefolge des Lothringers. Und eure Herren?“ „Geht dich nichts
an!“ Schon da hatte er das Gefühl, dass die Fahrt nicht sehr erfreulich
werden würde. Aber die paar Tage auf See würde er schon überstehen,
solange kein Sturm aufkäme! Er lehnte sich an den Ballen mit dem Gepäck des Landgrafs und versuchte, es sich so gemütlich wie möglich zu
machen. Die anderen Kerle steckten die Köpfe wieder zusammen und
schnatterten in einer Sprache, die er für einen italienischen Dialekt
hielt. Noch bevor sie ablegten, war er eingeschlafen.
„He, du da, dein Herr will etwas von dir!“ – unsanft wurde Gernot dabei
an der Schulter gerüttelt. Er schlug die Augen auf und sah einen der
Matrosen vor sich, der mit der anderen Hand nach oben zur Kajüte deutete. „Und sehr erfreut schien er nicht, als du auf sein Rufen nicht gekommen bist!“ Grinsend half er ihm aufstehen und überließ ihn seinem
Schicksal.
Gernot kletterte die Leiter hoch, die den Laderaum mit dem Deck verband und erklomm dann die wenigen Stufen zur Kajüte. Bevor er anklopfen konnte, flog die Tür auf und ein in Seide und Brokat gekleideter
Mann stürmte hinaus, ein anderer im dunklen Ornat der venezianischen
Kaufleute lief hinterher: „No parli en la prossimità dé altri de questa
materia!“Aber der Reichgekleidete war schon an den Bug gestürmt, wo
er, den Blick auf die Wellen, verharrte. Der Kaufmann drehte sich um,
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schüttelte den Kopf und sagte noch etwas wie „Cretino“ und ging zurück
in die Kajüte.
Als der Steigerthaler nach ihm eintrat, sah er, dass die Herren wohl beim
Essen gesessen hatten, bevor es zum Streit kam: Ein Stuhl lag auf dem
Kajütenboden, die Scherben eines Trinkglases aus buntem Murano-Glas
lagen daneben und Heinrich von Thüringen saß mitten drin und schüttelte nur den Kopf. „Die ganze Geschichte ist faul, und wenn ich könnte,
würde ich mit der Sambuke sofort nach Lemesós zurückkehren. Hol mir
mein Schwert und den Helm, ich weiß noch nicht, mit wem sich hier wer
schlagen will!“ Als Gernot den Raum verließ, folgte er ihm: „Du musst
auf alles gefasst sein: soweit ich die beiden verstanden habe, holt das
Schiff normalerweise nur die monatlichen Erträge der von Sklaven auf
Zypern ausgebeuteten Kupferminen, sie gehören ja seit ewigen Zeiten
den Venezianern. Aber diesmal ist offensichtlich noch mehr an Bord, ich
glaube, dass es die Entschädigung König Ludwigs für den Verlust der
zehn Galeeren und der Brigantine ist, die neulich Schiffbruch erlitten
haben, du warst dabei, als Jean de Beaumont wegen der Kosten fluchte.
Und der Kaufmann will natürlich nicht, dass bekannt wird, was alles an
Bord ist, weil er fürchtet, dass durch irgendwelche Zeichen eine Person
an Bord – und sie verdächtigen natürlich uns – Piraten einen Hinweis
geben könnte.“ „Was tut oder ist der andere, der vorne am Bug?“ „Das
ist ein Ritter des Ordens vom Hl. Johannes zu Jerusalem, die darauf hoffen, dass der Papst ihnen für die Unterstützung in den Kreuzzügen Zypern bald als Lehen übergegeben wird, und damit natürlich auch die
Kupferminen. Und er behauptet jetzt, dass die Venezianer viel mehr
Kupfer herausholten, als sie je zugegeben haben und nichts mehr zu holen sei.“
Nun war es an Gernot, den Kopf zu schütteln, er verstand eigentlich gar
nichts mehr. Nachdem er Heinrich Schwert und Helm gebracht hatte,
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lehnte er an der Reling und schaute hinüber nach Zypern: sie umrundeten gerade Cap Gata, die Halbinsel südlich von Lemesós, die dessen Hafen vor den häufigsten Stürmen schützte. Mit einigem Glück und entsprechendem Wind, dem aus Osten blasenden Levante, würden sie, so
hatte der Bote Eginhard gesagt, in einer Woche Kreta passiert haben
und dann nordwestlich in die Adria hineinsegeln, immer nah genug am
Ufer, um die Küste noch zu erkennen, aber weit genug, um vor Piraten
flüchten zu können. Die Informationen, die ihm Heinrich gegeben hatte,
damit er Vorsicht walten lassen könnte, konnte er nur mühsam verarbeiten. „Was bedeutet das für uns?“ „Wir müssen uns, bis wir in Venedig sind, so gut wie möglich nur auf uns selbst verlassen, deshalb habe
ich dich auch rufen lassen – du im Laderaum, ich hier in der Kajüte. Und
wenn etwas Seltsames passiert“ hier unterbrach er sich und suchte in
seinem Mantel etwas „bläst, wer immer es entdeckt, auf dieser Pfeife,
meiner Hirschjagdpfeife, und warnt den anderen – hast du verstanden?“ Gernot nickte und war entlassen. Als er wieder unten im Laderaum ankam, merkte er, dass auch die Knechte gestritten hatten: drei
waren in die Ecke gedrängt worden und wurden von zwei breitschultrigen Kerlen bewacht, während die restlichen beiden die Ladung durchstöberten – auch Gernots Gepäck. „Pfoten weg, sonst sind die Pfoten
weg!“ rief er ihnen zu, zog sein Messer aus dem Gürtel und stellte sich
auf. Obwohl sie wohl kein Deutsch konnten, verstanden die zwei ihn
sehr gut und widmeten sich dem Rest der Ladung. Und sie waren gerade
den ersten Tag auf See!
Die Tage vergingen langsam, aber ereignislos. Gernot hatte schon fast
vergessen, was ihm Heinrich am ersten Tag eingeschärft hatte, und er
war auch nie wieder in die Kajüte gerufen worden. Morgens erhob er
sich, stürzte sich nach der Sitte der Mannschaft mit einem Tau um die
Hüfte ins Meer, erleichterte sich und zog sich dann wieder an Bord.
Dann holte er sich sein trockenes Brot, seinen Löffel Olivenöl und das
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wenige Wasser, das ihnen zugeteilt wurde, und stellte sich mit einer
leichten Angelrute an die Reling, immer auf einen Fang hoffend, den
ihm der Schiffskoch mit einer Extra-Ration bezahlte. Die drei eingeschüchterten Venezianer gesellten sich häufig zu ihm, und auch wenn
sie nicht miteinander reden konnten, gab es freundliche und Verständnis zeigende Gesten zwischen ihnen. Gernot hatte herausgefunden,
dass die drei die Knechte des Kaufmanns waren, während die anderen
vier dem Johanniter dienten. Zu gern hätte er gewusst, worum der
Streit am ersten Tag gegangen war!
Wie Eginhard ihm angekündigt hatte, wechselte die Sambuke am achten Tag den Kurs und segelte nach Nordosten, aber das bedeutete auch,
dass sie immer wieder vor dem Wind kreuzen mussten und dadurch
recht langsam wurden. „Man hätte Venedig wo anders bauen sollen,“
hörte Gernot an einem Vormittag den Steuermann brummen, „dann
wären wir schneller da!“ Doch die Langeweile der ereignislosen Reise
ließ alle Eindrücke verschwimmen, die Geschwindigkeit des Schiffs
spielte für die Passagiere kaum noch eine Rolle.
Am zehnten Tag kam Sturm auf. Der Levante blies heftig, und wenn sie
nicht an die kalabrische Küste gedrückt werden wollten, musste die
Sambuke mit immer kürzeren Wenden der Windgewalt trotzen, was immer wieder dazu führte, dass sie der Balkanküste sehr nahe kamen. Die
Matrosen waren vom ständigen Wenden ermüdet, die Rahsegel an
Haupt- und Besanmast standen unter vollem Winddruck, zum Sturm
kam peitschender Regen, der alle durchnässte. Und alle, ob Venezianer
oder Thüringer, Ritter oder Knechte, mussten sich am Ausschöpfen des
Schiffs beteiligen, was vor allem die Herren und Landgraf Heinrich erzürnte, aber nur so war die Fahrt fortzusetzen – und im Windschatten
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der Küste Schutz zu suchen, kam für keinen in Frage. Zu Sturm und Regen gesellte sich Blitz und Donner. Lichtexplosion folgte auf Lichtexplosion, krachender Donner auf krachenden Donner.
Als ein dumpfer Schlag erklang, war das für die Mannschaft und die
Passagiere völlig ohne Bedeutung, bis der Steuermann plötzlich schrie:
„Piraten!“ Zwar hörten nur die Nächststehenden den Schrei, gaben ihn
aber weiter, so dass sich alle an Bord schnell der Gefahr bewusst wurden, aber zu spät: Sonnenverbrannte Gestalten, die sich an Enterhaken
über die Bordwand zogen, stürzten sich, den Krummsäbel schwingend,
ein Messer quer zwischen den Zähnen, auf die Menschen an Bord, die
sich nur mit ihren Schöpfkellen, Tauenden oder Baumniederholern verteidigen konnten. Der Kampf war kurz: Mannschaft, Kapitän, die venezianischen Knechte, der Kaufmann, Heinrich und Genot wurden an Händen und Füßen gebunden und an die Bordwand gefesselt, so dass sie
zwar schöpfen, aber sich nicht mehr wehren konnten, als plötzlich aus
der Kajüte der gerüstete Johanniter mit seinen vier Knechten stürmte
und die Piraten angriff. Die Überraschung verwirrte die Piraten, die den
Schwerthieben der wild um sich Schlagenden nichts entgegenzusetzen
hatten und sich immer weiter nach Luv zurückzogen, wo ihr kleines
Boot, mit dem sie sich angeschlichen hatten, festgemacht war. Aber bevor sie über Bord gingen, erledigte der Sturm ihr Werk: Der Kreuzritter
verfehlte in einer plötzlichen Orkanböe wieder einmal einen Piraten,
sein Schwert verfing sich in dem Tau, mit dem Gernot und Heinrich gefesselt waren, durchschnitt es und blieb in der Bordwand stecken.
Durch das plötzliche Bremsen seines Hiebes stürzte der Johanniter und
lag schwertlos im eingedrungenen Wasser. Diesen Moment nutzte einer der Piraten und hieb ihm mit seinem Krummsäbel mit einem Schlag
erst den Schwertarm, dann mit einem zweiten den Kopf ab. Jetzt brachen die anderen über die Johanniterknechte herein. In kürzester Zeit
waren sie besiegt, getötet und über Bord geworfen. Während des
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Kampfes war das Rahsegel am Hauptmast vom Sturm zerfetzt worden,
aber unter der Besanrah lief das Schiff unter dem Wind zur Küste, und
als sie aus dem Sturm heraus in den Windschutz der Küste kamen, zielte
der Pirat am Steuerruder auf eine Bucht, die hinter Vorbergen und Klippen fast verborgen war. Die gespenstische Ruhe an Bord, die eingekehrt
war, nachdem das Heulen des Sturmes und das Tosen des Gewitters
vorbei war, enthüllte, wie es um die Sambuke stand: das Schiff war unversehrt, der Kaufmann und Landgraf Heinrich waren verletzt, aber nur
leicht; die Knechte des Kaufmanns und Genot waren unverletzt, weil
man sie geschont hatte, damit sie weiter schöpfen konnten. Als Heinrich sich mühsam aufrappelte, um gleich wieder an die Bordwand gebunden zu werden, sagte Gernot zu ihm: „Für uns ist es doch egal, wer
gesiegt hat, wir wollen doch nur nach Hause! Ich hole Eure Waffen und
die Rüstung, und dann werden wir sehen, was geschieht!“ Heinrich
nickte nur und Gernot stieg, von den Piraten, die sich um das Tauwerk
kümmerten, unbehelligt in die Kajüte hinauf. Als er das Kettenhemd,
Schwert, Helm und Wappenmantel sah, wusste er, dass er das nicht auf
einmal tragen konnte und streifte sich deshalb Hemd, Helm und Mantel
über. Als er so gewandet aus der Kabine trat, brüllte der Anführer der
Piraten, der am Steuer stand, lachend: „Was haben wir denn da noch
für einen seltsamen Vogel? Der wird uns viel Lösegeld einbringen. Und
dabei wollten wir doch nur das Geld für die Galeeren - umso besser,
Männer, ab jetzt ist genug Geld da für ein Fest an jedem Tag!“ Während
die Piraten jubelten, schaute Gernot zu Heinrich, der ihn anstarrte und
dann nickte.
In der Bucht angekommen, wurde das Schiff entladen, der Kaufmann
wurde in Ketten gelegt und in ein kleines Boot verfrachtet, das ihn nach
Venedig bringen sollte, damit der Rat der Stadt das Kupfer zurückkaufen
könnte; die Knechte und der vermeintliche Diener Heinrich mussten mit
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an Bord – als Ruderknechte, wenn es nötig würde. Gernot wurde gefesselt an Land gebracht und in diesen Kerker verschleppt, in dem er
seitdem saß; ein Bote mit Lösegeldforderungen war auf dem Weg nach
Erfurt!
Wenn Landgraf Heinrich viel Glück hatte, kam er überhaupt nach Hause
zurück, aber sicher nicht vor dem Boten. Und was geschehen würde,
wenn tatsächlich Lösegeld bezahlt würde und dann käme er, Gernot,
anstelle von Heinrich nach Erfurt – und Heinrich selbst wäre nicht da,
um zu erklären, was geschehen war… „Wie kann man nur so ein Esel
sein – ich hätte das ganze Zeug liegen lassen sollen, statt den treusorgenden Diener zu spielen!“
Er richtete sich mühsam auf und schleppte sich zu der kleinen Schießscharte, die seinen einzigen Ausblick nach draußen möglich machte.
Wie immer – kahle Felsen, das Meer, mal schwarz, mal blau, der Himmel über der Bucht, selbst jetzt im Spätherbst meist blau; irgendwo
schien fast immer die Sonne, aber er sah sie eigentlich nie; offensichtlich zeigte die Öffnung ziemlich genau nach Norden. Gedankenverloren
sah er hinaus, ohne wirklich etwas zu sehen. Das Bild hatte sich in den
letzten Wochen so eingeprägt, dass er es sicher niemals mehr vergessen
würde.
Andererseits musste er zugeben, dass es Schlimmeres gab als Gefangenschaft bei Piraten, die auf Lösegeld hofften: er wurde nicht allzu
schlecht behandelt, denn eine tote Geisel bringt nichts mehr ein, er erhielt ausreichend Essen und Wasser, fing an, in der beschäftigungslosen
Zeit alle möglichen Rätsel zu erfinden oder die heimischen Methoden
der Feldarbeit und des Erzabbaus im Kopf zu verbessern, versuchte, beweglich zu bleiben, nur die Kälte, die immer schärfer wurde und die
Nässe des Gemäuers setzten ihm sehr zu. Sogar eine Art Zeitrechnung
konnte er machen, denn die Piraten waren alle sieben Tage so besoffen,
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dass sie ihn nicht versorgten; damit konnte er zählen, wie viele Wochen
er wohl schon hier saß, nicht ganz genau, denn am Anfang hatte er den
Rhythmus noch nicht verstanden, aber es mussten sieben oder acht
Wochen her sein, seit er gefangen genommen worden war…
Was war das? Eine Bewegung in seinem Gesichtsfeld ließ ihn aufmerksam werden. Das war nicht das Piratenboot, das hatte er oft genug gesehen in diesen Wochen, meist vollbeladen zurückkehrend und manches Mal mit einem erbeuteten Schiff. Diesmal sah er nur eine Mastspitze, an der der Wimpel der genuesischen Flotte flatterte. Und dann
erfüllte Lärm die sonst so ruhige Bucht: Geschrei und dumpfe Schläge
wechselten sich mit Kommandos ab, es flackerte, als wenn ein Teil der
Burg brennen würde, und mit einem Krachen flog die Tür seines Kerkers
auf: „Gernot von Steigerthal? Oder auch Heinrich, Markgraf von Meißen, Landgraf zu Thüringen?“ Vor ihm stand ein Mann in Kettenhemd
mit Armschienen und Helm, dessen Visier er eben hochklappte. „Ich bin
Bartolomeo Sforza, Kommandant der genuesischen Brigantine ’La Spezia‘ und soll Euch hier rausholen!“ Ein Grinsen ging über das Gesicht des
Genuesers:“Das hättet Ihr nicht erwartet, was?“ Gernot blieb wie erstarrt an der Schiesscharte stehen, den Blick auf Bartolomeo gerichtet.
„Euer Herr, Heinrich, ist ja als Ruderknecht nach Venedig gekommen
und konnte im Gewimmel des Hafens fliehen. Auf dem Weg nach Mailand traf er meinen Bruder, Gabriele Sforza, den er als Käufer thüringischen Silbers und als Waffenlieferant gut kannte und erzählte ihm, was
geschehen war. Da Heinrich Gabriele einmal aus einem Hinterhalt in eurem Gebirge, Herz oder Harz oder so, herausgehauen hatte, war es für
meinen Bruder eine Selbstverständlichkeit, Euch und die ehrwürdige
Rüstung hier ebenfalls herauszuhauen. Also hat er mich hierher geschickt, und es gelang uns, die Piraten nach ihrem eigenen Muster zu
überraschen, als sie nämlich alle besoffen waren. Deshalb gab es nur
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wenig Gegenwehr, wir haben genügend Beute, um die Fahrt zu bezahlen, die Piraten verkaufen wir bei Pescara an Sklavenhändler und Euch
bringen wir nach Ancona, von wo aus Ihr relativ sicher nach Thüringen
kommen könnt.“
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Steigerthal, Thüringen, Frühjahr 1316
„Hat dich die Vorstellung, Cuno bald wegzugeben zu müssen, so erschreckt, dass du nicht einmal dein vorzügliches Essen kosten kannst?“
fragte Gernot. „Ja“, war die einsilbige Antwort, „Weiß er schon davon?“
„Seit vorhin.“ Die Gedanken wirbelten in Adas Kopf. Sie kannte natürlich
all die Geschichten vom Kreuzzug, der Befreiung Gernots und auch, wie
dieser in Erfurt empfangen wurde, als er die Rüstung zurückbrachte und
sie seinem unterdessen unversehrt heimgekehrten Herren übergeben
konnte: Heinrich war so bewegt, dass er etwas tat, was seiner Umgebung und dem ganzen thüringischen Adel Gesprächsstoff für Jahre gab:
Er bat Gernot, niederzuknien, schlug ihn zum Ritter und belehnte ihn
mit dem Weiler Steigerthal, der nach dem Tod des alten Ritters an Heinrich zurückgefallen war, worauf ihm Gernot die Treue schwor. Die anwesenden Adligen murrten und klagten, dass Gernot schließlich eigentlich leibeigen sei und nie von ihnen als gleichwertig aufgenommen
würde, aber Heinrich blieb stur, auch wenn er versuchte den anderen
Rittern klar zu machen, dass das Lehen, das nur aus dem Weiler Steigerthal und das ihn umgebende Tal bestand, für keinen der anderen
Adligen einen Verlust bedeuten würde. Für diese Ritter ging es nicht um
weltliche Güter, sondern um Ehre, Reinheit des Blutes und Traditionen.
Gernot aber wusste, dass der Name des Lehens – der ja jetzt auch sein
Name war – eine tiefere Bedeutung hatte: An den Berghängen des Tals
gab es einzelne Aufbrüche und Stollen, in denen die Dorfbewohner in
ihrer kargen Freizeit Gestein ausbrachen, das sie mit Schmiedehämmern zerschlugen und in Holzkohlefeuern erhitzten, so dass zumindest
meistens eine kleine Pfütze geschmolzenes Silber übrigblieb. Der verstorbene Ritter von Steigerthal hatte schon einen Teil der wenigen Bauern aus dem Weiler von der Leibeigenhaft befreit. Sie gaben daraufhin
den größten Teil der Landwirtschaft auf den wenig ergiebigen Böden
auf und versuchten, ihren Lebensunterhalt mit dem Berggewerbe zu
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verdienen. Da sie bald Hilfskräfte beschäftigten, um das Gestein zu bearbeiten und selber in die Schächte stiegen, nannten sich die Bergleute
Steiger. Dadurch waren die Ritter von Steigerthal wohlhabend geworden und deswegen war das Lehen keineswegs so unbedeutend, wie
Heinrich es darstellte. Dadurch würden Gernot und seine Familie sich
vieles leisten können, wovon andere Ritter nicht einmal träumten, aber
das Ansehen bei den benachbarten Adligen würde nicht wachsen, dafür
der Neid, die Verdächtigungen und die Bosheiten, wie das Niederbrennen des Schachtturms und der Sicherungskammer gestern wieder deutlich gezeigt hatte. Gernots Vater, Gerfried von Steigerthal, hatte allen
Bauern, die Steiger werden wollten, die Freiheit gegeben und damit den
Ertrag des Bergbaus schnell ausgeweitet. Da die Steiger und ihre Arbeitskräfte nun ihre Nahrung und alle Dinge des täglichen Bedarfs kaufen mussten, aber auch kaufen konnten, hatte sich neben den Bergleuten eine ganze Gruppe von Handwerkern wie Bäcker, Metzger, Schreiner, Weber und Händler im Dorf angesiedelt, das so schnell wuchs und
wohlhabender wurde. Es war Gerfried gelungen sich über Jahrzehnte
aus den Händeln des Adels herauszuhalten und er hatte mit seiner Frau,
der Enkelin eines lothringischen Ritters aus dem Gefolge Jean de Beaumonts, eine glückliche Ehe geführt, die nur dadurch beeinträchtigt war,
dass von ihren Kindern nur Gernot überlebte. Gerade als der auf der
Burg seines Großvaters seine Knappenzeit beendet hatte und vom französischen König zum Ritter geschlagen worden war, erreichte ihn die
Nachricht, dass seine beiden Eltern im Sterben lagen. Er kehrte noch so
rechtzeitig nach Steigerthal zurück, dass er von ihnen Abschied nehmen
konnte, nicht ohne seinem Vater Gerfried versprochen zu haben, dass
er sich dem friedlichen Berggewerbe und nicht dem Kriegshandwerk
widmen würde.
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Gernot „der Kleine“, der älteste Sohn, hatte in Erfurt am Hof des Landgrafen das Ritterhandwerk gelernt, und zwar erfolgreich, er war im Turnier, im Tjost und auf der Jagd kaum zu schlagen, aber Gernot war schon
als Kind besessen davon gewesen, ein richtiger Ritter zu werden. Cuno
dagegen war ein Träumer, ihr Nesthäkchen, und von vielen Ideen begeistert, die zwar im Hause Steigerthal, vielleicht auch noch im Hause
Hohnstein vorgebracht wurden, aber in sonst keinem ritterlichen Haus:
welches Kind käme zum Beispiel von sich aus auf die Idee, vor dem Essen Hände waschen zu müssen – davon, dass er schnell etwas verstecken musste, wusste sie ja nichts. Er war fast dreizehn. Ein verspieltes,
liebenswertes Kind mit dicken Backen und blonden Locken, die sie an
ihre eigene Kindheitszeit erinnerten, obwohl es eigentlich sehr ungewöhnlich war, dass sie selbst tatsächlich blond und blauäugig war, war
doch ihr Vater eher ein dunkler Typ. Ihre Mutter aus Dänemark war
zwar auch hellhäutig, aber ihre Großmutter väterlicherseits, die Landgraf Heinrich aus Zypern mitgebracht hatte, als er nach dem Sieg über
die Grafen sich wieder König Ludwig von Franzreich angeschlossen
hatte, war schwarzhaarig, mit dunklem Teint und liebenswert wie keine
andere Frau, die sie kannte. Was sie über ihren leiblichen Vater von ihr
geerbt hatte, war die Fähigkeit, andere Menschen schnell einzuschätzen und ihre Gefühlslage zu erkennen, so dass sie sehr selten enttäuscht
wurde, wenn sie versuchte etwas zu verstehen oder ihre Ideen durchzusetzen. Insgeheim lächelte sie, als sie daran dachte, wie sie die Einrichtung von Bädern auf Burg Steigerthal durchgesetzt hatte: Gernot
hatte festgestellt, dass sie anders roch, als bei ihrer Ankunft auf der
Burg oder im Haus ihres Vaters. Seitdem genoss sie das tägliche Bad!
Diesmal aber wusste sie nicht, was sie durch setzten wollte. Das Angebot Hohnsteins war ehrenwert und würde der Familie insgesamt sicher
weiterhelfen. Aber Cuno war doch noch so klein! Und er hatte Angst –
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das war klar, auch wenn sie ihn selbst noch nicht gesehen und gesprochen hatte, aber diese überdrehte Fröhlichkeit, die er zur Schau stellte,
als er die Treppe hinaufgerannt war, die kannte sie gut. Immer, wenn
er sich fürchtete, gab er vor, bester Dinge zu sein.
Cuno kam jetzt wieder die Treppe herabgestürmt und nahm seinen
Platz neben der Mutter ein. Als er sah, dass auf ihrer Platte nichts lag,
griff er sich die nächstbeste Schüssel, nahm ein gegrilltes Hühnchen, mit
Äpfeln und Rosinen gefüllt, legte Ada einen Hühnchenschenkel vor,
nahm sich den anderen und biss herzhaft hinein. Ada nagte an ihrem
Stück herum, während Cuno unter der grinsenden Beobachtung des
ganzen Tisches, eigentlich des ganzen Saales, nach Wildschwein und
Brot griff. „Ich bin so gerannt“, sagte er, als der Mund kurz leer war, „ich
glaube, ich könnte ein ganzes Schwein essen!“ und biss wieder zu.
Als er seinen ersten Hunger ausreichend gestillt hatte, beugte er sich
vor, blinzelte seinem Vater und seinem Patenonkel zu: „Habe alles erledigt“, und widmete sich dem Rest seines Fleischstückes. „Dann können
wir ja zu Werkgehen!“ antwortete Hohnstein lächelnd und wandte sich
an den Alten: “Könnt Ihr das Gesinde vom Zwinger fernhalten, so dass
niemand das Holzkohlefeuer und uns sehen kann?“ „ Leute“, wandte
sich Gernot der Ältere von Steigerthal an alle im Saal: „Ihr wisst, was
gestern Abend passiert ist. Unser hoher Gast und ich werden heute
Abend versuchen, eine Gegenwehr zu probieren, die den nächsten Angriff zumindest erschweren wird. Deshalb ein klarer Befehl: Alle, die
heute Nacht nicht in der Burg bleiben, verlassen jetzt die Mauern. Die
Wachtposten zu mir. Auf euer Wohl“, und er leerte seinen Pokal, „ und
gute Nacht!“ Die für die Nachtwache eingeteilten Männer näherten sich
dem erhöhten Tisch, erhielten ihre Instruktionen, einschließlich einer
geänderten Parole, alle anderen leerten ihre Trinkgefäße, standen auf
und räumten den Saal. Die Mägde eilten, alle Überreste des Abendessens wegzuräumen, da viele von ihnen drüben im Dorf wohnten und die
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Nacht nicht hier in der Burg verbringen wollten. Hohnstein und die Familie erhoben sich und verließen den Saal nicht über die Treppe nach
oben zu den Wohnräumen, sondern durch das Tor hinaus in den Hofraum. „Was geht hier vor?“ fragte Ada, die zwar die Ereignisse kannte,
nicht aber die Idee des Lösungsversuchs. „Mutter“, Cuno war der
Schnellste, „der Landgraf braucht das Silber, das die Banditen uns gestohlen haben. Und da wir es so schnell nicht aus dem Berg holen können, müssen wir etwas anderes versuchen!“ „Cuno hat recht“, gab
Hohnstein zu. „Wir müssen in dieser Notlage mit dem Möglichen auskommen, und deswegen, Burschen, holt, was ihr zu holen habt!“ Der
Kleine und Cuno stoben davon, während Graf Hohnstein Ada seinen
Arm anbot und sie durch den Lichthof in den Zwinger führte.
Der Köhler hatte in der Tat einen Berg Holzkohle herbeigebracht und
ihn in der Ausbuchtung der südlichen Bastei der Wallmauer abgelegt.
Der Alte bereitete mit wenig Zunder, Kienspan und kleinen Kohlestücken das Feuer vor und zündete es an. Während die Flamme Kraft bekam, eilten alle, die nicht bleiben wollten oder sollten, durch den Zwinger hindurch zum Tor, und sowie die Wachtposten nachgezählt hatten,
dass alle Nichtbewohner die Burg verlassen hatten, schlossen sie das
Tor und hoben die Zugbrücke über dem Wallgraben, nicht ohne den Gehenden zuzuraunen, dass man so etwas wie eine neue Kanone ausprobieren wolle.
Ada stand wortlos dabei und als ihre beiden Jungen wieder da waren,
ahnte sie, was beabsichtigt war: „Ihr wollt nicht wirklich die ehrlichen
thüringischen Thaler verschneiden?“ fragte sie empört. „Von Wollen
keine Spur“, übernahm Hohnstein die Antwort. „Aber wenn wir bis September keine Thaler im Wert von 150 Pfund gemünzt haben, ist die
Herrschaft Friedrichs von Thüringen Eures Vaters, sehr in Gefahr; seit
Generationen bemühen wir Hohnsteins uns, die Landgrafschaft zu finanzieren. Wenn also wirklich nicht genügend Silber da ist, müssen wir
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aus dem bisschen Silber eben mehr Silber machen, wenn wir verhindern
wollen, dass in Thüringen wieder der Kampf um die Herrschaft ausbricht. Aber“, und damit kam er dem Einwand Adas zuvor, „wir kennzeichnen diese Münzen, so dass wir sie im Lauf der Jahre wieder durch
wirklichen Silbermünzen ersetzten können. Dafür allerdings“ und er
schaute Gernot und Cuno an, „dafür müssen wir allerdings lernen, wie
wir die Silberausbeute erhöhen.“ „Es ist also ganz wichtig, dass ich nach
Böhmen zu dem Herrn Boleslav gehe? Den Nachnamen kann ich mir
nicht merken, aber ich habe ihn ja heute auch das erste Mal gehört“
„Ja, Cuno. Es geht natürlich um dich und deine Familie, aber es geht
auch um viel mehr – deswegen habe ich dir ja auch die Antwort offen
gelassen und dir Zeit zum Überlegen gegeben. Aber jetzt: zur Sache!
Kleiner, kannst du die Glut noch etwas anfachen? Hier, nimm den Sack,
in dem die Holzkohle gebracht wurde und fächle. Und du, Cuno, lauf
hinein und hole uns die Schmelztiegel.“ Als Cuno zurückkam, glühte die
Kohle tiefrot. Der Alte nahm ein Stück Silber aus der Tasche: „Das ist
genau ein Lot, also der sechzehnte Teil einer Kölner Mark, der normalerweise für einen Thüringer Thaler gebraucht wird,“ und gab ihn in den
Tiegel, den der Kleine schon sicher auf der Glut platziert hatte. Nach
wenigen Minuten begann das Silberstück zu schmelzen. „Jetzt beobachtet genau, wie es aussieht und wie es sich bewegt, und du Gernot, lege
die bleierne Handrohrkugel ebenfalls in die Pfanne.“ Gespannt beobachteten fünf Augenpaare, was in der irdenen Pfanne geschah: auch
das Blei fing an zu schmelzen und der Alte begann, mit Hilfe eines Holzscheits die beiden flüssigen Metalle zu vermischen. Zuerst sank das Blei
unter das Silber, aber mit einigem Rühren entstand eine Mischung, die
reinem Silber sehr ähnlich sah. Der Ritter von Steigerthal nahm die
Pfanne und goss den Inhalt in den anderen Schmelztiegel, den Cuno in
sicherer Entfernung von der Glut abgestellt hatte. Das Metall zischte,
Funken sprühten, stinkender Dampf stieg auf.
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Als Hohnstein vorsichtig ein Birkenblatt auf das Metall legte, schrumpelte es zwar zusammen, entzündete sich aber nicht. Daraufhin zog sich
der Alte einen Falknerhandschuh über, hob den Tiegel vorsichtig auf
und trat unter eine Fackel, die den Durchgang vom Lichthof zum Zwinger beleuchtete: „Das sieht jeder Fachmann, dass das kein reines Silber
ist. Wie schwer,“ wandte er sich an seinen ältesten Sohn „war die Handrohrkugel?“ „Etwa drei Lot.“ „Dann fache die Glut nochmal an – wir
trennen Blei und Silber und dann nehmen wir nur die Hälfte vom Blei!“
Wie beim ersten Versuch sank das geschmolzene Blei unter das geschmolzene Silber, und diesmal goss Gernot vorsichtig Silber aus der
Pfanne in den anderen Tiegel. „Halt die Pfanne gut fest!“ flüsterte er
dem Kleinen zu und benutzte seinen Holzscheit von vorhin, um etwa die
Hälfte des flüssigen Bleis aus der Pfanne zu schieben. „Jetzt das Silber
wieder dazu“ und warf Cuno den Handschuh hinüber. Der nahm vorsichtig das immer noch sehr heiße Silber auf und gab es in die Pfanne.
Wieder wurden die beiden Metalle miteinander verrührt, und als der
Alte diesmal das neue Gemisch in den Tiegel gab, sahen alle, dass es
jetzt aussah wie reines Silber. Der Alte richtete sich auf und schaute
Hohnstein und Ada an: „Wenn das beim Schlagen der Münzen keine
Fehlstellen zeigt, dann ist Euer Problem und das des Landgrafen gelöst!
Meines – unseres, nämlich das der Ehre und der Wahrheit, bleibt bestehen, aber Ihr beschriebt ja vorhin, dass ohne die Münzen die Herrschaft
gefährdet sei und Bürgerkrieg drohe, und da gäbe ich eher meine Ehre,
die ja sowieso keiner ernst nimmt, her, um das zu verhindern!“
Sprach‘s, wandte sich abrupt um und ging durch den Lichthof zurück in
den Saal. Ada lief ihm nach und schloss die Tür hinter sich.
„Nun, ihr Burschen, Euer Vater hat schon Recht: Betrug sollte nicht sein.
Und Betrug lohnt sich nicht. Aber in diesem Fall seid nicht Ihr und der
Vater diejenigen, die etwas Unrechtes tun, sondern ich werde es zu lassen, indem ich einen meiner Leute mit dem Prägestempel herschicke,
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wenn wir die Mischung beim Münzenschlagen ausprobiert haben, und
er wird genau die benötigte Menge Blei und einige vertrauenswürdige
Bewaffnete mitbringen. Ihr müsst nur dafür sorgen, dass der Schachtturm wieder aufgebaut wird, Eure Steiger fleißig arbeiten und die
Knechte und die Bauern an den Wochenenden eine Sicherungskammer
errichten, die größer und stärker sein muss als die bisherige! Und
schaut, dass ihr einen Schmelzofen baut, der mehr Hitze entwickelt als
der alte, da hat es immer ewig gedauert, bis das Silber ausgeschmolzen
war! So, und du, Cuno, überlegst bis zum Herbst, ob du im Frühjahr zu
Boleslav Przsymel als Knappe willst, damit du dich noch vorbereiten
kannst und uns keine Schande machst. Jetzt lasst uns hineingehen, euer
Vater wird sich schon beruhigen, wenn ihr ihm berichtet, was ich gerade
gesagt habe!“
Der lange Weg, Frühjahr 1317
Als Cuno und sein Bruder Gernot in Steigerthal aufbrachen, meinte es
das Wetter gut mit ihnen: Die Wege waren trocken, der leichte Wind
umspielte die gerüsteten Gestalten, die Sonne schien gerade so, dass es
angenehm war zu reiten.
Cuno - nur sein Vater nannte ihn jetzt Cuonrad – hatte lange darüber
nachgegrübelt, ob er es sich zutraute, nach Iglau zu gehen und viele
Jahre weit weg von Mutter und Vater zu verbringen. Er hatte mit dem
alten Gernot gesprochen, und mit seinem Bruder, er hatte viele Zeit mit
seiner Mutter Ada verbracht und auch seinen Spielkameraden in Burg
und Dorf erzählt, was ihm möglicherweise bevorstand.
Er war jetzt dreizehn Jahre alt, fast das Alter, in dem man als Knappe
auf eine befreundete Burg ging, um das Ritterhandwerk – oder wie
seine Mutter sagte, das Kriegshandwerk – zu lernen. Er war relativ groß
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für sein Alter, das viele Trainieren mit den Stallburschen und seinem
Bruder hatte Schulter und Brustkorb ein wenig geweitet, das Blondhaar
des Vaters hatte er zu seinem Leidwesen als Lockenkopf geerbt, aber
dafür die schwarzen Augen seiner zypriotischen Urgroßmutter – ein ansehnliches Kerlchen, wie Ada ab und an scherzte. All seine Kameraden
beneideten ihn um die Möglichkeit, an einem andern Ort weiterzuleben, auch wenn keiner seine Angst davor zugegeben hätte. Cuno hatte
versucht, sein Reiten, Schwimmen und Bogenschießen zu verbessern
und seine Manieren zu vervollkommnen. Seine Mutter, Gernot und
selbst sein Vater hatten das letzte Jahr viel Zeit dafür verwendet, auch
Cunos Lesen, Schreiben und Singen zu vervollkommnen, wobei ihm das
Singen am meisten Spaß machte – vielleicht weil er es bei Ada, seiner
Mutter, lernte?
Auf jeden Fall war er jetzt gerüstet für die Knappenzeit in Iglau. Sein
Vater hatte ihm mit vielen Geschichten über die Familie der Steigerthals
und des Bergbaus klargemacht, wie wichtig es wäre, wenn er, Cuno, als
Zweitgeborener, der das Lehen ja doch nicht übernehmen könne, Ritterschaft und Bergwerkskunst verbinden könne. Wichtig für Steigerthal,
wichtig für Thüringen und die Familie seiner Mutter, wichtig aber auch
für das Reich, in dem die Kämpfe um die Vorherrschaft einzelner Familiengeschlechter mehr Opfer forderten als die Unbilden des Wetters
und der daraus folgende Hunger. Sein Pate, Graf Cuonrad von Hohnstein, hatte sich bei seinen zahlreichen Besuchen bemüht, den einen
oder den anderen Aspekt genauer zu beleuchten.
Ohne das Silber aus Steigerthal und den Nachbartälern würde das Geschlecht der Wettiner kaum in der Lage sein, die Freiheit der Landgrafschaft Thüringen und seiner Bewohner zu sichern; das Fürstentum
würde an die Luxemburger oder die Welfen fallen, Steuern in unermesslicher Höhe zur Finanzierung der Kriege um den Erhalt der Macht im
Deutschen Reich würden die Leute verarmen lassen. Ohne das Silber
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aus Thüringen – und aus Böhmen – wären alle Fürsten auf die Kredite
der jüdischen Geldhäuser angewiesen, die schon jetzt ihre Zinssätze
nach Belieben festlegten… Auch was „Zinssätze“ bedeutete, hatte Cuno
gelernt!
Und aus dem Abend, als Hohnstein unter widerwilliger Mitarbeit des
Ritters Steigerthal ausprobiert hatte, wieweit man reines Silber „verschneiden“, also mit anderen Metallen verdünnen konnte, hatte er einiges zu lernen gehabt:
Da war die Frage der Ehre und der Wahrheit, da war aber auch die
Frage, wie man Frieden am besten sichern könne; da war die Frage, wie
sich die Ergiebigkeit der Schächte erhöhen ließe; da war die Frage, wie
man aus den gebrochenen Gesteinsbrocken auch noch die letzten Reste
an Edelmetall herauslösen könne; und dann war die entscheidende
Frage, was er, Cuno, dazu beitragen könne und müsse.
All das ging Cuno durch den Kopf, als er den Händedruck seines Vaters
und die letzte tränenreiche Umarmung seiner Mutter noch direkt
spürte. Sein Bruder ritt voraus, den wohlbekannten Weg nach Nordhausen, wo sich noch einige seiner Freunde aus der Knappenzeit am Hof
zur Reisegesellschaft gesellen wollten. Dem Abt des Klosters Himmelgarten war noch eine Nachricht zu überbringen und ein wertvoller
Kelch, damit die Mönche für das Heil der Reisenden beten würden.
Die beiden Knechte aus Steigerthal, kaum älter als Cuno, die sich freiwillig der Reise angeschlossen hatten, um etwas von der Welt zu sehen,
bildeten mit den beiden Packpferden die Nachhut. Ein fröhlicher Trompetenstoß aus der Wachstube, ein letztes Winken, die bis zum letzten
Haus des Dorfes neben den Reitern herlaufende Schar der Dorfkinder –
dann begann das Abenteuer.
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Nach ereignislosem Ritt passierten sie gegen Abend das schwere Tor
des Klosters Himmelgarten und wurden am südlichen Rand der Klosteranlage zu den Unterkünften für die edlen Reisenden gebracht. Die
Knechte gingen die Pferde versorgen und bezogen in der Nähe der Stallungen ihr Quartier. Gernot traf vor dem Haus der Gäste schon seine
Freunde aus alten Zeiten und begrüßte sie herzlich, nachdem sie Abt
Ono, der gerade erst wenige Wochen das Kloster leitete, ihre Aufwartung gemacht hatten.
Heinrich von Hohnstein, der Sohn des reichsgräflichen Münzmeisters,
der Cunos Pate war, hatte sich schon seit Monaten auf die Reise vorbereitet, denn auch er wollte von Boleslav Přemisl so viel wie möglich
über die Gewinnung von Silber lernen; aber sein Vater hatte ihm aufgetragen, sich zurückzuhalten und keineswegs als Konkurrent zu erscheinen. Cuno kam aus einem kleinen Rittergeschlecht, der würde für Boleslav harmlos sein; aber der Sohn und Erbe des wichtigsten Beraters
des benachbarten Fürstentums, eben der Landgrafschaft Thüringen,
war schon eine andere Gefahr für die Macht und den Reichtum der
Přemisliden. Walter war, wie sein Vater, ein hochgewachsener, schlanker Mann mit dunkelblonden Haaren, meergrünen Augen – die ihm
noch manche Geschichte einbringen würden –und einem ungebrochenen Optimismus, der auch an einem völlig regnerischen Tag durchnässt
vom Pferd steigen, dem braven Gaul eine Handvoll Futter hinhalten,
sich das Wasser abklopfen würde und dann feststellte, dass es nicht geschneit habe.
Ganz anders der Knappenbruder Bodo von Schwarzburg. Er hieß so, wie
er aussah, dunkle, stechende Augen unter einer flachen Stirn, die von
einem schwarzen Haarschopf überstülpt wurde; sein Gemüt war eher
umwölkt, was natürlich mit darin begründet war, dass er der legitime
Sohn und Erbe seines Vaters war, der Bodos Mutter allerdings nie geliebt und nur unter Zwang in der Hochzeitsnacht geschwängert und sich
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dann wieder dem nächtlichen Vergnügen mit seinen Mägden gewidmet
hatte. Trotzdem war er ein Schwarzburg, Spross eines der ältesten und
bedeutendsten Geschlechter Thüringens, und dass er nicht nur Gernot
von Steigerthals Freund geblieben war, sondern ihn auch auf dieser
Reise begleiten wollte, zeigte, dass er viel weniger dünkelhaft war, als
es den Anschein hatte. Sein Bruder Günter von Schwarzburg hatte, was
das Erbe anging, das schlechtere Ende erwischt: als Sohn einer der
Mägde, die der Vater nach dem Tod seiner Ehefrau geehelicht und damit Günter legitimiert hatte, war er nach glücklicher Kindheit an seinen
Bruder herangeführt worden, dem zu dienen sein Lebenszweck sein
sollte. Aber er war ganz das helle Gegenteilseines Bruders: Blond, blauäugig, mit offenem Gesichtsausdruck und der athletischen Figur des Vaters, war er eher das Idealbild eines Ritters als Bodo und stand im Ruf
eines begnadeten Kriegers. Er sollte diesen zwar nach Meinung des Vaters auf dieser Reise begleiten und beschützen, aber er wäre auch von
sich aus auf jedes Abendteuer, das ihn aus der Reichweite der heimischen Burg bringen würde, eingestiegen.
Der vierte Knappenbruder, Tasso von Weinbergen, war dagegen eher
der verträumte Typ. Am Hof in Erfurt hatte er jeden Sängerwettbewerb
gewonnen und fast jedes Turnier verloren; seine langen dunkelblonden
Locken reichten ihm bis auf die Brust, sein meist umflorter Blick schien
die Gegenwart kaum wahrzunehmen. Gernot fragte sich, warum Tasso
sich ihnen auf dem Weg nach Böhmen angeschlossen habe. Der einzige
Grund schien ihm, das Tasso seinen Minnesang üben und schulen
wollte. Die damit verbundene Möglichkeit, adlige Frauen kennenzulernen, war sicherlich mit eingeplant.
Die Nacht war laut, kurz und sehr weinhaltig. Cuno erlebte zu ersten
Mal das Wiedersehen alter Freunde.
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Als die Sonne über den Kamm des Hügels im Osten gestiegen war, bestiegen sie ihre Pferde, nun eine stattliche Truppe von fünf Rittern,sieben Knechten, und mittendrin Cuno, und machten sich auf den Weg
nach Erfurt.
Für Gernot und die Freunde war es ein Ritt in die alte Zeit der Knappenschaft. Für Cuno war es der Beginn des Neuen, denn er hatte bisher weder Bruder noch Vater nach Erfurt begleiten dürfen. Von Nordhausen
ging es am Hang des Paßbergs über die Windleite nach Süden. Ein Mittagsimbiss beim Herrn der Jechaburg, den sie von früher gut kannten,
ließ sie wieder beschwingter den Weg über den Urbach nehmen, immer
den Übergang der Unstrutt als Ziel, die sie am nächsten Tag an der
Straussfurt überqueren wollten. Dort angekommen, wurde das erste
Nachtlager im Freien bezogen. Die Knechte versorgten die Pferde und
banden sie dann in einem Wäldchen nahe des Lagerplatzes an. Der mitgebrachte Proviant reichte für ein abwechslungsreiches Mahl; geräuchertes und getrocknetes Fleisch, Brot, Speck, Wein; die Unstrutt lieferte das Wasser für Cuno, die Knechte und die Pferde. Die Ritter wollten sich im Lauf der Nacht als Wachen ablösen, wann immer der Wachhabende die Augen nicht mehr aufhalten konnte.
Der Junge hatte schon manche Nacht im Freien verbracht, wenn er Vater und Bruder zur Jagd, nach Hohnstein oder zu anderen Burgen begleitet hatte. Er suchte sich ein Plätzchen in der Nähe das Feuers, rollte
seine Satteldecke zusammen, legte den Kopf darauf, deckte sich mit seinem Mantel zu und war eingeschlafen, bevor die anderen noch ausgetrunken hatten.
Lautes Wiehern, Heulen aus vielen Kehlen und raues Bellen riss ihn aus
dem Schlaf. Günter von Schwarzburg, der Wache hatte, brüllte
„Wölfe!“, riss einen brennenden Ast aus dem Feuer und stürmte zu den
Pferden, die angstvoll auf die Hinterbeine stiegen und laut wieherten.
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Auch die anderen sprangen nun auf und suchten nach brennendem
Holz, um die angreifende Meute abzuwehren. Cuno entzündete einen
trockenen Zweig und lief hinüber in das Wäldchen, wo er eher die Szene
beleuchtete als die Pferde verteidigte: Sieben oder acht große, graue
Wölfe versuchten, auf die Rücken der Pferde zu springen, von wo aus
sie dann die Kehlen der stampfenden und steigenden Pferde zerbeißen
konnten. Ein Packpferd lag schon blutend am Boden und die zwei großen Hunde, die ganz offensichtlich zum Rudel gehörten, versuchten,
Stücke herauszureißen. Weniger das Geschrei der Männer als die Flammen versetzten die Angreifer in Angst, die wohl größer war als der Hunger; sie ließen von den Pferden ab und verschwanden im Schatten des
Waldes. „Das war knapp“ sagte Bodo von Schwarzburg zu seinem Bruder, „doch gut, dass wir die Wachen verteilt haben.“ Sie klopften sich
gegenseitig auf die Schultern und widmeten sich dann beruhigend ihren
Gäulen, während die beiden Knechte herauszufinden versuchten, ob
dem verwundeten Packpferd noch zu helfen sei. Und wirklich hatte es
zwar eine große Fleischwunde, aber die würde wieder verheilen und
dazu am Morgen Spitzwegerich suchen, um die Heilung zu beschleunigen. Allerdings würde man die Ladung auf alle andern Pferde verteilen
müssen.
Als Cuno zum Lagerplatz zurückging, fiel sein Blick auf ein Häufchen grau
und beige geflecktes Fell. Als er sich danach bückte, bewegte es sich
und es schaute ihn ein Welpe mit großen dunkelgrauen Augen an.
„Schaut mal, ist der nicht putzig?“ Er nahm ihn am Nacken hoch und
zeigte ihn den Rittern. „Der gehört sicherlich zu dem Rudel, das wir gerade vertrieben haben.“ „Dann lass ihn da, wo du ihn gefunden hast,
vielleicht findet er selbst den Weg oder seine Mutter holt ihn zurück.
Wir wollen wegen dem Vieh doch keinen neuen Angriff riskieren…“
Cuno sah ein, dass Heinrich von Hohnstein recht hatte und legte den
Welpen ins Gras zurück. Gernot, der seinen kleinen Bruder gut genug
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kannte, wusste, wie schwer das Cuno fiel und setzte deswegen hinzu:
„Wenn er morgen früh noch da ist, kannst Du ja immer noch überlegen,
was wir mit ihm machen!
Die wenigen Stunden bis zum Sonnenaufgang nutzten alle bis auf Gernot, der die Wache übernahm, und Cuno, um noch etwas zu schlafen.
Cuno schaute immer wieder vorsichtig in die Richtung des Welpen. Es
wäre doch schön, wenigstens ein Wesen in Böhmen zu haben, das noch
aus der Heimat kam!
Als nach dem Frühstück – Reste des Abendessens und ein frischer
Schluck aus dem Fluss – das Lager abgebrochen wurde, hatten bis auf
die beiden Steigerthals alle den Welpen vergessen. Cuno nahm ihn vor
sich in den Sattel; der Kleine war schon so entkräftet, dass er das Pferd
nicht sehr beunruhigte, obwohl er natürlich so roch wie die nächtlichen
Angreifer. Gernot schaute herüber: „Decke deinen Mantel ein bisschen
über ihn. Sobald wir an einen Bauernhof kommen, musst du versuchen,
etwas Milch zu erwerben, sonst bringst du ihn nicht durch!“
Die Sonne brannte schon früh vom Himmel, so dass Reiter und Pferde
froh waren, als sie nach einigen Stunden bei dem Dorf Vippach in den
dichten Buchenwald kamen, der sich bis zur Residenzstadt Weimar erstreckte. Bei einem kurzen Halt im Dorf machte sich Cuno auf die Suche
nach Milch. Er hatte sich von Gernot einen Heller geliehen und tatsächlich konnte er damit einer Bäuerin einen Krug mit Ziegenmilch abkaufen. Als er ihr erzählte, wofür er die Milch brauchte, gab sie ihm noch
ein Stück Tuch mit und erklärte ihm, wie er damit den Welpen füttern
könnte. Zeit hatte er genug während des Weiterritts, und der Kleine
saugte gierig, was ihm Cuno vor das Maul hielt. Mehr als Flüssigkeit
konnte er aber noch nicht aufnehmen, wie Cuno deutlich erfahren
musste, als das Tier ihm ein Stückchen Brot wieder entgegenspuckte,
das Cuno in Milch getaucht und dem Welpen ins Maul geschoben hatte.
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Der Weg war wenig aufregend, es ging über den weichen Waldboden
im Schatten mit friedlichem Trab weiter und weiter, und schon bald
konnten die Reiter die Silhouette von Weimar, das die fünf Ritter nur zu
gut kannten, erkennen: den wuchtigen Turm der Stadtkirche, noch
übertroffen vom Friedturm der Burg. Es ging am Asbach entlang zum
Gerbertor. Die Wachen fragten nach dem Begehr und als ihnen Antwort
gegeben war, zog die kleine Schar dann durch die Rittergasse zum Zeughaus. Dort empfing Eginhard v. Weimar-Orlamünde, der Zeugmeister
des Landgrafen, von Cuonrad von Hohnstein schon ins Benehm gesetzt,
sie herzlich und wies ihnen entsprechende Schlafplätze zuwies: Cuno
bezog mit dem jungen Eginhard, dem etwa gleichaltrigen Sohn des Grafen, eine Kammer im kleinen Turm des Zeughauses, ein Stockwerk über
der Kemenate. Als er den Welpen mitbrachte, war Eginhard begeistert,
denn er durfte keine Tiere im Haus halten, und wollte alles über den
Kleinen wissen.
Die fünf Ritter bezogen das Gästehaus der Markgrafen von Weimar, die
ja nun auch Landgrafen von Thüringen waren; die Knechte entluden die
Pferde, verbanden das verletzte noch einmal mit zerstampftem Spitzwegerich und verzogen sich dann mit den anderen Stallburschen in den
Gesindebereich.
Der Abend war noch einmal die Gelegenheit, Speis und Trank zu würdigen und dem Gastgeber und seiner Gemahlin mit manch frohem Lied
zu danken. Eginhard und Cuno gaben vor, müde zu sein und schlichen
mit Milch und einigen Leckereien nach oben, weil sie fürchteten, der
Welpe würde sich bemerkbar machen. „Du musst ihn Wolf nennen“,
beharrte Eginhard, nachdem sie festgestellt hatten, dass es ein Männchen war. „Stell dir vor, ihr seid unterwegs, du fühlst dich unsicher, rufst
‚Wolf‘ und er kommt mit Geheul in deine Richtung – da bist du doch
gleich viel sicherer!“ „Wolf –Wölfchen!“ Der Welpe schaute Cuno an,
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rollte sich an seine Seite und schlief leise behaglich knurrend ein und
die Burschen mit ihm.
Am nächsten Morgen ging es über die Sternbrücke weiter in Richtung
Sonnenaufgang – die Ritter müde und verkatert, die beiden Knechte,
die die halbe Nacht mit den anderen Knechten geredet hatten, nur
müde. Cuno war putzmunter, den Welpen vor sich auf dem Sattel und
einen Schlauch aus Ziegenleder mit nahrhafter Suppe, die ihm Eginhard
organisiert hatte, hinter sich.
Das verletzte Packpferd konnte schon wieder ganz gut mithalten, die
Pferde hatten alle noch einmal Hafer und gute Streu bekommen, die
Menschen wussten – das hatte Graf Eginhard ihnen noch mal bestätigt
– dass der weitere Ritt lang, eintönig, aber relativ sicher war. Bis zur
nächsten festen Herberge würden Tage vergehen. Bergauf an Bächen
entlang, über die Bergkuppe, am nächsten Bach entlang wieder ins Tal,
um wieder anzusteigen. Das Wetter war wechselhaft, aber weder
brannte die Sonne ihnen Löcher in die Kappen, noch durchnässte sie
dauerhafter Regen – „Herrliches Reisewetter“ ,wie Heinrich von Hohnstein grinsend meinte, als die anderen sich ob der Strapazen der Reise
beschwerten. Sie lagerten im Freien an irgendwelchen Bächen und lebten von dem, was das Packpferd trug und der Wald hergab. Wolf lernte,
aus einer irdenen Schale zu schlabbern. Abends stellte Cuno den Milchkrug der Bäuerin ans Feuer, gefüllt mit Wasser und all den Resten des
Abendessens – abgenagte Knochen, Brotrinden, Speckschwarten – und
hatte am Morgen eine kräftige Brühe, die Wolf bald nicht nur aus zu
schlabbern lernte; er fing auch an, die festeren Teile zu zernagen. Er
wurde zunehmend kräftiger, und die Pferdedecke roch schon sehr intensiv nach Hund oder Wolf, aber Cunos Pferd hatte sich daran gewöhnt
und scheute nicht mehr, im Gegenteil, es schien vor dem Abritt zu warten, bis Wolf auf dem Sattel lag.
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Sie überquerten die Saale auf einem Fährboot, die Wälder wechselten
von Laubbäumen zu Nadelbäumen, schließlich erreichten sie nach 7 Tagen ereignislosen Reitens Silberbach, den letzten Ort auf landgräflichem Gebiet. Walter inspizierte im Auftrag seines Vaters die wenigen
Dörfler, die tatsächlich noch Silber aus dem Bach wuschen, die anderen
schlugen das Lager auf der Almende am Bach auf, der hier vielleicht 20
Fuß breit und recht flach war.
Ihnen gegenüber auf der anderen Bachseite hatte eine andere Reisegruppe bereits ihr Quartier errichtet:
Drei hohe Karren, die offensichtlich von den 6 schweren Gäulen, die in
einer Koppel grasten, gezogen wurden, waren zu einem zum Bach hin
offenen Viereck zusammengeschoben worden. An der offenen Seite
brannte ein Feuer, über dem an einem Dreibein ein Eisenkessel hing,
aus dem Wohlgeruch zu den Beobachter hinüberzogen. Eine ältere Frau
in langer, dunkler Kleidung rührte den Topfinhalt, warf immer wieder
Salz oder Gewürze hinein und starrte - wie es Cuno schien – furchtsam
herüber. Hinter ihr stieg aus einem der Karren ein ebenfalls dunkel gekleideter alter Mann mit langem grauen Bart und langen grauen Locken
an den Schläfen und einem schwarzen Käppi, trat zum Bach und verneigte sich: „Ich bin Salomon Herschel, Händler aus Prag, auf dem Weg
nach Meißen. Ich grüße euch und wünsche die Erfüllung der irdischen
Wünsche. Wenn ihr erlaubt, möchte ich fragen, wer ihr seid und was
euch hierherführt.“ Da Walter noch bei den Silberwäschern war, antwortete Bodo von Schwarzburg als der erhabenste der Anwesenden:
„Wir sind eine Gruppe thüringischer Ritter aus der Gegend von Nordhausen, die diesen Knaben“, er wies auf Cuno, „als Kappen zu BoleslavPřemisl nach Iglau bringen.“ „Dann freue ich mich, dass ich sowohl
Herren treffe, die dort herkommen, wo ich hin will, und gleichzeitig Herren, die meinen guten Geschäftspartner BoleslavPřemisl bald treffen
werden. Wenn Ihr nichts anderes vorhabt, würde ich Euch gerne zum
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abendlichen Mahl einladen – ihr seht, dass meine Magd bereits reichlich Essen vorbereitet!“ Die Genannte erwachte aus ihrer Starre und begann, ein neben dem Feuer liegendes, schon gehäutetes Zicklein auf einen Spieß zu stecken um es zu grillen. Bodo schaute in den Kreis der
Ritter, und da alle nickten, dankte er für die Einladung und sagte das
Kommen bei Einbruch der Dunkelheit zu. Der Mann am anderen Ufer
verbeugte sich und gab der Magd weitere Anweisungen, während zwei
weitere Frauen und fünf oder sechs Knechte aus den Karren stiegen und
begannen, eine Tafel vorzubereiten, gedeckt mit schwerem Tuch und
metallenem Geschirr. Während die zwei Knechte begannen, für alle ein
Zelt aufzubauen, denn es sah zum ersten Mal seit sie Kloster Himmelgarten in Nordhausen verlassen hatten aus, als ob es bald stark regnen
würde, fragte Cuno seinen Bruder Gernot, was das für seltsame Menschen seien. „Das ist – wie du am Namen schon hörst – ein jüdischer
Händler, einer von denen, die Silber aufkaufen und dafür Wein, Edelsteine und Gewürze liefern. Sie stehen eigentlich unter dem Schutz des
Kaisers, aber wenn – wie nun schon viele Jahre – kein wirklicher Kaiser
da ist, steht es um ihren Schutz nicht allzu gut. Und da sie mit ihrem
Handel viel Geld verdienen, gibt es natürlich viele Neider, die sich gern
holen würden, was ihnen nicht gehört. Wir hatten in Steigerthal mal einen jüdischen Viehhändler, der natürlich versucht hat, für sich so viel
wie möglich herauszuholen, aber er hat nie betrogen und immer pünktlich bezahlt. Und dann hat er den Herren von Buchholz – du weißt, die
Burg einen Tagesritt nördlich von Steigerthal – Geld geliehen, mit dem
sie ihre Wehrmauern erneuert haben. Und auf dem Weg dorthin, um
die verliehene Summe und die Zinsen wieder zu holen, verschwand er.
Nie fand man ihn oder seinen Karren. Die Buchholzer haben allerdings
ein „gutes Geschäft“ gemacht.“ „Ist der Herschel deshalb so freundlich,
fast unterwürfig?“ „Klar! Wir sind Ritter, Edle; er ist Jude. Wenn er nicht
auf seine Freundschaft zu Boleslav Přsymel oder Landgraf Friedrich
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bauen kann, ist sein Leben nichts wert und sein Besitz verloren!“ „Was
ist eigentlich ein Jude?“
Günter von Schwarzburg, der die Frage gehört hatte, lachte laut auf:
„Gut, dass du uns fragst, und nicht Tasso! Der würde dir jetzt das lange
Lied von den vertauschten Ringen singen, bis dir alles zu den Ohren
rauskommt!“ Tasso von Weinbergen, der in Hörweite sein Lager vorbereitete, grinste schief. „Kommt schon noch, die Reise ist noch lang!“
„Also“ setze Alexander wieder an, „die Juden haben unseren Herren Jesus Christus hinrichten lassen, weil sie glauben, dass ihr Gott Jahwe der
wahre Gott ist. Weil sie sich dann gegen die Römer aufzulehnen versuchten, wurden die Juden von den Legionen des römischen Kaisers aus
Palästina- das ist da, wo alle Kreuzzüge hin wollen – verjagt, so dass sie
jetzt überall als kleine Gemeinden zu finden sind. Sie dürfen kein ehrliches Gewerbe betreiben und kein Amt übernehmen. Deshalb bleibt
ihnen nur der Handel als Broterwerb. Man sagt ihnen viele komische
Dinge nach, aber mir geht es wie Gernot: die Juden, die ich kennengelernt habe, waren auch nicht schlechter als unsereins – ein bisschen eigen eben.“
Als sich die Sonne den Hügelkuppen im Westen näherte, rief der alte
Jude hinüber, dass das Mahl gerichtet sei. Die Ritter und Cuno überquerten den Bach auf ein paar über den Wasserspiegel hinausragenden
Steinen und wurden zu Tisch gebeten.
Die Tafel war so gestellt, dass alle auf den Bach schauen konnten; an
der einen Seite saßen Walter und Bodo in der Mitte, links davon Alexander und Tasso, rechts Gernot und Cuno. Ihnen gegenüber der alte
Jude in der Mitte, rechts und links zwei kräftige junge Männer, ebenfalls
mit Schläfenlocken, am linken Ende eine schüchterne junge Frau und
am rechten Ende, Cuno gegenüber, ein junges Mädchen, etwa in seinem Alter, mit langen schwarzen Locken und schwarzen Augen in einem
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blassen Gesicht. Im Gegensatz zu der jungen Frau schaute sie keck umher und betrachtete die Gäste ausführlich. Als Heinrich von Hohnstein
sich und seine Freunde vorstellte, musterte sie besonders Cuno gründlich, dem dabei gar nicht wohl war!
Dann stellte Salomon die Seinen vor: seine beiden Söhne Schmul und
Jacob, Sara, die Frau von Jacob und seine Enkelin, die Tochter von
Schmul und Eva, Rebecca. Seine Frau und Eva waren in Prag angeklagt
worden, Hexen zu sein. Die Inquisition hatte die Gelegenheit genutzt,
ihre Macht zu zeigen und Juden in die Schranken zu weisen, obwohl
doch der Kaiser die Juden zu seinen Schützlingen erklärt hatte. Beide
wurden verurteilt und öffentlich verbrannt, Rebecca entging nur knapp
dem gleichen Schicksal, weil sie sich bei einem Vetter versteckt hielt.
Da hatte Salomon Herschel die Flucht ergriffen, denn der Streit über die
Herrschaft von Böhmen zwischen Jan von Luxemburg, dem Gatten Elisabeths, der letzten aus dem Hause Przemysl, und den Habsburgern als
Grafen von Österreich hatte die Lage in Prag noch verschlechtert. Deshalb hatte Salomon alles Hab und Gut verkauft und sich mit seiner Familie auf den Weg nach Thüringen gemacht, wo er hoffte, unter dem
Schutz des Hauses Wettin sicherer leben zu können, bewacht von 10
schwerbewaffneten jüdischen Knechten, die sich nun – weil christliche
Ritter zu Gast waren - unbewaffnet rund um das Feuer auf Holzklötzen
zur Magd gesetzt hatten.
„Wir haben den Weg von Prag hierher fast ohne Pause zurückgelegt,
deshalb sind wir froh, wieder einmal richtig zu essen. Lasst es euch als
unsere Gäste schmecken.“ Mit diesen Worten winkte er der alten
Magd, die für jeden eine irdene Schale brachte, in die sie von der Suppe
geschöpft hatte, die sie seit Stunden kochte. Salomon sprach ein kurzes
Gebet und alle griffen zu den Löffeln, denn auch die Thüringer hatten
längst Hunger bekommen.
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Verblüfft schauten sie nach dem ersten Löffel auf. „Das ist keine Suppe,
sondern ein paradiesisches Gericht“ sprach Heinrich von Hohnstein für
alle. „Was ist das?“ Die ganze Händlerfamilie lächelte, auch Rebecca,
und Sara antwortete für ihre Seite: „Es ist eine Suppe, die wir eigentlich
immer am Schawuot, ihr Christen nennt es Pfingsten, kochen und deshalb waren wir wirklich froh, als ihr euer Lager gegenüber aufgeschlagen habt, denn zu Schawuot teilt man das Mahl mit Nachbarn und
Freunden. Deshalb hat Marja, unsere alte treue Magd, auch eine solche
Menge gekocht – man weiß ja nie, wieviele Gäste kommen! Was es ist,
habt ihr gefragt“ und sie war so in ihrem Element, dass sie gar nicht
mehr verschüchtert wirkte und Hohnstein offen anschaute, „Schawuot
ist das Fest der Weizenernte, und deshalb ist Weizen das Wichtigste in
der Suppe, Damit sie aber Geschmack bekommt, wird der Weizen vorher in Honig angeröstet und dann mit Brühe aufgefüllt, in der vorher
lange Rinderhüften gekocht wurden. Dann kommen Lauch, Zwiebeln,
türkischer Kümmel, Minze und Rosinen dazu, am Schluss feingeschnittenes Fleisch vom vorher in der Brühe gekochten Rind.“ Während sie
noch erklärte, hatte Cuno seine Schale schon geleert und eine grinsende
Rebecca ging ihm Nachschub holen. Er bedankte sich und ließ schnell
den Kopf sinken, damit sie nicht sehen konnte, dass er rot geworden
war – es ärgerte ihn immer, aber er wusste nicht, wie er es verhindern
könnte.
Als auch die anderen ihre Schalen geleert hatten, brachte die alte Marja
das Zicklein, das sie vorher gegrillt hatte; Salomon verteilte das Fleisch,
brach das ungesäuerte frisch gebackene Brot und lies den Korb herumgehen. Dann holte Schmul aus einem der Karren Becher und einen
Weinschlauch, stellte Becher vor die Männer und goss dunkelroten
Wein ein. „Zum Wohlsein! Und bevor ihr fragen müsst: Es ist Malvasier
von der Insel Kreta…“ Der schwere, süße Wein passte hervorragend
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zum knusprigem Ziegenfleisch und es dauerte nicht lange, bis Schmul
den nächsten Weinschlauch holen musste.
Die Knechte und die alte Marja hatten ein zweites Zicklein gegessen.
Der Wein blieb allerdings an der Tafel. Als das Feuer eigentlich nur noch
Glut war, legte die Alte ein großes, rundes Blech darauf und verstrich
einen dünnen Teig mit einem Holzlöffel; der Duft von Pfannkuchen war
bald nicht mehr zu verkennen, Marja strich eine braune Masse auf den
Pfannkuchen, nahm ihn aus der Glut, rollte ihn zusammen und schnitt
dann Streifen ab, die sie allen auf ihre Schalen legte: Pfannkuchen-Roulade mit Feigencreme.
Gesättigt, fingen beide Gruppen an zu berichten und zu diskutieren,
über alles außer Religion! Cuno wurde es langweilig und er fragte seinen
Bruder leise, ob er ins Lager gehen könne, er würde ihre Knechte ablösen, die auch was von dem Festmahl abbekommen sollten. Gernot
beugte sich zu ihm: „Wenn ich dich nicht kennen würde, hielte ich dich
jetzt für einen sooo guten Menschen! Aber da ich dich kenne: bitte die
Alte um etwas Suppe und zieh ab, um Wolf damit zu füttern.“ Cuno
sprang auf und ging mit seiner Schale zu den Bediensteten ans Feuer.
Noch bevor er um Suppe bitten konnte, war Rebecca neben ihm und
fragte völlig verwundert: „Bist Du etwa immer noch nicht satt?“ „Nein,
doch, es ist halt so …“ unwohl drehte er sich zu ihr und flüsterte: „Ich
habe vor einer Woche ein ganz kleines Wolfsjunges gefunden und es ist
schwierig, für es etwas zu essen zu bekommen, da es noch nicht kauen
kann, und da dachte ich, die Suppe wäre gut.“ Sie nahm ihm die Schale
ab, füllte sie zum dritten Mal, drückte sie ihm in die Hände und befahl:
„Geh du voran, du weißt, wo die Trittsteine liegen“, und schob ihn an
das Ufer des Baches. Cuno hüpfte hinüber und wurde sofort von dem
mauzenden Fellbündel begrüßt, das ihn mit der Schnauze ans Bein
stupste, um Zuwendung bettelnd. Cuno schickte die beiden Knechte
hinüber und sagte, dass er die Wache übernähme. Als er die Schale auf
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den Boden stellte, war er für Wolf allerdings nicht mehr von Bedeutung.
Der Kleine stand da und schlabberte die Suppe in sich hinein, so schnell
er konnte, „Ist der aber putzig!“ „Ja, das fand ich auch, und viel zu
schade zum gleich Sterben“, und er erzählte ihr, wie er zu Wolf gekommen war. Während sie zusahen, wie er fraß, hörte man plötzlich von der
anderen Seite zum ersten Mal die erhobene Stimme von Tasso von
Weinbergen: „Gut, ich werde etwas singen, aber es ist nicht von mir,
sondern von Süßkind von Trimberg, einem Glaubensbruder von euch.“
Er hatte vorher schon einen der Knechte zurückgechickt, um die Laute
zu holen und fing nun nach einem kurzen Vorspiel mit seiner vollen, für
einen Mann relativ hellen Stimme zu singen an:
„ Ich habe immer von Mannheit, der Tapferkeit, gesungen,
von maßvollem Leben,
von Treue und Freigiebigkeit der Ritter und Herren.
Der Zucht stand ich im Dienste,
viel mehr als der Minne und dem Schöntun.
Anstand und Wohlerzogenheit,
dem Knappen schon beigebracht mit festen Regeln.
Doch was war mein Lohn?
Ich bin wahrlich auf einer Narrenfahrt mit meiner Dichtkunst.
Da mich die Herren nicht entlohnen wollen,
werde ich ihre Höfe meiden
und werde mir einen langen Bart aus grauen Haaren wachsen lassen:
Nach der Art alter Juden werde ich fortan davonziehen.
Mein Mantel soll bis auf den Boden reichen, d
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as Gesicht unter einem Hut verborgen.
Demütig wird mein Gang sein.
Und niemals mehr singe ich am Hof,
da mir die Herren ihre Belohnung vorenthalten.“
Der Beifall war lauter, als man es von so einer kleinen Runde hätte erwarten können. Tasso dankte, Heinrich von Hohnstein dankte Salomon
für seine Gastfreundschaft, versprach ihm für den Morgen ein Schreiben an Eginhard v. Weimar-Orlamünde, den Zeugmeister in Weimar,
und ging etwas unsicher auf den Beinen zum Bach hinunter, noch mehr
verunsichert durch einen huschenden Schatte, der seinen Weg kreuzte
– Rebecca, die schnell noch auf ihre Bachseite zurückgekehrt war, bevor
ihre Abwesenheit auffallen konnte.
Am Morgen brachte Walter den versprochenen Brief hinüber und verabschiedete sich. Die anderen taten es ihm gleich, Das Mädchen steckte
Cuno noch einen der leeren Weinschläuche zu. „Ich habe den Rest der
Suppe hineingefüllt“, flüsterte sie und drückte seine Hand. Diesmal war
sie es, die errötete, bevor sie in einem der Karren verschwand.
Sie ritten den Bach in seiner Fließrichtung entlang und überquerten ihn
dann Richtung Sonnenaufgang, bevor andere Bäche ihn anschwellen
ließen. „So“, sagte Walter, „nun sind wir über die Eger und damit raus
aus Thüringen. Die ganze Herrschaft Böhmen liegt vor uns, an deren anderen Ende Mähren beginnt; dort, an der Grenze, liegt unser Ziel- ich
hoffe, dass wir es in zwei Wochen erreicht haben. Und ich hoffe, dass
sich mein Vater richtig erinnert hat, denn auch er war erst einmal bei
Boleslav Přemysl.“
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Ausgeruht und gestärkt wie sie waren, stellten sie sich auf lange Tagesetappen ein. Entlang eines anderen Bachbetts stiegen sie bis zur Höhe
hinauf, dann an der anderen Seite wieder hinab, durch Wälder, über
Wiesen. Das Land menschenarm. Nur hin und wieder ein kleiner Weiler,
in dem es Cuno zunehmend schwerer wurde, Milch für Wolf zu bekommen, nicht, weil die Bauern nichts hatten, sondern weil er Schwierigkeiten hatte, sich mit ihnen zu verständigen. Ihr Deutsch war hart und
seltsam betont, ihre eigene Sprache, die die Dörfler als „Česka“ bezeichneten, verstand Cuno nicht. Das machte ihm sehr zu schaffen, denn
wenn er schon so weit weg seine Knappenjahre abdienen sollte, dann
wäre eine andere Sprache, die so seltsam klang, nicht auch noch vonnöten gewesen.
Zwei Nächte lagerten sie im Freien, am dritten Abend rief sie Walter auf
einem Hügelrücken zusammen. Selbst er hatte einen Teil seiner guten
Laune verloren: der Weg war lang, und das Wetter wurde zunehmend
schlechter. Regenschauer und Sturmböen deuteten auf eine weitere
feuchte Nacht hin. Aber als er sie zusammenrief, zeigte er nach Süden
und fragte: “Was seht ihr dort auf dem Hügel? Das ist doch eine Burg
mit einem Bergfried, der von einer Kuppel gekrönt ist, oder? Und wenn
es so ist, dann sind wir endlich in Nepomuk – Vater hat von Küche und
Keller dort geschwärmt, und trockene Schlafstellen gibt es allemal in
der großen Halle!“ Er drückte seinem Pferd die Hacken in die Seite und
preschte den Hügel hinunter, um an der anderen Seite wieder den Aufstieg zu machen. Die anderen folgten ihm, angesteckt von der Hoffnung
auf eine gute Nacht.
In Sichtweite des Burgtores lies sich Walter von einem der Knechte
seine Lanze mit dem wappengeschmückten Wimpel reichen und ritt vor
die verschlossene Zugbrücke. „Heinrich von Hohnstein, Sohn des Cuonrad von Hohnstein, erbittet für sich und seine Begleiter ein Quartier für
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die Nacht.“ „Wo kommt ihr her und wo wollt ihr hin?“ fragte eine deutsche, aber brummige Stimme aus der Wachstube. „Wir sind vor drei Tagen über die Eger und wollen zu BoleslavPřemisl – gib deinem Herrn,
dem Grafen von Weißensee Bescheid!“
Es dauerte einige Minuten, bis die Zugbrücke sich senkte, das eiserne
Gatter hochgezogen wurde und ein älterer Ritter unter dem Torbogen
sichtbar wurde. „Willkommen auf Nepomuk“ rief dieser und begrüßte
Walter mit „Ganz der Vater!“. Walter stieg mit seinen Gefährten von
den Pferden, stellte sie dem Grafen vor und dankte für die Gastfreundschaft. Weißensee geleitete sie zur Halle und trug zwei Stallburschen
auf, die herbeigelaufen waren, als sich die Zugbrücke quietschend
senkte, die Pferde in den Stall zu bringen, abzusatteln, abzureiben und
zu füttern.
Nachdem sie die Stufen zur Halle hinaufgestiegen waren, krumm und
lahm vom langen Ritt, begrüßte sie der Sitte gemäß die Hausherrin mit
Brot und Wein und bat sie, Platz zu nehmen. Die fünf Männer setzten
sich zum Grafen an die erhöhte Tafel, Cuno suchte sich eine Ecke, in der
er Wolf absetzten konnte, ohne dass es allzu sehr auffiel. Der Kleine war
in der kurzen Zeit seit der Attacke durch das Wolfsrudel sichtbar gewachsen und zeigte deutlich, dass er ein Wolf war. Die Schnauze spitz
mit ersten kleinen Zähnen, der Körper gedrungen, wie es bei Welpen
üblich war, nur die Rute war ganz ungewöhnlich buschig. „Ist der putzig!“ hörte Cuno eine Frauenstimme neben sich. Als er aufschaute, sah
er die Gräfin, die, den leeren Weinkrug in der Hand, auf dem Weg zur
Küche war. „Lass ihn hier in der Ecke, ich bringe ihm eine Schale Milch.
Setz‘ du dich zu den Männern, für dich gibt es gleich einen Krug Wasser.“
Als Cuno an die Tafel trat, begann Weißensee gerade zu berichten: „Ihr
wisst, dass der letzte böhmische König aus der Familie der Přemisliden,
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König Wenzel, vor einer Generation in Olmütz ermordet wurde. Immer
wieder hatte er wie seine Väter vor ihm versucht, Böhmen auszudehnen und als unabhängiges Reichsland zu erhalten. Nach seinem Tod
wollten sowohl die polnischen Könige als auch die österreichischen
Habsburger Böhmen in ihre Ländereien eingliedern. Da heiratete Wenzels Schwester Elisabeth Graf Johann von Luxemburg, der ja auch schon
Friedrich von Thüringen geholfen hatte, sein Land frei zu halten, wie ihr“
– und er schaute Gernot und Cuno an „ mit eurer Familie selbst erfahren habt. Seit einigen Jahren herrschte wieder Ruhe und Frieden, als
einige der alten Adelsgeschlechter der Česka, also der alteingesessenen
Böhmen - ja, Cuno, sie nennen sich genauso wie die Sprache“ Cuno
wurde wieder rot, weil er ungefragt herausgeplatzt war, „sich zusammenrotteten und versuchten, die deutschen Siedler, die schon Wenzel
und dann Johann nach Böhmen geholt hatten, zu vertreiben und sich
die urbar gemachten Gebiete anzueignen. In Böhmen gibt es kein Lehenswesen wie in Thüringen oder in anderen deutschen Landen; jeder
versucht deshalb, sich soviel unter den Nagel zu reißen wie es geht und
daraus entstehen Unfriede und Fehden. Deshalb hat mich Johann aus
Thüringen geholt und als Statthalter für die Česka eingesetzt; Burg
Nepomuk ist Königsgut und von hier aus suche ich, den Siedlern zu helfen. Ihr habt ja gesehen, dass das Burgtor verschlossen war, als ihr kamt.
Bevor ihr euer Wappen gezeigt hattet, wussten die Wachen nicht, zu
wem ihr gehört und hatten deshalb die Brücke hochgezogen. Fast täglich erwarten wir kleine Überfälle und Scharmützel, und immer wieder
fliehen Siedler in den Schutz der Burgmauern. Da, wo ihr hin wollt, nach
Jihlava, oder wie die Siedler sagen, Iglau, ist es einfacher, dort gibt es so
viele Deutsche, dass die Aufrührer kaum Fuß fassen können.
Nun berichtet, was euch herführt: Wie geht es Cuonrad? Hat Landgraf
Friedrich das Geldproblem gelöst? Ich habe deinen Vater“, wandte er
sich an Walter „schließlich hier beherbergt, als er für Friedrich Silber in
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Böhmen kaufen wollte. Wie vertragen sich Meißener und Thüringer, die
ja nun alle dem gleichen Herrscher unterstehen?“
Walter, Alexander, Bodo und Gernot antworteten gleichzeitig, ein ungeheures Stimmengewirr entstand, keiner verstand irgendetwas und
nach kurzer Zeit brachen alle in Gelächter aus und versuchten, nach einander zu sprechen und nicht alles zu wiederholen. Die Gräfin ließ ein
schnelles Abendessen für die Gäste servieren. Cuno hatte sich Wolf auf
den Schoß gesetzt und lauschte den Berichten. Wer weiß, was er in
Jihlava noch alles gefragt werden würde und dann wäre es gut, wenn er
Antworten bereit hätte!
Am nächsten Mittag wurde sie Zeuge eines Vorgangs, wie ihn Graf Weißensee beschrieben hatte. Sie näherten sich gerade einem kleinen Weiler. Aus allen Kaminen kam Rauch, vor den recht neu aussehenden Häusern standen Karren mit Ochsen oder Eseln, und auf der Allmende
graste eine ganze Reihe von Tieren. Cuno hoffte schon auf Milch für
Wolf, als plötzlich mit wüstem Getöse ein Dutzend Reiter aus dem Wald
hinter dem Dorf preschten und über die Felder den Hang hinunterjagten. Sie verteilten sich vor den Häusern und drangen mit gezogenen
Schwertern ein. Lautes Geschrei, ängstliche Rufe, Schmerzenslaute und
lautes Flehen waren das Ergebnis. Ohne lange zu überlegen, gaben die
thüringischen Ritter ihren Pferden die Absätze und jagten nun ebenfalls
auf das Dorf zu. Am ersten Haus angekommen, sprangen Bodo und Alexander aus dem Sattel, stürmten hinein und riefen laut: „Was ist hier
los?“ „Sakra Germàn!“ war die Antwort und die beiden Schwarzenbergs
sahen sich zwei ganz offensichtlich wütenden Bewaffneten gegenüber,
die von ihren bäuerlichen Opfern abließen und nun ihre Schwerter gegen die Ritter richteten. Aber die Thüringer machten nicht viel Federlesens, schlugen die beiden nieder, riefen dem Bauern zu: „Bindet sie!“
und stürmten zum nächsten Hof, wo Gernot und Tasso Ähnliches erlebt
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hatten, während Walter, gefolgt von Cuno, schon zum dritten Haus geritten war. Dem fiel Wolf aus dem Sattel. Sobald der die Pfoten auf dem
Boden hatte, fing er, wahrscheinlich aus Schmerz, an zu jaulen wie ein
richtiger Wolf. Jemand rief. „Wölfe!“ und aus den restlichen Häusern
rannten die Bewaffneten. Als sie die Ritter sahen, sprangen sie auf ihre
Pferde und jagten wieder davon. Walter trat in das Haus und wäre beinahe gefallen, denn ein deutlich besser gekleideter und offenbar auch
besser kämpfender Mann als die Geflohenen versuchte, ihm sein
Schwert in die Seite zu rammen. Cuno sprang ebenfalls vom Pferd, griff
nach Walters Lanze, die an dessen Sattel befestigt war und versuchte,
den Fremden zumindest soweit abzulenken, dass Walter sich wieder
wehren konnte. Nach kurzem Ringen hatte der andere Walters
Schwertspitze an der Kehle und ließ sein Schwert fallen. „Was soll dieser
Wahnsinn?“ fragte der Ritter und sein Gegner antwortete in gebrochenem Deutsch: „Das unser Land. Ihr Sakra Germàn, verdammten Deutschen, nehmt uns Wälder, macht Äcker und dann gehört euch Land. Wir
wollen das nicht. Wir verlieren Land.“ „Wer seid Ihr?“ „Ich bin Rytíři
Bobdan Rožmitâl, der Herr dieser Wälder!“ „Für mich seid Ihr ein Dieb.
Ihr wartet, bis die Siedler das Land urbar gemacht haben, dann tötet ihr
sie und nutzt das Land selbst! Bauer“ wandte sich Walter an den verängstigten Siedler, „ Gib mir ein starkes Seil und dann kannst du den
gefesselten Bobdan Rožmitâlund seine Spießgesellen zu Graf Weißensee auf Burg Nepomuk bringen – er soll entscheiden!“ Bobdan ließ sich
nur mit Mühe fesseln und wehrte sich so verzweifelt, dass Walter selber
eingreifen musste. Dann schob ihn Cuno mit der Spitze der Lanze vor
sich her ins Freie, wo sich unterdessen die anderen Dorfbewohner und
die Thüringer Ritter versammelt hatten. Ein Mann in schwarzer Kutte
nahm das Wort: „Ich danke Euch, Ihr Herren. Meine kleinen Gemeinden
hier im Wald haben jahrelang bis zur Erschöpfung gearbeitet, um sich
hier ihren Broterwerb zu sichern; als Zisterziensermönch hat mich mein
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Abt hierher beordert, damit ich mit den Siedlern die bestmöglichen Anbaumethoden ausprobiere – und wir waren erfolgreich!“ Die umstehenden Siedler klatschten zur Bestätigung. „Ohne Euch wäre auch diese
Rodung verloren, denn den Česka fehlen die Arbeitskräfte, aber nicht
der Hochmut. Lasst uns die glückliche Fügung mit einem guten Mahl
feiern!“
Die Frauen des Weilers, von denen keine zu Schaden gekommen waren,
genausowenig die Kinder, das Vieh, die Gebäude, beeilten sich, die
Worte des Paters umzusetzen. Vor dem Haus, in dem Walter den Ritter
gestellt hatte, wurde Glut zusammengetragen, mehrere Hühner und ein
Lämmchen mussten den Tag vorzeitig beenden, und selbst das im Weiler gebraute Bier – Wasser, Hefe, Hopfen und Weizen – mundete allen,
auch Bobdan, den Cuno mit allem Notwendigen versorgte. Während
sich ein kleiner Trupp der Siedler mit den Gefangenen auf den Weg nach
Nepomuk machte, richteten die Frauen den Rittern und Knechten ein
Nachtlager, denn die waren viel zu müde und aufgeregt, um noch den
fehlenden Halbtagesritt bis Pisek hinter sich zu bringen. So blieben sie
in dem Weiler und verschoben die Weiterreise auf den nächsten Tag.
Der brach unerbittlich an, mit Sturm, Regen und Nebel. „Ihr müsst aufpassen, wenn Ihr gegen Mittag nach Pisek kommt – die Stadt liegt in
einem Kessel, rundum von Bergen umgeben, und man hat das Gefühl,
als würde man in diesen Kessel wie in einen Schlund gezogen“, hatte
der Zisterzienser die Ritter noch am Abend ermahnt, „aber es ist nicht
einfach, auch für mich als Mann der Kirche nicht, die Stadt zu betreten.
König Ottokar hat Pisek befestigen lassen, um den Übergang über die
Otava mit einer Brücke abzusichern. Pisek ist eine Königsstadt, das
heißt, alle Rechte, die eine Stadt haben kann – auch das Gerichtsrecht
– hat Pisek. Die Wachen sind unerbittlich. Das Schreiben von Boleslav
Přemysl wird Euch allerdings helfen. Wenn Ihr Herberge sucht, wendet
Euch nach dem Putimská-Tor nach Sonnenaufgang, dann kommt Ihr zur
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Burg. Graf Heinrich, der Statthalter, ist ein Neffe König Johanns, also aus
dem Hause Luxemburg. Wenn Ihr Hilfe braucht: das Dominikaner - Kloster liegt direkt neben der Pfarrkirche zur Heiligen Elisabeth am Marktplatz. Pisek ist wichtig, denn hier kontrolliert der Herrscher Böhmens
den „Goldenen Steig“-die Leute hier nennen das den Zlatá stezka:im
Sand der Otava findet sich viel Gold, das dort herausgewaschen und
dann über die Vitava – oder wie Ihr Deutschen sagt, die Moldau –nach
Prag weitertransportiert wird.“
Als sie sich, an einem Nebenfluss der Otava entlangreitend, Pisek näherten, war alles anders als vom Mönch beschrieben: der Bergkessel, in
dem Pisek liegen sollte, war in Regen und Nebel verborgen, das Stadttor
stand weit offen, die Wachen ließen sie ohne Kontrolle passieren und
wiesen ihnen sogar den Weg zur Burg. Die Straßen waren voller Menschen, die unter lautem Jubeln die Straßen auf- und abzogen. Als sie
sich schließlich durch die Massen einen Weg gebahnt hatten und vor
der Burg standen, erfuhren sie auch den Grund: König Johann hatte an
eben diesem Tag der Stadt das Salzrecht gegeben; nun mussten alle, die
in Südböhmen Salz brauchten, dieses in Pisek kaufen – es war ein reiches Geschenk. Der Wohlstand würde weiter wachsen und die Bürger
noch treuer zum König stehen als bisher schon. Die Ratsherren der Stadt
hatten sich schon zum königlichen Statthalter in die Burg begeben, um
die Urkunde in Empfang zu nehmen. Als der Erste Magistrat aus dem
Tor trat, die gesiegelte Urkunde über den Kopf schwenkend, brandete
noch lauteres Rufen auf. „Heute Abend wird aus den Brunnen der Stadt
Bier fließen – lasst uns diese Gabe feiern!“ Dann wandte er sich etwas
erstaunt den nassen und schmutzigen Reisenden vor ihm zu, deren Kleidung aber doch noch erkennen lies, dass es sich um höheren Besuch
handelte: „Meine Herren – was ist euer Begehr?“ „Wir wollen Graf
Heinrich sprechen!“ Der Magistrat schickte einen Knappen zurück in die
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Burg und machte sich mit seinen Begleitern auf zum Marktplatz, wo
weiter gejubelt und gefeiert werden würde.
Unterdessen kam der Knappe zurück, bat die Reisenden in die Burg, pfiff
nach ein paar Stallknechten, die sich um die Pferde kümmern sollten
und brachte die Herren in die Halle. Ein noch recht junger, hochgewachsener Ritter, deutlich gekennzeichnet durch das luxemburger Wappen,
den aufrechtstehenden roten Löwen auf grauem Grund, erhob sich aus
dem Hochsessel. „Was wünscht ihr?“ Heinrich von Hohnstein neigte wie
die anderen seinen Kopf und sprach für alle: „Wir sind thüringische Ritter, geschickt von meinem Vater Cuonrad von Hohnstein, dem Münzmeister des Landgrafen von Thüringen, um diesen Knaben“, er deutete
auf Cuno, „ zu Boleslav Přemysl in Jihlava zu bringen, bei dem er Knappendienste leisten soll.“ Er stellte die Ritter vor. Heinrich grinste immer
breiter und streckte dann den Rittern die Hand hin: „Ihr kommt wie gerufen! Die ganze Stadt wird heute toben, das Saufen wird kein Ende
nehmen und die Büttel werden eifrig zu tun haben. Gerade eben hat
mich der Magistrat eingeladen, mit den Ratsherren und den Bürgern zu
feiern, aber jetzt kann ich doch nicht so ehrenwerte Gäste einfach allein
lassen!“ Er rief nach Mägden und Knechten, und bald wurde in der Halle
aufgedeckt. Die Reisenden legten ihre nassen Mäntel ab und reinigten
sich so gut es ging. Nur Gernot und Cuno gingen zum Brunnen im Lichthof und wuschen sich wenigstens oberflächlich. Dabei bekam Wolf auch
gleich einen Krug voll Wasser.
Als die drei zurückkamen, saßen die anderen bereits am Tisch. Ein Krug
kreiste, die Becher wurden gefüllt, und die Thüringer berichteten von
der Reise. Graf Heinrich war besonders an dem Bericht über Salomon
Herschels Flucht interessiert. „Er ist, nein, war einer der wichtigsten
Kaufleute in Prag, und wenn er geht… Ich muss morgen mit dem Ältesten der jüdischen Gemeinde hier reden, um zu sehen, ob wirklich Ge-
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fahr besteht oder Herschel einfach nur langsam zu alt wurde. Aber lassen wir das Tagesgeschäft: Darf ich Euch meine Gattin Ermingilde vorstellen, die Hausherrin hier in Pisek!“ Eine großgewachsene, recht rundliche Frau mit einem freundlichen Lächeln trat an die Tafel und begrüßte die Ritter. „Und das ist mein Patenkind Salwa, die Tochter eines
edlen Ritters aus der Nachbarschaft, die in den Unruhen der letzten
Jahre leider alle engen Verwandten verloren hat und deshalb an Kindesstatt bei uns aufwächst, nachdem wir selbst keine Kinder haben!“ Ein
Mädchen, etwa so alt wie Cuno, trat an den Tisch und knickste. Der
kleine Steigerthal starrte sie an. Sie war gertenschlank, hatte rotbraune
Haare, zu Zöpfen geflochten und wie einen Kranz um den Kopf gelegt,
Augen, die so grün waren wie die saftigen Wiesen, durch die sie geritten
waren, ein ovales Gesicht mit hohen Backenknochen und eine schneeweiße Haut mit ein paar winzigen Sommersprossen. „Setz dich zu Cuno,
dann kannst du ihm alles über die Česka erzählen, zumindest alles, was
er wissen muss, wenn er hier dienen soll!“ Salwa gehorchte und setzte
sich Cuno gegenüber an die Tafel. „Das tut mir Leid mit Deinen Eltern.“
„Ist gut, es ist schon so lange her, dass ich mich kaum noch an sie erinnern kann, und außer, dass ich Tschechin bin, gehöre ich eigentlich zu
Heinrich und Ermingilde – ich sage aber immer Hermine zu ihr! Sie
senkte ein wenig ihre helle Stimme: „Wo sollst du dienen? Als was? Wie
kommt es, dass nur du und dein Bruder sich gewaschen haben – ich
habe euch am Brunnen gesehen?“ Cuno war verwirrt, dass ausgerechnet sie das Waschen mitbekommen hatte, aber eigentlich war das das
Einfachste von allem, und deshalb begann er: „Also, das mit dem Waschen ist so eine verrückte Sache in meiner Familie: Mein Urgroßvater
war bei dem letzten Kreuzzug dabei und lernte auf Zypern, als sie auf
Schiffe warteten, die sie weiterbringen könnten, seine spätere Frau
kennen. Die hat ihn die orientalischen Gewohnheiten der Körperpflege
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gelehrt, und als sie ihm dann später nach Erfurt gefolgt ist, hat sie natürlich auf diesen Gewohnheiten bestanden. Von ihr hat es meine Großmutter gelernt, von der meine Mutter und so haben auch wir heute zu
Hause bei uns in der Burg einen Baderaum, in dem wir uns täglich waschen – was für Rittersleute wohl schon recht ungewöhnlich ist. Und
irgendwann hast du dich dann daran gewöhnt, dass du dich nur noch
sauber richtig wohlfühlst. Aber bitte mit warmem Wasser gewaschen!
Ich fürchte, das wird mir fehlen, wenn ich nächste Woche meinen
Dienst als Knappe bei Boleslav Přemisl in – wart mal, du würdest sagen
Jihlava, oder? – antrete.“
„Beim dicken Přemisl? Da wirst du so manches erleben! Also dick ist
vielleicht falsch, er ist so hoch wie breit, aber so kräftig, dass er immer
noch manche seiner Bergleute eigenhändig aus dem Schacht schmeißen kann. Sollst du bei ihm als Knappe das Ritterhandwerk lernen oder
den Bergbau – den kann er nämlich besser!“ „Kennst du ihn? Mein Pate,
der Vater von Walter da drüben, sagte, er sei ein hervorragender Ritter.“ „Das war er sicher auch, aber seit ich ihn kenne, und es sind ja nur
zwei Tage von hier nach Jihlava, ist er immer breiter geworden und wohl
auch immer reicher. Er hat sogar, das wird dir gefallen, ein Badehaus
gebaut, da soll es warmes Wasser direkt aus einem Rohr geben. Da war
ich allerdings nie drin! Eigentlich soll ich mit dir aber nicht über Boleslav
schwätzen, sondern dir erklären, was uns Tschechen von den Deutschen unterscheidet. Also, da ist natürlich Česka, die Sprache, aber in
Jihlava wirst du mit Deutsch gut durchkommen, die Fachbegriffe der
Knappen und Steiger in der anderen Sprache lernst du schnell.
Wir lieben die Freiheit, deswegen gibt es bei uns auch nicht das komische System wie bei euch. Ritter sind reiche Grundbesitzer, aber Menschen gehören ihnen nicht, wie es bei euch sein soll. Und Treue schwört
man hier seinem Herrn und seinem Gemahl, aber nicht irgendeinem
Fürsten. Und deshalb ist unser Ehrbegriff auch nicht an irgendwelche
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seltsamen Regeln gebunden, sondern Ehre hat, wer ehrlich, also ohne
Betrügereien, seinen Lebensunterhalt verdient. Auch ein Bauer, Steiger
oder Knappe hat seine Ehre. Wer ihm die wegzunehmen droht, bekommt allerdings Probleme! Auch wir Frauen,“ sie verbesserte sich,
„auch wir Frauen und Mädchen haben unsere Ehre, die wir und unsere
Familien mit allen Mitteln verteidigen. Komm‘ also nie einem tschechischen Mädchen zu nahe, auch keiner Magd, es sei denn, die Familien
haben sich abgesprochen!“
„Da haut aber jemand auf den Putz!“ dröhnte Graf Heinrich, der die
letzten Sätze mitgehört hatte, weil Salwa wieder lauter geworden war.
„Aber im Grunde hast du recht, das macht das Leben hier in Böhmen so
anders als im alten Reich der Lehnsmänner. Hier ist jeder für sich allein
verantwortlich und handelt deshalb so, dass er es auch verantworten
kann.“ Gernot wollte gerade mit den anderen Rittern über diesen ungewohnten Ehrbegriff disputieren, wusste er doch, wie das Hochhalten
der Adelsregeln seine eigene Familie noch im letzten Frühjahr getroffen
hatte, als lautes Gegröle von der Straße herüberklang. „Das ist es, was
ich vorhin meinte! Lasst uns in Frieden hier oben das Mahl einnehmen
und dann muss ich wohl noch einmal mit meinen Leuten zu Pferd und
durch die Stadt reiten, um den übermütigsten Bürgern zu zeigen, dass
die Ordnung aufrecht erhalten bleibt!“
Die Mägde trugen auf und Ermingilde erklärte den thüringischen Rittern, was die Frauen servierten. „Wir schmoren das Fleisch meistens,
weil da eine kräftige Sauce entsteht, die gut zu dem passt, was die Menschen hier am liebsten essen, nämlich Knödel. Das sind große Kugeln
aus Hefeteig, die in wenig heißem Wasser zum Aufquellen gebracht
werden und dann geschnitten wie bei Euch Brot zum Austunken der
Sauce dienen. In Böhmen gibt es alles, was das Herz begehrt, Feldfrüchte aller Art, Obst, besonders Zwetschgen, aus denen ein Brand hergestellt wird, der selbst mir schmeckt, Gemüse, Beeren, Pilze, Wildbret.
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Und die Grundlage ist das Fleisch von Schweinen und Rindern. Das, was
vor Euch steht, ist geschmortes Schwein.“ Salwa schaltete sich ein: „Unser Urvater Čech hat gesagt, Tschechien sei das Land, in dem Milch und
Honig fließen. Ich würde nie hier weggehen wollen! Und du, Cuno, wirst
noch sehen, wie gut es einem hier geht.“ Gutmütig spottend setzte
Heinrich den Gedanken seines Patenkindes fort: „Und da du Knappendienst leisten wirst, besteht auch nicht die Gefahr, dass dir das Essen
solche Probleme bereitet wie meiner Ermingilda,“ und zwickte seine
Gemahlin in die runden Hüften. Alle griffen zu, auch Cuno, der aber zunehmend unruhiger wurde, weil er glaubte, ein leises Winseln zu hören,
das sein schlechtes Gewissen hervorrief. Salwa merkte etwas und
fragte: „Was ist? Das Essen schmeckt doch gut, oder?“ „Ja, und wie,
aber ich habe es versäumt, mich um etwas Wichtiges zu kümmern, und
jetzt befürchte ich nichts Gutes.“ „Was ist das?“ „Ich habe vor drei Wochen ein Wolfskind gefunden, das ich als Hund behalten will, und die
ganze Zeit habe ich es gefüttert, aber heute …“ „Wo ist es?“ „Da hinten
hinter den Bänken, wo wir unsere Sachen abgelegt haben. „Komm!“ Sie
stand auf und zog ihn mit. „Wo ist es?“ Cuno hörte Wolf ganz genau und
fand ihn hinter der Pferdedecke, von Cunos Mantel fast zugedeckt. „Ist
der putzig,“ rief sie. „Wer ist hier putzig?“ erkundigte sich Ermingilda.
Cuno führte Wolf an seinem Strick näher an die Tafel und erklärte unter
dem Grinsen seiner Reisekumpane noch mal, wie er Wolf fand, warum
er ihn mitgenommen hatte und welche Mühe seine Ernährung bis heute
machte. Eine der Mägde, die das Tier genau betrachtete, verschwand
und kehrte nach kurzer Zeit mit einer Schale zurück, in der Milch, Bratensauce und kleine Knödelstückchen schwammen. „Vom Vortag“, wie
sie ihrer Herrin versicherte. Wolf machte seinem Namen alle Ehre und
machte sich wie ein Wolf über das Essen her, das er mit seinen wenigen
kleinen Zähnen aufessen und ausschlabbern konnte.
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Auch Cuno griff nun nochmals richtig zu, und während die Männer dem
Bier zusprachen, spülten Salwa und Cuno ihre Knödel mit Wasser hinunter.
„So, Männer, meine Leute und mich ruft nochmal kurz die Pflicht. Hebt
mir einen Krug Bier auf, wir sind gleich zurück.“
Salwa verabschiedete sich von Cuno und den anderen und verschwand
mit Ermingilda in Richtung Kemenate. Die Ritter und die wenigen in der
Halle zurückgebliebenen böhmischen Männer erzählten aus dem Alltag,
und als Heinrich mit den anderen zurückkam, war ein fröhliches Zechen
im Gange. Bodo hatte den anderen verraten, dass Tasso ein hervorragender Sänger sei, und als diese immer lauter „Singen, singen“ riefen,
kam auch Ermingilda zurück in die Halle, und erst dann erklärte sich der
Erbe von Weinbergen bereit, seine Laute zu holen und ein Lied anzustimmen. „Das Lied ist nicht von mir, ich habe es Walther von der Vogelweide abgeschaut:
Frau Erde, sagt dem Herrn dort oben,
dass ich ihm alles zurückgezahlt habe.
Meine große Schuld ist beglichen,
er soll mich von der Liste streichen.
Wer ihm noch etwas zu bezahlen hat,
der möge sich Sorgen machen.
Er schweigt zu uns bis an jenem Tag,
an welchem er die Strafe austeilt.
Frau Erde, ich habe gut gelebt,
es ist Zeit, dass ich mich entwöhne.
Du gabst mir viele süße Freuden.
Als ich dich im rechten Lichte betrachtete,
da war deine Schönheit - ohne zu leugnen –
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in großer Wonne anzusehen.
Doch da war ebenso sehr das Böse
als ich hinter die Fassade schaute.
Gott schenke Euch, Herrin, eine gute Nacht,
ich will ein Nachtlager aufsuchen.
Möge mein Lied Euch ein Dank sein
und ein wenig Freude für Euch alle.“
Lauter Beifall klang auf, und als Tasso seine Laute zurücktrug, mahnte
der Burgherr seine Gäste, die Nacht nicht noch mehr zu verkürzen und
schickte seine Männer auf die Bänke, denn morgen sehr früh sollten sie
die nächste Runde durch die Stadt drehen.
Als sich Cuno und seine Begleiter nach ein paar Scheiben gebratener
Knödel und herzlichen Worten der Gräfin und von Salwa auf die Pferde
begaben, waren der Graf und seine Männer schon längst unterwegs.
Betrunkene beiseite schaffen, umgestürzte Verkaufsstände wegräumen, die Brunnen kontrollieren, dass überall wieder Wasser floss und
vor allem die Wachmannschaften an den Toren wieder einsetzen und
verstärken, denn die Nachricht über das neue Salzrecht hatte sich sicher
schon weit verbreitet, so dass alle Welt versuchen würde noch Salz zu
kaufen, bevor der Magistrat die neuen, höheren Preise beschlossen haben könnte. Als sie sich dem Brückentor näherten, sahen sie Graf Heinrich in voller Aktion, angetan mit seiner Rüstung, das Schwert einsatzbereit in der Hand, saß er mitten in der Torwölbung auf seinem schweren Streitross und hielt die Menschen zurück, die mit leeren Körben,
Kiepen und Karren in die Stadt wollten. „Wenn die Kirchenglocken zur
Terz rufen, wird euch Einlass gewährt, nicht vorher.“
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Er ließ die deutschen Ritter passieren, verabschiedete sich von jedem
und gab Cuno einen Schlag mit der behandschuhten Rechten auf die
Schulter: „ Du wirst sehen, Jihlava ist nicht weit weg – wann immer du
willst – du bist willkommen!“ Und dann leiser: „ Ich glaube auch, bei
Salwa. Viel Glück!“ Und damit ließ er sie auf die steinerne Brücke über
die Otava, auf dem Weg weiter in Richtung Sonnenaufgang.
Iglau, Frühjahr 1318
Cuno wälzte sich ächzend auf die Seite. Sein Strohsack lag innen an der
dem Regen ausgesetzten Wand der Knappenkammer – immer der Platz
für Neulinge - und machte ihm bei starkem Regen die der Wand zugewandten Seite klamm vor Feuchtigkeit. Seine Glieder schmerzten von
den Übungen des Tages, die Stelle am Oberarm, wo heute das Holzschwert Pritbors niederschlug wie ein Brechhammer, war geschwollen
und sicher schon grün-blau. Er hatte Hunger und war aufgeregt wegen
morgen:
Seit einem Jahr war er jetzt als Knappe bei Boleslav Přemisl. Der war wie
Salwa ihn beschrieben hatte, so breit wie hoch – und er war groß! Er
sah ihn täglich an der Tafel, selten beim Training, aber seine tiefe, wohlklingende Stimme zeigte den ganzen Tag, dass er in der Nähe war. Cuno
war wie die anderen Knappen Pritbor von Jihlavy unterstellt, einem Ritter ganz aus der Nähe, der seit Jahrzehnten für Boris die Ausbildung der
Knappen übernommen hatte, weil der Hausherr selbst zu wenig Zeit
und Geduld dafür besaß. Das bedeutete aber auch, dass Pritbor fast
nach Gutdünken mit den 7 Jungen verfahren konnte, die als Knappen
dienten. Neben Cuno als dem bisher jüngsten waren das Miška, Tibor,
Johann, Juri, Pjotr und Friedrich.
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Miška, der Älteste hatte seinen Strohsack direkt hinter der Tür. Das war
der Platz, von dem aus man am besten Handeln konnte, je nachdem,
wer oder welche Anforderung zur Tür hereinkam. Und gegen diesen
musste Cuno am Morgen im Tjost antreten.Miška war Tscheche und
stolz darauf. Und überzeugt, dass er, sowie er zum Ritter geschlagen
wäre, alle, die keine Tschechen waren, also nicht zur Česka gehörten,
aus Böhmen vertreiben würde.Sein jüngerer Bruder Tibor war Cunos
besonderer Freund: sie waren ungefähr gleich alt, versuchten, in der
wenigen Freizeit, die sie hatten, ihren Schatz an Liedern gemeinsam zu
erweitern und sie waren beide von dem gleichen Mädchentyp fasziniert. Cuno erkannte zunehmend, dass er alle weiblichen Wesen, die
jünger waren als Boleslavs Frau Aljina, mit Salwa verglich! Tibor war ein
Jahr länger in Jihlava als Cuno, aber Cunos Vorbereitung in Steigerthal
hatte aus ihm einen ebenbürtigen Kämpfer gemacht. Johann war wie
Cuno aus Thüringen, aus einem edlen, aber armen Rittergeschlecht, das
auf einer halbverfallenen Burg nahe der Eger im Grenzgebiet zu Böhmen hauste. Trotzdem hielt er sich für den Vornehmsten unter den
Knappen und ließ sich nur hin und wieder herab, mit den anderen die
Zeit zu verbringen. Juri war der Sohn eines Bergmeisters aus Mähren,
etwas weiter Richtung Mittag als Jihlava, der eigentlich nur zu Boleslav
gekommen war, um mehr über das Bergwesen zu lernen, aber der Ritter hatte so viel Gefallen an ihm gefunden, dass er ihn seiner Knappenschar zugesellte, ganz zum Stolz von Juris Eltern. Pjotr war der Sohn eines polnischen Adligen, mit dem Boleslav Handel zu treiben pflegte und
den der Böhme auf Bitten der Eltern als Knappe aufgenommen hatte,
damit er bei Pritbor von Jihlavy Zucht und Ordnung lernte, was ihm
seine Eltern wohl nicht beibringen konnten. Er war der Störenfried in
der Gruppe – außer Miška natürlich – der immer wieder daran schuld
war, wenn Pritbor sich genötigt sah, die ganze Knappenschar zu bestrafen. Und dann Friedrich: schmächtig, dunkles, dünnes Haar und einem
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Gesichtsausdruck, der zeigte, dass er gleich zu heulen anfangen würde,
und er war in hohem Grad ängstlich. Seine bayrische Familie war sicher
froh, ihn für eine Weile los zu sein! Er war auch schuld, dass Wolf nicht
im Zimmer der Knappen schlafen durfte, sondern sich im Stall eine
Kuhle bei Cunos Pferd machen musste.
Das Pferd! Cuno hatte es ja von zu Hause mitgebracht, damals noch
jung, kaum geschult, aber der lange Weg hatte den Hengst einiges lernen lassen, und der Weiße Boris, der Stallmeister der Přemysliden in
Jihlava, dem das Pferd sofort gefallen hatte, hatte ihn zu einem richtig
guten Streitross erzogen, auch wenn er ein wenig zu klein und leicht
war; deshalb hatte Boris ihm auch einen anderen Namen gegeben: statt
„ Hasso“ hieß er nun „der Kleine“, auf tschechisch „ Váží “.
Morgen also Tjost gegen Miška. Für beide war es eine wichtige Entscheidung. Natürlich wäre es eine große Überraschung, wenn er gegen den
fünf Jahre älteren und sicher doppelt so schweren Miška gewinnen
würde, aber Pritbor hatte angekündigt, dass er aus dem Verlauf des Turnieres heraus entscheiden würde, ob Cuno weiterhin ganz die ritterlichen Übungen durchleiden musste, oder ob er zu gewissen Zeiten den
Schwarzen Boris begleiten könnte, den Bergmeister Boleslavs, um das
Berghandwerk zu erlernen.
Für Miška war der Tag entscheidend, weil er nach Vorgabe des Knappenmeisters die anderen Knappen, die das Gleiche wie er, nur noch
nicht so lange, gelernt hatten, besiegen musste. Erst dann könne ihn
Johann von Luxemburg, der derzeitige böhmische König, zum Ritter
schlagen. Zweimal schon hatte Miška es nicht geschafft: beim ersten
Mal hatte er zwar alle anderen besiegt, aber es gab keinen König, der
ihn hätte in den Ritterstand erheben können. Und als Johann sich im
Jahr, bevor Cuno nach Jihlava kam, endlich als König durchgesetzt hatte,
war Miska seinem eigenen Bruder, gegen den er wohl nicht mit aller
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Macht gekämpft hatte, unterlegen! Für ihn ging es also um alles oder
nichts, und dementsprechend würde er die anderen Knappen zu vernichten versuchen, Cuno als jüngsten zuerst.
Im Geist ging Cuno nochmal den Ablauf des Tjosts durch; er wusste, wie
er die Lanze beim Gegner anzusetzen hatte, auch wenn es morgen um
stumpfe, vorne gepolsterte Stangen ging; er wusste auch, wie er verhindern konnte, dass sich die Lanze in den anstürmenden Angreifer verhakt und ihn damit vom Pferd zog. Aber würde es so gehen? Und dann
kam das Schwerste: mit stumpfem Schwert und dem kleinen Schild zu
Fuß in der schweren Rüstung gegen den größeren Gegner durchhalten
– er konnte sich nur auf seine Schnelligkeit verlasen, an Kraft hatte er
Miška nichts entgegenzusetzen. Wenn der wieder, wie letzte Woche, es
schaffte, ihm den Schild aus der Linken zu schlagen, könnte er sich das
Wissen über den Bergbau, weswegen er ja seiner Meinung nach eigentlich hier war, noch für ein weiteres Jahr aus dem Kopf schlagen. Wenn
er Váží dazu brächte, dass er einen Schritt zu der Seite machen würde,
die dem anstürmenden Miška abgewandt ist, dann hätte der seine
Lanze falsch gesetzt und Cuno hätte eine zweite Chance. Aber wie soll
er das schaffen. Und dann kam ihm der Gedanke, Wolf mit auf den Turnierplatz zu nehmen; wenn der rechtzeitig seinen Freund Váží anheulen
würde, lehnte der sich sicher auf Wolfs Seite und Miška stürmte ins
Leere… „Euer Vater hat schon Recht: Betrug sollte nicht sein. Und Betrug lohnt sich nicht.“ Die Stimme Cuonrads von Hohnstein hallte in seinem Kopf wider. Er hatte das gesagt, nachdem der alte Gernot wutentbrannt gegangen war, weil ihm das Verschneiden der Münzen als Betrug erschien. Es war Betrug, auch wenn es die Landgrafschaft in dem
Jahr gerettet hatte und unterdessen die meisten verschnittenen Münzen wieder eingesammelt und gereinigt waren.
Als Cuno in voller Rüstung auf Váží in die Kampfbahn ritt, war er froh,
dass er Wolf nicht zum Betrug mitgebracht hatte; und er war froh über
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seinen Helm, der verbarg, dass ihm das Blut ins Gesicht schoss: Auf der
einfachen Tribüne saßen Graf Heinrich von Pisek, seine Gemahlin Ermingilda und ihr Patenkind Salwa neben Boleslav Přemisl, um dem Tjost
zuzuschauen und den Fortschritt der Knappen zu begutachten, während Pritbor Ausrüstung, Waffen und die Sattlung der Pferde bei den
anderen Knappen ein letztes Mal überprüfte.
Miška war auf seinem Ross in die anderen Kampfbahn geritten. Beide
warteten auf das Zeichen Boleslavs um die Pferde antraben zu lassen.
Doch der unterhielt sich mit seinen Gästen und rief auch noch Pritbor
hinzu. Nervös nestelte Cuno an seinem Waffenrock herum, zog das steigerthalsche Wappen gerade und versuchte, Salwa so gut wie möglich
zu sehen. Die winkte ihm kurz zu und als Boleslav in dem Moment den
Befehl zum Angriff gab, war Cuno zu überrascht, um an Taktik zu denken. Er setzte die Lanze auf den Oberschenkel, gab Váží die Sporen und
raste auf Miška zu, dessen Lanze schon am rechten Ellbogen eingelegt
auf Cuno gerichtet war. Als sie nur noch wenige Längen trennten, ließ
Cuno seine Lanze nach vorne sinken und traf Miškas vom Schild geschützten linken Arm, während er selbst sich unter dem beim Aufprall
etwas zu hoch geratenen Lanzenkopf Miškas durchbückte, so dass der
halbe Schaft ihm über den Rücken glitt, ihn aber nicht aus dem Gleichgewicht brachte. Am Ende der Kampfbahn wendeten beide ihre Pferde
und stürmten erneut aufeinander zu. Diesmal gab es kein Entrinnen.
Cuno flog aus dem Sattel und krachte auf den sowieso schon schmerzenden Oberarm. Aber im Fallen hörte er den Aufschrei Salwas. Als er
wieder auf die Füße kam, sah er, dass sie die Hand vor den Mund hielt
und ihn mit Tränen in den Augen ansah. Das war der Kraftspender, der
ihm gefehlt hatte. Miška und Cuno standen einander nun – so gebot es
die Regel – zu Fuß gegenüber, Kurzschwert und kleines Schild. Miška
stürmte auf Cuno zu, den Schild halbhoch gehalten, das stumpfe
Schwert in der Faust, bereit, von unten nach oben zuzustechen. Cuno
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wartete, bis der Tscheche schon fast nah genug für einen Streich war
und wechselte dann blitzschnell Schwert und Schild, so dass Miška nun
vor seinem Schwert den Schild Cunos hatte, während dessen Linke einen mächtigen Schlag gegen den Kopf des Gegners landete. Miška stolperte kurz und warf sich mit einem lauten Schrei auf den Kleineren, der
wieder Schwert und Schild zu tauschen versuchte, aber doch zu langsam
war. Der Schild fiel ihm nach dem ersten Schlag aus der Hand, Miška
setzte ihm das Schwert an die Halsbeuge und schlug zu. Stöhnend sank
Cuno in den Matsch der Kampfbahn und gnädiges Vergessen legte sich
um ihn.
Als er wieder zu sich kam und versuchte, die Augen zu öffnen, lag er in
dem kleinen Zelt, das den Kämpfern als Ankleide diente. Draußen hörte
er das Geschrei der Kämpfenden, drinnen lag Tibor bewusstlos neben
ihm, und Friedrich wartete , nun wirklich heulend, auf seinen Einsatz.
Aber da spürte Cuno, wie jemand ein feuchtes Tuch auf seine Stirn legte
und ihm vorsichtig das Gesicht zu reinigen versuchte. „Du kannst es sicher nicht ertragen, schmutzig zu sein!“ sagte die helle Stimme Salwas
hinter ihm. Er öffnete die Augen und schaute hoch. Ihre Stimme hatte
geklungen, als ob sie sich über ihn lustig machen würde, aber als er ihr
ins Gesicht sah, bemerkte er die Tränen, die ihr über die Wangen liefen.
„Warum müsst ihr nur immer kämpfen, es gibt doch Wichtigeres, das
immer gilt – frag deinen Tasso!“ Mit Mühe hob er seinen Arm und legte
seine Hand auf ihre. „Danke!“
Neben im rührte sich Tibor und Salwa konnte nicht anders als auch ihm
die Stirn zu kühlen, bis er ganz erwachte. „Wie sieht es draußen aus?“
fragte Cuno, die unverfänglichste Frage, die dem Vierzehnjährigen einfiel. „ Miška hat bisher alle besiegt, aber so übel wie euch beide hat es
keinen erwischt. Johann ist erst im vierten Anlauf gefallen und, Pjotr hat
sich, glaube ich, von alleine fallen lassen und tat sich damit gar nicht
weh. Juri fiel gleich, hat aber Miška im Fußkampf fast besiegt – jetzt ist
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noch Friedrich dran, aber sicher nicht lange!“ „Stimmt!“ Das war Pritbor, der gerade die Decke am Eingang des Zeltes zurückschlug. „Miška
kann sich zum Ritter schlagen lassen und auch der Rest hat sich gut gehalten –bis auf Friedrich – der dürfte schon oben in eurer Kammer auf
dem Strohsack liegen und heulen! Lasst sehen, was ist euch passiert?“
Salwa rückte zur Seite und der stämmige Ritter machte kein Federlesen
aus seiner Überprüfung. Beide Jungen zogen vor Schmerz die Luft durch
die Zähne ein, als er sich Arme, Beine und Brustkorb der beiden vornahm. „Sehr schön – nichts wirklich kaputt, auch wenn es noch ein paar
Tage weh tun wird. Du, Tibor, brauchst nochmal ein paar Fußkampfübungen, damit dich so einer wie dein Bruder nicht wieder niederschlagen kann. Ich verstehe schon, dass er die Schmach vom letzten Jahr,
gegen den kleinen Bruder verloren zu haben, tilgen musste, aber du
hättest auch damit rechnen müssen und dich besser sichern. Und nun
zu dir, Cuno: Dafür, dass du erst ein Jahr bei uns bist, hast du dich gut
geschlagen; der Trick, Schild und Schwert erst in der einen, dann in der
anderen Hand zu führen, hat schon manchen großen Ritter zu Boden
gebracht. Was dir noch fehlt, ist Kraft und Sicherheit. Die Kraft wirst du
bekommen, wenn du ab nächster Woche wieder richtig laufen kannst
und der Schwarze Boris dich in den Berg scheucht!“ Damit verließ Pritbor die drei und gesellte sich wieder zu den Gästen, um einen ordentlichen Schluck auf die Erfolge zu nehmen. Cuno überlegte verzweifelt,
wie er das Gespräch mit Salwa, die ihn jetzt fragte wo und wie es weh
täte, so hinbiegen konnte, dass dabei mehr als nur das Gesagte gesprochen wurde, als die Decke des Zeltes wieder gehoben wurde. Eine der
Mägde schaute scheu herein und überbrachte ihre Botschaft: „Ritter
Přemisl bietet euch an, das Badehaus zu benutzen; Frau Aljina hat warmes Wasser bringen lassen. Neben dem Becken findet ihr ein Fläschchen mit einer Tinktur, die sollt ihr auf die schmerzenden Stellen reiben.“ Und damit war sie verschwunden. Salwa musste trotz immer noch
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rollender Tränen über das ganze Gesicht grinsen. „Da wird unser Cuno
sich aber freuen! Und, ehrlich gesagt, ich auch, denn so, wie ihr beide
gerade riecht, ist es keine Freude, heute Abend beim Festmahl neben
euch zu sitzen! Bis später!“ Sie ließ ihre Hand etwas länger als notwendig auf Cunos Stirn liegen und verschwand dann ebenfalls durch die
Zeltdecke.
„Ist das das Mädchen aus Pisek, von dem du erzählt hast?“ Tibor schien
der Schlag seines Bruders schon weniger zu beschäftigen als seine Neugier. „Ja.“ „Die ist wirklich süß – diese Haare, diese Haut – aber das mit
den grünen Augen war hier im Zelt gar nicht zu erkennen – ich glaube,
da hast du aufgeschnitten!“ Cuno quälte sich auf die Füße. „Ich glaube
nicht. Wenn wir nachher mit ihr zu Abend gegessen haben und die Halle
wie üblich festlich erleuchtet ist, wirst du schon sehen. So, und jetzt lass
uns baden gehen!“ Tibor war gar nicht so begeistert, seinen ganzen Körper nass zu machen, aber Cuno hatte schon so oft das Baden als etwas
Schönes erwähnt, dass er sich ohne Murren ebenfalls aufrichtete und
mitkam, und wenn es nur war, um seine Neugier zu befriedigen!
Das Badehaus war hinter dem Turm, der die Kemenate verbarg, in halber Höhe angebaut. Eigentlich war die Kemenate das Frauenhaus, aber
BoleslavPřemisl hatte es wie viele andere als die Privatgemächer der
Familie gebaut. Cuno und Tibor mussten erst einmal die Treppe im
Turm hinauf, dann durch die von einem Gewappneten bewachte Tür in
den eigentlichen Wohnbereich, und da erwartete sie schon die Magd,
die ihnen vorher die Nachricht gebracht hatte und wies ihnen den Weg:
Hinter einer festen Holztür öffnete sich ein wohl zwanzig auf vierzig Fuß
großer Raum, angenehm erwärmt durch ein großes Feuer im Kamin und
in das in der Mitte liegende Becken sprudelte – wie Salwa es erzählt
hatte – dampfendes Wasser aus einem Holzrohr. Die beiden Jungen
entledigten sich der Reste der Rüstungen, dann der Unterkleider und
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stiegen vorsichtig in das Becken. Kaum hatten sie es sich auf den gemauerten Bänken im Becken gemütlich gemacht, kam Pritbor herein,
und rief nach draußen: „Genug Wasser! Abstellen!“ Dann wandte er
sich an Cuno und Tibor: „Das warme Wasser hilft den Muskeln, den
Schmerz zu vertreiben und es verhindert, dass Schlimmeres als Schmerzen daraus entstehen. Lasst euch erst einmal durchwärmen, und dann
nehmt die Tinktur von Frau Aljina und reibt sie in die schmerzenden
Stellen. Die Magd wird euch saubere Kleidung bringen, eure dreckige
könnt ihr morgen waschen und die Rüstungen morgen polieren. Wir erwarten alle Kämpfer beim Abendmahl. Es wird schließlich das letzte Mal
sein, dass Miška als Knappe in unserer Halle sitzt!“
Etwa eine Stunde später saßen zwei wohlriechende, saubere und aufgeregte Knaben neben ihren Knappenbrüdern und Salwa gegenüber.
Cuno gratulierte Miška, der sich sichtlich freute, dass seine härtesten
Gegner wieder auf den Beinen waren. „Danke für die guten Wünsche!
Und ich muss sagen, du warst ein harter Brocken, genau wie Tibor. Und
wenn ich euch nicht alle besiegt hätte, hätte ich wenigstens Baden wollen. Ich weiß noch, wie das mir beim ersten Kampf wohl getan hat!“ Alle
waren durstig und hungrig, und wie es Brauch war in Jihlava, musste der
Sieger des Tjost die Unterlegenen und die Gäste bewirten, so dass sich
Miška erst einmal seinen Pflichten widmen musste. Tibor, Johann, Juri,
Pjotr und Friedrich stürzten das erste Bier hinunter, Cuno blieb beim
Wasser, da er wusste, dass das Bier ihn zu schnell wirres Zeug reden
ließ, und das wollte er heute Salwa gegenüber nun wirklich nicht. „Wie
war das Baden?“ „So, wie du gesagt hast: das warme Wasser fließt aus
einem Rohr in der Wand und wenn du bis zum Hals darin liegst, kannst
du dir vorstellen, wie das Paradies ist!“ „Schwärme du nur weiter –
wenn das noch lange geht, werde ich Onkel Heinrich bitten, mir in Pisek
auch ein Badehaus einzurichten!“ „Dann könnten wir zusammen baden“ platze es aus Cuno heraus, und bevor der Satz ganz heraus war,
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wurde der Junge puterrot, Salwa aber auch, obwohl sie die Geschichte
von Cunos Urgroßmutter sicher nicht kannte. Und keiner von beiden
vollendete den Gedanken in Worten.
Nach dem Essen kam der Schwarze Boris herüber an den Tisch der jungen Leute. Er war vierschrötig, mit kräftigen Armen und Beinen und trug
einen dichten, schwarzen Bart und langes schwarzes Haar – der Name
passte zu ihm. „ Pritbor hat mir gesagt, dass ich nächste Woche einen
neuen Bergmann einarbeiten soll; hast du feste Schuhe, keine Stiefel?
Und eine eiserne Kappe? Besorg dir beides von Boleslav und am Montag
bei Sonnenaufgang bist du am ersten Schacht in Staré Hory, das ist
gleich hinter der Burg!“ Ohne weitere Höflichkeiten drehte sich der
Schwarze Boris um und stapfte zu seinem Tisch, wo er mit anderen
Bergleuten weiter trank. „Warum willst du denn unbedingt das Berghandwerk lernen? Du fliegst als Knappe ja schon oft genug in den
Dreck!“ Cuno schaute Salwa an – ja, ihre Augen waren so grün, wie er
es Tibor erzählt hatte. Als er kurz zu dem hinübersah, konnte er feststellen, dass auch Tibor diese Augen suchte.
„Ich komme aus einer Familie, die nur ein sehr kleines Lehen hat – und
du kannst beruhigt sein, wir haben keine Leibeigenen! Die Leute in unserem Dorf arbeiten entweder als Bergleute oder versorgen diese. Und
das Silber, das wir gewinnen, erhält der Landgraf Friedrich von Thüringen, um Hof und Heer zu bezahlen. Aber wir haben wenige Kenntnisse,
was Bergbau und Silbergewinnung angeht. Was wir wissen, das haben
wir alles aus Erfahrung uns erarbeitet. Boleslav, eigentlich noch besser
der Schwarze Boris, weiß viel, viel mehr darüber, und wenn ich das auch
alles gelernt habe, dann können wir unseren Steigern ein besseres Leben sichern und unserem Landesherren die Ruhe für eine gute Politik!“
„Und du kannst den ganzen Tag baden!“ Es klang schnippisch, aber
Salwa sah dabei eher verträumt aus. „Oder du kannst mit mir Schach
spielen – jetzt!“ „Oh, Salwa – das ist etwas, was ich nun noch überhaupt
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nicht kann. Ich weiß, ich sollte es können, so wie Singen und Leier spielen, aber…“ Tibor beugte sich zu ihnen hinunter. „Hast Du Pritbor nicht
gehört? Wir sollen sofort in unserer Kammer zusammenkommen. Die
Arbeiten für morgen werden verteilt und da Miška heute seine erste
Nacht im Saal der Ritter verbringen darf, müssen wir auch klären, wer
im nächsten Jahr, bis ich zum Ritter geschlagen werde, wo seinen
Schlafplatz hat. Bleibst Du überhaupt hier in der Burg oder wohnst du
dann irgendwo beim Schwarzen Boris?“ Cuno stand auf, verbeugte sich
höflich vor Salwa, flüsterte leise „Ich hoffe, ich sehe dich bald wieder“
und folgte Tibor, um sich von Boleslav und Aljina und den Gästen zu
verabschieden. Heinrichs „Besuch uns bald in Pisek!“ nahm er gern zur
Kenntnis und folgte dann Tibor in ihre Kammer. „Wo sind die anderen?“
„Unten in der Halle.“ „Was soll das? Warum hast du mich hierher gelockt?“ „Weil jeder sehen konnte, dass du völlig verschossen bist in dieses Mädchen und ich dich vor irgendwelchen blamablen Geschichten
schützen wollte! Sie ist sehr nett und sehr schön und hat sehr grüne
Augen, aber sie ist Tschechin, und du kennst die Meinung Miškas, die
übrigens die Meinung meiner ganzen Familie und meine ist, dass dieses
Land und seine Menschen unser Land sind.“
Cuno gab sich geschlagen. Er wusste, dass er von Salwa träumte und sie
schöner, klüger, geistreicher fand, als alle anderen Mädchen oder jungen Frauen, und er war sich nicht sicher, ob er nicht bald irgendeinen
Blödsinn gemacht hätte, den er zwar sich erträumen könnte, aber den
er nicht im Beisein all dieser Männer zeigen durfte.
Deshalb half er Tibor, die Strohmatratzen herum zu schieben. Tibor erhielt nun den Platz hinter der Tür, Cuno rutschte an die trockene
Wand zum Treppenhaus hin und der nasse Platz an der Außenwand
blieb frei für den, wen auch immer, der neuer Knappe von Boleslav
Přemisl werden sollte. „Ich soll meinen Bruder nach Prag begleiten, du
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kannst dann solange meinen Platz einnehmen.“
Iglau, Sommer 1318
„Die Hochfläche, die sich rund um Jihlava erstreckt, ist aus den gleichen
Gesteinen, die du auch schon von zu Hause kennst, der grauschwarz
gesprenkelte Granit und der grauschwarz gebänderte Gneis. Hier haben
wir den Vorteil, dass sich die Schichten von Sonnenuntergang nach Sonnenaufgang senken, so dass man schon bald feststellen kann, ob das
Gestein Silber enthält.“ „Das ist viel einfacher als bei uns – da liegen die
Schichten gerade und man muss sich erst hindurch graben, um Erzgänge zu finden!“ „Siehst du, das ist schon ein Grund, warum wir hier
viel erfolgreicher sind. Woran erkennst du, ob Silber im Gestein ist?“
„Zwischen den schwarzgrauen Punkten oder Streifen sieht man kleine
fast braune Kerne oder Fäden – das ist das Silber.“
Cuno und der Schwarze Boris liefen von der Burg durch Staré Hory zum
ersten Schacht. Er war von einem massiven Dach aus Balken und Schindeln gekrönt, das die eigentliche Mechanik verbarg. Zwei dicke
Stämme, die auch den Dachfirst trugen, hatten je ein großes Loch, durch
das ein kleinerer Stamm geschoben war, an dessen beiden Seiten Hölzer hineingeschlagen waren, damit man an ihnen wie an einem Steuerrad den Stamm drehen konnte.. Der Schachtmeister überwachte die
Anlage und rieb oft Tierfett in die Löcher, so dass sich der kleinere
Stamm leicht bewegte, trotz der großen Lasten, die an ihm hingen. An
ihm befestigt waren zwei Seile, die jeweils große Wannen trugen. Die
Seile waren aber so gewickelt, dass ein Bergmann, der sich in so einer
Wanne in den Schacht begab, mit seinem Gewicht die andere Wanne
mit ausgebrochenem Gestein nach oben zog – auch wenn der Schachtmeister manchmal nachhelfen musste, weil die eine oder die andere
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Wanne schwerer waren. Aber dafür waren die Querhölzer an den beiden Enden des Stammes ja schließlich da. Oft musste des Schachtmeisters Geselle, der tatsächlich nach seinem Körpergewicht ausgesucht
wurde, an der Stelle eines Bergmanns in den Schacht fahren, damit das
Gestein nach oben kam. Der arme Kerl hatte dann aber immer wenig
Zeit, um über die Leitern wieder nach oben zu steigen, denn es waren
viele Steiger und ihre Gehilfen im Schacht, und die Schmelzöfen brauchten ständig Nachschub an Gesteinsbrocken. Das silberhaltige Gestein
wurde in Schubkarren geschüttet und zur Verarbeitung gebracht. Das
„blinde“ Gestein, also der Abfall, der ausgebrochen wurde, um den
Schacht tiefer zu machen oder um zwei Gänge zu verbinden, wurde
rund um den Schachteingang aufgeschüttet. Dieser Wall war beim ersten Schacht schon höher als der Schachtturm. Cuno hatte die letzten
Wochen die niederste Arbeit im Berg getan: er hatte das von den Steigern herausgebrochene Gestein in Weidenkörben entweder schräg
nach oben oder schräg nach unten bis zum Schacht getragen und in die
Wannen geschüttet. Da die Schichten sich absenkten, wie ihm Boris gerade wieder erklärt hatte, hieß das, dass er auf dem unebenen Boden
im Dunkeln die nicht mal mannshohen Gänge schwerbeladen bergauf
laufen musste, immer auf das Licht im Schacht achtend, das ihm die
Richtung wies. Zurück war der Weg leichter, aber die Funzeln der Steiger waren so schwach, dass er oft gegen das Gestein taumelte. Die eiserne Kappe und die festen Schuhe hatten ihm oft geholfen, aber er
hatte trotzdem mehr blaue Flecken als jemals in seiner Knappenzeit.
Aber, und das hatte ihm Knappenmeister Pritbor ja vorausgesagt, er
war wesentlich kräftiger geworden. Das war wohl auch der Grund, warum Boris heute mit ihm sprach, statt ihn direkt in den Schacht zu schicken. „Du hast jetzt genug Kraft, um selbst als Hauer zu arbeiten. Lass
uns über die Leitern in den Schacht steigen, und dann versuchst du
mal,ob du eine Stelle finden kannst, die wirklich Silber führt und an der
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du das Gestein aus deinem ersten Erzgang herausbrichst.“ Er drückte
Cuno eine Haue in die Hand. Sie sah fast aus wie ein Kreuz: der Eichenholzstiel steckte in einem Flacheisen, das an beiden Enden daumenlang
und zugespitzt war. Cuno war stolz, dass der Schwarze Boris ihm das
Steigen schon nach so wenigen Wochen zutraute, aber er wusste auch,
dass er jetzt gut suchen musste, sonst würde er noch Monate Steine
schleppen. Als sie die Leitern bis fast zum Grund des Schachts herabgestiegen waren, sah er aus den Augenwinkeln im Licht der Laterne eine
braune Linie im Gneis, die eine andere Farbe hatte als die Gesteinsbänder. Er stieg die Leiter wieder etwas hinauf und bat Boris um seine Laterne. Oft genug hatte er die Hauer ihr Werkzeug führen sehen und so
konnte er mit wenigen Schlägen einen vielleicht faustgroßen Stein herausbrechen, den er mitsamt der Laterne Boris reichte. „Verdammt, da
kommt so ein Anfänger und sieht, was alle meine Steiger übersehen haben! Leg eine zweite Leiter an und dann schauen wir, ob da noch mehr
ist als ein Silberfädelchen.“ Boris nahm sich ebenfalls eine Haue und mit
vereinten Kräften hatten sie bald eine kleine Höhle in die bis dahin recht
glatte Schachtwand geschlagen. Normalerweise reichte der Schacht immer nur so tief, wie die unterste Fundstelle, aber nun arbeiteten sie
mindestens 20 Fuß über dem Schachtboden, so dass sie genauso viel
Kraft brauchten, nicht von der Stelle zu rutschen als Gestein zu hauen.
„Hol die Proben, und dann schauen wir nach, was Du wirklich entdeckt
hast!“ Cuno stieg zum Schachtboden hinab, füllte das herausgehauene
Gestein hinein, trug es zur Wanne und schaute ihr nach, als sie nach
oben stieg und der Geselle des Schachtmeisters unten aus der anderen
Wanne sprang. Während Boris schon die Leitern hinaufstieg, blieb Cuno
unten, bis alles Gestein verladen war. Als auch er oben ankam, sah er,
dass Boris den Inhalt der ersten Wanne bereits einem Hauer zugeschoben hatte. Wie viele andere saß dieser gleich hinter dem Gesteinswall,
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der den Schacht umgab, auf einem Sitzbalken, vor sich einen Granitwürfel, so hoch wie der Balken. In der Oberfläche war durch das dauernde
Hauen eine Kuhle entstanden, in die der Hauer nun das neu gebrochene
Gestein legte. Mit einem Holzschlegel und einem Flacheisen rückte er
den Brocken zu Leibe und zerschlug sie in kieselgroße Stückchen. Ein
Junge füllte diese Splitter in einen Korb, und als die „Ernte“ von Cuno
und Boris zerkleinert war, lud sie der Junge auf eine Schubkarre und
führte sie zu dem Schmelzofen, der gerade die größte Hitze entwickelte.
„Jetzt wird es spannend“, sagte der Schwarze Boris und wies einen
Knecht an, den Karreninhalt in einen der großen tönernen Tiegel zu füllen und schob diesen eigenhändig auf eisernen Schienen in die Glut. Der
Knecht stellte eine Sanduhr auf „Beginn“; neben ihm begann ein dritter
Helfer, den Blasebalg mit beiden Händen zu ziehen. Die Hitze in der
Schmelzhütte war enorm, die Knechte trugen eigentlich nur Lederschürzen, um sich vor herausfallender Glut oder gar geschmolzenem
Metall zu schützen. „Warum sind die Schmelzöfen eigentlich von Mauern umgeben und haben ein Dach? Die Hitze kann man doch kaum ertragen, und wenn einem der Schweiß in die Augen läuft, wie mir gerade,
kann doch viel passieren.“ „Das stimmt schon“, lachte Boris, „Aber Hitze
brauchen wir nun mal zum Schmelzen, und es ist teuer genug, die Hitze
zu erzeugen, da wollen wir doch nicht den Wald da drüben mit erwärmen!“ Als der Sand in der Uhr durchgelaufen war, zog der Knecht den
Tiegel wieder aus der Glut, stellte einen anderen davor, befüllte diesen
und das Ganze wiederholte sich. Boris und Cuno waren zu neugierig, um
abzuwarten, bis der erste Tiegel ausgekühlt war. Cuno schnappte sich
einen Holzspaten, mit dem gewöhnlich die Holzkohle aufgelegt wird
und schob das heiße Gestein heraus. Und am Boden blieb eine ziemlich
große, mattgraue Lache übrig. Als Cuno den Spaten in die Lache
stieß, brach die mattgraue Haut darüber und das hellglänzende
Silber kam zum Vorschein. „Junge, damit hast du dir in ein paar
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Stunden einen ordentlichen Einstand geschaffen,“ rief der
Schwarze Boris und schlug Cuno auf die Schulter; denn wie im
ganzen Reich erhielt der Steiger auch in Böhmen den zehnten Teil
des erschmolzenen Silbers als Lohn, und das Zehntel der ersten
Schmelzung sofort. „Damit kannst du deinen vornehmen Herren und
Knappen heute Abend so manchen Krug Bier kaufen!“ „Ihr seid eingeladen, Boris, und der Schachtmeister auch!“
Als Cuno bei Sonnenuntergang zurück zur Burg mehr schwankte als
ging, hatte er „seinen“ Erzgang schon so weit vertieft, dass er beim
Hauen in der Höhlung knien konnte, und die Ausbeute war weiter gut
gewesen. Die Hände schmerzten vom Aufprall der Haue auf das Gestein, die Finger waren blutig vom Zusammenklauben der Brocken, aber
trotzdem war er glücklich. Er hatte einen Fladen Silber in der Tasche und
endlich ging es vorwärts mit seinen Kenntnissen über den Bergbau. Allein die Vorrichtungen wie der Schachtturm oder der ausgeklügelte
Schmelzofen, die er in den letzten Wochen kennengelernt hatte, würden die Produktion in Steigerthal vervielfachen. Er musste nur noch die
Technik soweit verstehen, dass er sie nachbauen konnte. Wenn er da
an die primitive Kurbel dachte, mit der das Gestein zu Hause aus dem
Schacht gezogen wurde – wie Wasser aus dem Brunnen! Und die
Schmelzen waren eher wie der Holzkohlehaufen an der südlichen Bastei, damals, als Graf Hohnstein und sein widerstrebender Vater versucht
hatten, Silber zu verschneiden. Vieles aber verstand er noch überhaupt
nicht, und deswegen war es gut, dass er bis zum Winter dem Schwarzen
Boris zugeteilt war, auch wenn er seine Knappenbrüder nur des Abends
wiedersah.
Miška war nach Hause geritten um den alten Vater als Herrn der Güter
abzulösen. Tibor war alleine von Prag zurückgekommen und hatte Wolf
wieder mitgebracht, dem es ohne Cuno zu langweilig geworden wäre.
111
Er war jetzt ein erwachsener Wolf, der sehr wohl sein Fressen selbst
besorgen konnte, aber er war auch so gut erzogen, dass selbst Friedrich
ihn jetzt in der Knappenkammer akzeptierte, vielleicht auch, weil Wolf
als einziger sich nicht über ihn lustig machte. Als Cuno eintrat, stürmte
der Hund schwanzwedelnd auf ihn zu, und so wackelig, wie Cuno auf
den Beinen war, hätte er ihn fast umgeworfen. Gemeinsam gingen sie
in den Stall, wo Cuno wie jeden Abend Váží noch einmal sattelte und
rund um die Burg eine kleine Runde drehte. Diesmal ritten sie allerdings
in die Stadt hinein, wo Cuno im besten Wirtshaus der Stadt für einen
kleinen Teil seines Silberfladens ein Fässchen Bier erstand, das er vor
sich auf dem Sattel zur Halle transportierte. Vorsichtig stieg er mit seinen schmerzenden Knochen von Váží, der gar nicht mehr so klein zu
sein schien, und trug das Bier in die Halle, wo er und das Fass mit großem Hallo begrüßt wurden.
Am nächsten Morgen taten ihm seine Knochen immer noch weh, aber
zusätzlich der Kopf! Der Schwarze Boris erwartete ihn schon am
Schachtturm, doch als Cuno sich auf den Weg nach unten machen
wollte, hielt ihn Boris am Arm fest. „Du hast doch einen unvoreingenommenen Blick von außen“, sagte er. „Wenn Du jetzt mal überlegst,
was Dir gestern passiert ist: Kann man schneller eine Silberader finden?
Nein! Gibt es eine andere Möglichkeit, das Gestein herauszuschlagen?
Ja, nämlich mit Holzkeilen, die wir in vorhandene Spalten schlagen und
dann mit Wasser befeuchten, bis sie aufquellen und so den Stein brechen. Aber das geht nicht im Schacht, da ist die Gefahr, dass der Bruch
riesig wird, zu groß. Gibt es eine Möglichkeit, das Gestein schneller aus
dem Schacht zu befördern? Nein!“ „Doch“, unterbrach ihn Cuno, „das
haben wir sogar in Steigertahl schon mal gemacht, als uns vor zwei Jahren viel Silber gestohlen worden war und wir viel mehr herausbrechen
mussten als normal üblich: Wir haben damals aus einer alten Wind-
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mühle die Flügelwelle, die die Flügel trägt mitsamt dem Kammrad ausgebaut. Die Welle haben wir aufrecht in ein Holzgestell gesteckt und an
die Flügel jeweils einen Ochsen geschirrt, die statt des Windes die Welle
gedreht haben. Das Kammrad, also ein Holzrad mit ganz vielen Zapfen
am Rand, haben wir mit einem zweiten Kammrad verbunden, das auf
der Welle saß, an dem der Fördereimer festgemacht war. Wenn sich die
Ochsen also im Kreis bewegten, drehten sie das Kammrad auf der Welle
und dieses Kammrad drehte die Seilwicklung. War der Eimer oben,
wurde er geleert, durch einen Hebel wurden die beiden Kammräder getrennt und der leere Eimer fiel wieder an seinem Seil in den Schacht;
war er voll, wurde der Hebel wieder entfernt und der Eimer rauschte
nach oben. Nur schade, dass das Holz schon sehr alt und mürbe war, so
dass wir nicht allzu lange die Förderung so einfach hatten.“ „Habt ihr
nicht versucht, diese Vorrichtung noch einmal zu bauen?“ „Nein, ich
glaube, die Steiger und die Knechte wollten das nicht – und was machst
du mit einem Bergwerk, wenn die Steiger nicht wollen?“ Boris setzte
sich auf den Wall am Schacht, nahm einen Stein auf und versuchte, die
von Cuno beschriebene Vorrichtung in den Staub zu zeichnen. „Lauf zurück zur Burg, nimm dein Pferd und reite zu Ješko, dem Zimmermann,
der seine Werkstatt direkt an der Mündung der Jihlávka hat. Bring ihn
so bald wie möglich her. Und er soll seinen Kopf mitbringen, wir brauchen ihn hier!“ Cuno rannte los, stürmte in den Stall, wo er von Wolf
mit Schwanzgewedel und von Váží mit einem Stupsen der Schnauze an
die Schulter begrüßt wurde. Er führte das Pferd in den Hof, legte ihm
die Trense an und schwang sich ohne gesattelt zu haben auf dessen Rücken. In leichtem Galopp ging es, begleitet von dem weitausgreifenden
Wolf zum Burgtor hinaus, den Pfad hinunter und in das Gedränge der
Händler, Käufer und Gaffer am Fluss. Als er die Einmündung der Jihlávka
gefunden hatte, schaute er sich suchend um und fand schließlich das
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schmale, vielstöckige Haus mit dem Dreieck und der Bügelsäge als Abzeichen über der Tür. Ješko saß an seiner Werkbank und glättete mit
einem Zugeisen die Rundung eines Holzrades. Als Cuno halb durch das
Tor trat, die Zügel in der Hand und Wolf an den rechten Fuß geschmiegt,
fragte der Handwerksmeister unwirsch: „Was willst Du? Du nimmst mir
das Licht!“ Wolf gefiel der drohende Tonfall gar nicht und lies ein kurzes
Heulen hören. Der Alte sprang mit vor Angst geweiteten Augen auf,
drückte den Rücken an die Wand und hob das Zieheisen als einziges,
was er als Waffe in Reichweite hatte. „Hsch, Wolf“ zischte Cuno und das
gehorsame Tier legte sich sofort auf den Bauch, wedelte ein wenig mit
dem Schwanz und legte die Schnauze auf Cunos Schuh. Ješko entspannte sich langsam, starrte aber weiter auf Wolf: „Was ist das für ein
Vieh?“ Cuno erklärte zum unzähligen Mal, wie er Wolf gefunden hatte
und dass er eine ganz harmlose, gut gezogene Kreatur sein. „Das glaube
ich erst, wenn er tot vor mir liegt!“ polterte der Zimmermann. „Er hört
sich genauso an wie die verdammte Meute, die vor vielen Jahren meine
ganze Familie drüben in Mähren angegriffen hat. Nur meine Mutter und
ich haben überlebt, sie, weil sie auf den Dachboden geflüchtet war, und
ich, weil ich zum Holzholen im Wald war und erst zurückkam, als es
schon zu spät war. Einmal Wolf, immer Wolf.“ Cuno ließ es gut sein und
gab seinen Auftrag weiter. „Ich bin einer der Knappen Boleslav Přemisl;
der Schwarze Boris, sein Bergmeister, schickt mich, weil er sobald wie
möglich einen Auftrag mit dir besprechen will. Er wartet am Schachtturm des ersten Schachts in Staré Hory auf dich.“ „Wenn Boris was von
mir will, ist es immer was Besonderes“ sagte der Alte, nun schon weniger brummig. „Aber du verschwindest vorher mit dem Vieh aus meiner
Sichtweite!“ „Nichts lieber als das!“ Cuno trat die wenigen Schritte zurück auf die Straße, Váží hatte sogar schon gelernt, rückwärts zu gehen,
Wolf folgte gehorsam. Als eCuno sich auf den Rücken des Pferdes
schwang, bemerkte er – was ihm vorher nicht aufgefallen war – wie die
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Leute ihn aus den Augenwinkeln beobachteten. Klar, er war auffällig:
Ein großer, kräftiger Junge, fast schon ein Mann, mit langen dunkelblonden Locken und fast schwarzen Augen auf einem Pferd, dem man
die Erziehung sofort anmerkte, den Wolfshund, der auf seine Anweisungen reagierte, neben ihm; doch der Bursche war schmutzig wie nur je
ein Bergmannsein konnte. Er sah, wie die Mägde der umliegenden
Werkstätten ihn mit Blicken verfolgten und kichernd miteinander tuschelten, aber er musste zurück. Er gab Váží die Absätze und stob davon. Am Burgtor glitt er vom Pferd und führte es in die Stallungen.
„Heute braucht er nur noch geritten werden, wenn ihr Zeit habt“, rief
er den Stallknechten zu, „ich habe ihn gerade ganz schön galoppieren
lassen!“ Er nahm Váží die Trense ab, gab ihm einen Scheffel Hafer in die
Futterkrippe, holte einen Eimer frisches Wasser und strich ihm über die
Nüstern, bevor er hinauslief. Wolf sah, dass es nach Staré Hory hinüber
ging, und aus den letzten Wochen wusste er, dass er dort keinen Platz
hatte; deshalb drehte er ab und trottete zurück zu seinem vierbeinigen
Freund im Stall.
Noch bevor Cuno am Schacht ankam, brach eines der typischen Sommergewitter los. Er hatte natürlich den Himmel keines Blickes gewürdigt und war deshalb völlig überrascht, als ihm etwas Kaltes im Nacken
traf und hatte schon seine Knappenbrüder in Verdacht, aber als alles
um ihn herum plötzlich weiß wurde, war auch ihm klar, dass es ein Graupelschauer war und kein Schabernack. Trotzdem lief er schneller zurück
zum Schwarzen Boris, den er auf dem Schachtwall im Trockenen sitzend
vorfand, vor sich einen Haufen Zweige, Schnüre, Holzscheiben, Stöckchen – Boris konnte es nicht erwarten, die Idee aus Steigerthal in „seinen“ Bergwerken auszuprobieren. Als Ješko dann endlich eintraf, triefte
er vor Nässe, was seine Laune auch nicht gerade hob. Das änderte sich
allerdings schlagartig, als ihm Boris sagte, was er von ihm wolle. „Und
bei euch hat das funktioniert?“ fragte er Cuno. „Ja, aber da es eben eine
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alte Mühle war, hat es nicht lange gehalten.“ „Da muss eben ein Fachmann heran, dann kann man das schon dauerhaft machen – bin ich ganz
sicher!“ „Also“, beendete Boris das Gespräch, „du weißt, wie es funktionieren soll, und du machst bis zum Montag ein Modell, mit dem wir
dann Boleslav Přemisl überzeugen können, dass wir so die Bergwerksausbeute erhöhen können – es soll euer beider Schaden nicht sein. Althergebrachtes ist gut, aber in unruhigen Zeiten wie diesen, in denen
Přemisl fast täglich von uns fordert, dass wir mehr Silber gewinnen müssen, kann man auch einmal etwas versuchen, das es bisher noch nicht
gab!“ „Wir hatten die Rolle, die das Seil bewegte, ziemlich hoch gelegt,
so dass die Ochsen unterhalb laufen konnten; dadurch war es möglich,
das herausgebrochene Gestein mit Hilfe eines ganz normalen Ladebaums, wie er auf jedem Schiff und in jedem Kaufmannshaus zu finden
ist, auf Karren umzuladen. Aber das wackelte immer ziemlich heftig.
Vielleicht könnte man hier die Ochsen auf dem Schachtwall laufen lassen, dann könnte darunter alles so bleiben wie es ist?“ „Probier‘ beides
aus, Ješko!“ Damit war der Zimmermann entlassen und Cuno musste
wieder in den Schacht in „seinen“ Gang, denn die anderen Steiger waren schon argwöhnisch geworden, ob ihnen „das Jüngelchen“ nicht den
Verdienst verderben würde. Da jeder in einem anderen Stollen arbeitete, aber der eine Schachtturm das Gestein von allen heraufbrachte,
wurde der Ertrag allen Gesteins als Grundlage genommen, von dem die
Steiger ihren zehnten Teil erhielten, und ein Steiger, der den halben Tag
nicht arbeitet, ist schlecht für Alle anderen..
Schon zwei Tage später wurde Cuno, als er abends müde und dreckig
aus Staré Hory zurückkam, von den anderen Knappen mit der Aufforderung empfangen, sich zu waschen und dann unverzüglich in den Saal zu
Boleslav zu kommen. Pjotr grinste schon höhnisch: „Na, hast wohl mal
wieder gezeigt, dass du es nicht kannst, was?“ Aber die ärgerlichen Bli-
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cke der anderen Knappen, die keine Lust hatten, mal wieder wegen einer von Pjotr angezettelten Prügelei bestraft zu werden, brachten ihn
zum Schweigen.
Als Cuno, noch vom Waschen tropfend, die Halle betrat, sah er Boleslav
mit dem Schwarzen Boris, Ješko und dem Weißen Boris an einem Tisch
sitzen. „Komm her, Cuno! Und du, Zimmermann, erklärst jetzt nochmal,
was ihr vorhabt, Cuno muss ja auch eingeweiht werden.“ Ješko und die
beiden Boris senkten ihre Köpfe, damit man das Grinsen nicht sehen
konnte, denn es war ihnen klar geworden, dass Boleslav die zweite Erklärung für sich brauchte, weil er die Idee noch nicht verstanden hatte.
Der Alte fing also nochmal an und stellte das Modell auf dem Tisch auf.
„Diese Welle zieht die eine Wanne mit den Gesteinsbrocken nach
obenund lässt die zweite, leere Wanne nach unten. Das Kammrad hier
am Ende greift in das andere Kammrad auf dieser Welle, die senkrecht
nach oben führt. Die zweite Welle endet in einem Flügelrad. An jedem
der vier Flügel wird ein Ochse mit verbundenen Augen angeschirrt, der
oben auf dem Schachtwall läuft…“ „Die verbundenen Augen sind notwendig, damit den Ochsen nicht schwindlig wird, wenn sie immer im
Kreis laufen müssen“, warf der Weiße Boris ein. „Ja, ja, lass mich doch
fertig erklären: Wenn eine volle Wanne oben angekommen ist, kann ein
Helfer mit diesem Hebelstock hier die beiden Kammräder voneinander
trennen. Oben kann die volle Wanne geleert und unten die leere gefüllt
werden. Dann wird der Hebel wieder weggenommen und die weiterlaufenden Ochsen verrichten wieder ihre Arbeit.“ „Wenn das wirklich
so geht, dann können wir noch mehr Hauer einstellen und brauchen
dann noch einen neuen Schmelzofen und noch mehr Köhler, damit wir
genügend Holzkohle haben und dann…“ Boleslav hörte auf zu sprechen,
aber auf seinem offenen, breitem Gesicht war deutlich abzulesen, dass
er in Gedanken schon das zusätzlich verdiente Geld nochmal gewinnbringend einsetzte! Doch dann schaute er Cuno plötzlich an: „Wenn das
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funktioniert – wieso arbeitet ihr in Steigerthal wieder mit Eimer und
Handkurbel?“ „Die Steiger und die Knechte wollten nicht, dass wir wieder so etwas bauen, nachdem das alte Mühlengestell zerbrochen war.
Sie hatten viel mehr Gestein herausbrechen müssen, damit die Ochsen
was zu tun hatten, die Knechte mussten mehr schleppen, die Hauer
mehr brechen – mein Vater wollte neue Steiger aus Böhmen holen, aber
unsere Leute sind sehr stolz; sie wissen, dass man ohne Steiger und
Knechte kein Bergwerk betreiben kann. Als sie deshalb drohten, wieder
in ihren kleinen Stollen zu arbeiten, die ihre Vorfahren schon vor Jahrzehnten angelegt hatten, hat mein Vater aufgegeben. Normalerweise
hat es mit der Kurbel und dem Eimer ja auch funktioniert.“ „Das werden
wir hier anders machen – ein Přemisl findet immer Mittel und Weg. Findet ihr nicht“, wandte er sich an die vier Männer, „dass die Preise für
alles seit einiger Zeit steigen? Selbst das Bier wird teurer! Wenn das alles so klappt, wie ihr das sagt, dann werden die Leute mehr Silber bekommen – ein Zehntel ist ein Zehntel, ein Zehntel von zwei Händen ist
ein Finger, aber ein Zehntel von vier Händen sind zwei Finger!“ Mit dieser přemislschen Logik beendete er das Gespräch und rief eine Magd,
dass sie ihnen Bier bringe. Ein guter Trinkspruch eröffnete einen langen
Abend.
Iglau, Herbst 1319
Der Wind peitschte den Regen über den Turnierplatz. Váží war glitschig
vor Nässe und Cuno lief das Wasser durch alle denkbaren Ritzen der
leichten Rüstung. Doch Pritbor von Jihlavy war unerbittlich. „Du hast
dich monatelang im Bergwerk herumgetrieben und fast alles verlernt,
was ich dir letztes Jahr beigebracht habe – wie willst du jemals zum Ritter geschlagen werden, wenn dich selbst Friedrich im Turnier besiegt?“
Cuno wusste, das Pritbor Recht hatte, aber der Knappendrill war eben
so viel eintöniger als mit Billigung des Herrn von Přemisl und mit der
Unterstützung des Schwarzen Boris und des Zimmermanns Ješko an den
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Bergwerksmaschinen herumzubasteln! Nach vielen Versuchen funktionierte endlich der neue Aufzug im Schacht. Ješko hatte viele Versuche
gemacht, das zweite Rad mit den aufrechtstehenden Stäben ohne Probleme für den Transport des Gesteins nach oben, aber auch ohne Probleme für die Ochsen an die eigentliche Achse anzuschließen, und nach
vielen Ansätzen lief jetzt alles einwandfrei. Der Schwarze Boris machte
die Aufsicht und versuchte herauszubekommen, ob auch alle Steiger,
auch die neu eingestellten, fleißig arbeiteten. Bisher war die Menge der
ans Tageslicht gebrachten Gesteinsbrocken die Grenzmarke gewesen;
jetzt gab es diese Einschränkung nicht mehr und mehr Leute konnten
im Schacht arbeiten. Ein Gehilfe von Boris schloss und löste die Verbindung der beiden Kammräder, Knechte führten die mit Gestein gefüllten
Schubkarren zu den Hauern, und da hörten die Verbesserungen auf. Die
Verarbeitung des gebrochenen Gesteins lief so langsam wie immer.
Zwar waren ein paar mehr Hauer in Arbeit genommen worden, aber die
Gesteinsbrocken türmten sich trotzdem vor den Hauplätzen. Cuno
hatte vorgeschlagen, noch mehr Hauer zu beschäftigen, aber da kamen
Proteste von den Knechten an den Schmelzöfen.
Während Cuno in Gedanken an der Lösung des Problems knabberte,
erhielt er einen gewaltigen Hieb auf den Helm. Im Nachhinein war er
froh, einen dieser grässlichen Topfhelme übergestülpt zu haben statt
seines prächtigen Helms mit dem Klappvisier, auch wenn das steigerthalsche Wappen nicht darauf zu sehen war. Ohne diesen Schutz hätte
ihm Pritbor den Schädel eingeschlagen. Wütend fuhr Cuno auf und erwiderte den Angriff des Knappenmeisters. Es war ja richtig, dass er viel
von der Geschicklichkeit verloren hatte, die er letztes Jahr noch im
Kampf gegen Miška gezeigt hatte, aber er war größer und viel kräftiger
geworden, so dass er dem alten Haudegen ganz schön zu schaffen
machte, ganz abgesehen von dem zufriedenen Váží, der sich freute,
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wann immer er seinen eigentlichen Reiter auf sich fühlte. Beide Kämpfer bedienten sich des Streitkolbens, einer Waffe die unter gerüsteten
Rittern nicht viel Beliebtheit genoss, konnte sie doch keine wirklichen
Wunden zufügen, aber gebrochene Rippen und Arme und Quetschungen an allen Stellen des Körpers gab es allemal! Und Pritbor konnte
Cuno damit ohne ihn schwer zu verletzen wieder zu mehr Geschicklichkeit und Geschmeidigkeit bringen, selbst wenn er rücksichtslos auf ihn
eindrosch: jeder Hieb musste pariert werden, jeder Attacke musste ausgewichen werden, und wenn Cuno dann einmal selbst zum Schlag kam,
freute es ihn, wenn er das Stöhnen des Alten hörte.
Um die Mittagszeit nahm Pritbor den Helm ab, wischte sich den
Schweiß aus den Augen und sagte: „Langsam wird es, Kerl. Du bringst
jetzt die Pferde in den Stall, ich gehe baden, um deine verdammten
Schläge gar nicht erst zu Beulen und blauen Flecken werden zu lassen!
Wir sehen uns an der Tafel. “ Cuno schaute zu seinen Knappenbrüdern
hinüber, die am Rand des Turnierplatzes die morgendliche Extraübung
beobachtet hatten. Tibor nickte aufmunternd, Johann und Friedrich
schauten ausdruckslos zu ihm zurück und Pjotr war ganz offensichtlich
wieder schlechter Laune, wohl, weil Cuno Pritbor nicht so zugerichtet
hatte, dass das Exerzieren am Nachmittag ausgefallen wäre. Juri fehlte,
und da fiel Cuno ein, dass der ab heute an seiner Stelle im Bergwerk
angefangen hatte und sicher erst mal Steine schleppen musste, während der Schwarze Boris an Cunos Gang arbeiten würde..
Als die Pferde versorgt waren, nahm sich Cuno die Zeit und spielte mit
Wolf, der durch die Schulung durch den Weißen Boris immer mehr gelernt hatte, die Andeutungen seines Herrchens zu verstehen und umzusetzen – auch wenn dieser nur Stimmungen ausdrückte und gar nichts
Besonderes ausdrücken wollte. Erst dann stieg Cuno zur Halle hinauf
und setzte sich zu seinen Kameraden. „Weißt du, was Pritbor für nachher angekündigt hat?“ grummelte Pjotr. „Wir sollen nachher tanzen
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üben! Ein Knappe müsse auch tanzen können und dabei den Damen gegenüber beste Manieren beweisen! Ich bin doch nicht hier, um mich
zum Gespött zu machen!“ Die andern vier Knappen grinsten, denn dass
Pjotr keinerlei Gespür für Musik hatte, war schon oft genug belegt worden. Er sang überhaupt nur, wenn er betrunken war, und dann so falsch,
dass sie schon einmal im Spaß beschlossen hatten, ihn zum Vertreiben
der Mäuse einzusetzen. Tibor hatte im Auftrag des Meisters in Jihlava
zwei Musikanten ausfindig gemacht, die außer ihren Spottgesängen auf
Gott und die Welt ein paar höfische Lieder kannten, die sie am Nachmittag zum Vortrag bringen sollten, damit die Knappen üben konnten.
„Und mit welchen blöden Mägden sollen wir denn tanzen?“ Das war
wieder Pjotr, der sich davor fürchtete, sich so lächerlich zu machen,
dass selbst die zwei oder drei Mägde, bei denen er so manche Nacht ein
Bett und offene Schenkel fand, ihn in Zukunft abweisen würden. „Du
kannst ja bezahlen,“ ein grimmiger Blick auf Cuno, „aber wir haben kein
Silber und müssen sehen, wie wir durchkommen!“ „Ha, ihr werdet mit
euch selbst tanzen!“ dröhnte Pritbor, der leise in die Halle getreten war
und hinter den jungen Männern stehen geblieben war. „Pjotr, du wirst
gleich zu Beginn den Frauenpart übernehmen und dich von Friedrich
führen lassen. Und ich habe ein gutes Mittel, euch zum Gehorsam zu
bringen!“ Und damit schwang er den Streitkolben, den Cuno am Morgen an so mancher Stelle seiner Rüstung zu spüren bekommen hatte.
Aber ohne Rüstung? Lachend setzte sich der Alte an die Tafel, und als
Boleslav und Aljina ebenfalls in die Halle traten, begannen die Mägde,
Knödel und Fleisch und Bier aufzutragen. Als sie an den Tisch der Knappen kamen, kicherten sie und benahmen sich wie schüchterne Tänzerinnen, mit viel Gewackel der ausladenden Hüften, Pusten und Quieken
– den jungen Männern war klar, dass sie am Nachmittag nicht unbeobachtet üben konnten. „Wenn Du Tibor nicht auf die Füße trittst und im
Takt bleibst, bade ich das nächste Mal mit dir,“ flüsterte ihm die Magd
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– sie hieß Anja, wie er wohl wusste – ins Ohr, die ihn und Tibor nach
dem Frühjahrsturnier ins Bad geführt hatte. Cuno verfluchte insgeheim
seine Neigung rot zu werden, aber das machte Anja erst recht Vergnügen, und sie streifte, als sie die Platte auf den Tisch stellte, wie zufällig
seine rechte Backe mit ihrer linken Brust.
Die Musiker kamen und stimmten ihre Instrumente; der eine hatte eine
Laute, der andere eine Drehleier und ein schellenbesetztes Tamburin,
das er sich an den rechten Fuß band. Boleslav, der mitbekommen hatte,
was das Nachmittagsgeschehen für seine Knappen werden sollte, verbeugte sich formvollendet vor seiner Gattin. „Darf ich zum Tanze bitten?“ „Gern!“ Und als die Musik begann, führte Boleslav graziös trotz
seiner Leibesfülle Aljina über den Boden der Halle. Beide schritten gemessen, im Takte der Musik, mit gleichlangen Schritten bis zur Ende der
Halle, drehten wie auf ein Kommando und bewegten sich zurück; am
anderen Ende angekommen, gab Boleslav den Musikanten ein Zeichen
und als die Musik wesentlich schneller wurde, fasste sich das Paar gegenseitig an den Handgelenken, drehte sich wirbelnd im Kreis und bewegte sich dabei langsam durch den Raum. Wieder an der anderen
Wand angekommen, verlangsamten die Musiker ohne weitere Aufforderung den Takt auf das Tempo des Anfangs, nach Luft schnappend
schritten Boleslav und Aljina mit gleichlangen Schritten den Weg zurück
zur erhöhten Tafel. „So, Leute, jetzt seid ihr dran!“ und stürzte einen
Krug Bier hinunter.
„Sprecht eure Tanzpartner an!“ Das war das Kommando Pritbors. Also
wandte sich Tibor an Johann, der neben ihm saß, Pjotr an Friedrich.
Cuno atmete auf, dass er zumindest ein wenig Zeit gewonnen hatte.
Das Schreiten des ersten Teils ging noch ganz ohne Schwierigkeiten vonstatten, aber als die Musik wieder schneller wurde, hatte keiner der
Knappen seinen Partner so fest an den Händen gefasst, wie es sein
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musste, und alle vier landeten rücklings auf dem gestampften Lehmfußboden. Cuno musste vor Lachen prusten, obwohl ihm klar war, dass er
von Pritbor gleich an die Stelle eines anderen Knappen gestellt werden
würde. „Was lief falsch?“ fragte Pritbor. Als keiner antwortete, gab er
selber die Antwort: „ Der Mann hält die Frau an den Handgelenken, die
Frau den Mann – hättet ihr aufgepasst, hättet ihr das bei Boleslav und
Aljina gesehen; nur so ist der Halt fest genug, wenn das wirbelnde Drehen einsetzt. Eigentlich ist immer klar, wer was ist, aber bei euch wohl
festgelegt werden, wer der Tänzer und wer die Tänzerin ist! Johann und
Friedrich, ihr macht die Frau!“ Die Musiker begannen wieder und die
„Paare“ schritten und wirbelten, wie Pritbor es befahl. Dann ordnete er
einen Wechsel an. Tibor sollte nun mit Cuno tanzen, Johann mit Pjotr,
und diesmal waren die beiden Thüringer als Männer eingeteilt. Das
Schreiten ging ohne Probleme, aber bei den Drehungen vergaß Tibor,
dass seine Handgelenke festgehalten werden mussten und ließ Cuno
nicht richtig zugreifen, so dass beide wieder hinfielen. „Aber im Takt bin
ich geblieben, ohne dir auf die Füße zu treten,“ sagte Cuno sehr laut,
ohne dass die anderen verstanden, was er meinte – nur die Magd Anja,
die im Hintergrund die Tische abräumte, lächelte wissend vor sich hin.
Nach ein paar weiteren Wechseln und als die Knappen die Melodie
schon hätten mitpfeifenkönnen, ließ Pritbor die beiden Musikanten die
Melodie wechseln. Jetzt wurde ein getragener Reigen gespielt, der nach
den Gesichtsausdrücken der Spieler und des Knappenmeisters wesentlich höhere Anforderungen an die Tänzer stellen würde.
„Ich mache euch einmal vor, was ihr zu tun habt: Gibt es hier denn keine
Weiber mehr?“ Er schaute sich suchend um und entdeckte Anja, die sich
hinter einem Stapel Schüsseln und Platten zu verstecken suchte.
„Komm her, du da!“ Gehorsam und mit gesenktem Kopf näherte sich
das Mädchen. „Hast du schon einmal einen Reigen getanzt? „Ja, Herr.“
„Dann los! Musik!“ Er stellte sich neben das Mädchen, das ihm die Hand
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auf den Unterarm legte und sie schritten gemeinsam, langsam im Takt
der Musik ,auf einer nur in ihren Köpfen gezogenen Kreislinie entlang,
„Wenn ihr einmal im Kreis herum seid,“ sagte Pritbor laut, um die Musik
zu übertönen, „beginnt das eigentliche Tanzen. Vier Schritte, dann untergehakt, einmal im Kreis rechts herum gedreht, dann wieder vier
Schritte, links herum gedreht und so weiter!“ Während er sprach,
machte er vor, was er von ihnen erwartete. „Die Schwierigkeit liegt darin, dass ihr denen, die vor euch schreiten, nicht in die Hacken tretet
und sie beim Kreisdrehen nicht umwerft.“ Dann gab er der Musik ein
Zeichen, und die Instrumente verstummten. „Ich habe einen großen
Kreis beschritten, denn den Reigen tanzt man nur, wenn viele mitmachen. Damit ihr die Schwierigkeiten fühlt, machen wir jetzt einen kleinen Kreis um diese Säule herum – die Paare wie eben und du, Friedrich,
gehst mit der Magd hier vorneweg!“ Als die Musik einsetzte, legte Anja
Friedrich die Hand auf den Unterarm und die drei Paare schritten aus.
„Erst mal nur im Kreis herum Schreiten, damit ihr den eingebildeten
Kreis im Kopf habt!“ übertönte Pritbor erneut die Musik. „Das Mädchen
könnte doch zu uns passen, oder?“ flüsterte Tibor. „Fast so groß wie
wir, schlank, an den richtigen Stellen rund, lange helle Locken und –
schau mal wie die die Hüften beim Schreiten schwenkt!“ Als ob Anja
Tibors Kommentar gehört hätte, bewegte sie sich noch geschmeidiger
und brachte dadurch Friedrich aus dem Takt. „Tölpel!“ Die Stimme des
Knappenmeisters schnitt durch den Raum und die Musik. „Von vorn,
und wenn ihr einmal herum seid, kommt die erste Drehung – nach
rechts! Musik!“ Friedrich versuchte, sich an der Seite ‚seiner‘ Dame so
zu bewegen, wie er und die anderen es schon so oft bei den Festen in
der Halle gesehen hatten, und dabei auch noch im Takt zu bleiben.
„Eins, zwei, drei, vier – unterhaken, Drehung nach rechts! Und wieder
Schreiten. Eins, zwei, drei, vier – unterhaken, Drehung nach links. Und
Schreiten.“ Glücklich, dass er die ersten Hürden ohne weiteres Gebrüll
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überstanden hatte, machte Friedrich einen langen Schritt, trat dabei
Pjotr in den Hacken und brachte Anja zum Stolpern, Als er versuchte,
sie aufrecht zu halten, fiel sie wirklich hin. Die Musikanten brachen ab
und der Unglücksrabe stand puterrot an der Säule, viel zu verwirrt, um
dem Mädchen wieder aufzuhelfen. Die Gelegenheit ließ sich Tibor nicht
entgehen, hob Anja auf und verbeugte sich galant vor ihr, als sie ihm
dankte. „Du bleibst jetzt vorne, Johann geht zu Cuno und du, Pjotr,
kannst ja mal versuchen, deine Hacken zu schonen, wenn Friedrich neben dir tanzt,“ spottete Pritbor. Tibor versuchte erst gar nicht, das siegesgewisse Grinsen zu unterdrücken, als er kurz zu Cuno und Johann
zurückschaute, und schon setzte die Musik wieder ein und der Tscheche
schritt mit dem Mädchen los – man wusste kaum, wer mehr mit den
Hüften wackelte. „Hast du runde Füße, oder was ist los?“ herrschte der
Alte ihn nach wenigen Schritten an. „Schreite wie ein Ritter! Die Fräuleins sind es, die mit den Hüften wackeln – du bist doch keins, oder?“
Tibor wollte auffahren, aber der Blick des Meisters war so, dass der
Knappe keine Gegenwehr mehr versuchte und einfach mit Anja den
Tanz zu Ende brachte. Dann wurde die Magd zurück an ihre Arbeit und
die Knappen zum Helfen in die Ställe geschickt.
Iglau, Frühwinter 1319
Der Schwarze Boris fluchte nach allen Regeln der Kunst, als er die Einträge aus den Wachstäfelchen, auf denen die Tagesergebnisse der drei
Schächte festgehalten wurden, zusammenrechnete. Nachdem das Hebewerk im Ersten Schacht gezeigt hatte, dass es auch im täglichen Betrieb seine Arbeit tat, hatte Boleslav auch für die anderen beiden
Schächte Ochsengespanne und Kammräder einsetzen lassen. Und die
Zahlen waren so groß wie nie zuvor.
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Die Zeit der jährlichen Abrechnung an Martini war näher gerückt, und
als Přemisl die Zahlen sichtete, wurde er zunehmend grimmiger. Durch
die Hebewerke war viel mehr Gestein gebrochen und nach oben transportiert worden, als vorher. Aber die Hauer kamen nichtnach mit der
Arbeit, das Gestein so zu zerkleinern, dass beim Schmelzen das Silber
auch tatsächlich aufgefangen werden konnte und nicht an anderer
Stelle im Stein kleben blieb. Boleslav hatte schon alle Männer aus Iglau,
die nicht bei anderen Arbeiten unbedingt nötig waren, zum Hauen
„überredet“, aber entweder waren die gezwungen Kräfte nicht gut genug oder noch zu wenig. Die Halde zu verarbeitenden Gesteins wuchs
und wuchs. Und der Ertrag der Gruben wuchs längst nicht so, wie der
Adlige es sich gedacht hatte:
Da so viele jetzt im und am Berg arbeiteten, mussten die übrigen Bewohner Iglaus mehr Leute als vorher mitversorgen. Die Holzkohle
wurde im ganzen Land zusammengekauft und nach Jihlava transportiert, was sie natürlich teurer machte als die Kohle aus dem Wald hinter
den Schächten. Sogar Mehl und Getreide mussten von weiter her beschafft werden… „Mehl und Getreide? Warum kaufst du Mehl in Pisek,
das auf dem Weg doch nur feucht wird, statt Getreide, das man viel
besser transportieren kann?“ „Weil wir hier nur eine Mühle haben, und
da Ješko mit den Hebewerken beschäftigt war, konnte er keine zweite
bauen.“ „Lass ihn holen, schnell!“ Wieder war es Cuno auf Váží, der,
begleitet von Wolf, bei dem Zimmermann anklopfte. „Der Herr selbst
will dich sehen, und zwar sofort! Steig du in den Sattel, ich sitze hinter
dir auf und Wolf wird schon verhindern, dass du runterfällst und deshalb wohlbehalten in der Burg ankommst!“
Als er Váží im Stall versorgt hatte, traf Cuno auf dem Weg zur Halle Juri,
der ebenfalls von Boleslav direkt aus dem Schacht her befohlen worden
war. Er zitterte vor Kälte, weil er keine Zeit gehabt hatte, sich etwas
überzuziehen, und im Schacht war es immer viel wärmer als im Winter
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draußen “Hast du eine Idee, was er von uns will?“ „Nicht wirklich, aber
ich habe gerade Ješko, den Zimmermann hergeholt und es hat irgendwas mit der Abrechnung zu tun. Kein erfreuliches Thema!“ „Solange er
von uns das bereits ausbezahlte Silber nicht wieder zurückwill - da
müsste ich bei vielen unten in der Stadt um Kredit fragen…“ Boleslav
Přemisl war eben ein Adliger, der sich dieses Recht durchaus hätte herausnehmen können, selbst wenn es in Böhmen keine Leibeigenschaft
gab – der Herr fand die Grenzen seiner Rechte nur in den Rechten seiner
Mitadligen oder denen des Königs.
Als die beiden Freunde das Gemach Boleslavs betraten, in dem Boris
und sein Herr bei der Abrechnung saßen, fanden sie zwei rotgesichtige
Streithähne vor: Ritter Přemisl machte dem Bergmeister weiter Vorwürfe, dass er vieles Notwendige von weit her transportieren ließ und
die Hauer nicht wirkungsvoll genug einsetzte, Boris beklagte die Zunahme an Arbeit für alle und die fehlenden Möglichkeiten in Jihlava und
machte indirekt Boleslav dafür verantwortlich. Der Zimmermann stand
betreten dabei und getraute sich nicht, aufzuschauen, geschweige denn
mit zu streiten. Přemisl wandte sich an die beiden Neuankömmlinge „
Ihr kommt beide aus dem Bergbau. Ihr wisst, dass alles ineinander greifen muss, wenn der Berg einen Gewinn abwerfen soll. Hier passt gar
nichts mehr. Seit wir die neue Fördermethode haben, wird durch die
doppelte Anzahl von Steigern und Knechten mehr als das Doppelte an
silberhaltigem Gestein gefördert. Die Steiger erhalten, wie ihr natürlich
aus eigener Erfahrung wisst, ein Zehntel des gewonnen Silbers als Lohn
und bezahlen davon auch die von ihnen angestellten Knechte. Deswegen will kein Steiger als Hauer arbeiten und uns fehlen schlicht genügend Männer, die als Hauer arbeiten könnten. Und selbst wenn wir da
genügend Arbeiter hätten, kämen die Schmelzöfen nicht nach. Ich will
aber nicht auf die schnelle Fördermethode verzichten!“ setzte er laut
hinzu. „Welche Lösung schlagt ihr Knappen vor?“ Die beiden schauten
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sich an und dann begann Juri:“ Als mein Vater einen zweiten Schacht
abgeteuft hat, brauchten wir auch mehr Steiger und Knechte und haben
dafür die Männer genommen, die vorher nur Hauer waren. Und das
ausgebrochene Gestein haben wir in einer Wassermühle zermahlen –
man muss das Gestein zwar dahin transportieren – ein Schacht in der
Nachbarschaft eines Flusses würde ja sofort volllaufen – aber die Fuhrwerke können Burschen und zum Teil sogar Frauen lenken und die Männer an der Mühle werden wie Steiger bezahlt, wenn sie die Förderung
des Vortags rechtzeitig am nächsten Tag zermahlen haben.“ „Wie sieht
die Wassermühle aus?“ „Eigentlich wie die Mühle unten an der Jihlavka,
die Ješko gebaut hat, bevor wir“ und dabei wies er mit dem Kopf auf
Cuno „ hierherkamen.“ „Kannst du dir vorstellen, wie eine solche Mühle
aussieht?“ Diese Frage ging an Ješko. Der nickte und fragte Juri: „Das
System von den ineinandergreifenden Kammrädern ist doch das gleiche, wie bei jeder Mühle, oder?“ „Klar.“ „Dann könnte ich so eine Mühle
bauen, mit Mühlsteinen, die viel größer und schwerer sind als bei einer
normalen Getreidemühle, und mit einem viel größeren Mühlrad und
viel dickerem Gestänge, aber – dafür bräuchte ich einen gelernten Zimmermann, der mir hilft, sonst brauche ich Jahre und Ihr, Herr, müsstet
an der Jihlavka einen Mühlgraben bauen lassen, damit das Flüsschen
auch genug Kraft entwickelt, um so ein Riesenrad anzutreiben!“ „Wir
können im Moment doch sowieso kein Gestein mehr fördern, weil wir
es nicht verarbeiten können. Du, Boris, überzeugst nach der Jahreswende die Steiger, dass sie zum gleichen Lohn wie bisher den Kanal
bauen. Du, Ješko gehst mit Juri im Wald Eichenstämme besorgen, die
wir ja auch für den Mühlgraben brauchen. Und du, Cuno, reitest nach
Pisek – du kennst Graf Heinrich. Bitte ihn, uns seinen besten Zimmermann auszuleihen, es soll sein Schaden nicht sein. Den Mann brauchen
wir, damit er uns wenigstens eine zweite Getreidemühle baut, bevor er
Ješko bei der anderen Mühle hilft. Und dann lass dir von Aljina so viel
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Silber mitgeben, dass du einen Wagenzug mit Getreide füllen kannst;
die Wagen und die Knechte nimmst du von hier mit, Graf Heinrich soll
ein paar Reisige stellen, die euch bis Jihlava begleiten. Und jetzt lasst
uns in die Halle gehen, ich bin durstig!“ „Herr“ ließ sich Juri vernehmen,
„damit ist das Problem aber noch nicht gelöst – weder reichen die
Schmelzöfen, noch haben wir genügend Kohle.“ „Was schlägst du vor?“
„Ješko kann mit jedem anderen Knappen oder Knecht die Eichenstämme aussuchen – fällen und herbringen müssen das ja doch die Bauern – ich könnte in der Zeit mit den Schmelzknechten ein oder zwei
neue Öfen bauen. Aber woher wir die Kohle bekommen könnten, weiß
ich auch nicht.“ Ratloses Schweigen machte sich in der Kammer breit.
„Gehen wir hinunter, kommt Bier, kommt Rat.“ Mit dieser weiteren
Přemisl – Weisheit erhob sich Boleslav, schwerfällig vom langen Sitzen,
und ging voraus zur Treppe hinunter in die Halle.
Nach dem ersten Krug ging Cuno hinaus zu den Stallungen, um mit Váží
und von Wolf begleitet noch einmal zur Jihlavka hinunter zu reiten. Als
er am Ufer entlang ritt, wurde es ihm klar, dass es mit einem Mühlkanal
sicher möglich wäre, eine große Mühle anzutreiben. Doch wo sollte die
Kohle herkommen? In Gedanken verloren ließ er Váží weiter traben und
gab Wolf kurze Befehle, die den Hund hier hin und dort hin schickten,
wofür er jedes Mal mit freundlichen Worten belohnt wurde. Plötzlich
fiel Cuno der Gestank auf, der eigentlich typisch für die Stadt Jihlava
war, und der ihm sagte, dass er verträumt schon bis zum Gerberviertel
gekommen war. Laute Rufe und das Geschimpfe der in ihrer Arbeit gestörten Gerber ließen ihn genau durch den von heißem Wasserdampf
und Urin – beides brauchten die Leute zum Gerben der Tierhäute – erzeugten Dunst spähen: ein schweres Floß aus langen Tannenstämmen
bahnte sich ohne Rücksicht auf Verluste seinen Weg zur Brücke und
durch die Brücke hindurch. An beiden Seiten standen jeweils zwei Männer, die das Floß mit langen Stangen vor Zusammenstößen mit Stegen,
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Brücken und Mauern bewahrten; am Bug stand ein Knabe, der alle
schwimmenden Hindernisse mit einer besonders langen Stange auf die
Seite schob, und im Heck stand ein Bär von einem Mann am Steuerruder; mitten auf dem Floß war eine kleine Hütte, vor der ein Junge oder
eine junge Frau hockte und Holzkohle aus einem Sack in eine eiserne
Feuerschale schüttete, ohne dass das auf dem Feuer kochende Essen in
Mitleidenschaft gezogen wurde. „Diese verdammten Dubček – Brüder,
alle paar Wochen der gleiche Ärger mit dem Pack“, hörte Cuno einen
der Gerber fluchen. Aber für ihn war es die Lösung. „Das ist es!“ rief er
laut, wendete den Hengst und stürmte zur Burg zurück.
Als er laut jubelnd durch das Tor ritt, schüttelten die Wachen die Köpfe
und murmelten etwas von verrückten Ausländern, aber dann geschah
das Unerwartete: Váží wollte seiner Gewohnheit nach zu den Stallungen; als Cuno das bemerkte, riss er völlig ungewohnt am Zügel, damit
ihn das Pferd direkt vor der Halle absetzen könnte. Doch dieses abrupte,
für Váží völlig unbekannte Verhalten brachte das Pferd auf dem Eis, das
sich aus verschüttetem Wasser rund um den Brunnen gebildet hatte,
zum Rutschen; es knickte in den Vorderbeinen ein und schleuderte seinen Reiter ungewollt mit aller Wucht gegen die Ummauerung des Ziehbrunnens. Die eben noch murrenden Wachen stießen Schreckensrufe
aus, die von der Wache vor der Halle aufgenommen wurden, und in
kürzester Zeit quoll eine Menschentraube aus der Tür des Pallas – allen
vorneweg und seine unförmige Gestalt schneller bewegend als alle Anderen, Boleslav Přemisl. Als er bei Cuno ankam rüttelte er ihn an der
Schulter, legte Mittel- und Ringfinger der linken Hand an die Halsader
und sagte dann etwas beruhigter: „Zumindest lebt er!“ Nachdem sich
Cuno aber immer noch nicht rührte, grölte der Ritter seine Befehle, immer auf eine Gruppe Gaffer deutend: „Ihr bringt das Pferd und den
Hund in die Stallungen und versorgt sie! Ihr tragt ihn hinauf ins Bad,
lasst heißes Wasser ein, legt ihn hinein und kommt dann zurück in die
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Halle um mir Bericht zu erstatten. Und ihr haltet nicht länger Maulaffen,
sonst friert euch bei der Kälte die Zunge fest!“
Als Cuno zu sich kam, lag er, vom heißen Wasser umspült, im Bad hinter
Boleslavs Kemenate; er fühlte sich leicht, trotz der Schmerzen, deren
Ursprung ihm erst nach einer Weile klar wurde. Er musste dem Ritter
sagen, welchen Einfall er im Gerberviertel gehabt hatte. Aber welchen
Einfall hatte er gehabt? Grübelnd versank er wieder ins Unbewusstsein,
aus dem er erst wieder erwachte, als eine Hand sachte über seinen geschundenen Brustkorb strich. Er versuchte, die Augen zu öffnen und
spähte aus einem kleinen Spalt nach oben an den Beckenrand, sah aber
nichts; das Streicheln ging jedoch weiter, und so bewegte er vorsichtig,
um den Schmerz in den Schultern nicht zu verschlimmern, seine linke
Hand in die Richtung des Streichelns und spürte plötzlich eine feste
runde Brust mit aufgerichteter Warze in seiner Linken. Die Überraschung war so groß, dass er die Augen aufriss: Anja lag neben ihm im
Wasser, sah ihn aus ihren großen blauen Augen an und streichelte ihn
weiter, auch als sie bemerkte, dass er wusste, wie ihm geschah. Er legte
den Kopf an ihre Schulter und genoss, wie das sanfte Streicheln und das
heiße Wasser die aufkommenden Schmerzen verringerten. Allerdings
dauerte es nicht lange, bis das Bemühen der jungen Frau auch eine andere Wirkung erzeugte, und trotz aller Schmerzen zog er ihren ganzen
Körper zu sich, so dass auch er sie liebkosen konnte.
Die Knappen hatten in ihrer Kammer oft genug von ihren erfundenen
Abenteuern berichtet, geschildert, wie sie was mit welchen Mädchen
gemacht hatten, vor allem Pjotr, der wohl wirklich schon Einiges erlebt
hatte. Auch Cuno hatte Lügen erzählt und geprahlt, aber noch nie war
er einem Mädchen so nah gewesen wie jetzt. Und es war ganz anders,
als in ihren Erzählungen. Anja liebkoste ihn an allen Stellen, an denen er
nicht offensichtlich Schmerzen hatte und er gab sich einfach ihren Erfahrungen hin, kein Ritter der traurigen Gestalt, und schon gar keiner
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der Gewalt. Ihre Lippen suchten seinen Mund, und als sie sich lange und
heiß geküsst hatten, schlang das Mädchen ihre Schenkel um seine Hüften. Sie glitten ineinander und das nun nur noch warme Wasser umspülte sie, mal sie oben, mal er, das leise Schwappen beruhigte und
regte an; mal prusteten beide, weil sie zu tief ins Wasser gekommen
waren, was sie kurz ernüchterte, aber den Akt verlängerte. Als Cuno
spürte, wie er zu zerspringen drohte, hörte er Anjas leise, heisere
Schreie in seinem Ohr, und dann lagen beide still, glücklich, befriedigt,
Seite an Seite im kühler werdenden Wasser. Cuno war noch immer aufgeregt. Wie anders, viel schöner war das gewesen als die Prahlereien,
die er bisher von den anderen gehört hatte! Was hatte er versäumt…
„Ich habe doch versprochen, dass ich beim nächsten Mal mit dir bade,
wenn du beim Tanzen den Takt hältst und Tibor nicht auf die Füße trittst
– erinnerst du dich?“ „Natürlich, und ich habe immer gehofft, dass es
wieder ein Turnier gibt, damit du dein Versprechen einlöst, aber wenn
Tibor oder Friedrich jetzt dabei gewesen wären…“ „Du bist doch immer
noch ein Kindskopf! Ich habe dir gezeigt, dass ich dich will, aber nicht
ein Mal bist du in der Mägdekammer erschienen und hast gefragt! Tibor
war mindestens zehn Mal da, und immer konnte ich ihn zurückweisen,
denn in der Kammer sind zu viele Augen und Ohren, als dass Gewalt
geschehen könnte, aber du, dich hätte ich nicht zurückgewiesen, doch
du kamst nie!“ Cuno war verwirrt. Er hatte das Mädchen immer nur angeschaut und manchmal – das musste er vor sich selbst zugeben – mit
Salwa verglichen, aber genau wie er sich nicht getraut hätte, der tschechischen jungen Adligen nahe zu kommen, ohne direkt aufgefordert zu
werden, hatte er sich auch bei der tschechischen Magd nicht getraut.
„Ist es, weil dieses adlige Mädchen aus Pisek gesagt hat, dass man uns
Mädchen aus der Česka nicht ohne Aufforderung zu nahe treten darf,
oder magst du mich nicht?“ Statt einer Antwort kniete sich Cuno über
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sie und diesmal war er es der den anderen Mund zu einem langen, leidenschaftlichen Kuss suchte. Dann legte er ihre Beine über seine Schulter, zog den Stöpsel, der das Wasser in der Wanne hielt, und sie liebten
sich ein zweites Mal, mit der Hitze, die nun aus ihnen kam und nicht
mehr aus dem heißen Wasser.
Stunden später erschien Cuno humpelnd in der Halle, wo er von den
Anderen johlend begrüßt wurde, denn in einer Burg gab es keine Geheimnisse. Nur Tibor reagierte, wie es nach Anjas Aussagen zu erwarten
war: er wandte sich ab und verließ das Bankett, sowie sich Cuno setzte.
„Weißt du jetzt eigentlich wieder, weshalb du so jubelnd durch das
Burgtor geritten bist, wie die Wachen berichtet haben“ fragte Boleslav.
„Ja, Herr! Ich habe auf der Jihlava ein Floß gesehen, gesteuert von den
Dubček – Brüdern, so sagten die Gerber; die hatten genügend Holz dabei für alle Bauten, die wir hier benötigen, und die transportierten auf
dem Floß Holzkohle, denn da, wo man Flöße zusammenbindet, findet
man auch genügend Holz für Kohle. Wenn Ihr also diese Familie dazu
bringen könnt, zwischen den langen Fahrten nach Břeclav zwei kurze
nach Jihlava zu machen, haben wir genug Holz, um zu bauen, was wir
brauchen; genug Kohle, um weitere Schmelzöfen zu betreiben, und da
wir nur mit einer Familie verhandeln müssen, können wir einen guten
Preis erreichen.“ „Cuonrad von Hohnstein hatte recht: ein Steigerthal
kann nicht nur von uns lernen, sondern wir auch von ihm! Bursche,
bring uns zur Feier einen Krug vom roten Wein.“
Pisek, Spätwinter 1320
Die Kolonne von zehn Ochsengespannen quälte sich durch den in den
letzten Tagen feucht und schwer gewordenen Schnee. Wolf rannte immer von vorne nach hinten und von hinten nach vorne und knurrte die
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Ochsengespanne an, wenn er meinte, dass sie zu langsam seien. Cuno
hatte ein Schreiben an Burggraf Heinrich im Wams und einen Beutel mit
ausreichend Silber am Gürtel. „ Bezahle, was notwendig ist, aber handele einen für uns annehmbaren Preis aus!“ war der Satz, mit dem ihm
Ritter Boleslav Přemisl den Beutel ausgehändigt hatte. Cuno in leichter
Rüstung mit Kurzschwert, Lanze, Ketten- und Wappenhemd und einem
kurzen Helm ritt auf Váží, begleitet von einem begeisterten Wolf, dem
Zug voraus, die zehn bewaffneten Knechte bildeten die Nachhut.
Er dachte an die Verabschiedung gestern Morgen zurück. „Männer“,
hatte Boleslav gerufen, „ihr gehorcht bei dieser Reise zwei Wappen: wie
immer dem schwarzen, schreitenden Bären auf blauem Grund, dem
Wappen unserer Herrschaft, aber diesmal auch der silbernen Leiter auf
blauem Grund mit den silbernen Sternen, dem Wappen Cunos. Ich bin
sicher, Cuno wird es gelingen, beiden Wappen gerecht zu werden, aber
ihr seid immer noch meine Leute!“ Cuno war sich nicht sicher, ob das
eine verhüllte Drohung war, oder ob Boleslav bloß Angst um das viele
Geld hatte, das der Junge bei sich trug; vielleicht war es aber auch nur
eine Ermahnung für die Männer, den kaum dem Kindesalter erwachsenen, gerade 15-jährigen Cuno als Befehlshaber zu akzeptieren.
Die Zeit seit Martini war arbeitsam gewesen und vergangen wie im Flug.
Weihnachten, Neujahr, das Fest der Heiligen Drei Könige waren nur
kurze Unterbrechungen in der Arbeit, die ein trockener Winter erleichterte. Schnee war um Martini in Massen gefallen. Durch die trockene
Kälte war er gut mit Schlitten und Pferden zu nutzen, und es erschien
den Menschen nicht so kalt, wie es in Wirklichkeit war. Ješko hatte
Pläne gemacht und mit Juri besprochen, die Jihlavka nach geeigneten
Stellen abgesucht und Modelle gebaut. Der Schwarze Boris hatte versucht, soviel wie möglich des aufgeschütteten Gesteins hauen und
schmelzen zu lassen. Der Weiße Boris hatte mit Váží, Cuno und Wolf
geübt, um ein perfektes Gespann aus ihnen zu machen. Pritbor hatte
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alle Kampfarten mit und ohne Pferd noch einmal probiert und Verbesserungen mit dem Streitkolben in ihn hineingehauen, damit der Junge
bei möglichen Aufforderungen am Hof in Pisek mithalten konnte. Und
Cuno selbst hatte, wenn auch mit Hilfe Juris, der sich einfach am besten
auskannte, zwei neue, ummauerte und mit einem stabilen Dach aus
Steinplatten versehene Schmelzöfen bauen lassen, die vielleicht endlich
ausreichen würden, alles Silber auszuschmelzen. Und er hatte mit Juris
Ratschlägen einiges anders gemacht, als bei den bisherigen Öfen:
Jihlava hatte durch die Lage im Tal der Jihlava und mit der Mündung der
Jihlavka eigentlich immer einen Wind aus Osten. Deshalb wurden die
Öfen so gebaut, dass der ständige Luftzug ausreichte, um durch große
Öffnungen im Dach die Glut in den Öfen zumindest zu erhalten, manchmal sogar anzufachen – der Blasebalg war nur nötig bei Windstille oder
besonders hartnäckigem Gestein. Die Schiene, auf der der Tontiegel in
die Gluthölle geschoben wurde, war doppelt verlegt, dafür waren die
Tiegel etwas kleiner, aber trotzdem waren die Ergebnisse fast doppelt
so hoch. Er hatte viele Tiegel vom Töpfer in der Neustadt von Jihlava
herstellen lassen, die dann schon immer vor dem Schmelzhaus eingefüllt werden konnten; das Ungewöhnliche daran war, dass dort, wo eigentlich der Boden des Tiegels sein müsste, noch ein Ausschnitt war,
der in einer kleinen Form endete, die genau so groß und breit war wie
ein Silberbarren. Tat man als unterstes gröberes Gestein in den Tiegel,
obenauf das kleinere, floss das Silber direkt in die untere, mit Sand bestreute Form und konnte nach dem Auskühlen als fertiger Barren herausgenommen werden. Damit sparte man sich den zweiten Schmelzgang, sofern das Silber schon beim ersten Mal rein genug war. Und was
Cuno besonders gefiel, vielleicht weil es seine Idee war: die nachzuschüttende Holzkohle war in einem Kasten an der Wand befestigt, der
mit einer Kette auf die Ofenöffnung herabgezogen werden konnte, so
dass das lästige und schmutzige Geschäft des Kohleschaufelns wegfiel.
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Der Kasten, der in einem Wanddurchbruch unterhalb des Steindaches
eingefügt war, wurde von außen befüllt, so dass nur noch der eigentliche Schmelzknecht die Hitze aushalten musste. Und die Asche wurde
durch eine andere Öffnung an der gegenüberliegenden Ofenwand
ebenfalls direkt ins Freie geschoben, wo sie auf einem eisernen Karren
landete und als Dünger benutzt werden konnte. Durch eine andere Öffnung wurden die heißen Tiegel, wieder auf einer Schiene, ins Freie geschoben, wo sie abkühlen konnten. Das Silber ging direkt in die Sicherungkammer in der Burg, die Schlacke wurde in einen anderen Karren
gekippt, mit dem man die aufgelassenen Schächte auffüllte.
Es funktionierte alles! Cuno hatte tagelang die Arbeitsweise der Öfen
kontrolliert, Boleslav Vollzug gemeldet und war zurück zur Kontrolle.
Ganze Nächte lang, begleitet von Anja, warm auf einem Fell in sauberer
Umgebung gelagert!
Anja –sie war traurig, dass er gehen musste, aber sie hatte vor allem
Bedenken, weil sie sehr
wohl wusste, dass Cuno in Pisek Salwa wiedersehen würde. Wie sehr er
diese Frau bewunderte, hatte sie beim Turnier im Frühjahr gesehen,
aber natürlich war ihr auch klar: Cuno war aus adeligem Geschlecht, wie
Salwa, und sie selbst war nur eine einfache Bauerntochter aus Staré
Hory, aber sie liebte ihn nach diesen wenigen Wochen des meist nächtlichen Glücks mehr als jeden anderen vor ihm und würde um ihn kämpfen, das hatte sie ihm beim Abschied gesagt. Cuno war einfach verwirrt:
Anja gefiel ihm sehr und das, was sie so oft miteinander taten, natürlich
auch, aber liebte er sie? Diesen Begriff hatte man zu Hause in Steigerthal auf die Familie, das Lehen, Thüringen angewandt – galt das auch für
Frauen?
Als ihn vom ersten Karren hinter ihm der Kutscher anrief, schüttelte er
den Kopf um seine Gedanken wieder auf die Fahrt zu lenken und hielt
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Váží an. Als er sich zu dem Kutscher umdrehte, deutete dieser nach
vorne und zeigte auf etwas, was Cuno bei klarem Kopf längst selbst gesehen haben müsste: Unter ihnen im Tal lag die Otava und die Brücke
nach Pisek, offenbar streng bewacht diesmal, denn auf der ganzen Brücke hatte sich schon eine Schlange aus Karren, Menschen mit Körben,
Kutschen und Reitern gebildet. „Noch eine halbe Stunde, und dann wollen wir mal sehen, wie schnell uns der Brief vom Herrn von Jihlava in die
Stadt bringt“, sagte Cuno und dankte dem Kutscher für seinen Hinweis.
In der Tat dauerte es nicht all zu lange, bis sie die Schlange vor dem Tor
erreicht hatten. Cuno ließ sich seine Lanze mit dem wappengeschmückten Wimpel geben, auch wenn er als Knappe eigentlich noch kein Wappen führen durfte. Er klappte das Visier herunter und gab Váží die Hacke, nicht auf das Geschimpfe und Gemaule der Wartenden achtend.
Als er am Stadttor ankam, schaute die Wache auf den Wimpel und das
Wappenhemd, sah den an Graf Heinrich adressierten Brief, schüttelte
den Kopf und sagte zu dem andern Wachtposten: „Noch einer von denen!“ Cuno verstand nicht, was der Mann meinte, aber auf eine Geste
des Wächters winkte er seine Kolonne herbei und sie passierten schnell
das Tor. Cuno erinnerte sich an den Weg, den sie vor zwei Jahren von
der Burg zur Brücke genommen hatten und ließ ihn im Kopf rückwärts
laufen, so dass er in kürzester Zeit, ohne nachfragen zu müssen, mit seinem Karrenzug und den Knechten auf dem Platz vor der Burg ankam. Er
hieß die Anderen warten und ritt zum Graben, hinter dem das Tor lag.
Bevor er ihn ganz erreichte, senkte sich die Zugbrücke und ein hochgewachsener Ritter mit geschlossenem Visier, die Lanze mit dem Wappenwimpel in der einen. Das Kurzschwert in der anderen Hand, trat ihm
entgegen. „Was ist Euer Begehr?“ fragte er in leicht thüringischem Tonfall, den Cuno seit langer Zeit höchstens von Johann gehört hatte, wenn
der sich herabließ, mit den anderen zu sprechen. „Ich bin Cuno von Steigerthal und im Auftrag von Boleslav Přemisl aus Iglau hergekommen,
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weil ich mit Graf Heinrich - “ Als Cuno so weit gekommen war, brüllte
sein Gegenüber laut los vor Lachen, klappte das Visier auf und ließ den
Mantel über dem Wappenhemd sich öffnen. „Gernot!“ Mit dem Schrei
stürzte er sich in die Arme seines Bruders, der ihn an sich drückte. Plötzlich aber waren Lanzenspitzen im Weg: die Berittenen aus Jihlava hatten die Situation völlig falsch eingeschätzt und dachten, Cuno sei in Gefahr. Einer von ihnen rief laut: „Lasst die Waffen fallen oder wir holen
unseren Herrn mit Gewalt hier heraus!“ Gernot tat grinsend wie ihm
geheißen worden war, ließ Lanze, Schwert, aber auch Cuno los. Der
drehte sich zu seinen Leute und sagte: „Danke, Männer, ihr wart sehr
aufmerksam. Doch mein Geschrei galt diesem Mann, nicht einer Gefahr. Es ist mein Bruder, den ich nicht mehr gesehen habe, seit ich zu
euch auf die Burg kam – und ich wusste nicht, dass er hier ist.“ Der
Knecht, der sich zum Sprecher gemacht hatte, sprang vom Pferd, nahm
Lanze und Schwert vom Boden auf, beugte das Knie vor Gernot und gab
beides zurück, das Schwert an der Spitze haltend, die Lanze am Schaft.
„Verzeiht, Herr, uns hat die ermüdende Reise wohl den Verstand geraubt.“ Gernot klopfte ihm auf die Schulter und rief nach einigen Knechten, die im Hof hinter ihm gestanden und das Ganze mit verfolgt hatten:
„Bringt die Pferde in die Stallungen. Die Karren und die Ochsen kommen
hinten in den Wirtschaftshof, die Männer erhalten Quartier in der Halle.
So, und du, Bruder Cuno, kommst sofort mit ins Warme, damit wir erzählen können!“
Cuno war froh, dass Gernot die Befehle gegeben hatte, denn zum einen
hätte er nicht gewagt, einfach über die Burg Graf Heinrichs zu verfügen,
vor allem aber war er so verwirrt, dass er keinen klaren Gedanken fassen konnte. „Wieso bist du hier? Wieso kannst du hier befehlen? Woher
wusstest du, dass ich komme? Was ist geschehen?“ „Klappe zu, Junge,
lass uns in die Halle gehen, dann erzähle ich der Reihe nach, aber vorher
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will ich dich noch richtig anschauen!“ Sie stiegen die Stufen hinauf, Gernot leitete Cuno an einen Tisch in der Nähe des lodernden Feuers, nahm
den Helm ab, zog das Kettenhemd aus und forderte Cuno auf, das Gleiche zu tun. „Du siehst gut aus!“ Das war aus dem Mund Gernots schon
mehr als die beste Note, aber so wie Cuno nun dastand, traf es auch zu:
Er war noch etwas gewachsen und groß für seine sechzehn Jahre, die
breiten Schultern und die schmale Mitte ließen ihn noch größer erscheinen. Seine dunkelblonden Locken waren ein wenig gekürzt (ein Werk
Anjas!), die dunklen Augen unter der hohen Stirn schauten neugierig
auf Gernot und die Halle. Die Aufregung hatte sein Gesicht, das durch
den vielen Aufenthalt auf den Baustellen und dem Turnierplatz sowieso
schon gebräunt war, gerötet, so dass es schon fast die Hautfarbe der
Urgroßmutter Leila angenommen hatte. „Und deine Leute stehen zu
dir!“ „Mach dich ruhig lustig über die Tölpel – es war gut gemeint, aber
voreilig. Und jetzt erzähle!“
„Also gut! Als wir vor zwei Jahren auf dem Rückweg von Iglau hier wieder Rast machten, rückte Graf Heinrich mit einer Bitte heraus. Du weißt
vielleicht noch, was uns Graf Weißensee auf Burg Nepomuk erzählt hat,
dass es nämlich zu Auseinandersetzungen zwischen tschechischen und
deutschen Adligen in Böhmen kommt – und wir hatten ja vorher einen
Überfall selbst erlebt; und nun fragte Heinrich, ob er einige seiner Ritter
mit uns nach Thüringen schicken könnte, um dort ihre Kenntnisse in der
Landwirtschaft zu verbessern. Seine Idee war – er kam darauf, weil du
zu Boleslav gehen solltest, um das Berghandwerk zu lernen – dass
dadurch die Ritter für ihre Bauern ein besseres Leben erreichen könnten und diese Menschen dann eher zufrieden seien und den Aufständischen nicht helfen würden. Natürlich haben wir zugesagt, und so ist seit
damals ein reger Austausch von Rittern, Knappen, Handwerkern und
Knechten zwischen Erfurt und Pisek in Gang gekommen. Boleslav hat
dein Kommen und dein Begehr Graf Heinrich schon frühzeitig mit einem
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Schreiben angekündigt, so wussten wir, dass du kommen würdest. Da
das Wetter so geeignet zum Reisen ist – wir sind mit Schlitten gekommen und haben kaum zwei Wochen gebraucht – sind drei Steigerthals,
halt, nein, jetzt vier in Pisek zu Gast!“ „Drei““ fragte Cuno ungläubig.
„Heißt das, Vater und Mutter ...?“ „Schau mal, wer dort hinter der Säule
gewartet hat, bis ich dir das Notwendigste erzählt habe!“ Cuno sprang
auf und stürmte auf seine Eltern zu. Gerade noch rechtzeitig erinnerte
er sich daran, dass Pritbor von Jihlavy ihm eingeschärft hatte, in allen,
aber auch allen Lagen sich zu benehmen wie ein Ritter; er hielt also
rechtzeitig an, bevor der die beiden umrannte, beugte das rechte Knie
und sagte nur: „Vater!“ Der hob ihn gerührt auf und umarmte ihn. Und
dann gab es für Cuno kein Halten. Er stürzte sich in die Arme seiner
Mutter, oder besser, er zog seine Mutter in seine Arme, denn trotz ihrer
Größe überragte ihr „Kleiner“ sie doch schon fast um Haupteslänge.
Tränen waren erlaubt, auch wenn der halbe Hofstaat Graf Heinrichs zuschaute. Nachdem die ersten Gefühlsausbrüche überstanden waren,
hielt Ada ihren jüngeren Sohn auf Armeslänge von sich und musste ihrem älteren Sohn innerlich beipflichten. Gut sah er aus!
Sie setzten sich an den Tisch und alle erzählten Bruchstücke aus den
Ereignissen der letzten zwei Jahre, die dann wieder aufgegriffen wurden, um andere Geschehen einzubinden, Wiederholungen waren nötig
– nach einer Stunde waren alle vier heiser, durstig, hungrig und mit so
viel Gefühl überschwemmt, dass sie nicht wussten, wie es weitergehen
sollte! Aber in Grundzügen war den drei aus Steigertahl klar geworden,
wie es Cuno ging und was er erlebt und erlernt hatte, und Cuno hatte
von den erstaunlichen Dingen gehört, die sich zu Hause zugetragen hatten oder noch zutrugen. Sein Pate, Cuonrad von Hohnstein, hatte sich
mit Thüringens Landgraf Friedrich überworfen, weil der nicht einsehen
wollte, dass es ein Frage der Ehre und des guten Rufes war, dass man
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die verschnittenen Münzen wieder einschmolz und reinigte, sobald genug Silber da war. Er hatte sich auf seine Burg zurückgezogen, alle Hofämter abgegeben und nährte sich redlich aber mühsam von seinem Besitz. Daraufhin hatte sich sein Sohn Walter, in Thüringen ohne Aussicht
auf ein Lehen, das auch ihm und seiner jungen Familie ein Auskommen
sichern würde, an den Hof des Königs Ludwig begeben, der ihn bald zum
Ratgeber gemacht hatte in allen Dingen, die die Ländereien östlich von
Ludwigs Stammland Bayern betrafen, und die er überhaupt nicht
kannte. Gernot von Steigerthal, also der „Alte“, hatte von Landgraf
Friedrich das Angebot bekommen, anstelle von Cuonrad von Hohnstein
Münzvogt der Landgrafschaft zu werden, obwohl Friedrich sehr wohl
wusste, dass Steigerthal ein völliger Gegner des Münzverschneidens
war. Gernot hatte abgelehnt, weil er den Eindruck fürchtete, dass er
Gewinn aus dem Verstoß seines Freundes Hohnstein ziehen würde.
Aber Friedrichs Sohn, der „kleine“ Friedrich, hatte Gernot versichert,
dass er ihn nach einer Zeit der Beruhigung als Münzvogt bei seinem Vater durchsetzen werde – sehr zur Freude Adas, die dann wieder zu ihrem Vater und in ihr geliebtes Erfurt zurückkäme und dann die Pflichten
einer kleinen Herrschaft nicht mehr tragen müsste. Ja, und Gernot, der
„Kleine“, würde auch gerne an den Hof des Königs gehen. Steigerthal
war ihm zu ruhig, und da der Adel des ganzen Reiches davon sprach,
dass der König bald nach Italien ziehen wolle, um sich in Rom zum Kaiser
krönen zu lassen, wollte der Kleine unbedingt mit und als echter Ritter
Ruhm und Ehre und als Lohn ein schönes Lehen und eine noch schönere
Frau erringen! Der Alte war natürlich dagegen - sie stritten sogar hier
am Tisch – weil er das Versprechen seines Vaters an dessen Vater, sich
nicht dem Krieg, sondern dem Berg zu widmen, auch für die Generation
seiner Kinder für gültig hielt. Da verwies der Kleine aber immer auf
Cuno, der ja auch durch das Versprechen gebunden sei und sicher gerne
in Steigertahl bliebe. Und für zwei Ritter sei das Lehen sowieso zu klein!
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Cuno schwirrte der Kopf. War alles, auf das er bisher als festgemauert
gesetzt hatte, am Zusammenbrechen? Die väterliche Burg ohne Eltern
und Bruder; der zurückhaltende Vater als Höfling; der Bruder als Kämpfer in Italien; und er? Er stand auf. „Entschuldigt mich einen Moment.
Ich muss mich erleichtern –zu viel Bier! Und ich muss noch nach meinen
Männern schauen.“
Als er zurückkam – die Männer waren gut untergebracht, die Tiere versorgt und Wolf hatte sich im Stall bei Váží eine Schlafstelle gebaut – war
großes Geklapper in der Halle: die Mägde deckten die Tische für das
Abendessen. Spontan hielt er Ausschau nach Anja, die er immer dabei
zu beobachten liebte, bis er sich klar wurde, wo er war. Und gerade
rechtzeitig, denn in der Mitte der Halle stand eine Frau, die die Befehle
gab, und er kannte sie wohl, aber er erkannte sie kaum: Sie war immer
noch schlank, aber sie war deutlich sichtbar zur Frau herangereift. Ihre
rotbraunen Haare quollen unter der bestickten grünen Kappe über ihre
Schultern, das schlichte senffarbene Kleid umschmiegte ihren Körper
und ließ die Ansätze der Brüste erkennen. Als sie umherschaute, ob die
Mägde alles zu ihrer Zufriedenheit erledigten, sah er, dass ihre Augen
immer noch so grün wie Wiesen im Frühling waren. Das ovale Gesicht
mit hohen Backenknochen war etwas voller geworden und hatte noch
an Anziehungskraft gewonnen. Sie wirkte nicht mehr so zerbrechlich
wie vor zwei Jahren, und, das musste er sich zugeben, als er sie letztes
Jahr bei Miškas Abschluss-Tjost gesehen hatte, waren ihm eher ihre
Hilfe und ihr Mitgefühl in Erinnerung geblieben. Ihre Haut mit den winzigen Sommersprossen, das sah er, als er näher kam, war leicht gebräunt, obwohl es Winter war. „Salwa!“ Sie drehte sich zu ihm: „Cuno!
Also habe ich doch richtig gerechnet, dass du kommst. Ermingilde hat
immer gesagt, drei Steigerthals seien doch schon genug, und hat mich
die ganze Zeit geneckt!“ Sie reichte ihm beide Hände. „Schön, dass du
da bist, ich finde es immer schön, wenn jemand kommt, den man nicht
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erst geradebiegen muss. Baden würde dir allerdings gut tun, du riechst
nach Pferd und Hund und Ochs und ich weiß nicht, was noch!“ Cuno
musste lächeln. Sie war noch genauso gerade heraus wie früher. Das
machte es ihm leicht, auf ihren Tonfall einzugehen. „ Ich weiß schon,
dass ich stinke, aber wenn ihr hier ein Bad hättet, wäre das bald geändert!“ „Ha! Ich habe dir doch in Jihlava gesagt, dass ich Onkel Heinrich
dazu bringe, mir ein Bad zu bauen. Willst Du? Deine ganze Familie hat
es auch schon genutzt!“ Cuno wurde heiß bei dem Gedanken, denn das
Bild der mit ihm badenden Anja schob sich vor sein inneres Auge, und
so war er vorerst erleichtert, als sie sagte: „Ich zeig‘ es dir und sag‘ einer
Magd, dass sie Wasser bringen soll, denn ich bin hier im Moment unabkömmlich, Ermingilde ist unpässlich und mit deinen 20 Männern
braucht es Essen für mehr als Hundert Leute.“ Damit schritt sie die Stufen an der Hallenseite hinauf. Cuno konnte seiner Mutter gerade noch
zurufen, dass er schnell baden würde, was sie lächelnd mit einem Nicken quittierte. Dann musste er sich beeilen, hinter Salwa herzukommen, die Fremdenführerin spielte: „Hier ist Heinrichs Gemach, hier die
Kemenate, hier ist die Unterkunft für Gäste – da wohnen zur Zeit deine
Eltern - und durch diese Tür kommst du ins Bad.“ „Danke“, war alles was
er herausbrachte. Als sie schon kehrt gemacht hatte, rief er hinter ihr
her: „Kannst du mir einen meiner Männer schicken, damit er mir frische
Kleidung holt?“ „Gerne. Seife und Tücher liegen bereit. Bis später!“
Der Knecht brachte seine Kleidung und zwei Mägde heißes Wasser.
Cuno legte sich ins Bad und versuchte zum zigsten Mal an diesem Tag,
seine Gedanken zu ordnen. Salwa hatte ihn behandelt wie jemand, zu
dem man höflich und freundlich ist, oder mit dem man Geschäfte
macht. War das, was er vor zwei Jahren und beim Turnier als Zuneigung
ihrerseits herausgelesen hatte, einfach eine falsche Wahrnehmung gewesen? War sie einfach bloß nett zu ihm? Und mochte er sie wirklich so
gern, wie er es sich in seinen Träumen in der Knappenkammer immer
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ausgemalt hatte? Oder spürte sie Anja? Bildete er sich bei dieser Frage
nicht schon wieder etwas ein?
Die Tür wurde aufgerissen, sein Bruder stürmte herein und warf ihm ein
Handtuch zu. „Genug der Körperpflege. Graf Heinrich steht in der Halle
und will dich begrüßen.“
Er kleidete sich an und schritt eilig die Treppe hinunter, um den Gastgeber zu begrüßen. Graf Heinrich hieß ihn formell an der erhöhten Tafel
willkommen. „Seid gegrüßt, Cuonrad von Steigerthal. Ich freue mich,
Euch auf meiner Burg zu sehen und hoffe, dass Ihr so viel Zeit mitgebracht habt, dass Ihr am Turnier in den nächsten Tagen teilnehmen
könnt.“ Dann ließ er das Formale beiseite, drückte Cuno an sich, grinste
und meinte: “Dieses Mal bleibst du sicher länger oben, oder hat dich
der dicke Přemisl ganz ins Bergwerk verbannt?“ Cuno dankte für das
Willkommen und erklärte sich erfreut bereit, dass er gern am Tjost teilnehmen würde. Graf Heinrich wandte sich an Ada, um die etwas ängstlich schauende Mutter zu beruhigen. „Wir haben letztes Jahr gesehen,
wie er einem guten Kämpfer lange und gewieft widerstanden hat – noch
ist er Knappe, aber das wird sich hoffentlich bald ändern. König Johann
braucht Kämpfer wie ihn. Aber heute Abend wollen wir ihm erst mal ein
Willkommen geben, für unsere Leute ein tschechisches, für uns ein
deutsches!“
Damit bat er die Thüringer Platz zu nehmen. Links neben ihm setzte sich
Ermingilde, blass, aber guter Dinge, der „kleine“ Gernot neben ihr.
Rechts platzierte er Ada und ihren Mann, dann blieb ein Stuhl frei und
der äußerste Stuhl war für den Jüngsten an der Tafel, Cuno. Heinrich
klatschte in die Hände und eine lange Reihe von Mägden betrat die
Halle, angeführt von Salwa, die einen großen Krug zur erhöhten Tafel
brachte und ihrem Paten überreichte. Der ließ es sich nehmen, allen an
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der Tafel einen Pokal mit Wein zu füllen, und als Salwa die Gefäße verteilt hatte, setzte sie sich zwischen den alten Gernot und Cuno. Zwei
Mägde brachten eine große Platte mit einem gebratenen Wildschwein
und einen Korb mit frischem Brot. „Ich denke, Cuno, das wird dir schmecken nach zwei Jahren mit Knödel, Schmorfleisch und Bier!“ Heinrich
legte jedem vor und fügte hinzu: „Soweit zu den guten Sitten – nehmt
euch selbst, wonach euch gelüstet. Lasst es euch schmecken.“ Er erhob
seinen Pokal, trank allen im Saal zu und setzte sich um zu essen. Graf
Heinrichs Knappenmeister, Enzo von Falkenau brachte den Toast aus,
alle im Saal hoben ihr Trinkgefäß und leerten es auf den Grafen und die
Gäste.
„Wenn das das deutsche Willkommen ist – mir schmeckt es!“ bestätigte
Cuno zwischen zwei Bissen. „Dir auch, Salwa, oder soll ich dir Knödel
und Gulasch holen?“ „Untersteh‘ Dich!“ und trat ihn unter dem Tisch
ans linke Bein.
Heinrich unterhielt sich mit Ada und dem Alten über das, was nach ihrer
Ansicht in Böhmen anders sei als in Thüringen und ob man etwas ändern müsste oder sollte; der Kleine versuchte mit Ermingilde zu scherzen, um sie die Schmerzen im Rücken, die sie seit Tagen plagten, vergessen zu machen; und Salwa fragte Cuno nach seinen Erlebnissen im
Berg aus – Gott sei Dank, dachte er, denn er war so unsicher, wie er sich
verhalten sollte – oder wollte – dass er von sich aus nur wenig zu sagen
gehabt hätte. Als er beschrieb, wie sie das Förderwerk gebaut hatten,
brauchte er dazu beide Hände, und als er die Linke auf den Tisch zurücklegen wollte, landete sie auf Salwas rechter Hand. Er stockte. Und als
Salwa ihn weiter anschaute und ihre Hand nicht wegzog, erzählte er
weiter und versuchte dabei ganz vorsichtig ihre Hand zu drücken und
wurde rot vor Freude, als er einen leichten Gegendruck spürt. Irgendwie
verlor er dabei aber den Faden seiner Beschreibung, stotterte vor sich
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hin und schaute die junge Frau nur noch an, bis diese selber leicht errötete, die Hand wegzog und mit: „Ich muss in der Küche mal nach dem
Rechten schauen,“ aufstand. Gedankenverloren hörte er dem Gespräch
Heinrichs mit seinen Eltern zu, ohne wirklich etwas aufzunehmen.
Später – wieviel später wusste er nicht – kam Salwa zurück und hieß
nach einer Weile die Mägde die Tische abräumen. Und dann erhob sich
plötzlich ein Johlen, denn durch das Tor der Halle trat eine Gruppe Musikanten, die sich auf einen Wink Heinrichs neben einer Fensternische
aufbauten, während die Männer die Tische beiseite rückten. Als die Musik im Takt des Schreittanzes aufklang, verbeugte sich Heinrich vor Ada
und schritt mit ihr zur Tanzfläche; Gernot flüsterte kurz mit Ermingilde,
und als sie nickte, nahm er ihren Arm und führte sie ebenfalls dorthin.
Wieder ein kleines Trittchen von Salwa, Cuno erhob sich, verbeugte sich
vor ihr und geleitete sie zu den beiden anderen Paaren. Der alte Gernot
blieb an seinem Platz, goss sich genüsslich noch einmal Wein ein,
streckte die Beine aus und beobachtete leise lächelnd das Geschehen.
Cuno dankte im Stillen dem strengen Zuchtmeister Pritbor und führte
seine Dame geziemend im Kreis, drehte sich mit ihr lins herum, schritt
wieder, drehte sich mit ihr rechts herum, und so ging es ohne Unfall und
im Takt weiter. Anja wäre stolz auf ihn, schoss es ihm durch den Kopf.
Dann änderte sich die Musik, mehr Tänzer kamen dazu und nun wechselten Schreiten und Wirbeln einander ab, bis Salwa erhitzt und ein bisschen atemlos sagte: „Du tanzt gut, aber könnten wir schnell etwas trinken gehen, bevor es weitergeht?“ , Cuno verbeugte sich nur, um auch
seine Atemnot zu verbergen, und erst als sie fast an der erhöhten Tafel
waren, merkte er, dass sie sich bei der Hand hielten. Im nahen Umfeld
sah er einige seiner Männer wohlwollend grinsen, nahm schnell ihre
Hand, drückte sie und legte sie auf seinen Arm. „So wie es dem Ritterlehrling geziemt.“ „Und so, wie es das werdende Ritterfräulein zu tun
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hat!“ und legte ihren Kopf ganz kurz an seine Schulter. Ein, zwei Tanzrunden mit jetzt vielen Tänzern folgten, dann musste sich Ermingilde
wieder zurückziehen, weil die Schmerzen zu groß wurden, und Graf
Heinrich beendete den Abend wegen des anstehenden Turniers mit einem letzten Trinkspruch recht früh. Gernot geleitete Ermingilde, Cuno
Salwa bis an die Treppe zur Kemenate, sie verabschiedeten sich von
Graf Heinrich und von ihren Eltern, die zu ihrer Unterkunft neben der
Kemenate hinaufstiegen, und gingen zu den Männern im Saal zurück.
Am nächsten Morgen war das Wetter schauderhaft: Schneeregen und
starker Wind machten den Turnierplatz zu einem nassen, kalten und
unberechenbaren Gelände, und die Sitze für die Damen mussten mit
Dach und mit Seitenwänden aus Stoff geschützt werden. Da aber einige
Ritter aus Heinrichs Gefolge extra für das Turnier gekommen waren und
lange vor Ostern wieder in ihren Herrschaften sein mussten, beschloss
man, trotzdem zu tjosten. Cuno wusste, dass er sich auf Váží verlassen
konnte, egal wie das Wetter war, aber für seine Durchgänge musste er
sich von seinem Bruder das Langschwert leihen – er war gerüstet gekommen, um einen Geleitzug zu beschützen, hatte aber nicht im Traum
an ein Turnier gedacht, selbst wenn Pritbor und der Weiße Boris noch
einmal alles mit ihm geübt hatten.
Der Tjost begann. Graf Heinrich hatte die Paarungen bewusst so gewählt, dass in der ersten Ausscheidung niemals ein Tscheche gegen einen Deutschen antreten musste. Die erste Paarung waren zwei Ritter,
die von Gernot in Thüringen am Hof in Erfurt geschult worden und einander ziemlich ebenbürtig waren. Nach dem vierten Ansturm mit der
Lanze kam einer ins Straucheln, der andere sprang direkt neben ihm
vom Pferd und setzte die Spitze seines Schwertes an dessen Kehle, worauf ihn Heinrich zum Sieger erklärte. Da es Freunde waren, die gegeneinander angetreten waren, reichte der Sieger dem Besiegten die Hand,
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um ihm beim Aufstehe zu helfen und verzichtete darauf, das ihm als
Sieger Zustehende, nämlich Rüstung und Pferd in seinen Besitz zu nehmen. Das beeindruckte den alten Gernot so, dass er mit zwei Bechern
zu den beiden Freunden trat und sie beglückwünschte.
Der nächste Durchgang brachte den schnellen Sieg eines tschechischen
Ritters aus der Nähe von Jihlava, den Cuno vom Hof dort kannte. Und
im dritten Durchgang trat ein deutscher Ritter an, dessen Gesicht im
anfangs noch offenen Visier Cuno sehr bekannt vorkam. Das Visier
wurde geschlossen, der Anritt mit Lanzen begann, und beide waren so
genau im Zielanritt, dass die Lanzen am gegnerischen Schild zersplitterten. Unter dem Applaus der Zuschauer brachten ihre Knappen neue
Lanzen, und Cuno wurde bewusst, wo eigentlich sein Platz war, nämlich
als Helfer und Knecht, da Boleslav nicht da war, dann eben bei seinem
Bruder. Wieder schoss ihm das Blut zu Kopf, aber als er zu den Zuschauern hinübersah, zwinkerte ihm sein Vater zu und Salwa winkte verstohlen. Konnte das nach Ritterehre Ungehörige also doch stattfinden? Er
überprüfte, ob Vážís Sattel richtig saß und fuhr dem Hengst mit der
Hand über das Maul, beugte sich zu Wolf hinunter, der seinen großen
braunen Freund bis an den Rand des Turnierplatzes begleitet hatte, und
zottelte ihn hinter den Ohren. Einer seiner Männer reichte ihm die
Lanze, denn die nächste Runde war seine. Mit geschlossenem Visier,
Gernots Langschwert gegürtet, ließ er den Hengst in die Kampfbahn traben. Er hatte seinen Gegner am Abend zuvor gesehen, kannte aber weder seinen Namen noch seine Kampfesstärke, er musste also Pritbors
wichtigster Lehre gedenken: „Beobachte genau und bewege dich erst
dann!“ So geschah es. Der Ritter am anderen Ende der Kampfbahn ließ
sein Pferd sofort los-galoppieren, schwenkte die Lanze und schien sich
noch nicht sicher zu sein, wo er ansetzen sollte. Cuno drückte Váží die
Hacken in die Seite, legte die Zügel auf dessen Hals und hielt die Lanze
beidhändig, den Schild am Unterarm; erst als er sah, dass der Angreifer
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die Lanze in die linke Ellenbogenbeuge legte. Wechselte auch er nach
links und hob den Schild mit der Rechten. Links gegen links bedeutete,
dass sich die Lanzen kreuzen mussten, die kleinen Rundschilde konnten
dann höchstens noch die Richtung der gegnerischen Lanze verändern,
aber ihren Stoß nicht aufhalten. So geschah es. Cunos Lanze traf den
Anderen links am Brustkorb. Dessen Lanze hätte ihn beinahe getroffen,
wenn er den Schild nicht über das Herz gehalten hätte. Der Schwung
ging ins Leere, aber da Cunos Lanze unter des Gegners Achsel fuhr,
wurde dieser ausgehebelt und flog in hohem Bogen in den Matsch. Váží
stand sofort, rutschte nur wenig auf dem glatten Untergrund und ließ
Cuno soviel Zeit, dass er das Langschwert ziehen und auf die Kehle des
Anderen zielen konnte. Jubel der Männer aus Jihlava brandete auf, aber
auch die deutschen Ritter und Knechte applaudierten. Graf Heinrich
kam herüber zu den Kämpfern, reichte Cuno, der seinem Gegner unterdessen aufgeholfen hatte, die Hand und erklärte „den deutschen
Knappen, der bald Ritter werden würde und von Tschechen in der Ceška
das Kämpfen gelernt hatte“, zum Sieger. Als sein Gegenspieler daraufhin seinen Helm abnahm, erkannte er den ältesten Knappen Heinrichs,
der ihm nun auch grinsend die Hand reichte: „Guter Schachzug, wenn
man schnell ist! Ich bin Tscheche und habe bei Deutschen gelernt – zusammen wären wir unschlagbar!“
Dann traten die ersten Sieger gegeneinander an. Und plötzlich wusste
Cuno, woher ihm das Gesicht des einen deutschen Ritters so bekannt
vorkam, sein Bruder Gernot, der mit ihm bei dem kleinen Zelt wartete,
bestätigte es. Es war Johann von Selb, der Vater seines Knappenbruders
Johann, der auf dem Weg nach Jihlava in Pisek haltgemacht hatte und
zum Turnier eingeladen worden war. Das gleiche hochmütige Gesicht,
aber mit einer Narbe vom Auge bis zum Mundwinkel, die, wie Gernot
erzählte, von einem Schwerthieb herrührten, den Johann bei den
Kämpfen um das Erbe der Přemisliden erhalten hatte. Als Anhänger des
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habsburgischen Heinrichs von Kärnten hatte er gegen Johann von Luxemburg gekämpft, den Ehemann von Elisabeth Přemisl, und verloren;
deshalb saß er auf seinem winzigen Lehen bei Eger fest und er wartete
verbittert, dass sein Sohn zum Ritter geschlagen würde und er in Ruhe
sterben könnte. So, wie er anstürmte, hatte man das Gefühl, er wollte
gleich sterben, aber er gewann dadurch einen Gleichmut, der ihn auch
seinen nächsten Gegner aus dem Sattel heben ließ.
Schließlich war Cuno wieder an der Reihe. Wiederwusste er nicht, wer
sein Gegner sein würde, war doch vereinbart worden, dass keiner sein
Wappen zeigt. Und ihm kam ein zweiter Grundsatz Pritbors in den Kopf:
„Im Krieg muss man schauen, wie man durchkommt, aber beim Turnier
darfst du nie denselben Trick zweimal benutzen!“ Er ließ Váží antraben,
die Lanze fest eingelegt in die rechte Armbeuge, den Schild weit vor sich
gestreckt; als der Angreifer auf zwei Lanzenlängen entfernt war, gab er
dem Hengst die Hacken; der sprang mit einem Satz nach vorne und
raste los. Die gegnerische Lanze rutschte an der Rüstung ab und schob
dabei Cunos Lanze aus dem Gefahrenbereich. Am Ende der Kampfbahn
wendeten beide, Cuno wechselte Lanze und Schild jeweils in die andere
Hand und stürmte los. Und nun, mit der Lanze in der linken Armbeuge,
traf er seinen Gegner voll auf den Brustharnisch; wie eine Puppe flog er
hoch und auch wieder in den Matsch. Váží wollte in den Stand kommen,
glitt aber aus und auch Cuno glitt in den Dreck. Als er sich aufgerappelt
hatte, war auch sein Gegenspieler aufgestanden und mit gezogenem
Schwert kampfbereit. Nun ging es Mann gegen Mann, die Pferde waren
von Knappen aus der Kampfbahn gebracht worden. Die Schwerter klirrten, die Brustharnische dröhnten, wenn ein Mal ein Schlag durchkam,
und über Cunos Armschiene zog sich ein leichter, roter Schleier, die
Folge eines schlecht abgewehrten Schwerthiebs. Nach langen Minuten
wütenden Ringens ertönte ein Trompetensignal und Graf Heinrich
schritt mit ausgestreckten Händen auf die Kämpfer zu und ließ sich von
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beiden die Schwerter geben. „Wir sind im Turnier, und wir kämpfen
nach Regeln. Wir kämpfen nicht, um zu töten, deshalb frage ich alle anwesenden Ritter: Ist es gerecht, wenn ich diesen Kampf als unentschieden beende?“ Schwerter klopften auf Schilde, Fäuste auf Holz, Hände
klatschten und laute Stimmen stimmten dem Grafen zu. Daraufhin nahmen beide Kämpen ihre Helme ab und Cuno erkannte, dass sein Gegner
niemand anderes war als Enzo von Falkenau, sozusagen der Pritbor von
Pisek. „Ich kann dir und Pritbor von Jihlavy, deinem Lehrer, den ich gut
kenne, nur gratulieren – du hast dich gut gehalten!“ Sprach‘s und gab
Cuno einen Schlag auf die Schulter, der ihn beinahe unfreiwillig zu Boden gebracht hätte.
Als Gernot ihm in dem kleinen Zelt aus der Rüstung half, denn Graf Heinrich hatte klar gemacht, dass Cuno gegen keinen weiteren Gegner antreten dürfte, solange er noch nicht selbst zum Ritter geschlagen worden sei, fragte Cuno ihn, ob Enzo ihn wohl bewusst geschont habe. Erst
als sein Bruder ihm bestätigte, dass er tatsächlich gegen den alten Haudegen gleichgezogen habe, nahm Cuno es als richtig an und konnte sich
freuen. Eine Magd brachte mit den Worten: „Das schickt Euch das Fräulein, das Bad braucht Frau Ermingilde wegen ihrer Rückenschmerzen“
eine Schüssel mit heißem Wasser und etwas Spitzwegerich. Cuno
konnte sich reinigen und dann den Spitzwegerich auf dem harmlosen,
aber stark blutenden Schnitt zerquetschen.
Unterdessen hatte der nächste Durchgang begonnen. Gernot wusste,
dass ein Kämpfer Ritter Johann von Selb war, der andre Georg von Hellenburg, der seinen Besitz südlich von Pisek hatte. Sie kannten sich aus
dem Krieg um die böhmische Thronfolge; damals war Georg auf der
„richtigen“ Seite gewesen; er hatte als namenloser und besitzloser Ritter Johann von Luxemburg unterstützt, als diesem gute Kämpfer fehlten. Und Georg war ein guter Kämpfer, das sah man auch auf der Tur-
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nierbahn sofort. Zum Dank für seine Dienste hatte ihm Johann, nun König Johann, die Ländereien am Oberlauf der Branice übertragen, fruchtbares Land und große Wälder, die von den Bauern dort gegen Abgaben
bewirtschaftet wurden. „Er hat noch etwas getan, was ungewöhnlich,
vielleicht sogar verwerflich ist“, erzählte Gernot weiter. „Er hat die vom
Erzbischof von Mainz in seinen Dörfern eingesetzten Priester in ein Kloster gesteckt, angeblich, weil sie kein würdiges Leben geführt haben, und
hat neue Priester geholt, die auf tschechisch predigten und zu den Kritikern der Kirche zählten. Als Folge siedelten sich viele relativ gebildete
Menschen in seinen Dörfern, die vor der Verfolgung durch die Kirche,
manche vielleicht sogar vor der Inquisition geflohen waren. Sie brachten nicht nur ihre Arbeitskraft und die ihrer Familien, sondern viele waren auch Handwerker, die neue Techniken in die Dörfer brachten und
von Georgs Land aus in ganz Böhmen Handel trieben. Und alle Abgaben
gehen an Georg – er muss steinreich sein!“
Wieder prallten die Kämpfer aufeinander, so heftig diesmal, dass Johanns Lanze splitterte. Als er sein Pferd wendete um am Ende der
Kampfbahn eine neue zu holen, rief Georg: „Lass uns den Kampf mit
dem Schwert fortsetzen!“ Johanns Helm wandte sich Graf Heinrich zu.
Der nickte, und Johann glitt vom Pferd. War der Schwertkampf zwischen Cuno und Enzo von Falkenau vorhin schon heftig gewesen, dieser
Kampf schien mörderisch zu sein. Beide hieben ohne die geringste Rücksicht mit den Langschwertern aufeinander ein. Cuno flüsterte Gernot
zu: „Das sieht aus wie Krieg, und nicht wie Turnier.“ Ebenso leise antwortete der Bruder: „Die sind sich ja schon einmal im Krieg begegnet,
und es sieht so aus, wie wenn Georg den damaligen Sieg wieder erringen und Johann endlich auch siegen wollte!“ Doch der bessere Kämpfer
setzte sich durch. Georg hatte mit einem gezielten Hieb auf die Lücke
zwischen Eisenhandschuh und Armschiene Johanns Hand so verletzt,
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dass der das Schwert fallen lassen musste. Sofort war Georgs Schwertspitze an der Kehle des Unterlegenen und Graf Heinrich schickte Enzo,
dem bösen Spiel ein Ende zu machen.
Als Cuno mit Gernot zur Halle zurückging, Váží war versorgt und Wolf
kam mit den beiden Männern mit, drehten sich alle Gespräche um den
letzten Kampf. Johann hatte verloren, das war klar, und die Regeln erlaubten es, dass nach einem Lanzenbruch zum Schwert gegriffen
wurde. Aber konnte die Wildheit und finstere Entschlossenheit von beiden wirklich darauf zurückgeführt werden, dass sie einmal Kriegsgegner
waren? Dann machte ein anderes Gerücht die Runde: Georg hatte angeblich am Vorabend geprahlt, dass er natürlich der Sieger des Turniers
werden würde, und dann würde er um die Hand Salwas anhalten. Und
das hatte Johann doch schon letztes Jahr getan, erfolglos. Cuno war es,
als ob er in ein tiefes Loch versinken würde. Er kannte diesen Georg von
Hellenburg gar nicht, Johann auch nicht, aber Salwa die Frau von einem
der beiden? Salwa und jetzt schon heiraten? Sie war doch auch erst
sechzehn. Und dann würde er sie nie mehr wiedersehen?
„Herr, Ihr sollt zum Grafen kommen, es geht um das Getreide und den
Zimmermann, das Turnier ist ja jetzt vorbei, und wir sollten wieder nach
Jihlava zurück.“ Cuno erhob sich und stieg zum Gemach des Grafen
Heinrich hinauf, klopfte und wartete auf eine Antwort. Statt dessen
wurde die Tür aufgerissen und eine tränenüberströmte, wutentbrannte
Salwa stürmte hinaus und die Treppe hinunter. Beinahe hätte sie Cuno
umgerannt, der gerade noch ausweichen konnte und sich sicher war,
dass sie ihn weder gesehen noch erkannt hatte. Er blieb vor der offenen
Tür stehen und wartete, dass Heinrich ihn bemerken würde.
Nach einigen Minuten sah der Graf, der, den Kopf in beide Hände gestützt, an seinem mit Pergamenten übersäten Tisch saß, auf und be-
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merkte Cuno. „Komm herein und schließe die Tür.“ „Meine Leute sagten mir, dass Ihr mich wegen meiner Bitten sprechen wollt.“ „Ja, ja,
auch das.“ Und dann platzte es aus ihm heraus: „ Ich weiß nicht, ob das
Gerücht schon die Runde macht, aber Georg von Hellenburg hat seine
Ankündigung von gestern Abend wirklich wahr gemacht und um Salwas
Hand angehalten, kaum dass er als Turniersieger feststand…. Er ist aus
untadeliger Familie, ein herausragender Ritter; ein Deutscher, der die
Tschechen unterstützt; reich, mit fruchtbaren Ländereien und zahllosen
Menschen, die für ihn arbeiten. Gut, er ist nicht mehr ganz jung, aber er
steht doch in der Blüte seines Lebens – wieso weigert sich dieses Mädchen, auch nur einen Gedanken an eine solche Hochzeit zu verschwenden – du hast sie ja wahrscheinlich vorhin gesehen…“ Wieder sank der
Kopf in die auf die Tischplatte aufgestützten Hände. Cuno wurde es richtig kalt ums Herz: das, was ihn vorher als Gerücht schon so erschreckt
hat, war nach der Bestätigung durch Graf Heinrich noch viel schlimmer.
Ohne zu fragen setzte er sich auf den Hocker, der Graf Heinrich gegenüber stand und bekam kaum noch Luft, als wenn er mit Rüstung einen
Berg ein paar Mal rauf und runter gerannt wäre. Lahm wagte er die
Frage: „Habt Ihr schon mit Ermingilde darüber gesprochen Was meint
sie?“ „Die liegt seit heute Morgen im Bad und versucht, nach der dämlichen Tanzerei gestern Abend ihren Rücken wieder gerade zu biegen –
ich habe ihr noch nichts gesagt!“
Beide saßen lange schweigend da, bis Heinrich sich einen Ruck gab.
„Was belästige ich dich mit meinen Problemen! Du kamst, um Getreide
zu kaufen und hast meinem Burgvogt einen Preis genannt, den Boleslav
bereit wäre zu bezahlen. Für diesen Preis könnt ihr das Getreide haben.
Und bei euren Bauten kann ich euch auch helfen: ich habe hier auf der
Burg einen wandernden Zimmermannsgesellen, der gute Arbeit leistet,
Franz heißt er und kommt aus Tischenreuth in Bayern – der will sowieso
weiter, wie es diese wandernden Gesellen zu tun pflegen; der kann
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doch mit dir nach Jihlava gehen.“ Cuno quälte sich von seinem Hocker
hoch, verbeugte sich und sagte: „Ich danke Euch, Graf Heinrich.“ „Ist
gut, du kannst gehen.“ Bevor der junge Thüringer noch die Tür erreicht
hatte, stützte der Graf wieder den Kopf auf beide Hände. Unten in der
Halle angekommen sagte er seinen Leuten, dass sie das Getreide aufladen könnten, „Und vergesst nicht, es mit Tüchern möglichst gut abzudecken, damit es trocken nach Jihlava kommt!“. Dann bat er eine vorbeikommende Magd, nach dem Zimmermann Franz zu schicken und
ließ sich auf die Bank plumpsen, auf der schon der junge und der alte
Gernot saßen. Wolf, der seinen Herrn besser kannte als die meisten
Menschen, drängte sich an seine Beine und legte ihm die Schnauze auf
den Schenkel, worauf Cuno gedankenverloren anfing ihn zu kraulen,
was er mit wohligem Grummeln quittierte. „Was ist los?“ fragte der ältere Gernot „Es klang doch so, als ob du das Getreide bekommen könntest, und gerade hast du nach Franz dem Zimmermann geschickt. Und
bist als Knappe in einem Turnier ungeschlagen durchgekommen – warum die Leidensbittermiene?“ Cuno wurde einer sofortigen Antwort
enthoben, denn die Magd, die er vorher nach Franz geschickt hatte,
kam mit dem jungen Bayern an den Tisch. „Ihr wolltet mich sprechen?“
Cuno erklärte, was er von dem Gesellen wollte, und als der auf die Nachfrage, ob er schon einmal mit Mühlen zu tun gehabt habe, antwortete.
„Ich habe meine Lehrzeit in Tischenreuth bei einem Meister gemacht,
der fast alle Wassermühlen an der Waldnaab gebaut hat!“ war es eigentlich nur noch eine Frage, wie hoch der Lohn sein würde – was Cuno
nicht beantworten konnte. Nach kurzem Zögern stimmte Franz zu und
man vereinbarte, dass er am Morgen zur None im Burghof bereit zur
Abreise sein sollte. Wie es Sitte war bei Wandergesellen, galt ein Handschlag und ein geleerter Becher Wein, den ihm der junge Gernot voll zu
schob, als Besiegelung. Cuno hatte in der Tat alles erledigt, was zu erledigen war und könnte zufrieden zurück nach Jihlava.
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Es war noch Zeit bis zum Vesper, und als Ada, die die kranke Ermingilde
zu vertreten versucht hatte, an den Tisch trat und ihre drei Männer aufforderte, die Sonne noch zu genießen, die draußen schon frühlingshaft
schien, verließen alle vier durch das Tor die Halle, überquerten den Hof
und gingen die Straße hinunter zur Otava.
„Wir sollten auch bald abreisen“, meinte der Älteste der Gruppe. „Die
Ritter und Knechte, die Graf Heinrich diesmal für die Reise zu uns ausgewählt hat, sind schon hier in Pisek angekommen, und die Wege werden nicht besser, wenn der Schnee auch nachts nicht mehr gefriert –
und mich zieht es heim.“ „Mich auch. Wenn die Vorräte zu Ende gehen
und das ganze Dorf wieder nicht weiß, wie es die Wochen bis zu den
ersten Erträgen der Gärten und Felder überstehen soll, muss die Burgherrin eigentlich am Platz sein und für gerechtes Verteilen sorgen!“
„Und ich schaue mal auf Hohnstein vorbei, vielleicht kommt Walter zur
Feier von Christi Auferstehung zu seinem alten Vater!“ Cuno sagte
nichts. „Dann ist es beschlossene Sache: Wir bereiten alles vor, nehmen
am Turnierbankett heute Abend noch teil und reisen dann morgen ab!“
Am Abend war die Halle schon nicht mehr so voll wie am Tag zuvor.
Einige Ritter waren schon abgereist, unter ihnen Johann von Selb, weil
sie sich das Geprahle Georgs von Hellenburg nicht mehr anhören wollten; die Frauen nahmen aus Sympathie für Ermingilde nicht am Bankett
teil; und die Aufbruchsstimmung hatte sich schon ein wenig auf die Gesellschaft gelegt. Cuno trank zu viel, auch wenn es Bier statt Wein war;
er wusste nicht ein noch aus, außer dass er morgen nach Jihlava zurückreiten würde. Die Vorfreude auf Anja und der Schmerz um Salwa kämpften in ihm; er wollte seine Eltern und Gernot nicht schon wieder gehen
lassen; er hätte gern gewusst, was er eigentlich selber wollte; er wusste,
dass er zu Boleslav Přemisl zurück musste, für viele Monate, vielleicht
Jahre, Burg, Stadt und Bergwerk waren ihm zumindest eine zweite Hei-
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mat geworden; er hatte alle Erwartungen, die andere in ihn gehabt hatten, erfüllt, aber was hatte er davon? Er ging sich am Burggraben erleichtern. „Aber, aber“, klang eine schnippische Stimme, die ihm so
wohl bekannt war. „Tun das Ritterlehrlinge?“ Salwa stand an die dicke
Eiche im Burghof gelehnt, und ihre Züge sprachen ihren Sätzen Hohn.
Nichts Schnippisches, nichts Spöttisches, nur pure Verzweiflung war zu
sehen und brach sich Bahn: „Was soll ich denn machen, Cuno? Ich will
diesen alten Hellenburg nicht heiraten – warum auch? Doch Onkel
Heinrich…“ Als Cuno an die Eiche trat, warf sie sich in seine Arme und
schluchzte hemmungslos. „Was will der denn von mir?“ Cuno schluckte:
„ Von außen gesehen: Du bist jung, schön, gebildet – wenn auch en bisschen vorlaut; du kommst, hat dein Onkel Heinrich gesagt, aus einer vornehmen, angesehenen tschechischen Adelsfamilie; auch wenn deine
Mitgift vielleicht nicht allzu groß ist, interessiert das einen reichen
Mann nicht; du kannst, zumindest hier in Pisek, die Herrin problemlos
vertreten und deshalb auch einen großen Haushalt führen; wenn du
Kinder bekommst, dann sind das rechtmäßige Erben. Mein Bruder Gernot hat sagen hören, dass Georg schon zweimal verheiratet war, die
Frauen aber immer kurz darauf verstorben sind; und er ist schon ziemlich alt; wenn er also noch Erben haben will, muss er sich beeilen – und
mit dir hat er noch Jahre vor sich, in denen er Vater werden kann. Reicht
dir das?“ Unter Tränen schaute sie zu ihm hoch:“ Du redest genauso
einen Unsinn wie mein Onkel – aber es klingt aus deinem Mund liebevoller!“ Sie schmiegte sich an ihn und hörte langsam auf zu schluchzen.
Er strich ihr über die Wange und hob ihr Gesicht am Kinn mit einem
Finger leicht nach oben und küsste sie auf die Stirn, dann, als sie sich
ihm zuwandte auf den Mund und es war kein Kuss unter Freunden. Als
sie wieder zu Atem kam, war sie ein bisschen die alte Salwa: „Herr Ritterlehrling, bevor sie das zukünftige Ritterfräulein küssen dürfen, müssten Sie erst ein paar Minnelieder singen!“ Er verschloss ihren Mund mit
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einem weiteren Kuss, und als sie beide sich Arm in Arm in der längst
hereingebrochenen Dunkelheit dem Tor der Halle näherten, war so etwas wie Frieden in ihnen beiden. Am Fuß der Treppe hielt Cuno an: „
Ich muss morgen zurück nach Jihlava und du musst allein durch das
ganze Durcheinander. Eine Idee hatte ich gerade: Ermingilde ist doch
wirklich krank, oder? Kannst du deinem Onkel nicht klarmachen, dass
du dich erst entscheiden kannst, wenn sie Haus und Burg wieder allein
verwalten kann? Solange wirst du doch hier gebraucht, und dieser Hellenburg kam ja bisher auch schon ohne Frau durch!“ Ein zarter Kuss,
dann schlüpfte sie aus seiner Umarmung und lief die Treppe hinauf:
„Danke, Cuno!“
Am Morgen herrschte Gedränge und Geschäftigkeit im Burghof: Georg
von Hellenberg machte sich, unzufrieden ob der hinhaltenden Antwort
von Graf Heinrich, aber noch nicht abgewiesen, auf den Weg nach Süden. Die Steigerthals beluden ihre Schlitten, um mit dem letzten Frost
nach Westen voranzukommen, und Cuno sammelte sich mit seinen Leuten vor dem Weg nach Osten. „Zu meinen Eltern ginge es nach Norden“,
war der Satz, den Salwa beitrug, aber für sich allein, als sie oben auf der
Treppe stand und all den Menschen, die die Burg verließen, nachschaute. Zumindest für den Moment fühlte sie sich wieder sicher auf
der Burg in Pisek.
Böhmen, Sommer 1320
„Ein guter Mann, den du da mitgebracht hast!“ Mit diesen Worten hieb
Boleslav Přemisl seine rechte Pranke auf Cunos Schulter, was den fast
in die Knie zwang. Der Adlige aus einer nicht erbberechtigten Seitenlinie
des alten böhmischen Herrschergeschlechts hatte mit Ješko und Cuno
die erste Gesteinsmühle besichtigt, die der Zimmermann mit dem Wandergesellen Franz an dem ersten Mühlkanal der Jihlavka gebaut hatte.
Die geförderten Gesteinsbrocken wurden von einigen Hauern auf die
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für die Mühle geeignete Größe zerschlagen und dann kam das Ganze
wannenweise in das große Loch in der Mitte des oberen Mühlsteins.
Durch einen Hebel konnte der Abstand zwischen dem oberen und dem
unteren Mühlstein der Größe des noch zu zermahlenden Gesteins angepasst werden, so dass an Tagen mit wenig Förderung höchstens kieselgroße Stücke in die Schmelzöfen gingen. Der Antrieb des oberen
Mühlsteins geschah wie bei der Förderwinde über zwei Kranzräder: die
Wasserkraft aus dem Mühlrad wurde durch ein aufrecht stehendes
Kranzrad auf das waagrechte Kranzrad, an dem der obere Mühlstein befestigt war, übertragen; die Schwierigkeit war es gewesen, das große
Gewicht des Wasserrades und des oberen Mühlsteins so zu verbinden,
dass die rechtwinklig angebrachten Holzpflöcke auf beiden Kranzrädern, die ineinander greife sollten, nicht dauernd abbrachen. Franz
hatte die Lösung gefunden: Die Pflöcke waren durch die Holzscheibe
des Rades tief und fest verankert, aber der Teil der Pflöcke, der über das
Holzrad hinausschaute, wurde recht kurz gehalten; man musste so sehr
genau die Achsen und Wellen einbauen, aber dann hielten sie auch großen Belastungen stand. Und das war der Anlass für Boleslavs Lob gewesen: die Wassermühle schaffte viel mehr als ganze Gruppen von Hauern; die zur Schmelze geleiteten Steine waren etwa gleich groß und deshalb einfacher von Silber zu befreien und die eingesparten Hauer und
Knechte konnten in weiteren Schächten als Steiger eingesetzt werden.
Endlich hatte der Böhme das erreicht, was er seit zwei Jahren im Sinn
hatte: Sein Gewinn aus dem Silberbergbau stieg schneller als die Kosten; durch die zusätzlich angesiedelten Arbeiter und Handwerker – Bäcker, Metzger, Schneider, Gerber, Schuhmacher, Schmiede - war er reicher und mächtiger geworden als je zuvor. Die letzten Probleme, die
Versorgung mit Getreide und Holzkohle, waren seit wenigen Wochen
auch gelöst: die Dubček – Brüder brachten jeden Monat ein Floß voll
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Holzkohle nach Jihlava, die sie oben in ihren Wäldern zusammenkauften. Von den armen Köhlern wurden sie dafür als Wohltäter angesehen.
Und Graf Heinrich von Pisek hatte sich bereit erklärt, das gesamte benötigte Getreide gegen gutes Geld, aber ohne Versorgungsschwierigkeiten vier Mal im Jahr nach Jihlava bringen zu lassen, was auch ihm einen
ordentlichen Gewinn eintrug. Damit das Getreide verarbeitetet werden
konnte, waren Ješko und Franz dabei, an einem zweiten Mühlkanal eine
neue Getreidemühle zu bauen.
Alles lief „wie geschmiert“, wie der Schwarze Boris sagte. Und das bedeutete für Cuno und Juri, dass sie sich wieder wie Pjotr, Johann und
Friedrich dem harten Regiment Pritbors von Jihlavy unterstellen mussten. Wenn Übungen im Fußkampf angesagt waren, ritt Cuno früh morgens aus, um sein Zusammenspiel mit Pferd und Hund zu vervollkommnen. Bei Tjost- und Turnei - Übungen brauchte der Hengst keine zusätzliche Bewegung. Das Turnei war die Form des Turniers, die Cuno in der
letzten Zeit am besten gefiel: auf einem kleinen Turnierfeld kämpften
zwei überschaubare Gruppen mit stumpfen Lanzen gegeneinander; Sieger war die Partei, die im Kampf Mann gegen Mann die meisten Gegner
aus dem Sattel werfen konnte. Pritbor fand sein Gefallen daran, die
sechs Knappen in immer wieder veränderter Zusammensetzung gegeneinander anrennen zu lassen. Es waren wieder sechs Knappen, denn als
Nachfolger von Miška war ein Junge namens Urban, der schon zwei
Jahre von Enzo von Falkenau in Pisek ausgebildet worden war, Mitbewohner in der Knappenkammer geworden, wobei das Mitbewohnen eigentlich nur noch tagsüber galt, denn außer Friedrich hatten alle eine
Magd oder Handwerkertochter gefunden, mit der sie normalerweise
die Nächte verbrachten, Cuno traf Anja immer auf dem Dachboden der
ersten neuen Schmelzhütte; dort war es warm, trocken und dank der
eisernen Disziplin des Schwarzen Boris auch sauber.
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Wieder ein Angriff drei gegen drei. Die Lanzen waren stumpf und die
Turneis waren stumpfsinnig, aber es erschöpfte die Körper und machte
den Geist frei, sich damit zu beschäftigen, was jeden einzelnen gerade
beschäftigte. Und Cuno grübelte wieder über sein vertrautestes Thema
nach: Mit einer Getreidelieferung aus Pisek war auch ein Brief von
Salwa für ihn gekommen. Die entscheidenden Sätze darin waren: „Ermingilde ist eigentlich wieder gesund. Damit mir mehr Zeit zum Überlegen bleibt, tut sie noch so, als bräuchte sie noch mehr Zeit zur Genesung. Aber irgendwann in naher Zukunft muss ich mich entscheiden.
Was soll ich tun? Hat Onkel Heinrich nicht schon entschieden?“ Cuno
grübelte seit Tagen über diese Frage: Warum fragte sie ihn das? Wollte
sie seinen Rat? Hatte Graf Heinrich nicht längst entschieden? Wollte sie
mehr?
Er knallte auf den Boden des Turnierplatzes. „Schläfst du, oder was ist
los? Wenn Váží reden könnte, würde er dir jetzt eine Predigt halten, er
hat alles versucht, um dich vor Pjotrs Lanze in Sicherheit zu bringen,
aber du merkst heute gar nichts!“ brüllte der Schwarze Boris, konnte
sich aber eigentlich das Lachen kaum verbeißen, weil Cuno so ungeschickt gestürzt war.
Wütend rappelte sich Cuno auf – von Tibor gefällt zu werden, oder auch
von Urban, aber ausgerechnet von Pjotr – so eine Schande! Beim nächsten Angriff lag der Pole als Erster, mit zerbeultem Brustharnisch und
verrutschtem Helm. „Warum nicht gleich so?“ Der alte Knappenmeister
hatte jetzt selber genug vom Turnieren und schickte die jungen Männer
mit den Pferden zurück in die Stallungen, um dort die eigenen Tiere zu
versorgen und dann den Stallknechten zu helfen.
Nach dem Nachtmahl erhob sich Boleslav Přemisl von der erhöhten Tafel und wandte sich an alle Anwesenden: „Männer, heute hat mich der
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Aufruf Graf Heinrichs aus Pisek erreicht; Dutzende von Dörfern im waldigen Dreieck zwischen der Vitava, der Lužnice und den Orten nahe Prag
sind in den letzten Monaten von Banditen überfallen worden, nicht nur
Siedlungen mit deutschen, sondern auch viele mit tschechischen Bewohnern wurden heimgesucht. Die Handelswege sind nicht mehr sicher, die Versorgung des Hofs in Prag ist schwierig geworden. Graf Heinrich wurde von König Johann aufgefordert, mit einer entsprechend großen Streitmacht die im Wald Schutz findenden Banditen aufzustöbern
und zu vernichten, um allen Menschen zu zeigen, dass in Böhmen Recht
und Gesetz herrschen, und nicht irgendwelche Gesetzlose. Ich werde
mit meinen Männern, Knappen und Rittern morgen nach Kozi Hrádek,
unserem Treffpunkt, aufbrechen. Die Herren, die mich begleiten möchten, sind gern gesehene Gäste. Die anderen müssen für die Sicherheit
Jihlavas einige Vorbereitungen treffen. Darum, Mägde, räumt ab, dass
wir planen können!“ Krüge und Becher blieben stehen, alles andere
wurde schnell abgeräumt, und die Knappen und Ritter, die am nächsten
Tag Boleslav begleiten würden, machten sich an die Vorbereitung des –
konnte man Kriegszuges sagen? Die Knappen redeten in ihrer Kammer
alle durcheinander, packten zusammen, was sie unbedingt brauchten
und verschwanden dann zu ihren Liebchen in die verschiedensten
Ecken der Burg und der Stadt. Friedrich hatte den Auftrag, auf das Gepäck aufzupassen.
Als Cuno am Schmelzofen ankam, musste er auf Anja warten, was
höchst ungewöhnlich war. Als sie endlich kam, war sie gar nicht wie
sonst. „Heißt das wirklich Krieg, oder hat der Ritter übertrieben?“ „Ich
weiß es nicht, aber wenn Graf Heinrich ruft, ist es nicht ganz einfach,
hat er doch selbst eine starke Streitmacht.“ „Und du musst als Knappe
mit? Kannst nicht irgendwie hierbleiben?“ „Was ist los, Mädchen?“ Sie
klammerte sich an seine Schulter und schluchzte. „Wir bekommen ein
Kind. Ich wollte es dir sagen, wenn es einmal wieder besonders schön
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war, aber jetzt habe ich Angst um dich und…“ Sie konnte nicht mehr
weitersprechen, nur noch weinen. Ein Kind? Bald siebzehn und Vater?
Das Durcheinander der Gefühle ließ ihn einfach noch fester in die Umarmung sinken. Er hatte Anja sehr gern, und das Zusammensein mit ihr
war immer schön gewesen. Trotzdem hatte er sich schon mal seine Gedanken gemacht – und sei es beim Turnei: Er konnte Anja nicht zu seiner
Frau machen, dafür war der Standesunterschied denn doch zu groß;
Anja wollte das auch nicht, sie war zufrieden mit ihrer Lage: der ansehnlichste Knappe war ihr Knappe, er würde sie umsorgen und versorgen,
solange es möglich war, die Arbeit auf der Burg war anstrengend, aber
gut, sie liebte Cuno und war glücklich, dass er in diesen Jahren für sie da
war - und das war mehr, als sie in der Bauernkate ihrer Eltern je zu
hoffen gewagt hätte, das hatte sie schon oft gesagt. Aber nun ein Kind!
Er zögerte und sagte schließlich: „Dann musst du gut auf dich und das
Kind aufpassen, und ich passe auf mich auf, und in ein paar Wochen
werden wir hier stehen, deinen dicken Bauch streicheln, uns auf das
Kind freuen und darüber lachen, dass wir überhaupt Angst hatten!“ Er
löste eine Hand aus der Umarmung und streichelte schon mal vorsorglich ihren Bauch, wobei er den Bereich „Bauch“ dann doch etwas großzügiger auslegte. Und als sie etwas später erschöpft nebeneinander lagen, Anja mit dem Rücken an ihn geschmiegt, sein Arm über ihren Brüsten, wie sie es liebte, fragte sie, noch immer mit ein wenig tränenfeuchter Stimme: „Hast du das jetzt nur gesagt, um mich zu beruhigen? Alle
Frauen in der Halle und der Küche haben Angst um ihre Männer, und
Boleslav ist ein kühner Ritter, wenn man so hört, was über ihn erzählt
wird, auch wenn er nicht so aussieht. Als sein Knappe wirst du ihn in
jedem Kampf begleiten, darfst ihm im dichtesten Getümmel nicht von
der Seite weichen und musst mutig dazwischen gehen, wo ihm tödliche
Gefahr droht, und was mit dir passiert, ist doch den Herren egal, und
was dann mit mir passiert, den Frauen!“ Er legte seine andere Hand auf
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ihren Bauch: „Das Kind da drin wird einen Vater haben. Boleslav ist vielleicht kühn, aber er ist viel zu klug, um sich auf irgendwelche Abendteuer einzulassen, die man nicht eingehen muss. Außerdem hat der alte
Pritbor mich nicht umsonst zwei lange Jahre geschunden, ich weiß mich
zu verteidigen. Und wenn doch irgendetwas Unerwartetes geschehen
sollte: du wirst immer eine Heimstatt haben, hier in Jihlava oder bei mir
zu Hause auf der Burg in Steigerthal!“ Mit dieser Versicherung schliefen
die beiden ein.
Am Morgen war ein unglaubliches Getöse im Burghof: Karren wurden
mit Nahrungsmitteln, Ersatzwaffen und Futter beladen, die Bogenschützen Boleslavs beluden zwei Maultiere mit Köchern voller Pfeile,
Rüstungen wurden zum letzten Mal angepasst, Pferde liefen ungesattelt durch den Hof und erhöhten das Durcheinander, die von den Stallknechten gebrachten gesattelten Pferde wurden erst an den Zügeln gehalten, aber dann bald an die große Eiche im Hof gebunden; Ritter
herrschten ihre Knappen an, Knappen die Knechte, die Knechte die
Mägde, und über allem stand der Priester der Burgkapelle und versuchte, seinen Segen los zu werden. Als Boleslav Přemisl aus dem Tor
des Saales trat, gerüstet und gewappnet, mit Cuno als Lanzenträger an
seiner Seite, die fünf anderen Knappen hinter ihnen, ebbte der Lärm
langsam ab. „Männer, lasst uns aufbrechen. Graf Heinrich erwartet uns
auf Kozi Hrádek am Knick der Lužnice – der Ritt dorthin mit all dem
Zeugs“ hier machte er eine weite Armbewegung über all das, was im
Burghof sich angesammelt hatte, „wird zwei Tage oder sogar länger
dauern, dann feiern wir eine gemeinsame Messe und machen uns auf,
den königlichen Auftrag zu erfüllen!“ Boleslav konnte seine Gattin Aljina
noch einmal in den Arm nehmen, die meisten Männer konnten ihren
Gefährtinnen höchstens noch zuwinken und dann ging es mit einem
Trompetensignal hinaus auf die Straße, hinunter zur Jihlavka, die nach
Sonnenuntergang führte, Cuno mit der Lanze und dem Wimpel des
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Hauses Přemisl auf Váží vorneweg, rechts neben ihm mit dem Wappenschild Tibor, links neben ihm Wolf, dann die Ritter des Gefolges, die Bogenschützen, die Karren mit dem Nachschub und als Nachhut Pritbor
von Jihlavy mit Pjotr, Johann, Friedrich und Urban. Anja war schon ein
bisschen stolz auf „ihren“ Knappen, wie er da mit der von ihr polierten
Rüstung, Helm mit offenem Visier und seinem gestickten Wappenmantel dem Zug vorausritt!
Der Tag war ein idealer Reisetag. Die Sonne verbarg sich häufig hinter
weißen oder grauen Wolken, es war trocken und angenehm warm,
nicht so heiß, wie es manches Mal in diesem Grenzgebiet zwischen Böhmen und Mähren im Sommer sein kann. Die Bauern und Knechte, an
denen man vorbeikam, beugten ihr Knie, sei es, weil sie das Wappen
Přemisls erkannten, der als Wohltäter seiner Lande galt, sei es, weil die
Streitmacht einfach beindruckend mächtig war. Eine kurze Rast am Ufer
der Źelivka, nachdem man den hohen Křemešník umgangen hatte, dann
weiter bis zur Burg Kámen, die inmitten des Nichts wenigstens für die
meisten Reisenden eine Unterkunft und große Gastfreundschaft bot.
Am nächsten Tag ging es direkt nach Kozi Hrádek, wo die etwa fünfzig
Kämpfer und die mehr als hundert Hilfskräfte von Graf Heinrich begrüßt
wurden: „Wenn König Johann ruft, kommen alle Ritter Böhmens, aber
deine Ankunft, Boleslav, freut mich besonders! Wie lange ist es her,
dass wir statt Geschäfte miteinander zu machen, nebeneinander im
Kriegszug geritten sind?“ Er senkte die Stimme.
„ Auch wenn ich nicht glaube, dass wir wirklich in Kämpfe verwickelt
werden. Die Banditen werden sich keinem Ritterheer entgegenstellen
und ich hoffe, dass die Menschen, die mit ihnen Verbindung haben, uns
zu ihren Verstecken führen oder gar freiwillig die Rädelsführer ausliefern werden. Dann wird der Heereszug ein netter Spazierritt!“
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Die Männer erhielten einen großen Lagerplatz unterhalb der Burgmauer, dort wo sie vom Bergfried gekrönt war, zugewiesen und bauten
unter Aufsicht Pritbors ihre kleine Zeltstadt auf und errichteten Koppeln
für die Tiere. Gerade als sie diese versorgt hatten, schickte Graf Heinrich
ihnen – und all den anderen Kämpfern, die rund um die Burg lagerten einige lebende Schweine und Schafe, die mit freudigen Rufen aufgenommen wurden. Minuten später brannten die ersten Feuer und aus
jungen Birken, die hier überall wuchsen, wurden Drehspieße, die auf in
die Erde gerammten Astgabeln ruhten. Bald waren die ersten Tiere gehäutet und ausgenommen und beginnender Duft von Braten erfüllte
das ganze Lager.
Boleslav, seine Ritter und seine Knappen waren in die Burg gebeten
worden, wo sie vom Burgherren noch einmal begrüßt wurden. Im
Burghof herrschte ein ziemlicher Lärm; die meisten Ritter kannten einander und begrüßten sich lautstark; man fragte nach den Ereignissen
seit dem letzten Treffen und erzählte Geschichten von früher; manch
traurige Nachricht machte die Runde, aber es gab auch viele fröhliche
Gesichter. Tibor freute sich sehr, seinen Bruder Miška wieder zu sehen,
Cuno war nicht ganz so erfreut, Georg von Hellenburg zu begegnen, der
ihm nur flüchtig zunickte – Cuno war schließlich nur ein Knappe. Durch
die Anwesenheit Georgs kamen dem kleinen Steigerthal die Grübeleien,
wegen denen er gestern Morgen von Pjotr vom Pferd geholt worden
war, wieder in den Sinn. Es war seitdem so viel geschehen, dass er die
Gedanken an Salwa völlig verdrängt hatte. Ob sie schon die Braut des
Hellenburgers war? Eigentlich wollte er sich im Geist antworte „Was
geht mich das an?“, aber der Stich, den ihm diese Aussage versetzte,
sprach eine andere Sprache. Als er sich mit den anderen Knappen umschaute, sah er Georg und Graf Heinrich im Gespräch. Sie schienen nicht
miteinander vertraut, aber das konnte vieles heißen: Salwa hat noch
nicht eingewilligt, oder die Höhe der Mitgift wird verhandelt, oder sie
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sprechen einfach über den bevorstehenden Kriegszug , oder bei einem
der bisherigen Geschäfte war etwas schlecht gelaufen - offensichtlich
hatte er so zu den beiden herüber gestarrt, dass der Graf ihn bemerkte
und zu sich winkte. „Du kennst Georg von Hellenburg, den Sieger des
letzten Turniers in Pisek. Du weißt auch, dass Georg gerne mein Patenkind Salwa zur Frau nehmen möchte. Und du weißt auch, dass sie sich
bisher sträubt. Ich möchte sie nicht gegen ihren Willen zu dieser Heirat
drängen, denn erzwungene Ehen haben selten einem der beiden Gatten Glück gebracht. Deshalb dachte ich, dass ich dich nach Pisek schicke:
Du bist etwa so alt wie sie, ihr schient euch gut zu verstehen, und du
kennst auch ihre direkte Art. Vielleicht sagt sie dir, was in ihr vorgeht
und was sie eigentlich will. Herr Georg hier denkt an eine Hochzeit nach
dem Kriegszug.“ „Herr Georg, was meint Ihr? Würdet Ihr zustimmen,
dass ich nach Pisek reite und mit Salwa rede?“ „Das ist mir einerlei. Ich
will nach dem Zug heiraten und wenn sie nicht freiwillig mitgeht, dann
wird ihr Pate sie dazu zwingen. Ich werde nicht jünger und habe außer
Bastarden keine Erben für meinen reichen Besitz. Ihr würde es an nichts
mangeln, und sie ist Tschechin, die in der deutschen Kultur lebt – genau
das brauche ich für meine Güter. Sie ist jung und hat gutes Blut, die Mitgift ist für mich unwichtig – sie muss nur endlich zustimmen!“ Cuno
schaute Graf Heinrich an, der zustimmend nickte und machte sich dann
auf die Suche nach Boleslav. „Herr, Graf Heinrich möchte mich nach Pisek schicken, um sein Patenkind zur Hochzeit mit Georg von Hellenburg
zu drängen. Ich kenne den Weg und nach dem, was man hört, werden
wir in den nächsten zwei, drei Tagen noch nicht auf den Heereszug gehen – bis dahin wäre ich zurück, wenn Ihr mich nach Pisek reiten ließet.“
Der böhmische Ritter schaute seinen Knappen von oben nach unten
und von unten nach oben an, die Mundwinkel zuckten und mit einer
neutral klingenden Stimme sagte er: „Natürlich willst du nur dem Befehl
Heinrichs gehorchen und hast nicht das geringste eigene Interesse, die
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schöne Salwa wieder zu sehen, oder?“ Cunos alter Makel, rot zu werden, wenn er nicht ganz bei der Wahrheit geblieben war, zeigte sich
deutlich und Boleslav hieb ihm grinsend auf die Schulter, wie es sein
Brauch war, wenn er etwas in Ordnung fand. „Befolge die Befehle Heinrichs, und wenn du zurück bist, brauche ich dich wieder zum Waffentragen!“
Der junge Thüringer stürmte aus dem Burghof, sagte im Vorbeirennen
Miška und Tibor Bescheid, lief zu seinem Zelt, holte Sattel und Zaumzeug, pfiff nach Wolf und mit einem weiteren Pfiff rief er Váží herbei,
sattelte und zäumte ihn, warf sich in den Sattel und ritt Richtung Pisek
davon. Es war Nachmittag, und eigentlich brauchte man einen Tag nach
Pisek, aber der Himmel war klar, das Licht würde bis tief in den Abend
reichen, und Cuno hatte bei seinem Getreidekauf in Pisek gelernt, dass
man nicht an der Lužnice entlang reiten musste, um die Vitava zu überqueren, sondern dass man direkt nach Sonnenuntergang reiten konnte
und dann auf einem flachen Boot die Vitava überqueren und so viel
schneller Pisek erreichen konnte. Der fahle Halbmond schien, als er sich
der Bücke über die Otava vor den Stadttoren näherte, in voller Rüstung,
Wolf an seiner Seite, den Wappenschild am Arm. „Schon wieder der
Thüringer!“ begrüßte ihn eine der Wachen. „Ist etwas in Kozi Hrádek
geschehen?“ „Nein, nein, ich muss nur eine Nachricht an Gräfin Ermingilde überbringen!“ Das Tor öffnete sich so weit, dass Váží sich
durchzwängen konnte, Wolf zwischen den Beinen, und schloss sich sofort wieder. „Du kennst den Weg.“ „Danke.“ Noch ein letzter Hackendruck und der Hengst brachte ihn vor das Burgtor, wo er mit fast gleichen Worten begrüßt und eingelassen wurde. Cuno übergab beide
Tiere dem herbeigeeilten Stallknecht und schritt die Treppe zur Halle
hinauf. Als er, gewappnet und gerüstet, durch die Tür trat, sprangen einige Knechte, die in einer Ecke getrunken und gewürfelt hatten auf und
wollten ihm den Weg verlegen. Cuno öffnete das Visier und zeigte sein
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Wappen, worauf sich die Herbeigeeilten wieder beruhigten. „Meldet
mich der Gräfin!“
Minuten später kam nicht Ermingilde, sondern Salwa die Treppe von
der Kemenate herunter. „Du?“ „Dein Pate schickt mich – ist die Gräfin
wieder gesund?“ „Wie ein Fisch im Wasser, und da liegt sie auch gerade
– also kein Bad für dich!“ „Gut, dann müssen wir eben miteinander reden, auch wenn ich stinke!“ „Wie wäre es mit dem Brunnen im Hof?“
„Er verbeugte sich, entledigte sich seiner Rüstung und lief nach draußen.
Als er zurückkam, hatte das Mädchen Wein, Brot und Fleisch bringen
lassen und erwartete ihn an der hohen Tafel. Sie schaute ihn nur an,
sagte kein einziges Wort und wartete darauf, was er zu sagen hätte.
„Georg von Hellenburg – “ „Nenne mir den Kerl nicht! Ich will ihn nicht
und ich werde ihn nicht heiraten, egal was alle sagen, lieber springe ich
in die Otava!“ „Salwa, hör mich doch an: ich finde ihn auch widerlich,
warum auch immer, aber dein Pate hat mich geschickt, um aus dir heraus zu bekommen, warum du diesen wohlhabenden und aus altem Adel
stammenden Ritter nicht willst, wenn ich es schon nicht schaffe, aus dir
ein „Ja“ herauszukriegen. Denn nach dem Heereszug soll nach Meinung
des Ritters eure Hochzeit sein. Er nimmt dich sogar ohne Mitgift!“ „Der
kriegt höchstens Gift von mir! Er ist ein alter, rechthaberischer, gewalttätiger Esel, der mich nur bespringen will, damit seine ach so edle ritterliche Familie auf Jahrhunderte weiterlebt! Ach, Cuno – was soll ich
nur machen?“ „Was willst denn du?“ „Ich möchte mein Leben mit jemand verbringen, den ich mag, bei dem ich mich wohlfühle und der
mich so nimmt, wie ich bin, ohne mir Gewalt an zu tun oder an tun zu
lassen.“ Sie sank an seine Schulter und lehnte den Kopf an seinen Oberarm. Ohne zu überlegen legte er den Arm um sie und hielt sie ganz fest.
Sie wandte ihm das Gesicht zu und suchte seine Lippen für einen zarten
Kuss.
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Der Aufruhr in ihm war unbeschreiblich: also hatte er sich das Ganze
doch nicht bloß eingebildet; sie wäre mit ihm einverstanden, und er –
das fühlte er gerade mehr als deutlich – mit ihr. Aber Hellenburg? Anja?
Sein Kind? Der Kriegszug? Česka? Thüringen? Edles Geschlecht und Steigerthal?
Ermingilde fasste beide an den Schultern und löste so die Umarmung
auf. „Hast du jetzt endlich verstanden?“ wandte sie sich an Cuno. „Hast
du es jetzt endlich gesagt“ an Salwa. „Nein“ ertönte es einvernehmlich
von beiden, bevor das Gelächter ausbrach. Ermingilde setzte sich zu
ihnen. „Meinen Segen habt ihr – ich habe das schon lange kommen sehen!“ Cuno nahm Salwas Hände in seine und schaute tief in ihre grünen
Augen: „Ich möchte, dass du zu mir gehörst. Und“, grinsend, „egal, wo
wir sind, ich baue dir ein Bad! Aber“, er senkte den Blick auf die Tischplatte „ da gibt es ein Problem. In Jihlava wartet ein Mädchen auf mich,
das bald ein Kind von mir bekommt, und ich mag das Mädchen und
freue mich auf das Kind…“ „Du liebst dieses Mädchen?“ „Ich weiß nicht,
aber das Kind ist mein Fleisch und Blut!“ „Liebst du mich?“ Da war sie
wieder, diese Frage, die er sich selbst nicht beantworten konnte, da ihm
nicht klar war, was das meinte. Salwa begehren, neben ihr aufwachen,
mit ihr das Leben teilen – von Herzen gern. Wenn das Liebe war, ja,
dann liebte er sie. „Ja.“ „Dann“, schaltete sich Ermingilde ein, „ist doch
alles geklärt: Ihr zwei heiratet irgendwann, Cunos Mädchen kommt als
Amme mit dem Kind zu Euch, so machen es doch alle. Cuno wird gut zu
dir sein, nicht grob ,und dir nicht weh tun, vor allem dir nicht, mein Herz.
Jetzt fehlt nur noch das Ende dieses furchtbaren Streitzuges und eine
gute Antwort von Heinrich für Georg von Hellenburg. Und nun ab ins
Bett! Du, Salwa, kommst mit mir in die Kemenate, und du, Cuno, isst
und trinkst ein bisschen und legst dich dann wie alle anderen Männer
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auf eine der Bänke in der Halle. Wir sehen uns morgen, bevor du zurückreitest!“ Die beiden jungen Leute schauten sich noch einmal tief in
die Augen, küssten sich zart und dann war Salwa weg.
„Glückwunsch!“ kam es vom Tisch der Knechte. „Das Mädchen ist eine
Wucht und hat noch keinen näher als zwei Fingerbreit heran gelassen –
wir werden sie vermissen, wenn sie mit dir geht!“
Cuno war völlig durcheinander. Hatte er Anja jetzt verraten? War er
wirklich sicher, dass er immer neben diesem bezaubernden, aber fordernden Wesen aufwachen und mit ihr Freud und Leid teilen wollte?
Er griff endlich zu Brot und Fleisch und bald musste eine der Mägde
noch einen Krug Wein bringen, bevor er sich in seiner Decke auf einer
Bank in der Ecke zusammenrollte.
Als er am Morgen wach wurde und aus der Halle trat, waren die Geschäfte auf der Burg schon in vollem Gange. Die Wachen an den Stadttoren hatten gewechselt und nahmen nun ihr Essen zu sich, müde am
Brunnenrand in der Sonne sitzend; junge Pferde wurden an der Trense
herumgeführt; vor der Küche luden zwei Bauern einen Karen mit Hühnern und Getreide ab; ein Hahn stolzierte krähend über den Hof; in einer geschützten Ecke spielten ein paar Kinder das Hüpfspiel „Himmel
und Hölle“ - und schon war das Durcheinander in seinem Kopf wieder
da, nicht gerade erleichtert durch die Kopfschmerzen, die auch durch
einen halben Eimer kaltes Wasser aus dem Brunnen, in den er seinen
Kopf steckte, nicht weggingen.
Hatte er gestern wirklich gesagt, dass er Salwa heiraten wolle? Und sie
hatte zugestimmt? Er war aber doch hierher geschickt worden, um ihr
ein „Ja“ zur Ehe mit Georg von Hellenburg abzuringen oder wenigstens
gute Gründe, warum sie diesen Ritter nicht heiraten wolle. Er konnte
doch jetzt nicht vor Graf Heinrich hintreten und sagen: „Ich weiß, warum Salwa nicht den Ritter heiraten will! Sie will lieber mich heiraten!“
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Er drehte auf dem Absatz um und ging zurück in die Halle, wo er eine
Magd bat, die Gräfin zu fragen, ob sie ihn empfangen könne.
Ermingilde lief kurz darauf die Treppe zur Halle hinunter, in der Hand
ein Pergament. „Guten Morgen, Cuno. Ich hoffe, wenigstens du hast etwas geschlafen – Salwa hat die ganze Nacht vor Glück kein Auge zu gemacht, jetzt schläft sie endlich, und ich habe meinem Gatten genau geschrieben, wie es steht. Wenn es passt, kannst du dann wenigstens um
Salwas Hand anhalten, wenn ich auch schon so zugestimmt habe! Was
ihr Hellenburg erzählt, ist eure Sache. Hier ist der Brief, mit meinem
persönlichen Petschaft gesiegelt. Nimm ihn an dich und bringe ihn so
schnell wie möglich zu Graf Heinrich!“ Sie nahm ihn in die Arme, gab
ihm, auf Zehenspitzen auf der untersten Stufe stehend, einen Kuss auf
die Stirn und dann einen Klaps auf das Hinterteil. „Ab mit dir, ich sage
Salwa, dass du auf dem Weg bist, ihren Vormund und Paten zu fragen,
ob er in eure Heirat einwilligen könnte.“ Damit lief sie zurück zur Kemenate, wo sie die Tür leise schloss.
Cuno trollte sich, legte die Rüstung wieder an, holte Pferd und Hund
und galoppierte zum Burgtor hinaus, die Straße zur Brücke hinunter,
durch das Stadttor und über die Brücke. Als er aus der Sichtweite von
Burg und Stadt war, zügelte er Váží, stieg aus dem Sattel und setzte sich
mit angezogenen Knien ins Gras und kraulte gedankenverloren Wolf das
Fell. Was sollte er tun? Er fürchtete sich, mit dem Brief vor den Grafen
zu treten, weil er neulich gesehen hatte, wie wütend – oder verzweifelt
– Heinrich wegen der Ablehnung Hellenburgs durch Salwa gewesen
war. Er war aber auch gebunden an Boleslav, der ihm befohlen hatte,
auf schnellstem Wege zurückzukehren. Das war das eine. Das andere
war sein Gefühlstumult. Salwa hatte er bewundert, seit er sie kannte.
Mit Anja hatte er viele glückliche Stunden verbracht. Und sie trug sein
Kind. Bei ihr wusste er, was auf ihn wartete, auch wenn sie nicht die
legitime Ehefrau eines Ritters werden konnte. Bei Salwa wusste er
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nichts, trotz der zwei Jahre, in denen sie sich immer wieder gesehen
hatten, kannten sie sich nicht wirklich. Und er hatte gesagt, dass er sie
liebt und dem Eheversprechen Ermingildes nichts entgegengesetzt, im
Gegenteil!
Und nach dem vielen Wein gestern Abend plagte ihn der Durst. So, wie
er von Pisek aufgebrochen war, hatte er weder für sich noch für die
Tiere Proviant mitgenommen. Er musste also erst einmal schnellst möglich an die Stelle der Vitava, wo der Fährmann ihn übersetzen konnte.
Dort gab es reichlich Wasser und auf dem Herweg hatte er bemerkt,
dass die Familie des Fährmanns auch Brot, Speck und Bier verkaufte;
Wolf würde Speck und Brot bekommen, Váží müsste sich einen Tag nur
mit Gras begnügen und auf den Hafer warten, bis sie wieder in Jihlava
waren.
Er stieg wieder auf und trabte nach Sonnenaufgang, ganz erfreut durch
den Schatten, den der hohe Wald ihm bis zum Ufer des Flusses bot. Als
er am Ufer ankam, rief er durch den Trichter der Hände nach dem Fährmann, aber es rührte sich nichts. Er wollte gerade erneut rufen, als er
ein Zupfen an seinem rechten Bein spürte. Überrascht schaute er hinunter und sah ein Kind, ein vielleicht zehnjähriges Mädchen, das eine
gewisse Ähnlichkeit mit dem Fährmann hatte: „Du brauchst nicht weiter rufen! Die Räuber haben unseren Vater und sein Boot mitgenommen, weil sie beide weiter flussabwärts brauchen, wenn die Ritter angreifen.“ Cuno war entsetzt, dass das Banditenunwesen ihm nun tatsächlich begegnete, nicht nur als Idee und als störender Zustand, über
den man irgendwann lächeln könnte. Vor allem war er entsetzt, dass
die Gesetzlosen offenbar sehr gut informiert waren darüber, was die
Herrschaftsgewalt plante. „Ist eurem Vater etwas passiert?“ „Nein, er
hat keinen Widerstand geleistet und der Mann, der ihr Anführer war,
hat ihm auch versprochen, ihn gut zu bezahlen, wenn er keine deutschen Ritter mehr übersetzt – aber wer anders kam hier sowieso nie
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vorbei!“ „Und der Rest deiner Familie?“ „Mutter und die Kleinen sind
am anderen Ufer im Haus, mich hat sie herüberschwimmen lassen, damit ich Reisende warnen kann.“ „Das war klug von euch.“ Das Mädchen
lächelte erfreut, und Cuno nahm eine Silbermünze aus seinem Beutel.
„Wenn du mir jetzt noch verrätst, wie ich am schnellsten von hier nach
Kozi Hrádek komme, gehört dieser Thaler dir!“ „Das ist ganz einfach,
aber ein Umweg: Ihr müsst jetzt die Vitava aufwärts reiten, bis die Mündung des Lužnice am anderen Ufer deutlich zu sehen ist. Dann noch etwas flussaufwärts und Ihr kommt an eine durch Strudel und Felsen gut
gekennzeichnete Furt, über die Ihr die Vitava und dann ohne Probleme
den Lužnice auf einer weiteren Furt überqueren könnt – aber es braucht
Zeit.“ „Und die habe ich nicht! Hier, kauft euch, was ihr braucht, bis der
Vater zurückkommt. Und du hast mich nie gesehen, einverstanden?“
„Einverstanden“, lächelte das Mädchen, fing den Thaler auf und verschwand wieder im Gebüsch.
Cuno tat, wie ihm geheißen. Nach einer knappen Stunde hatte er die
beiden Furten gefunden und jagte nun den Lužnice entlang, um noch
vor Einbruch der Nacht am Treffpunkt in der Burg am Ausgangspunkt
des Kriegszuges zu sein.
Dort wurde seiner Ankunft kaum Beachtung geschenkt. Er ritt zu den
Männern aus Jihlava, ließ Váží und Wolf in ihrer Obhut, griff sich ein
Stück Brot und einen halbleeren Krug Bier, den er leer zurückgab und
eilte durch den Burghof in die Halle. Dort waren die Vorbereitungen in
vollem Gange. Graf Heinrich hatte die ganze Truppe in zwei Heeressäulen aufgeteilt: Eine sollte bis fast nach Pisek reiten und dann die Vitava
aufwärts; alle Wälder rechts davon waren zu durchsuchen. Die zweite
Säule, zu der auch Boleslav und seine Männer gehörten, sollten sich
bis zum Mastnik durchschlagen und alle Wälder rechts, aber vor allem
die im Bergland links des Flusses durchkämmen. Man würde sich am
Ende in Červený Hrádek treffen, etwa am Zusammenfluss der beiden
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Wasserwege, die Wälder von Räubern befreit und die Handelswege
wieder sicher. „Ich reite gleich in der Frühe los; meine Männer sind fast
alle Tschechen, und es wäre doch gelacht, wenn wir die Dörfler nicht
dazu bringen könnten, uns zu den Banditen zu führen!“ Georg von Hellenburg schien auf seine alten Tage noch einmal den heldenhaften Ritter spielen zu wollen und hatte die Rückkehr Cunos überhaupt nicht
wahrgenommen. „Geht in Ordnung“, sagte Graf Heinrich, „aber haltet
Kontakt sowohl zu mir hier als auch zu den Truppen an der Vitava, vor
allem aber zum Rest des Heeres, das in Ruhe und gerüstet von hier nach
Norden aufbricht.“ Wie gewohnt, wurde der Kriegsplan mit geleerten
Krügen bekräftigt und vor allem die Männer Hellenburgs begaben sich
in ihr Lager, um vor dem frühen Aufbruch noch etwas zu feiern und
dann zu ruhen.
Erst jetzt konnte sich Cuno bei Boleslav zurückmelden, tat dies und berichtete von dem entführten Fährmann mit seinem Boot. „Dann ist die
Nachricht doch schon zu den Kerlen durchgedrungen!“ Graf Heinrich
war wenig erfreut. „Hast du irgendwas gehört, dass sich die Banditen
unter einem Anführer zusammengeschlossen haben?“ „Nicht wirklich.
Die Tochter des Fährmanns sprach von einem Anführer, aber ob das der
große Räuberhäuptling war, oder nur der Oberste der kleinen Truppe,
kann ich nicht sagen. Noch eine Frage: Warum gibt es im Moment so
viele Banditen? Die gab es doch früher nicht? Hat sich irgendetwas verändert? So, wie ich die Leute hier kennengelernt habe, machen sie einen Aufstand, sobald sich etwas ändert, aber sonst nicht.“
„Boleslav und du, ihr seid mit Schuld an der Veränderung! Dadurch,
dass ihr Holzkohle und Getreide in der ganzen Region aufkauft, steigen
die Preise; die, die selber Kohle und Korn produzieren, werden wohlhabender; die, die beides nicht tun, werden im Vergleich ärmer, verschulden sich, vor allem bei Juden, um nicht schlechter zu leben als vorher,
und irgendwann ist dann Schluss, sie verlassen mit ihren Familien ihre
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Dörfer und schließen sich den Banditen an.“ Heinrich schaute Cuno an:
„Was bringst du?“ „Einen versiegelten Brief Eurer Gattin, und ansonsten fühle ich mich äußerst unwohl!“ „Gebt mir den Brief. Wir haben beschlossen, dass du der Verbindungsmann zwischen Hellenburgs Vorhut
und dem Hauptheer sein wirst – sieh zu, dass du morgen in aller Frühe
dabei bist – du bist doch einverstanden, Boleslav?“ Der grinste schon
wieder und antwortete schnippisch: „Cuno ist Verbindungsmann, das
geht in Ordnung, ich habe ja auf jeden Fall für mich noch Tibor, der als
Knappe dienen kann. Aber ob das mit Hellenburg gut geht? Und ob du
dich wohl fühlst, mein Junge, das wird das erste Gefecht zeigen!“
Cuno zog sich zu den Männern aus Jihlava zurück, rieb Váží noch einmal
mit Stroh ab, überprüfte Sattelgurte und Zaumzeug, gab dem Hengst
noch einen Scheffel Hafer und machte sich mit Wolf auf eine Runde
durch die Zeltstädte rundum die Burg. Als er bei den Männern aus Hellenburg vorbei kam, war das Gegröle deutlich lauter, als bei den anderen Truppenteilen, und man hörte deutlich Georg von Hellenburg heraus , wie er ankündigte: „ Männer, dieser lächerliche Kampf gegen Banditen liegt noch vor mir, und dann werde ich mit dem tschechischen
Patenkind des Grafen das vornehmste Geschlecht in Westböhmen begründen. Auf Hellenburg als die wahren Nachfolger der Přemisliden –
Reichsdeutsche und Tschechen zugleich!“ Das war Hochverrat, der Aufruf zum Kampf gegen König Johann, aber Cuno war ja nur ein Knappe!
Er näherte sich dem sichtlich angetrunkenen Ritter, verbeugte sich und
sagte: „Herr, Graf Heinrich hat mir befohlen, als Bote zwischen Eurer
Vorhut und dem Hauptheer zu dienen – wann darf ich mich wo in Eure
Dienste stellen?“ Georg schaute ihn an, irgendwo hatte er diesen Knappen schon einmal gesehen – ach ja, bei dem Turnier im letzten Jahr in
Pisek! „Morgen bei Sonnenaufgang am Tor. Und sei gerüstet und gefüt-
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tert – wir haben nichts zu verlieren!“ Mit einem Wedeln der Hand entließ er den Thüringer und widmete sich wieder seinen Leuten und dem
Bier.
Bei Sonnenaufgang stand ein gerüsteter, mit Proviant versehener und
von einem Wolfshund begleiteter Knappe kurz außerhalb des Burgtores
bereit und beobachtete, wie die Hellenburger sich auf mögliche Kämpfe
vorbereiteten – die meisten brauchten sehr viel Wasser aus dem Brunnen, um überhaupt auf ihre Pferde zu kommen, die ihnen die Stallknechte zuführten. „Wer bist du denn - ach ja, der Aufpasser von Boleslav, na, du wirst dich schon noch einfinden“, war der Kommentar des
Knappenmeisters von Hellenburg, eines gewissen Johanns. Dann ritt er
dem Zug voraus, den anderen zumindest die Richtung angebend. Als sie
schließlich am Nachmittag das Ufer der Vitava erreicht hatten, waren
die meisten Ritter, Knechte und Knappen so nüchtern wie müde und
schlugen ihr Lager auf, nicht weit von der Stelle, wo das Haus des Fährmanns stand. Ohne Feuer und recht leise sanken bald alle in Schlaf.
Am Morgen holte Hellenburg die Männer zusammen und erklärte, wie
er vorgehen wollte: „Du“, damit zeigte er auf einen seiner Männer, „
reitest ganz links, immer soweit vom Ufer entfernt, dass du den Fluss
noch sehen kannst. Du“, er zeigte auf einen anderen, „reitest als zweiter, immer so weit von dem hier entfernt, dass du das Pferd noch sehen
kannst und so weiter. Ist das klar?“ Einhelliges Nicken. „Johann und ich
bleiben so weit hinter euch, dass wir zwar die Männer in der Mitte noch
sehen können, nicht aber die Flügel rechts und links. Wer etwas Verdächtiges sieht oder hört, macht kein Geschrei, sondern reitet zu seinem Nebenmann, gibt dem die Information und reitet zurück an seinen
Platz. So kommt die Nachricht schnell hier in die Mitte und zu uns. Auf
geht’s!“
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Wenig später bewegten sich etwa 20 Ritter mit entsprechenden Knechten und Knappen wie eine Wand von vielen hundert Fuß Länge parallel
zum Ufer der Vitava. Georg überschaute die Bewegungen und wartete
darauf, welche Informationen zu ihm kämen. Cuno blieb, seinem Auftrag gemäß, hinter Georg von Hellenburg, und sei es nur, um als Nachhut zu sichern. Nach etwa einer, völlig ereignislosen, Stunde wurde der
Wald dichter, so dass die Reiter näher zusammenrücken mussten, um
sich nicht aus den Augen zu verlieren. Cuno ließ Váží langsam vor sich
hin trotten. Wolf sauste mal hierhin, mal dahin, verfolgte Eichhörnchen
oder kleine Nagetiere. Plötzlich bäumte sich der Hengst auf. Cuno fast
eingeschlafen, konnte sich gerade noch im Sattel halten als er sah, dass
ein spitzer Stein den Oberschenkel des Pferdes traf, worauf es wieder
stieg. Cuno schaute sich um, suchte den Werfer, sah aber niemanden.
Doch, hinter einem Gebüsch trat das Mädchen hervor, das ihm vor zwei
Tagen am anderen Ufer der Vitava den Weg gewiesen hatte. „Mutter
dankt für den Thaler. Ich soll dir sagen, dass es dort vorne nicht gut ist,
dorthin ist Vater verschwunden!“ Die Frau des Fährmann wollte ihn offensichtlich warnen, weil sie sich dem Lager der Banditen näherten. Er
fischte nach einem weiteren Taler, warf ihn dem Mädchen zu. „Hab
Dank!“ und galoppierte nach vorne. Johann und Hellenburg drehten
sich im Sattel um, als sie das Hufgetrappel hörten. Cunos Gesten waren
eindeutig: Gefahr drohte von vorne. Die beiden ritten vorsichtig, aber
schneller weiter, um näher bei ihren Männern zu sein, als beide Pferde
wie von Geisterhand getroffen in die Knie brachen und ihre Reiter abwarfen, die unsanft mit einem Aufschrei auf dem hier gar nicht weichen
Waldboden landeten. Cuno, der schon fast gleichauf war, sah den
Grund: ein Seil, etwa auf Hüfthöhe eines Mannes, hatte beiden Pferden
die Vorderbeine gebrochen. Die Männer voraus hörten den Schrei, sahen ihre Anführer am Boden, mit Waffen bedrängt von einer Anzahl
Männer, die wie aus dem Nichts aufgetaucht waren. „Zurück und auf
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sie“ war der Befehl eines der Ritter. Alle wendeten ihre Pferde und galoppierten zu dem Tumult, der hinter ihnen ausgebrochen war, weil die
am nächsten Reitenden bereits ohne Befehl Kehrt gemacht hatten und
versuchten, ihre Anführer herauszuhauen. Da die Wege zum Ort des
Kampfes unterschiedlich lang waren, kamen sie einzeln an. Die Angreifer nutzten ihre Streitkolben, um die heranpreschenden Pferden zu Fall
zu bringen. Den Reitern ging es wie ihren Anführern, sie wurden abgeworfen; teils gerieten sie unter ihre Pferde und wurden so eine leichte
Beute für die kampferprobten Räuber; teils gelang es ihnen, wieder auf
die Füße zu kommen, aber da waren sie hervorragende Ziele für die Bogenschützen, die in den Baumwipfeln saßen und in Ruhe ihre Ziele auswählten. So mancher Schrei erklang, weil ein Pfeil durch die Sehschlitze
des Visiers drang. Von dort, wo eben noch die Reiter waren, eilten Horden von Bewaffneten und fielen den Rittern und ihren Männern in den
Rücken. Cuno glitt von Váží, klappte das Visier herunter und rannte mit
gezücktem Schwert zu der Stelle, wo Johann und Georg noch immer auf
dem Boden liegend versuchten, die Angriffe abzuwehren. Erst als Cunos
Schwert einem der Angreifer in den Rücken gedrungen war, nahmen
diese den neuen Gegner wahr, ließen von den gestürzten Rittern ab und
warfen sich Cuno entgegen. Der verschanzte sich mit dem Rücken gegen eine dicke Tanne und versuchte mit Schwert und Schild die Gegner
fern zu halten. Ein scharfes Wiehern erklang. Cuno schaute hinüber und
sah, wie ein Bär von einem Mann den Pferden Johanns und Georgs die
Kehlen aufschlitzte – und dann wurde es schwarz um ihn.
Etwas Nasses fuhr ihm über das Gesicht. Vorsichtig öffnete er ein Auge
und schaute in Wolfs Gesicht – er hatte ihn mit seiner Zunge wenigstens
dazu gebracht, das Bewusstsein wieder zu erlangen. Cuno versuchte,
den Kopf zu bewegen und sah als erstes Váží, der unter der Tanne, an
der sich Cuno verteidigt hatte, auf dem Boden lag und zu ihm hinüber-
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schaute. Neben ihm lag Georg von Hellenburg, der Kopf blutüberströmt, eine Hand lag abgehackt ein Stück weit weg. Der Knappe versuchte, sich aufzusetzen, damit er sich besser umsehen konnte. Und
was er sah, gab dem Motto seines Großvaters, dass man sich nicht dem
Krieg widmen sollte, Recht. Eine Reihe von Toten, die er alle als Männer
Hellenburgs erkannte, lagen auf dem Kampfplatz; allen war die Rüstung, wohl auch alles Wertvolle genommen. Als er an sich hinunterschaute, sah er, dass auch er keine Rüstung mehr hatte, keinen Helm
und sicher auch kein Silber mehr, aber was er hatte, war ein Pfeil, der
ihm durch den Hals ging, abgebrochen, vielleicht als man ihm den Helm
nahm; sein ganzer Oberkörper war voller Blut. Wahrscheinlich hatten
die Gesetzlosen ihn auch für tot gehalten. Alle Räuber, auch die Toten,
waren verschwunden, selbst die toten Pferde waren wie weggezaubert,
Warum Vážínoch da war, war ihm ein Rätsel. Als er sich schwankend an
Georg hochziehen wollte, kam das Pferd mit einem freudigen Wiehern
auf die Beine und zu ihm. An den Sattelgurt geklammert konnte er
schließlich aufstehen und genauer sehen, was um ihn herum war:
Sie waren so nahe an der Vitava, dass Cuno das Waser sehen und hören
konnte; mit letzter Kraft hielt er sich am Sattelknopf und wollte an den
Fluss, er brauchte Wasser. Aber Wolf wollte ihn nicht gehen lassen und
stupste mit der spitzen Nase den toten Georg ins Gesicht, der erschreckt die Augen aufriss. „Hilfe“, röchelte er und wollte seine Wunde
am Kopf abtasten; da merkte er, dass er diese Hand nicht mehr hatte
und verlor wieder das Bewusstsein.
Wolf war nun bereit, den Hengst mit dem Knappen daran langsam zum
Fluss gehen zu lassen. Am Ufer sank Cuno in sich zusammen und
schaffte es mit aller Mühe, so zu liegen, dass er direkt mit dem Mund
Wasser trinken konnte. Er wäre sicher ertrunken, weil sein Kopf immer
wieder ins Wasser sank, hätten Váží und Wolf es nicht geschafft, ihn
etwas höher auf das Ufer zu schieben und zu ziehen.
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Wie lange er dort lag, konnte er nicht mehr feststellen, aber das Blut
aus der Halswunde war verschorft, als er wieder zu sich kam. Die
Schmerzen, die ihm der Pfeildurchschuss bereiteten, und der nagende
Hunger hielten ihn jetzt wach. Er hatte auf irgendeine Rettung gehofft vielleicht würden die Fährleute ihn finden oder eine andere mitleidige
Seele. Als es Nacht wurde, war er so schwach geworden, dass er das
helle Licht, das sich auf ihn zubewegte, eher für das Himmelstor hielt
als eine irdische Erscheinung. Wolf heulte, so laut er konnte, und Váží
wieherte, was das Zeug hielt. Das Licht verlangsamte sich, hielt an, und
ein kräftig gebauter Mann trat aus dem Licht und sah Cuno in seinem
Blut liegen. „Herr Jesus, was haben wir denn hier?“ „Was ist?“ „Hier
liegt ein halb Toter, der Kleidung nach ein reicher Mann.“ „Wie tot ist
er?“ „Ich sagte doch, halb tot.“ Er beugte sich zu Cuno hinunter. „Könnt
Ihr mich hören?“ Der Verletzte nickte nur leicht. „Wo könntet Ihr Hilfe
finden?“ „Pisek, beim Burggrafen.“ „Graf Heinrich? Der wird uns gut
entlohnen! Los Männer, schafft den Mann an Bord des Floßes und dann
bringen wir ihn an das andere Ufer und einer von uns geht mit ihm nach
Pisek – wir haben unser Ziel ja bald erreicht und können einen Mann
entbehren.“ Starke Arme hoben ihn auf das schwankende Gefährt, doch
als sie abstoßen wollten, schnappte Wolf nach der Hose dessen, der zuerst an Land gekommen war und rannte aufgeregt zwischen dem Mann
und Georg hin und her. Neugierig folgte der dem Wolf und erreichte das
Schlachtfeld. Und noch einmal: „Herr Jesus!“ Wolf winselte neben
Georgs Kopf und der Flößer erkannte, dass es hier einen zweiten halb
Toten gab – die Belohnung konnte nur steigen! Er rief die anderen. Sie
trugen auch Georg auf das Floß und legten ab. Váží und Wolf schwammen dem Gefährt, das so gerade wie möglich auf das andere Ufer zusteuerte, nach. Die Vitava war schon sehr breit in dieser eigentlich flachen Auenlandschaft, aber die Tiere schafften es, bis an das rettende
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Ufer zu kommen, wo die Männer die beiden Verwundeten bereits ausgeladen hatten. „Herr Jesus! Die Viecher sind uns tatsächlich gefolgt!
Dann können die hier Wache schieben, während wir uns davon machen.
Du, Miška, versuchst, auf irgendeinem Gehöft einen Wagen und Ochsen
oder Maulesel aufzutreiben und bringst das ‚Strandgut‘ hier zum Grafen. Wir warten in Orlik, wohin wir die Stämme bringen auf dich. Viel
Glück!“. Damit stießen die Männer das Floß wieder in die Strömung
flussabwärts und schon bald war das helle Licht des Feuers in der Mitte
nicht mehr zu sehen.
Miška tat wie geheißen: Er ließ die beiden Männer unter der Obhut von
Wolf und Pferd zurück und suchte nach einem Hof, wo er Wagen und
Zugtiere bekommen könnte. Seine Nase half ihm schnell weiter, denn
er roch ein Holzfeuer und steuerte direkt darauf zu.
Böhmen, Winter 1320
„Cuonrad von Steigerthal, ich schlage dich hiermit zum Ritter!“ Der böhmische König Johann berührte Cunos rechte Schulter mit der einen flachen Seite des blankgezogenen Krönungsschwerts der Přemisliden,
dann mit der anderen Seite die linke Schulter. „ Du hast dich des Ritterstandes würdig erwiesen, indem du unter großer Gefahr für dein eigenes Leben einen Edlen des Reiches gerettet und selbst schwer verletzt
zumindest für sein Sterben in den Armen der Kirche und sein ewiges
Leben, bezeugt durch die letzte Ölung, gesorgt hast. Erhebe dich und
zeige uns dein Wappen, damit wir in Zukunft wissen, dass dieser Mann
ein guter Mann ist!“ Cuno stand auf, öffnete den Wappenrock, so dass
alle Anwesenden das steigerthalsche Wappen auf dem Brustharnisch
sehen konnten, nahm den Helm ab, damit alle das Gesicht sehen konnten und verbeugte sich vor den Gästen. Der bei solchen Anlässen übliche Applaus brandete auf, das herkömmliche Mahl auf Kosten des zum
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Ritter Geschlagenen wurde aufgetragen, Cuno schüttelte viele Hände,
schlug auf viele Schultern, hörte viele Bemerkungen, die meinten, sein
blonder Vollbart stünde ihm gut zu Gesicht, worauf Cuno jedes Mal antwortete, dass sich der Bader erst wegen der Wunde, dann wegen der
Narbe nicht traute, ihn zu rasieren.
Bei all dem hatte er das untrügliche Gefühl, einer unwürdigen Veranstaltung bei zu wohnen: Seit die ersten Adventstage ins Land gezogen
waren, verbrachten er, Tibor, Boleslav, Graf Heinrich und einige aus den
Familien die Tage in Prag, um diese Worte, die die Erhebung in den
Adelsstand bedeuteten, zu hören. Abend für Abend wurde ein Mann
zum Ritter geschlagen und trug die Kosten des Festes. Cuno wusste von
Tibor, der auch seine Erhebung erlebt hatte, dass schon jetzt der halbe
Familienbesitz verpfändet war, um die Ritterfeier bezahlen zu können.
Aber nur als Ritter durftest du dein Lehen oder dein Rittergut verwalten. Dieser König Johann, den viele den Fremdlingskönig nannten, weil
er so selten in Böhmen war, war wirklich kein angenehmer Zeitgenosse.
Versehen mit den erblichen Attributen des Hauses Luxemburg, den sich
verschleiernden Augen und der baldigen Blindheit, vertraute er eigentlich niemandem, schon gar nicht seiner Gattin Elisabeth, der Schwester
des letzten Königs aus dem Geschlecht der Přemisliden. Die junge Königin hatte ihn schon im ersten Jahr nach der Hochzeit mit einem Thronfolger beschenkt, dem jetzt vierjährigen Wenzel, der so hieß wie alle
Přemislidenkönige der letzten Zeit, ein freundliches Kind, dem alle Herzen zuflogen. Nur Wenzel als wenigstens halbböhmischem Erben hatte
es Johann zu verdanken, dass ihn der böhmische Adel, angeführt von
Boleslav Přemisl, vor drei Jahren nicht vom Thron vertrieben, sondern
ihn nur dazu gezwungen hatte, in Zukunft alle Ämter nur noch mit Böhmen und Mähren zu besetzen. Lediglich die Berufung eines Generalkapitäns von Böhmen, der regierte, wenn Johann außer Landes war, blieb
ihm freigestellt. Und prompt hatte er einen nahen Verwandten, Peter
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von Aspelt, den Erzbischof von Mainz, zu dessen Erzbistum Böhmen gehörte, zum Generalvikar ernannt, der eigentlich immer regierte und
auch jetzt neben Johann saß, während die Königin und Wenzel nicht zu
sehen waren. Johann schien wenig an den Geschicken Böhmens interessiert zu sein; die Macht seiner Familie, die im Streit mit den Habsburgern, den Wittelsbachern und dem Papst um die Herrschaft in Europa
lag, war ihm viel wichtiger. Der Kampf gegen die Aufständischen oder
die Gesetzlosen oder die Räuber, wie immer man sie nennen wollte,
musste für ihn, den böhmischen König, geführt werden. Der Ertrag der
böhmischen Silberbergwerke ermöglichte es ihm, diesen Kampf zu führen. Aber auch das böhmische Silber wurde knapp. Deshalb hatte er sich
auch gegen ein gutes Maß an Silber bereit erklärt, gleich zwei Knappen
des verhassten Cousins, Boleslav, zu Rittern zu schlagen.
Boleslav dagegen freute sich wie ein Kind, dass seine beiden Knappen
ihre Lehrzeit erfolgreich beendet hatten. Er kam zu Cuno hinüber, seine
Gattin Aljina im Schlepptau. „Das hast du verdammt gut gemacht, obwohl du lieber dem Berg als dem Krieg dienst! Damit dir auch in Zukunft
die Pfeile nur wenig anhaben können, hat die liebe Aljina dir von unserem Silberschmied ein Halsband machen lassen, vorne in dem Medaillon mit deinem Wappen ein Knöchelchen unserer heiligen Elisabeth,
Böhmens Schützerin, die den Krieg nicht wollte und ihn doch immer
führen musste. Werde glücklich und vergiss uns nicht, wenn du jetzt
wieder nach Thüringen zurückkehrst, schließlich nimmst du für deine
Zukunft die schönste Frau und die beste Magd mit dir!“ Er umarmte
Cuno, Aljina drückte ihn fest an sich und dann begann das Festmahl, an
dem der Spender natürlich den Vorsitz neben dem König innehatte und
froh war, die meiste Zeit mit dem kleinen Wenzel spielen zu können,
statt sich auf irgendwelche Pläne oder Sticheleien der anderen Ehrengäste einlassen zu müssen. Da konnte er sogar in Ruhe nachdenken: Die
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schönste Frau und die beste Magd für die Zukunft! Boleslav hatte vielleicht die richtigen Worte gefunden: er würde nach dem Weihnachtsfest von Jihlava nach Steigerthal gehen. Wenn ihnen das Wetter hold
war, könnte es eine schnelle Schlittenfahrt werden. Tibor und Urban
hatten freudig zugestimmt, sie zu begleiten, Juri kam auch mit, nicht
nur, um sie zu begleiten, sondern weil er Cuno beim Umbau des Bergwerks helfen wollte – seine Leute arbeiteten genauso althergebracht
wie die Steigerthals, da konnte noch mehr Erfahrung nicht schaden.
Und damit das auch alles so gelingen könnte, hatten sie Boleslav auch
noch gebeten, dem bayrischen Wandergesellen Franz, der die neuen
Mühlen gebaut hatte, ein Zeugnis auszustellen; mitkommen würde er
sowieso, aber dann lieber gut beleumundet. Und der erste längere Halt
würde auf der Burg in Pisek sein, seinem Zuhause der letzten Monate,
wo er Salwa abholen würde, seine ihm nun Anverlobte, wobei Graf
Heinrich eigentlich gar keine Möglichkeit des Widerspruchs hatte,
selbst wenn er es gewollt hätte: seine beiden Frauen hatten längst entschieden, aber auch er war freudig auf den Antrag Cunos eingegangen.
Und er würde Anja wiedersehen, mit dickstem Bauch, aber noch wäre
es einige Zeit bis zur Geburt, hatte sie gemeint, als sie sich entschlossen
hatte, lieber in Pisek zu bleiben.
Der Flößer, Miška, hatte Georg und ihn, sogar weich gebettet auf einer
dicken Lage Stroh, tatsächlich mit Hilfe eines Bauern und seiner Zugtiere
noch so rechtzeitig nach Pisek und in die Burg gebracht, dass Georg die
letzten Sakramente empfangen konnte und er, Cuno, eine Heilbehandlung durch die weiblichen Mitglieder der Familie des Grafen bekommen
konnte. Salwa, die ja schon beim Turnier vor mehr als einem Jahr gezeigt hatte, dass sie wusste, wie Schmerzen und Wunden zu behandeln
sind, hatte mit Hilfe eines Baders den Pfeil aus den Halswunden gezogen. Sie hatten zuerst die Widerhaken abgeschnitten und dann vorsichtig den Schaft entfernt, so dass Cuno kaum noch Blut verloren hatte.
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Der Verlust des roten Lebenssaftes war aber auch das schwierigste
Problem gewesen. Nach dem, was Salwa und Ermingilde ihm erzählt
hatten, lag er wochenlang fast wie tot auf seinem Lager oben neben der
Kemenate. Graf Heinrich war mit dem Kampf gegen die Banditen beschäftigt, die Frauen mit den Geschäften der Burg und den Vorbereitungen für die Nahrung des kommenden Winters, und der Verletzte wollte
und wollte nicht ins Leben zurückfinden, ganz gleich welche Leckereien
oder Kräutersude sie ihm einflößten, da er kaum schlucken konnte – der
Pfeil hatte wohl den Teil verletzt, wenn auch nicht durchbohrt, durch
den Essen und Trinken in den Bauch befördert werden. Da sprach Salwa
eine Idee aus, die sie schon seit dem Tag bewegt hatte, als Cuno auf die
Burg gebracht und Georg beerdigt wurde: hier könnte doch die Frau
helfen, an die sich Cuno gebunden fühlte, wie er selbst gesagt hatte.
„Dieses Mädchen, das in Jihlava auf ihn wartet und sein Kind unter dem
Herzen trägt – erinnerst du dich, Tante, dass er von ihr gesprochen
hat?“ Die Gräfin nickte bloß. „Wenn die hierher käme, könnte sie uns
helfen und vielleicht bewirkt ihre Anwesenheit bei Cuno irgendetwas,
das ihn ins Leben zurückbringt…“ Die Gräfin nahm sie in den Arm und
schrieb einen langen Brief an Aljina und erklärte ihre Hoffnungen. Wenige Tage später kam Anja, weich mit Stroh gefedert auf einem der Karren, die wieder einmal eine Getreidelieferung nach Jihlava holen sollte,
in Pisek an. Salwa schaute sie sehr kritisch an: Die Magd war rund, „da
hat man was in der Hand,“ wie die Knechte und Knappen im Saal murmelten, das hübsche Gesicht, noch gerötet von der Fahrt, von Sorgenfalten durchzogen; aus den Augen sprach die Angst, was sie erwartete.
Aber sie würde nie eine Konkurrenz für die junge böhmische Adlige
sein! Salwa half ihr vom Karren, hieß sie ehrlich und herzlich willkommen und führte sie in das Gastgemach neben der Kemenate. „Das ist
dein Zimmer, solange du hier bist, und wenn dein Kind hier geboren
würde, in Pisek, in Böhmen, unserer Heimat, würde ich mich freuen!“
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Und dann sah Anja Cuno auf seiner Lagerstatt. Sie erschrak, als sie die
bleiche, leblose Gestalt auf dem Polster sah. Es war Cuno, das war sicher; aber seine offenen Augen waren wie tot und schienen nichts zu
erkennen, die Wunden am Hals waren schorfig, aber noch zu groß, um
den Schorf wegzuwaschen, der Bart spross in blonden Kringeln und veränderte das geliebte Gesicht völlig; die Haare waren zwar frisch gewaschen, aber völlig ohne Kraft und der Atem ging so leise, dass das Mädchen schon glaubte, er würde nicht mehr leben. „So liegt er hier seit
Wochen“, sagte Salwa, „und weil wir nicht weiterwussten, haben wir
dich gebeten, herzukommen, er hat erzählt, dass du ihn nach dem anderen Turnier wieder zurück ins Leben gebracht hast, so wie ich es beim
ersten versucht habe. Boleslav hat sofort zugestimmt, dass du kommst
und ich bin so froh, dass jetzt noch jemand nach ihm sehen kann.“ Sie
legte ihr die Hand auf den Oberarm: „Du bist die Ältere und die Erfahrenere; ich glaube aber, dass wir ihn beide lieben und mit unserer doppelten Liebe werden wir ihn wieder ins Leben zurückholen!“
Anja neigte den Kopf, die Tränen schossen ihr in die Augen. „Er hat viel
von Euch erzählt, und ich kann niemals Eure Stelle an seiner Seite antreten, aber ich habe ihn mir ausgesucht und ich liebe ihn und ich werde
alles tun, um ihm zu helfen. Tot hat keiner von uns beiden etwas von
ihm.“ Und so pflegten sie Cuno. Nachts war Salwa bei ihm und tagsüber,
wenn die Gräfin und Salwa die Arbeit in und für die Burg zu erledigen
hatten, war Anja bei ihm. Und am Morgen und am Abend waren beide
Frauen um ihn, berichteten von Tag oder Nacht, besprachen, was man
tun könnte. Erst ging es nur um Cuno. Allmählich aber waren Salwas
Tagesgeschäfte auch Anjas Tagesgeschäfte und die Bewegungen des
Babys in Anjas Bauch waren auch Bewegungen für Salwa, die sie mit
den Händen spüren konnte. Sie wurden nicht Freundinnen, aber Ver-
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traute. Beide merkten mit der Zeit: Wenn Cuno sterben würde, war Anjas Kind das einzige, was von ihm bleiben würde; würde er aber leben,
so würden sie gemeinsam mit ihm und miteinander leben können.
Natürlich gab es trotz der gemeinsamen Empfindungen für Cuno einfach zu unterschiedliche Gegebenheiten, die für sie mit Cuno verknüpft
waren: Anja liebte ihn und das noch ungeborene Kind; er würde sie aus
allem herausreißen, was sie bisher kannte, aber er würde auch immer
für sie beide sorgen, ohne dass sie sich Tag und Nacht aufopfern
müsste, um durch die oft unwürdige Arbeit einer bloßen Magd sich und
das Kind durchzubringen. Für Salwa war Cuno das Fenster in eine andere Welt; auch sie liebte ihn; auch sie hatte sich ihn ausgesucht, und
er hatte eingewilligt, ausgesucht zu werden; mit ihm würde sie aus der
Enge Piseks und ihres Waisenkind-Daseins entkommen, wäre nicht
mehr das Objekt dauernder Heiratsanträge und könnte das sehen, wovon Graf Heinrich immer nur erzählte; sie kannte Pisek, Jihlava und den
Weg dazwischen; selbst Prag war ihr immer versagt geblieben. Sie
wollte Wissen erwerben, über sich, das Leben, über andere: das hatte
sie sich geschworen, als sie Cunos Mutter im letzten Winter auf der Burg
kennenlernte. Sie wollte wie diese Frau das Leben meistern, sie selbst
sein und keine Sklavin eines dumpfen Kriegers. Auch wenn es im Moment nicht viel anders aussah.
Jeden Tag zerrieben sie frischen Spitzwegerich und strichen den Brei auf
die Wunde; jeden Tag flößten sie dem eigentlich Bewusstlosen Wasser,
Kräutertees und Milch mit Löffeln ein, jeden Tag war die Wirkung gering.
Im Spätsommer kam Graf Heinrich vom Kriegszug gegen die Banditen
zurück. Das ganze Waldgebiet war trotz der ersten Niederlage Georgs
von Hellenburgs und seiner Ritter wieder in der Hand des Königs, die
Rädelsführer wurden bis auf einen, der über die Vitava flüchten konnte,
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hingerichtet und die große Masse der Rechtlos gewordenen, die sich als
Räuber verdungen hatten, wurde wieder in ihren früheren Besitzstand
eingesetzt – das war Boleslavs Bedingung für die Teilnahme am Krieg
gewesen. Heinrich war froh, wieder zu Hause zu sein, Ermingilde und
Salwa waren froh, dass sie einen Teil der Arbeit wieder abgeben konnten, denn vor allem die Aufrechterhaltung der gräflichen Herrschaft
über das reiche und übermütige Pisek war nicht einfach gewesen.
Ein friedlicher Herbst zeichnete sich ab. Das Wetter hatte bisher die
Ernte begünstigt. Das Getreide war reif und konnte trocken eingebracht
werden, Leinsamen und Hanf trugen reichlich Frucht, das Läuten der
Glocken am Morgen und am Abend kündigte von einem friedvollen Leben. Der Beginn der Jagdsaison brachte Wildpret in Hülle und Fülle,
denn auch für die Tiere des Waldes war es ein gutes Jahr gewesen. Und
im Einklang mit der Natur wurden die Feiern zum Fest des Heiligen
Wenzels, dem Ahnherrn des böhmischen Königshauses, vorbereitet.
Häuser und Kirchen wurden gereinigt und geschmückt, auf den Plätzen
wurden von den unteren Ästen befreite Birken mit bunten Bändern aufgestellt, die Frauen buken und kochten, die Männer brauten und brannten, und das ganze Land – soweit man es von der Burg über Pisek sehen
konnte – freute sich auf das Ende der Hauptarbeit im Jahr. In diesen
Wochen kam Cuno langsam, aber stetig wieder ins Leben zurück. Offenbar war die innere Wunde geschlossen, so dass er wieder besser trinken
und essen konnte, er kam zu Kräften, wenn auch noch nicht so, dass er
seine beiden Pflegerinnen bedrängt hätte, aber die dunklen Augen waren wieder sehend, der Atem ging nicht mehr röchelnd, sondern stetig
und am Tag des Heiligen Wenzels gelang es Anja zum ersten Mal, Cuno
wieder zum Stehen zu bringen. Voller Freude schrie sie durch die Burg
und Salwa kam dazu, stützte Cuno von der anderen Seite und so stellten
sie ihn an das Fenster, damit er endlich wieder mehr sehen könnte als
den Raum in der Burg. Mit strahlendem Gesichtsausdruck blickte er
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über Stadt und Fluss; noch kam nur ein raues Krächzen aus seinem
Mund, keine Stimme, aber die beiden spürten an den Bewegungen des
Halses und des Kehlkopfes, dass er sprechen wollte. Sie hielten ihn, er
sank geschwächt bald wieder zurück auf sein Lager, aber er war zurück
unter den Lebenden. Bald würde er nach Váží und Wolf schauen und
wieder mit Menschen sprechen können. Nur wie jetzt sein Verhalten
gegenüber Salwa und Anja sein würde, das war ihm völlig unklar. Ob die
beiden Frauen sich darüber Gedanken machen würden? An einem schönen Herbsttag, Cuno machte leise Sprechübungen, Salwa war in Hof
und Küche beschäftigt, schaute Anja nach Cuno. „Wir haben überlegt,
wie es jetzt weitergehen soll. Salwa kann dir erst Frau sein, wenn ihr
verheiratet seid, so ist es Brauch. Wenn du möchtest, kann ich gern bei
dir liegen, dem Kind schadet das nicht und dir und mir auch nicht,
glaube ich!“ Damit setzte sie sich zu ihm auf das Lager und legte seine
Linke auf ihre Brust. „Das ist schön – das hat mir schon gefehlt!“ Er streichelte sie, zog sie neben sich und fand ihren Mund. Sie kicherte, weil
der Bart sie kitzelte, und als er herausgefunden hatte, warum sie kicherte, suchte er herauszufinden, wie sie auf seinen Bart an den anderen Stellen ihres Körpers reagieren würde. Schließlich reagierte auch er,
obwohl er kaum geglaubt hatte, dass er dazu schon die Kraft besäße.
Als am Abend Salwa zu ihm kam um Anja abzulösen, schauten sich die
beiden Frauen stumm an und Anja nickte. Allein mit Cuno streichelte
sie ihm über die Stirn: „Das ist gut so, ihr Männer müsst euch immer
irgendwie abreagieren, und wenn du bei Anja liegst, nimmst du mir
nichts – es ist noch genug von dir für mich da.“ Er nahm ihre Hand,
küsste die Innenfläche und lächelte glücklich. Sie drückte sich an ihn und
schlief ein.
Wochen später war er mit einem Karrenzug voll Getreide zurück in
Jihlava, immer noch schwach, aber endlich ohne Schmerzen. Váží trug
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ihn vorsichtig, als ob er wüsste, dass sein Reiter noch nicht wieder sicher
im Sattel saß und Wolf tobte um beide herum.
Einem der ziehenden Ritter hatte er einen Brief mitgegeben, der die Familie daheim über seine Verletzung, die Genesung, aber vor allem über
die Verlobung und seine Vaterschaft informieren sollte. Vor allen Dingen das Letztere war etwas, was natürlich wieder nicht nach den Regeln
ablief und deshalb den älteren Gernot erzürnen könnte. Und er wollte
nur auf wohlwollende Menschen stoßen, wenn er mit den beiden
Frauen in Steigertahl ankäme!
In Jihlava zumindest waren die Menschen wohlwollend. Boleslav feierte
ihn als tapferen Knappen, des Ritterschlags durchaus würdig, Pritbor
von Jihlavy war sichtlich stolz auf ihn – „Bei der guten Ausbildung!“
lobte er auch sich selbst, und die Knappen waren froh, ihn wieder bei
sich in ihrer Kammer zu finden, selbst Pjotr. Sie erzählten ihm ihre Erlebnisse auf dem Feldzug und all den Klatsch und Tratsch, den es in einer geschlossenen Gesellschaft zu erzählen gab. Die Knappen waren eines sehr kalten Morgens, der schon nach Schnee roch, gerade auf dem
Weg in die Stallungen um nach ihren Pferden zu sehen, als ihnen Boleslav über den Hof entgegenlief und brüllte: „Cuno! Tibor! Kommt in
den Saal, der Abgesandte des Königs will euch sehen!“ Die beiden rannten über den Hof und holten Boleslav, der schon zur Halle zurückging,
schnell ein. Er strahlte und flüsterte ihnen noch zu: „Benehmt euch wie
es sich gehört für den Adelsstand!“, dann waren sie an der Tür und der
Přemislide schritt gemessen vor ihnen her zur Hohen Tafel, an der ein
aufgeputzter Ritter mittleren Alters Platz genommen hatte, der Brustharnisch zeigte einen aufrechtstehenden roten Löwen auf blau – weiß
gestreiftem Grund, das Wappen der Luxemburger. Er war also nicht nur
Gesandter, sondern Mitglied des neuen, ungeliebten Königshauses.
„Das, Graf Albrecht, sind die Knappen Tibor von Sázava und Cuonrad
von Steigerthal.“ Der Gast musterte mit stechenden, blauen Augen die
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beiden Knappen, die, auf das rechte Knie gebeugt, vor der Hohen Tafel
warteten, dass man sie anspreche. Cuno blinzelte zu Boleslav und der
nickte zufrieden. Gut dass er die beiden noch vor der Stallarbeit eingeholt hatte! „Seine Majestät, König Johann von Böhmen und Mähren,
Graf zur Pfalz, Graf von Letzelburg und so weiter, lädt euch ein, im Advent auf der Burg zu Prag zu erscheinen, wo er beabsichtigt, euch in den
Ritterstand zu erheben, als Lohn für die Dienste und die Treue, die ihr
dem König im vergangenen Kampf gegen die gesetzlosen Räuber und
Aufrührer geleistet habt. Euer Dienstherr weiß um das Verfahren, haltet
euch bereit.“ Damit stand er auf, flüsterte noch kurz mit Boleslav, stolzierte zur Tür und bestieg sein Schlachtross, das ihm sofort zugeführt
wurde. Erst jetzt sahen die beiden überraschten jungen Männer, dass
vor dem Burgtor ein ganzer Trupp Reiter unter der königlichen Fahne
wartete und sich beim Herangaloppieren des Grafen mit ihm in Bewegung setzte.
„Das kostet euch heute Abend so manches Fass vom besten Bier“,
grinste ‚der Dienstherr‘, „und dann erzähle ich euch, was euch erwartet!“
Als die beiden abends mit den Fässern auftauchten, holte sie Boleslav
an seine Tafel. „Eigentlich seid ihr beide noch zu jung, um zum Ritter
geschlagen zu werden, aber ich finde, dass ihr es verdient habt, und da
unser Herr König mal wieder Geld von mir ‚leihen‘ wollte, habe ich ihm
das als eine der vielen Bedingungen genannt. Er musste euch einladen,
ihr müsst mir schließlich helfen, das Silber sicher nach Prag zu bringen!“
Das war also der Grund für die frühe Ehre, aber wenn sie erst Ritter waren, würde niemand mehr nachfragen.
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Steigerthal, Sommer 1321
Fröhlich pfeifend legte Franz letzte Hand an den hölzernen Pavillon; das
Dach war mit Schindeln gedeckt, die hölzernen Säulen waren fest im
Boden verankert, die Leinwände für die Seiten waren genäht und mit
Ösen versehen, sodass man sie schnell anbringen und wegnehmen
konnte, und Franz war dabei, den Wappenschild mit der goldenen Leiter als Balken und den drei goldenen Sternen über dem Giebel zu befestigen. Cuno kam mit Wolf im Gefolge herübergeritten und wiegte zufrieden den Kopf: „Gut gemacht, Franz, damit werden wir Ehre einlegen!“ „Das sollt Ihr auch, wenn ich mir so vorstelle, was hier in dem
verschlafenen Dorf bald los sein wird!“ Der junge Ritter konnte es selbst
noch nicht ganz fassen: In wenigen Tagen würde Graf Heinrich sein Patenkind Salwa als Cunos Braut nach Steigerthal bringen, begleitet von
Gräfin Ermingilde; Boleslav Přemisl wollte Aljina und die beiden Boris
mitbringen; Miška und Tibor von Sázava, seine besten Freunde unter
den Knappenbrüdern, mit ihren Frauen; Johann, Friedrich und Pjotr kamen angeblich nur, um Juri und Urban abzuholen, die immer noch hier
in der Burg waren. Und natürlich würde der „kleine“ Gernot kommen,
der sich fast sofort zum Hof des Kaisers begeben hatte, als Cuno im Ritterstand zurückkam. Graf Hohnstein hatte zugesichert, dass er seine
Burg noch einmal verlassen und bei der Hochzeit seines Patenkindes
dabei sein würde, auch wenn Landgraf Friedrich, Markgraf zu Meißen,
ebenfalls als Gast anwesend wäre. Und all die Leute, die die Gäste begleiteten! Tasso von Weinbergen würde einen Sängerwettstreit anzetteln – so war es geplant –Musiker aus Erfurt, die Landgraf Friedrich mitbringen wollte, würden zum Tanz aufspielen. Der Abt des Klosters Himmelgarten in Nordhausen würde mit der Paradies-Reliquie erscheinen,
eine mit Gold, Silber und Edelsteinen geschmückte Brosche, in deren
Zentrum Erde gebettet war, die Adam damals, als er und Eva vom Erzengel Gabriel aus dem Paradies vertrieben wurden, mitgenommen
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hatte, so sagte man. Der Abt würde die Trauung vollziehen. Die Ritter
der benachbarten Lehen waren genauso eingeladen wie die Leute des
Dorfes und die Steiger und Hauer.
Gernot der Alte, versuchte seit Wochen, genügend Vorräte herbeizuschaffen und Ada leitete wie eine Feldherrin die Arbeit der Bäcker,
Metzger und vor allem der Mägde in der Küche. Auch eine besondere
Magd half: Anja. Sie war mit Cuno schon im Januar mitgekommen, gepolstert durch ein dickes Strohlager auf einem der Schlitten, hochschwanger und nicht nur deshalb ängstlich. Sie wusste nichts über ihre
zukünftige Heimat, außer dem, was ihr Cuno erzählt hatte. Und sie
wusste sicher, dass sie eine Hebamme brauchen würde, denn auch ihre
Mutter hatte sie nicht allein auf die Welt bringen können – eine Träne
stahl sich bei dem Gedanken in ihre Augen, denn ihre Mutter war bei
der Geburt verstorben. Und sie wusste nicht, wie sie in der Burg aufgenommen werden würde. Wer war denn sie schon, außer dass sie ein
Kind unter dem Herzen trug, dessen Vater ein Steigerthal war? Am
Abend, als sie in Steigerthal angekommen waren, sagte sie auf dem Bett
der Kammer liegend, die ihnen zugewiesen worden war neben der Kammer der ledigen Mägde: „Danke, Cuno, dass du mich mitgenommen
hast und danke dafür, wie sehr du mich schützt. Deine Mutter ist eine
großartige Frau und dein Vater ist, glaube ich, heimlich stolz auf dich,
auch wenn er dauernd brummelt. Ich bin so froh, dass alles so gut ausgegangen ist!“ Und damit klammerte sie sich an Cuno und ließ den Tränen der Erleichterung ihren freien Lauf. Cuno hielt sie vorsichtig, strich
ihr die Haare und die Tränen aus dem Gesicht: „Du wirst sehen, auch
das mit der Geburt wird viel leichter, als du fürchtest, meine Mutter hat
schon einen Boten zu der weisen Frau geschickt, die bei allen Geburten
hier im Dorf hilft, damit sie kommt und dich anschaut, bevor es soweit
ist.“
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Die alte Agnes war wirklich schon am übernächsten Tag gekommen,
hatte Anja untersucht und dann verkündet, dass sie jetzt ein Bier wolle,
um sich die Wartezeit zu verkürzen! Sie sah zum Fürchten aus, ein völlig
faltiges Gesicht, lange zottelige graue Haare, in zahllose Umhänge gehüllt, deren jede Tasche andere Schätze barg, aber als sie die künftige
Mutter untersuchte, hatte sie sich vorher die Hände gründlich in warmem Wasser mit Seife gewaschen und dann ganz vorsichtig alles Notwendige besichtigt. „Das wird nicht ohne, aber das wird!“ war ihr Urteil,
das Anja wegen des starken Dialekts kaum verstand und sich von Cuno,
der während der Untersuchung draußen bleiben musste, aber den Satz
noch mitbekommen hatte, ins Tschechische übersetzen ließ. Da
horchte die Alte aber auf: „ Jste z Čech?“Anja nickte erfreut, plapperte
in ihrer Muttersprache drauf los, fragte, wie es käme, dass eine Tschechin seit langen Jahren im Wald von Steigerthal lebte, bekam die übliche Geschichte zu hören – Verfolgung als Hexe und Flucht - ließ sich
auch ein Bier bringen und Cuno saß schmunzelnd dabei, der einzige, der
alles verstand, was gesprochen wurde! „Was meinst du, wie lange wird
es noch dauern?“ fragte er die Alte. „Nicht vor Morgengrauen, und bis
dahin unterhalten wir uns – wenn ich was brauche, rufe ich eine der
Mägde!“ Cuno fuhr Anja noch einmal liebevoll über Bauch und Stirn,
stellte Agnes noch einen Krug bereit und ging hinunter, um in der Stallung Váží und Wolf zu holen, damit sich alle drei noch ein wenig austoben könnten.
Als er in die Halle zurückkam, brannte das Feuer im großen Kamin, seine
Eltern saßen friedlich nebeneinander an der hohen Tafel, das Gesinde
schwatze und aß und da überfiel auch ihn der Appetit. „Darf ich mich zu
euch setzen?“ „Tu das, mein Sohn!“ die dunkle Stimme, „Gern“ die
helle. Cuno winkte einer der Mägde, dass sie auch ihm etwas gebratenes Fleisch, Brot und Wein brächte, und wandte sich dann an die Eltern:
„Es ist schön, wieder zu Hause zu sein.“ „Es wird immer dein Zuhause
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sein, auch wenn deine Mutter und ich bald nach Erfurt müssen, damit
ich mein Amt als Münzvogt antreten kann. Wir bleiben bis zur Hochzeit
und werden dann den Landgrafen zurückbegleiten – so haben wir es
jetzt vereinbart. Es ist sicher gut, wenn ihr als junges Paar euer gemeinsames Leben erst einmal ein paar Monate ohne uns Alte einrichten
könnt! Die alte Wibke lebt Gott sei Dank noch, sie mir ja schon erst als
Amme, dann als Haushälterin diente und deine Mutter in die kleinen
Geschäfte dieser Burg und dieses Lehens eingeführt hat; das wird sie
auch bei Salwa noch tun können. Und deine Anja ist auch schon eine
Hilfe.“
Das war sie. Agnes, die als Hilfe bei der Geburt geholt worden war, hatte
die ganze Nacht mit Anja geschwätzt, und als die Wehen begannen,
hatte sie nach heißem Wasser und sauberen Tüchern geschickt, ihre
Hände und Arme noch einmal gewaschen. Ganz unvermittelt hatte sie
eine Hand, einen Arm, in Anjas Schoß geschoben und das Kind so gedreht, dass der Kopf richtig lag. Die zukünftige Mutter hatte geschrien,
vor Schreck, auch vor Schmerz und dann begann das Pressen und das
Drücken und die Schmerzen. Cuno hörte die Schreie bis in den Hauptturm hinein, in den er sich verzogen hatte. Oder besser verkrochen? Als
nach Stunden des Leidens die Schmerzensschreie aufhörten, ging er
durch den Zwinger und den Lichthof hinüber zum Gesindehaus. Die
schweren Schneeflocken fielen leise und bedeckten alles wie mit einem
Leichentuch. Voll banger Vorahnungen beschleunigte er seine Schritte
und begegnete auf der Treppe zu den Frauengemächern einigen Mägden, die frisches Wasser aus dem Brunnen holten, miteinander tuschelten und ganz bleich aussahen- er konnte ja nicht wissen, dass Agnes nur
solche Mägde als Helferinnen haben wollte, die selbst noch nicht Mutter geworden waren und die Schmerzen der eigentlich schmalen Anja
bei der Geburt als ihre eigene Zukunft sahen.
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Nun hielt ihn nichts mehr. Er stürmte hinauf, riss die Tür der Kammer
auf und blickte einer völlig verschwitzten und zerzausten, aber strahlend lächelnden Anja entgegen, die ein winziges Kindlein in den Armen
hielt. „Unser Sohn“, sagte sie stolz. „Ist er nicht allerliebst?“ und hob ihn
Cuno entgegen. Vorsichtig versuchte der, das Kind in seinen Arm zu legen und war verwundert, dass es so viel schwerer war als der Welpe,
der jetzt als Wolf draußen im Hof seine Runden drehte. „Ja“, war das
Einzige, was er herausbrachte. Die alte Agnes, die sich gerade säuberte,
als er hereinkam, klopfte ihm auf den Rücken: „Nach getaner Arbeit
wäre ein Abschiedstrunk nicht schlecht, junger Herr, man holt ja nicht
jeden Tag ein gesundes Söhnchen ans Licht der Welt!“ Lachend ging
Cuno auf diesen Vorschlag ein und ließ drei Krüge Bier bringen, ohne
sein Kind aus der Hand zu geben. „Wie soll denn der Kleine heißen?“
Die Eltern schauten sich an und dann meinte Anja zaghaft: „Er ist doch
schon ein halber Böhme, und er ist in Böhmen entstanden – ich fände
Wenzel schön…“ Cuno fiel bei dem Namen sofort der kleine Prinz ein,
mit dem er in Prag so vergnügt gespielt hatte und der schon so bald
Zutrauen zu ihm gefasst hatte, aber wäre das anmaßend, das Kind einer
Magd und eines deutschen Ritters ‚Wenzel‘ zu nennen? Agnes las in seinem Gesicht, was in ihm vorging und kommentierte trocken: „Ich kenne
hunderte von Wenzels, die nicht mit dem Haus Přemisl verwandt sind,
und viele haben weniger gutes Blut!“ Cuno schaute dem Baby ins Gesicht und fragte: „Willst du ein Wenzel sein?“ Der Kleine schaute durch
noch halbverklebte Augen auf den Sprecher. „Oder sollen wir dich Cuno
nennen?“ In dem Moment fing das Kind an zu greinen und zu schluchzen. Cuno gab es lachend der Mutter zurück, die es an die Brust legte:
„Wenzel gefällt ihm offensichtlich, meine Brust auch – er muss dein
Sohn sein! Und ist es nicht unglaublich, dass ich jetzt schon Milch
habe?“ Die Alte erwiderte nur trocken: „ Ich habe dir gestern aber auch
genügend Bier eingeflößt, das will jetzt raus!“
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Das war kurz nach dem Fest der Heiligen Drei Könige gewesen. Seitdem
war der Kleine gewachsen und die Mutter wieder zu der Anja geworden, die Cuno so gut kannte – mit einem Unterschied: Sie war sich ihrer
Stellung völlig bewusst und war bereit, für ihre vertraute Herrin aus
Böhmen nicht nur Platz zu machen, wenn es nötig sein sollte, sie bereitete auch alles so gut wie möglich vor, damit sich Salwa wohlfühlen
konnte.
„Ja, sie ist eine große Hilfe!“ bestätigte Ada. Cuno hatte sie oft gesehen,
das Baby mit einem Tuch an die Brust gebunden, ganz den Aufgaben
zugewandt, die man ihr gegeben hatte, ohne auch nur irgendeine besondere Stellung unter den Bediensteten einzufordern. Und die Mägde
und Knechte der Burg wussten, dass das nicht das Übliche war und nahmen sie als eine der ihren, wenn auch besonders, in ihren Kreis auf.
Sie war, so oft es ging, nachts in Cunos Kammer, die eigentlich die Kammer des kleinen Gernots und Cunos war, gekommen. Immer dann,
wenn Wenzel fest schlief und eine der anderen Mägde sich neben seine
Wiege auf Anjas Lager legte, um über ihn zu wachen. Ihr dicker Bauch
war mit all der Arbeit schnell wieder flach geworden. Manchmal war es
wie früher im Schmelzhaus, was immer sie miteinander taten, taten sie
im gemeinsamen Genießen, nur dass Anja sich wehrte, wenn Cuno ihre
Brüste liebkoste – die waren für Wenzel reserviert. Und ein nicht auf
ihre Körper bezogenes Thema war für beide neu und spannend: Anja
hatte irgendwann einmal Váží gestriegelt, als Cuno mit Juri und Franz
mal wieder im Schacht steckte und neue Ideen ausprobierte. Und Váží
hatte auf sie reagiert, als sei sie sein Reiter; er hatte seine Schnauze in
ihre Halsbeuge geschoben und leise geschnaubt. Ohne zu überlegen
hatte sie ihn auf den Hof geführt und sich ohne Sattel und Zaumzeug
auf seinen Rücken geschwungen und mit ihm einige Runden im Hof gedreht, sehr zum Erstaunen aller, denn sie saß wie ein Mann auf dem
kleinen Hengst und steuerte ihn mit den Schenkeln, auch wenn ihr Rock
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höher rutschte, als er sollte. Der kleine Wenzel, an der Brust seiner Mutter, juchzte vor Freude bei jedem Galoppschritt Vážís. Der alte Gernot
hatte von seiner Kammer aus das Schauspiel beobachtet und anstatt zu
grummeln, dass das einer Magd nicht zustände, hatte er Cuno den Vorschlag gemacht, dass sich Anja mehr mit den Pferden beschäftigen solle
als mit den Küchenarbeiten, die sie sowieso schon kannte. „ Der alte
Schwarzburg verdient durch die Pferdezucht jedes Jahr fast soviel Silber
wie wir durch den Bergbau. Aber er züchtet schwere Streitrösser, wie
jeder Ritter eines braucht – wir könnten doch Pferde liefern, die schnell,
wendig und gelehrsam die eigentliche Arbeit im Kampf erledigen!“ Und
so ergab sich für Anja, Wenzel und – wenn es die Zeit erlaubte – Cuno
ein neues Nest: Anja hatte eine Kammer in den Stallungen bezogen, die
vorher als weiterer Schober genutzt worden war und die sie mit viel
Liebe und Geschick in ein Heim für sich und ihre Lieben umgewandelt
hatte, weit weg von der Kammer der Stallburschen und mit einem Fenster nach Sonnenuntergang. Váží genoss ganz offensichtlich die Zuwendung, die er von Mutter und Sohn bekam und begann zum ersten Mal,
sich nach Stuten umzusehen. Und zur Unterscheidung zwischen ihr und
einer anderen Magd, die ebenfalls Anja hieß, sprachen bald alle, auch
die Ritterfamilie, von „Anja, der Gestütin“. Sie war lange genug in
Jihlava gewesen, um sich vom Weißen Boris so manchen Trick abzuschauen und hatte sich fest vorgenommen, ihn nach vielem zu fragen,
wenn er zur Hochzeit käme – eingeladen war er jedenfalls.
„Was müssen wir noch erledigen?“ Cuno wandte sich nach seinem kurzen Grübeln über Anja und Wenzel mit dieser Frage an seine Eltern und
erwartete lange Antworten von ihnen. „Abwarten!“ antwortete Gernot.
„Wenn noch etwas zu tun ist, werden wir uns daran machen, aber eigentlich haben deine Mutter und ich festgestellt, dass alles so ist, wie
wir es haben wollten. Wie es allerdings im Bergwerk steht, kann ich
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nicht abschätzen –ihr habt so viel verändert, dass ich mich nicht mehr
auskenne!“
Damit hatte der Alte recht: Franz hatte für den alten Schacht ein Hebewerk gebaut, wie es in
Staré Hory seine Dienste tat; die Steiger hatten wie beim letzten Mal
geschimpft und erklärt, dass sie nicht mehr weiter arbeiten würden,
aber da hatte Cuno ein gutes Argument gehabt: statt des üblichen Zehntels vom Verkauf des Silbers hatte er ihnen eineinhalb Zehntel von seinem Anteil, den er nach den Gepflogenheiten behalten konnte, versprochen – seitdem arbeiteten sie wie besessen, so dass auch in Steigerthal eine Mühle gebaut werden musste, um die Gesteinsmassen zu
bewältigen. Der Leimbach, vom Schacht eine Stunde nach Sonnenaufgang, wurde aufgestaut und Franz war dabei, ein Mühlrad zu bauen, das
genügend Kraft auf die Mahlräder übertragen sollte. Zwei neue
Schmelzhäuser waren schon gebaut und Cuno hatte, gemeinsam mit
seinem Vater, viele Köhler rund um den Birkenkopf dazu überredet,
dass sie ab Frühjahr ihre Meiler verdoppeln und die Holzkohle direkt
nach Steigerthal liefern sollten – alles gegen gute Bezahlung. Und im
Dorf selbst hatten sich weitere Handwerker und Händler niedergelassen, denen der Lehnsherr Steuerfreiheit für das erste Jahr garantiert
hatte. Steiger, Knechte, Mägde, Köhler – alle gaben viel mehr Geld aus
als vorher, alle hatten auch mehr Geld als je zuvor. Und Steigerthal
blühte. Für Gernot und Cuno waren – wie bei Boleslav –erst einmal die
Kosten viel höher als die zusätzlichen Erträge, aber wenn alles fertig
wäre, würde sich das ändern. Franz hatte sich als Zimmermann im Dorf
niedergelassen - eine der neuen Freundinnen Anjas, Berta, die Tochter
eines Hauers aus dem Dorf, trug dazu ihren Teil bei; auch sie würde bald
die Hilfe der alten Agnes brauchen! Juri allerdings wollte nach der Hochzeit zurück nach Jihlava und dann zu seinem Bergwerk.
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„Ich glaube, auch da sind wir schon fast fertig. Wenn der Schwarze Boris
mit zur Hochzeit kommt, wie er versprochen hat, dann werden wir versuchen, hier gemeinsam einen weiteren Schacht abzutäufen. Und dann
kann der Landgraf Friedrich nur mit unserem Silber die gesamten Kosten tragen, und du“, wandte er sich wieder an seinen Vater, „ kannst
gemächlich reine Münzen prägen, soviel du brauchst!“ „Das lass uns feiern!“ Und er rief nach drei Bechern und dem frisch aus Lothringen importierten Wein. „Möge uns Gott hold sein!“
Der nächste Morgen, ein Freitag, brachte die ersten Besucher: Ein Trupp
Hübschlerinnen, durch die gelben, flatternden Bänder an der Schulter
gekennzeichnet, die der kleine Gernot geschickt hatte, um die Frauen
und Mädchen Steigerthals zu schützen, ließ sich am Bachufer ganz am
Ende der Festwiese nieder und baute ihr Lager mit den bunten, munter
im Wind flatternden Fähnchen auf. Gaukler, Wahrsager, Musikanten,
Lebkuchenzelter, Hausierer– alle hatten von dem Ereignis gehört und
suchten sich ein günstiges Plätzchen in der Nähe.
Und dann kamen die Gäste: Graf Hohnstein mit seinem Sohn Walter,
herzlich begrüßt von den drei Steigerthals. Den Hohnsteinern wurde ein
Lagerplatz direkt am Pavillon zugewiesen. Am frühen Nachmittag kamen die Gäste aus Böhmen: Boleslav und Aljina Přemisl, begleitet vom
Weißen und vom Schwarzen Boris und den Knappenbrüdern; Graf Heinrich und Gräfin Ermingilde von Pisek, geleitet vom „Kleinen“ Gernot,
der, von Regensburg kommend, Johann von Böhmen einen Brief König
Ludwigs überbracht hatte und über Pisek zurückgeritten war, auch um
seine schöne Schwägerin besser kennenzulernen. „Du kannst beruhigt
sein, wir haben Salwa mitgebracht, aber sie ist mit ihren Mägden gleich
nach oben auf die Burg, Baden!“ flüsterte die Gräfin Cuno grinsend zu.
Und dann kamen auch die ersten Ritter der benachbarten Burgen und
mischten sich unter die zuerst Gekommenen.
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Die Zeltstadt wuchs um den Pavillon herum; der Trubel wurde immer
lebhafter; Freunde, die sich lange nicht gesehen hatten, begrüßten sich
lautstark und riefen nach Bechern und Krügen, die Knechte standen im
Wettstreit, welche Zeltgruppe am besten dastand, die Mägde begannen mit den Vorbereitungen für den Abend; die ersten Dorfbewohner,
Steiger, Hauer und Handwerker, näherten sich dem Festplatz vorsichtig,
alles beobachtend und vieles bewundernd. Und über allem stand das
Geläut der kleinen Glocken der Dorfkirche, die ununterbrochen läuteten. Hatte Cuno doch darauf bestanden, dass jeder Besucher mit Glockenschlag empfangen würde!
Über all dem fröhlichen Lärm überhörten die meisten das dumpfe Grollen vom Himmel. Der Schwarze Boris, der mit Juri und den anderen auf
einigen Polstern saß, die die Mägde vor die Zelte gelegt hatten, schaute
nach oben – direkt hinein in das Zucken eines Blitzes und schrie auf.
Jetzt wurden alle aufmerksam und Cuno brüllte nach Franz: „Verstärke
die Leinen und mach‘ die Seitenteile so fest wie es geht – los ihr da, helft
ihm!“ rief er ein paar steigerthalschen Knechten zu, die im Weg standen. „Alle anderen Knechte machen ihre Zelte sturmsicher und schützen alles so gut es geht vor Regen! Und Ihr, edle Herren und Damen,
kommt bitte in die Halle!“ Dann lief er hinüber zu den Stallungen, wo
ihn Anja schon mit gesatteltem Váží erwartete, Wolf um sie herumspringend. „Pass auf dich auf!“ rief sie noch, sie kannte Cuno so gut wie
kein anderer und wusste, dass er ins Bergwerk stürmen würde, um alle
Arbeiter, die noch im Schacht waren, herauszuholen.
Keine halbe Stunde später brach das Unwetter los mit Hagel, sturmgepeitschten Regenmassen, Blitz und Donner. Die Edlen standen in der
Halle und schauten durch die offenen Fenster dem Toben zu, froh, den
Abend nicht draußen verbringen zu müssen. Die Mägde und Knechte
sicherten die Zeltstadt, die Pferde der Gäste hatten Platz in den Stallungen gefunden, wo Anja und die Stallknechte taten, was sie konnten, um
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die verstörten Tiere zu beruhigen. Die Lasttiere waren zu einem Pferch
hinter der Festwiese gebracht worden, wo sie die niedrigen Kiefern und
Fichten wenigstens etwas vor dem Unwetter schützten.
Nur Cuno fehlte. Die Dörfler, die sich in den Schutz der Burgmauern geflüchtet hatten, flüsterten etwas von bösem Omen für die Hochzeit,
schlimmen Zeichen für die kommende Herrschaft des jungen Ritters
und erst als die alte Agnes laut dazwischen fuhr, wurden sie leiser. Dann
hörte man durch den Sturm das Heulen Wolfs und das Klappern der
Hufe auf dem gepflasterten Weg zur Burg, und ein völlig durchnässter
und schmutziger Cuno sprang vor der Stalltür aus dem Sattel, gab einem
Stallknecht die Zügel und befahl: „Bring Váží rein und lass Anja ihn trocken reiben, er hat mit aller Kraft geschuftet, um die letzten Leute den
Schacht hoch zu ziehen – gut dass die alten Wannen noch im Schacht
lagen und der Bergmeister immer genügend Seile da hat, da konnten
das Hebewerk und Váží alle Bergleute herausholen, bevor die Schachtsohle zu viel Wasser hatte!“ „Habt ihr gehört, ihr Kleingläubigen? Keinem von den euren ist etwas zugestoßen und Herr Cuno hat gezeigt,
dass er trotz seiner jungen Jahre mit Gottes Hilfe auch in schwierigen
Zeiten weiß, was zu tun ist!“ Die alte Agnes zwinkerte Cuno zu und
sprach laut weiter auf die Dörfler ein. Cuno grinste zurück und lief durch
die Wassermassen hinüber zum Palas, wo ihn die Gäste mit Hochrufen
und Glückwünschen empfingen. „Lasst mich einfach Zeit, mich zu trocknen, und dann stoßen wir auf das Glück an, das schon heute hier zuhause ist.“ Damit lief er die Treppe hoch und wollte in die Kemenate,
als ihm Ada den Weg vertrat. „Du darfst da jetzt nicht rein, das soll wirklich Unglück bringen – die Braut siehst du erst, wenn ihr Oheim sie dir
am Altar zuführt. Und außerdem hat sie gerade ziemlich wenig an, sie
hat nach dir Ausschau gehalten und hat einen richtigen Regenschwall
abbekommen, so dass sie sich erst umziehen muss! Dir kann ich aber
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gerne trockene Kleidung bringen – geh‘ nach nebenan und zieh dich
um.“
Als Cuno wieder in der Halle erschien und seinen Platz am hohen Tisch
suchte, blieb er kurz stehen, bis alle Anwesenden ihn gesehen hatten:
„Liebe Freunde, ich bin zwar fast der Jüngste hier in der Runde, aber
nachdem sich mein Leben jetzt völlig verändern soll, erlaube ich mir
auch, Euch auf meinem Stammsitz herzlich zu begrüßen. Lasst uns diesen Abend feiern wie jeden Abend vor einer Hochzeit: Die Damen werden nach dem Mahl bald verschwinden um morgen besonders schön zu
sein, und wir, die wir dann übrigbleiben, werden uns viel zu erzählen
haben… Danke an Euch, dass Ihr mir die Ehre gebt und: Guten Appetit!“
Unter dem lauten Beifall setzte er sich und schaute die Tafel entlang:
Boleslav und Aljina Přemisl saßen links, dann kamen Ada und Gernot,
dann rechts neben Cuno der leere Platz, den zukünftig die Braut einnehmen würde, dann Gräfin Ermingilde und Graf Heinrich, Cuonrad von
Hohnstein, der kleine Gernot, Heinrich von Hohnstein. Cuno hob seinen
Pokal, trank den Gästen an der hohen Tafel und im Saal zu und gab dann
der alten Wibke ein Zeichen. Die Mägde trugen auf, die Knechte des
Hauses brachten Bierkannen und Weinkrüge und der Saal wurde etwas
ruhiger, als alle den Speisen und Getränken zusprachen. „ Gut hast du
das gemacht“, rief Boleslav ihm zu, „Dich kann man schon fast alleine
lassen!“ Und mit seinem üblichen dröhnenden Gelächter, in das die anderen einstimmten, leerte er seinen Bierkrug. Und er bezog sich nicht
nur auf die kurze Ansprache oder die Rettungsaktion zuvor, sondern er
meinte das, was Cuno mit der Hilfe von Juri, Franz und Urban in den
wenigen Monaten aus dem Bergwerk gemacht hatte. Der Böhme hatte
alles genau besichtigt, bevor er auf die Festwiese kam und wusste, dass
auch er hier nichts verbessern könnte.
Als die ersten in der Halle sich aus ihren Mänteln rollten und aus dem
Tor traten, sahen sie einen tiefblauen, fast wolkenlosen Himmel, an
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dem die Sonne glänzte. Das Gewitter des Vorabends hatte das ganze
Land gewaschen, so dass es in aller Frische strahlte. Ein leichter Wind
hatte das Gras und die Blätter fast getrocknet. Franz war schon wieder
am Pavillon zugange, denn er musste bis zur Ankunft Onos von Wettin,
dem jungen Abt des Klosters Himmelgarten, an der Ostseite den Altar
aufgebaut haben. Der Tisch stand schon, fest verankert. Ada, ja noch
die Hausherrin, legte gestickte Tücher darüber und stellte das silberne
Kruzifix aus der Burgkapelle darauf. Hostien- und Weinkelch waren bereit und glänzten. Das Läuten der Glocken kündigte einen weiteren Gast
an: Landgraf Friedrich von Thüringen, Enkel Kaiser Friedrich des Zweiten, kam mit seinem Gefolge. Ada lief hinüber zu ihm und umarmte ihn,
kaum dass er vom Pferd gestiegen war: „Schön, dich endlich einmal wiederzusehen, Bruder! Ihr müsst ja sehr früh aufgebrochen sein – unsere
Männer schlafen noch fasst alle.“ „Wir haben wie immer in Himmelgarten übernachtet und Ono wollte unbedingt rechtzeitig da sein – es ist
seine erste Trauung seit er Abt ist, da will er alles richtig machen! Schau
– da hinten kommt er mit zwei Hand voll Mönchen, die ihn beim Singen
unterstützen sollen!“ Der leichte Spott Friedrichs über seinen Neffen
machte seine Gesichtszüge nicht weniger freundlich; der große,
schwere Mann war bekannt dafür, dass er das Leben und seine guten
Seiten genoss und andere gern daran teilhaben ließ. Nicht umsonst
nannte man ihn „der Freudige“. Und Ono sah wirklich so aus wie ein
Klosterschüler, der fürchtet, zur Messe zu spät zu kommen: eine
schmale, asketische Gestalt mit einem Jungengesicht unter der Tonsur,
blitzenden hellen Augen und mit breiten Lippen im glattrasierten Gesicht. Aber man wusste, dass er energisch durchgriff, wenn er Falsches
entdeckte und man sagte, dass er sein Amt zum Wohle des Klosters und
der Menschen nutzte, nicht für die Stärkung des Herrscherhauses, aus
dem er stammte.
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Auch er wurde von Ada und den inzwischen herbeigeeilten Gernots begrüßt; es bestand eine enge Beziehung der Familie zum Kloster Himmelgarten, das oft schon über Silber aus Steigerthal verfügen durfte und
sich treu an die Seite der von vielen „Edlen“ gemiedenen Ritter gestellt
hatte. Die Geistlichen nahmen ihre Plätze am Altar ein, der Mönchschor
stehend dahinter, der Abt in einem roten Sessel davor, aber erst nachdem die Reliquie ehrfürchtig auf dem seidenen Tuch abgelegt worden
war. Durch das Läuten der Glocken herbeigerufen, betraten die Hochzeitsgäste den Pavillon: Die Hochadligen festlich gekleidet, am Arm ihre
Gemahlinnen, ebenfalls dem Anlass entsprechend geschmückt; man
neigte huldvoll die Häupter zum Gruß und nahm die in der ersten Reihe
stehenden Bänke, die eine Lehne hatten und mit Kissen gepolstert waren, in Beschlag. Dahinter reihten sich die Ritter in ihren blankgewienerten Rüstungen, aber ohne Helm, ebenfalls mit ihren Damen ein und
belegten die anderen Bänke. Die Dörfler mussten hinter diesen Bänken
stehen – es wäre sonst nicht genug Platz im Pavillon gewesen.
Als alle ihre Plätze eingenommen hatten, schritt Cuno, auch in voller
Rüstung mit dem Wappenharnisch, durch die Reihen und wartete, nach
einer ehrfürchtigen Verbeugung vor der Reliquie und dem Abt, auf
seine Braut. Dann erklang aus zwei kleinen Kanonen, die der alte Gernot
extra für diese Gelegenheit angeschafft hatte, der Salut:
Salwa betrat, die Hand auf den rechten Arm des Grafen, ihres Patenonkels, gelegt, den Pavillon von Westen und schritt an seiner Seite durch
den Gang in der Mitte zum Altar. Die Mönche sangen ein „Entrate“, Abt
Ono stand mit den ausgebreiteten Armen, wie um den Segen zu spenden, vor dem Tisch des Herrn. Heinrich neigte den Kopf und legte die
Hand Salwas auf den rechten Arm des wartenden Cunos. Der starrte sie
an und hatte das Gefühl, die Zeit sei um die vier Jahre zurückgedreht
worden, als sie sich zum ersten Mal getroffen hatten: Sie war immer
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noch die ,Erscheinung‘ von damals, obwohl die große, schlanke, unterdessen fraulichere Gestalt Salwas jetzt in ein fließendes weißes Kleid
mit kurzer Schleppe gehüllt war, das der böhmischen Sitte entsprechend in einem runden Ausschnitt endete, der den Ansatz der festen
Brüste ahnen ließ. Um ihren Hals war ein weißes Samtband mit einer
Perle geschlungen. Sie war blass, die roten Lippen ließen sie noch blasser erscheinen; aber die hohen slawischen Backenknochen waren gerötet vor Aufregung, ihre grünen Augen strahlten, und ihr kastanienfarbenes Haar war wie damals in Zöpfen um den Kopf gelegt, nun aber gekrönt von einem silbernen, mit grünen Jadesteinen belegten Diadem.
Sie sah vor sich den kräftigen jungen Ritter, größer als sie, glattrasiert
und mit wehendem dunkelblondem Lockenhaar, die Lippen leicht bebend, die dunklen Augen auf sie gerichtet und sie verstohlen musternd.
Cunos Mund wurde trocken. Er schaute schnell zu Abt Ono und dem
Altar hinüber und war froh, dass die volle Rüstung, die er trug, ihm genug Halt gab. Der Abt begann die lateinische Messe zu singen und zu
lesen, die die Servitenmönche bei solch feierlichen Trauungen zur
Grundlage der Zeremonie machten, die Mönche begleiteten ihn beim
„Gloria“, und dann kam der Moment, auf den alle gewartet hatten: „Si
tibi videbitur estam uxorem Salwa in matrimonium ducere?“ Cuno
schaute sie an und antwortete ohne zu zögern: „Sic est!“ „Et tu, Salwa,
si tibi videbitur istem vir Cuonrad in matrimonium habere?“„Sic est!”
Ono von Wettin nahm das Tablett mit den Ringen, gab Cuno den einen,
dass er ihn auf Salwas Finger stecke und dann Salwa den anderen, dass
sie das gleiche bei Cuno tun konnte. Dann ließ er das Paar niederknien,
segnete es und erklärte in drei Sprachen: „Hiermit erkläre ich euch zu
Mann und Frau, bis dass der Tod euch scheidet!“ Die Mönche stimmten
das „Credo“ an, die Anwesenden sangen mit so gut und so weit sie
konnten, und dann verließ das Brautpaar den Platz vor dem Altar und
schritt ins Freie.
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Die Bergleute hatten schneller den Weg zum Ausgang gefunden und
standen nun mit über den Kopf gehaltenen Eisen und Hauen und ließen
das Brautpaar hochleben. Als die Brautleute anhielten, um die weiteren
Gäste zu erwarten, drängte sich als erster Landgraf Friedrich vor, schüttelte Cuno die Hände, küsste Salwa auf beide Wangen und übergab sein
Hochzeitsgeschenk: die Erweiterung des steigerthalschen Lehens um
die Ritterschaft Stampeda, die an das Gebiet nach Sonnenuntergang angrenzte und das im letzten Jahr todgefallen war, da es keinen Erben gab.
In so einer Lage erhielt der Lehnsherr das vergebene Lehen zurück.
Cuno dankte mit einem Kniefall, denn damit war sein Lehen so groß geworden, dass er alles hatte, um das Dorf zu versorgen und das Bergwerk
zu vergrößern, ohne dass er Hilfe kaufen musste. Graf Heinrich und Gräfin Ermingilde herzten und küssten unterdessen die Braut und zerdrückten so manche Träne – fehlte ihnen doch ab jetzt die angenommene
Tochter. Als sich Friedrich Cuno zuwandte, übergab auch er das, was er
und Ermingilde als Mitgift betrachteten, denn Salwa war zwar ohne Familie aufgewachsen, aber die Ländereien ihrer Eltern nördlich von Pisek
gehörten ihr natürlich trotzdem, auch wenn sie als Frau das Erbe nicht
alleine antreten konnte. Die Urkunde über diesen Besitz, ausgestellt auf
Salwa und Cuno, übergab der Graf jetzt. Cuno überflog das Pergament
und als er in dem Moment Tibor sah, fragte er: „ Was meint Ihr, Oheim,
könnte ich die Verwaltung dieses Besitzes einem Freund übergeben, der
sicher gut herrschen und wirtschaften wird und Salwa und mir lediglich
den Ertrag zukommen lässt?“ „Das hätte ich dir sowieso vorgeschlagen
– wen hast du im Auge?“ „Tibor von Sázava.“ „Gute Wahl, auf seinen
Namen werden wir heute noch die Urkunden ausstellen. Denkst du, er
ist einverstanden?“ „Auf jeden Fall, sein Bruder Miška ist der Ältere, und
er würde schon gerne selber wirtschaften, auch wenn sein Elternhaus
etwas entfernt steht.“ Ein Händedruck besiegelte die Absprache und
Cuno sah sich von Aljinas ganzer Fülle umarmt, die nur seine Rüstung
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ein wenig dämmte. Boleslav hatte unterdessen Salwa an sich gedrückt
und ihr auf tschechisch noch einige Lebensweisheiten mitgegeben, die
Cuno, aus den Augenwinkeln zwinkernd, kichernd kommentierte, und
dann übergab der Böhme ein Paket an Salwa, die es kaum halten konnte
und an Cuno weiterschob: „Das, liebe Salwa, ist nach den Prinzipien der
Hebräer und Araber deine Absicherung für die Zukunft! Ich konnte nicht
genügend Gold erwerben, dann wäre das Päckchen leichter geworden,
aber das ist dein Silber, gemünzt von der königlichen Münze zu Prag,
das ist dein Besitz, und wenn dich dieser Mensch neben dir irgendwann
einmal zu sehr ärgert – nimm dein Geld und gehe, wohin du willst!“
„Und komm am besten zu uns!“ war der Beitrag Aljinas. Cuno dankte
seinem Knappenvater, hatte er doch durch ihn nicht nur alles kennengelernt, was er über das Leben als Ritter und über Bergbau wissen
musste; er war auch der Grund dafür, dass diese Hochzeit heute stattfinden konnte. Und als er gerade Salwa an sich drückte und einen ersten
scheuen Kuss als Ehemann versuchte, stand Cuonrad von Hohnstein vor
ihm, sein Pate, der ihm den Namen und die verrückte Idee, in Jihlava
seine Zeit als Knappe abzudienen, mitgegeben hatte. Cuno wollte auf
ein Knie sinken, aber Hohnstein hielt ihn und drückte ihn nach Herzenslust – und tat dann das Gleiche mit Salwa: „Ich wünsche euch alles Glück
dieser Erde, dass ihr die Zeit habt, miteinander zu leben und euer Leben
zu gestalten! Selten hatte ein junges Paar das Glück, ohne die ganze Familie das Eheleben anzufangen! Bei mir waren die Geschwister, die Eltern und die Tanten meiner Frau ständig um uns herum, so dass wir uns
nach Jahren eigentlich kaum kennengelernt hatten… Und wenn ihr einmal einen Ausflug machen wollt – Cuonrad von Hohnstein würde sich
freuen, wenn ihr ihn in seiner Einsiedelei besuchen würdet!“ Gerührt
umarmten die beiden den Paten noch einmal, bevor dieser Platz
machte für den kleinen Gernot, Heinrich von Hohnstein, die beiden
Schwarzburgs und dann für Miška, Johann, Pjotr, Friedrich, Juri, Urban
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und Tibor, die zum Gratulieren antraten, jeder mit einer mehr oder weniger witzigen Bemerkung: Miška forderte Cuno auf, das Erbe der Česka
zu schützen; Johann, Pjotr und Friedrich machten blöde Sprüche über
die anstehende Hochzeitsnacht; Juri versprach, doch noch ein wenig in
Steigerthal zu bleiben, bis er die Steinmühle ausprobiert hätte, damit
Cuno bei seiner Liebsten liegen könne; dem schloss sich Urban an, jederzeit Stellvertreterschaft anbietend, wenn Cuno unabkömmlich sei;
und als Tibor den Freund und seine Braut einfach in die Arme nahm, zog
ihn Cuno beiseite und erklärte in Windeseile, was er mir Graf Friedrich
vereinbart hatte – Tibor war außer sich vor Freude und rannte gleich zu
Miška um ihm zu erzählen, dass er ihn auf dem elterlichen Gut nicht
mehr stören würde. Dann kamen die benachbarten Ritter, jeder mit einer wohlüberlegten Gabe, und Cuno dankte einem jeden, verbunden
mit der ausgesprochenen Hoffnung auf eine gute oder bessere Nachbarschaft; die Rittersfrauen luden Salwa zu den unterschiedlichsten
Festen ein, und die junge Frau versuchte, die ihr von der alten Wibke
zugeflüsterten Namen mit den Gesichtern vor ihr zu verbinden. Als am
Schluss die Dörfler und das Gesinde als Gruppe vor die beiden hintraten
und ein vom Dorfkaplan geschriebenes Lied sangen, war das Glück, das
dem Brautpaar so gewünscht wurde, deutlich:
„Hört allesamt und mit Verstand, wozu braucht es den Ehestand?
Merkt auf mit Fleiß, damit‘s ein jeder richtig weiß:
kommt von keinem Menschen nicht,
Gott hat ihn selber eingericht.
Gott nahm von Adam, den er schuf,
gleich eine Rippe, zum Behuf,
dass Adam nicht alleine sei,
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und seien Liebe frank und frei
dem Weibe widmet, das er wählt,
so hat der Herr es uns erzählt.
Der Mann, das Weib, sie seien fruchtbar,
und manches Mal ein wenig lustbar.
Wenn dann die G‘meind, der Freuden voll,
auf Gottes Willen bauen soll,
so seien diese Brautleut heut,
ein gutes Bild für alle Leut:
Dass Cuno und Salwa, die seine, i
hr Leben genießen in der Sonne Scheine,
das wünschen wir alle,
im Anger und in der Halle,
und auch für uns in jedem Falle
bringe ihr Glück, Glück für uns alle,
gelobt sei Gott in jedem Falle.“
Als eine der Letzten verließ Anja die Gruppe der Sänger, senkte vor
Salwa das Knie, nahm ihre Rechte und drückte sie ins tränenfeuchte Gesicht: „Er liebt dich wirklich, ich habe gesehen, wie er dich anschaut!
Werdet glücklich und lasst mich in eurer Nähe sein!“ Der noch anwesende Teil des Gesindes konnte seinen Augen nicht trauen, als sie sahen, dass die Braut Anja an sich zog und ihr über die Wangen strich und
dann auch noch der Bräutigam in die Umarmung einbezogen wurde. Als
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sich Anja löste, strahlte sie und rannte zur Küche, um ihren Teil an den
Vorbereitungen zum Hochzeitsmahl zu übernehmen, der Nachmittag
war schon weit fortgeschritten.
Im Burghof waren Ochsen am Spieß vorgebraten worden, die jetzt von
den Knechten auf die Festwiese gebracht und über schnell entzündete
Holzkohlefeuer gehängt wurden; Bierfässer wurden aufgebockt, angestochen und zum Gebrauch freigegeben; der Altar im Pavillon wurde
abgebaut, Kruzifix, Reliquienschrein und die Kelche wurden in die Kapelle gebracht; die Bänke wurden umgestellt, Tischplatten auf Holzböcke gelegt, und während die ersten zu trinken begannen, empfingen die
Hübschlerinnen schon Kunden, immer noch ganz begeistert vom Aussehen der Braut. Eine band sich sogleich einen der gelben Bänder um
den Hals und befestigte ein Steinchen aus dem Bach daran! Bald brachten die Mägde frisch gebackenes Brot und gebratene Knödelscheiben,
die sie als „Salwas Brot“ anpriesen und dann begann ein lustiges Zechen
und Schlemmen. Als wenig später die ersten der angereisten Musikanten anfingen, beschwingte Melodien zu spielen, konnte sich der frühe
Abend über eine fröhliche Festgemeinde senken.
Unterdessen war im Saal für die Ehrengäste und die anderen gedeckt
worden. Nicht nur die Hohe Tafel, sondern alle Tische waren mit weißem Linnen bedeckt, Schalen mit Rosen standen in der Mitte, frisches
Brot und „Salwas Brot“ lagen bereit. Die von Landgraf Friedrich aus Erfurt mitgebrachten Musikanten stimmten eine lustige Weise an und
nachdem das Brautpaar endlich auch die Halle betrat, setzten sich alle
an die vorgesehenen Plätze. Cuno und Salwa in die Mitte der etwas verlängerten Hohen Tafel, mit leicht roten Köpfen, denn sie waren von der
Festwiese und den Gratulanten mit dem kleinen Umweg über das Arsenal gekommen: dort hatten sie wirklich das erste Mal die Gelegenheit
gehabt, sich in die Arme zu nehmen und ungestört zu küssen, was sie
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allerdings bald wieder aufgeben mussten, nicht weil die Gäste warteten, sondern weil Gefühle sie überschwemmten, denen sie jetzt noch
nicht nachgeben konnten. Landgraf Friedrich erhielt den Sitz links von
Salwa, Abt Ono den neben dem alten Gernot, ansonsten war die Tischordnung wie die vom Vorabend.
Und dann wurde aufgetragen: Mit getrockneten Trauben und Kräutern
gefüllte Wachteln, gedünstete Forellen aus dem Fischteich der Burg, geröstete Spanferkel und gebratene Kapaune aus dem Geflügelhof, gefüllte Fasanen, Reh- und Hirschbraten und Frischling vom Wildschwein
aus der eigenen Jagd und am Ende Pfannkuchen, gefüllt mit frischen
Beeren. Bei jedem Gang war der Bräutigam gezwungen, den Gästen zu
zutrinken; Cuno war froh, dass er in Jihlava gelernt hatte, nicht allzu viel
berauschende Getränke zu trinken, sondern sie dem Fußboden anzuvertrauen! Der Sinn des Gelages war es von Seiten der thüringischen
Ritter, dem frischgebackenen Ehemann die Hochzeitsnacht unmöglich
zu machen – und Cuno kannte dieses Spiel seit seiner Kindheit. Und es
ging nicht um irgendetwas, sondern die erste Nacht mit Salwa!
Als die meisten schon eher lallten statt sprachen und eher torkelten als
gingen, stellten die Musiker auf ein Zeichen Landgrafs Friedrich ihre
Musik um und spielten zum ersten Schreittanz. Das war nun nicht nur
in Thüringen Sitte, sondern überall, wo die Ritterehre galt: Der erste
Tanz musste vom Brautpaar allein getanzt werden. Es war ein Schreittanz, gemessen und darauf abgestimmt, dass auch ein trunkener Bräutigam ihn noch tanzen konnte. Salwa und Cuno bewegten sich wie
schwebend, das Einhaken und im Kreis drehen wirkte als Teil des Schreitens, nicht wie ein Anhängsel. Und als die Musikanten eine Wiederholung versuchten, rief ihnen Cuno kurz zu: „Lasst das, wir wollen wirbeln!“ Sofort wechselten Rhythmus und Melodie und die beiden schritten und wirbelten über den Hallenboden vor den Musikanten, dass der
ganze Saal in Beifallsrufe ausbrach. „Und jetzt alle!“ rief Graf Heinrich
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und winkte die Menge der Anwesenden auf die Tanzfläche, selbst Ermingilde am Arm führend. Das Durcheinander war so groß, dass es
Salwa und Cuno gelang, unbemerkt die Treppe zur Kemenate hinauf zu
schleichen. Salwa hatte sie in der Nacht zuvor ja schon als Kammer benutzt, aber zögerlich, da sie nicht genau wusste, was ihr Teil, Cunos Teil
oder der Teil von Gernot und Ada war. Jetzt war es ihre Kammer! Sie
fielen sich wieder in die Arme und ihre Küsse dauerten zumindest länger
als im Arsenal. Cuno löste vorsichtig das Diadem aus ihrem Haar und
öffnete die Flechten, so dass die offenen Haare wie ein Mantel über ihre
Schulter fielen. Dann war das Samtband an der Reihe. Aber bevor er
weiter machen konnte, löste sie die Verschnürung seines Wamses und
murmelte: „Gut, dass du das ganze Eisen nur heute Morgen getragen
hast – so wie du schwitzt, würdest du auf der Stelle verrosten!“ Er
küsste ihren frechen Mund und flüsterte ihr ins Ohr: „Mal sehen, ob dir
auch irgendwo heiß ist!“und versuchte, ihr Kleid zu öffnen. Sie half ihm,
in dem sie den runden Ausschnitt einfach über ihre Brüste nach unten
schob und stand halbnackt vor ihm. Er betrachtete sie, ihre Hände in
seinen, dann hob er sie auf und trat mit ihr vor eine der Wände der
Kemenate, schob mit dem Fuß den Wandteppich beiseite, der als Verkleidung des Mauerwerks dort hing und öffnete mit einem Schubser des
Knies die dahinter verborgene Tür: „Ich habe dir doch versprochen, dass
ich dir, wo immer wir sind, dein Bad baue – hier ist es!“ und trug sie
über die Schwelle. Es war in das östliche Ende der Kemenate eingebaut,
mit glatten, teils bemalten Ziegeln an den Wänden, einem Becken, das
mehr als genug Platz für zwei bot und einem großen Fenster, durch das
man, weil es mit kleinen runden Glasscheiben ausgefüllt war, über die
Burgmauern hinweg auf den Birkenkopf schauen konnte, der von den
letzten Sonnenstrahlen erleuchtet wurde. „Cuno“ hauchte sie und hielt
sich an ihm fest. Erst dann bemerkte sie, dass dampfendes Wasser im
Becken war, glitt auf die Füße, ließ das Brautkleid ganz zu Boden sinken,
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hob es allerdings wieder auf und legte es auf einen Schemel, stieg ins
Wasser und sagte leise: „Komm!“ Cuno entledigte sich der Schuhe, der
Beinkleider und des Hemdes und stieg zu ihr. Sie hielten sich, erforschten ihre Körper, und als das Wasser anfing, kühler zu werden, griff Cuno
nach einer Handschelle, die am Beckenrand stand, läutete und freute
sich, dass durch das Rohr an der Seite heißes Wasser ins Becken floss.
Er nahm den Schwamm, ein Geschenk Adas, und fuhr mit ihm über ihren ganzen Körper, bevor er sich den Schwamm nehmen ließ und selbst
eingeschäumt wurde. Dann hielt sie nichts mehr, er hob sie wieder auf
seine Arme, trug sie in die Kemenate, wo er sie mit einem warmen, weichen Tuch abrieb, sich selbst flüchtig trocknete, und dann war es an der
Zeit, all das, was er mit und durch Anja gelernt hatte, „seiner Ehegemahlin“ beizubringen. Es war eine lange, zärtliche und erfüllte Nacht,
und als die letzten Feiernden aus der Halle in ihre Zelte zogen, flatterte
vor der Schießscharte des der Kemenate am nächsten gelegenen Turms
das weiße Laken mit dem Blutfleck, das die vollzogene Hochzeit und die
Jungfräulichkeit der Braut bezeugen musste, wie es der Brauch wollte.
Steigerthal, Herbst 1321
Der gestaute Leimbach hatte zu wenig Gefälle, um die schweren Mühlsteine zu bewegen, die in der Gesteinsmühle ihre Arbeit tun sollten.
Waren die ganze Mühe und die ganzen Kosten umsonst gewesen? Franz
saß stundenlang am Mühlrad und am Mahlwerk, verschob hier etwas,
verschob dort etwas – die Steine rührten sich kaum. „Verdammt, hätten
wir hier doch einen Bach wie die Jihlavka, der täte die Platten bewegen!“ fluchte Franz. Er lief zurück zur Burg und suchte nach Cuno. Er
fand ihn, verträumt auf einer Bank im Lichthof sitzend. „Cuno, sitz hier
nicht so rum und träum‘ nicht deinen Nächten nach – ich kriege die Gesteinsmühle nicht zum Laufen, und die Hauer schaffen wie in Staré Hory
nicht, das gebrochene Gestein so weit zu zerkleinern, dass man es in die
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Öfen bringen kann – vielleicht hast selbst du mit deinen rosaroten Augen gesehen, dass der Haufen mit unbearbeitetem Gestein langsam ein
Berg wird!“ Cuno hatte tatsächlich die letzte Nacht nochmal nacherlebt.
Salwa war nicht nur wunderschön, sie war auch eine Frau, die das Ihre
verlangte, in ihren Rechten, ihren Mitwirkungsmöglichkeiten, aber auch
in der Liebe. Und er war jetzt schon sehr sicher, dass es der Unterschied
war, den er vorher nicht begriffen hatte: Er hatte Anja sehr gern, und
ihren gemeinsamen Sohn noch mehr, und bis zum Sommer hatte er sie
oft und immer wieder begehrt, aber sie war es, die zu ihm gekommen
war, ihm bereitwillig beigelegen und voller Freude das Kind getragen
hatte; Salwa musste er sich jedes Mal erkämpfen, sie war eine Persönlichkeit, deren Stärke er vorher nur in ihren – für eine junge adelige Frau
– recht selbstbewussten Reden gespürt hatte; aber sie war auch die
Frau, die ihn faszinierte, deren Ungezwungenheit ihn begeisterte und
deren Hingabe ihn immer wieder positiv erschütterte; er konnte sich
nach diesen wenigen Monaten schon gar nicht mehr vorstellen, wie sein
Leben ohne sie gewesen war; er wusste, dass er nie ohne sie sein wollte.
Er ahnte es nicht nur, sondern sie sagte es ihm auch in ihrer direkten
Art, dass es für sie genauso war.
Doch Franz hatte ihn aus seinen Träumen gerissen und nun galt es wieder, sich der Welt zu stellen. „Lass uns überlegen, Franz, was wir tun
können: Der Bach ist zu schwach, ihn noch weiter oben stauen, würde
viel Arbeit machen, und ob es klappen würde, wüsste man auch nicht…“
„Honem, Váží točí!“ Der Schrei durch das Burgtor schreckte beide auf.
Es war Anja gewesen, die sofort wieder weggerannt war. Franz und
Cuno sprangen auf und liefen hinter ihr her. „Habe ich das richtig verstanden, dass Váží durchdreht?“ Franz hatte in den Monaten in Jihlava
durchaus etwas Tschechisch gelernt, und nachdem er der alten Agnes
geholfen hatte, das Dach ihrer Hütte im Wald jenseits des Dorfes zu reparieren – dafür würde sie umsonst die Hebamme machen, wenn es bei
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Berta soweit wäre – hatte er auch von ihr noch einiges dazugelernt.
„Ja“, war die kurze Antwort Cunos. Als sie über die Torbrücke auf die
Wiese kamen, die noch vor gar nicht langer Zeit als Festwiese gedient
hatte, sahen sie sofort, was Anja meinte: Der Hengst drehte sich im
Kreis und versuchte, nach seinen eigenen Hinterbeinen zu schnappen
und wieherte dabei verzweifelt. Wolf, der sich mitdrehte, musste immer wieder den Bissen Vážís ausweichen, aber auch er versuchte, an
das linke Hinterbein heranzukommen. Die beiden Männer näherten
sich dem Pferd vorsichtig, während Anja den laut heulenden Wenzel
aus dem improvisierten Laufstall, der aus übereinadergeschichteten, im
Kreis gelegten Getreidesäcken bestand, heraushob und tröstend auf
den Arm nahm. Dann erkannte Franz, was passiert war: Váží war oft bei
ihm am Leimbach gewesen, teils, weil er mit ihm hin geritten war, teils,
weil Cuno oder einer der Knechte ihn mit Werkzeug, Holz oder auch nur
Essen und Trinken dorthin geschickt hatte. Und da Franz wusste, was in
dem seichten Gewässer lauerte, sah er auch, was für die anderen kaum
sichtbar war: Mindestens 10 Blutegel hatten sich an Vážís linkem
Sprunggelenk festgesaugt und waren unterdessen dick wie Männerfäuste. Franz zeigte Cuno, was er sehen konnte, und der pfiff Wolf und
hieß ihn hinlegen, dann ging er vorsichtig auf Váží zu, streckte eine Hand
aus, um ihm über die Nüstern zu streichen, dann über den Hals, und bei
jeder Drehung des Hengstes näherte er sich ihm weiter, bis er ihn um
den Hals fassen und mit der Linken beruhigend über Ohren, Nüstern
und Mähne streichen konnte. Das Pferd verlangsamte seine Drehbewegung und blieb schließlich zitternd stehen. „Was kann man gegen die
Viecher tun?“ „Man muss sie einzeln abdrehen, das ist ein ziemlich
schmerzhaftes Geschäft für Váží, weil sie schon so groß sind.“ Anja lief
herbei, drückte Wenzel in die Arme des Zimmermanns und kam zu Cuno
und dem Pferd. „Sei vorsichtig“ mahnte der Ritter. „Ja, ja, bin ich schon,
aber wenn ich ihn nicht von den Schmerzen befreien kann, traut er mir
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nie mehr!“ Sie kniete neben den Hinterhufen, nahm den linken Huf auf
ihren Oberschenkel, sprach beruhigend auf das Tier ein und löste mit
einer Umdrehung der Hand den ersten Egel, ohne dass Váží mehr
machte als ein kleines Zucken. Als sie nach einigen Minuten alle Egel
entfernt hatte, strich sie dem Hengst über das Bein und hörte erst auf
zu murmeln, als er sich sichtlich beruhigt hatte. „Kannst Du ihn noch
kurz halten?“ und lief zum Burgtor, an dem, wie alle wussten, Spitzwegerich wuchs. Sie riss eine Handvoll Blätter ab, zerrieb sie mit Hilfe von
etwas Speichel zwischen den Handflächen und kam wieder ganz vorsichtig auf das Tier zu, kniete sich wieder hin und verrieb den Blätterbrei
auf dem Gelenk des Pferdes. Dann richtete sie sich auf, trat an der anderen Seite an Vážís Kopf und streichelte ihn ebenfalls, wobei sie immer
wieder, gewollt oder ungewollt, auch über Cunos Hände fuhr. „Ich
glaube, jetzt kannst du ihn loslassen!“ Cuno ließ los, trat zurück und sah,
wie der Hengst sich beruhigt an Anja schmiegte. Dem Ritter wurde bewusst, dass er schon lange nicht mal mehr mit Anja gesprochen hatte,
ab und zu hatte er mit Wenzel gespielt, aber als er jetzt die junge Frau
in Männerkleidern vor sich stehen sah, merkte er, dass der Faden zu ihr
und ihrem Leben abzureißen drohte. Er wusste von seinem Vater, dass
Anja sich lange mit dem Weißen Boris beraten hatte, bevor der mit den
Böhmen zurück nach Jihlava ging. Aber da die beiden tschechisch sprachen und der alte Gernot nicht neugierig erscheinen wollte, hatte er
Anja nicht befragt, worum es denn gegangen sei. In dem halben Jahr,
das seit der Hochzeit vergangen war, hatte er die Gestütin wohl hin und
wieder gesehen und hatte auch mitbekommen, dass sie Männerkleider
trug, weil das praktischer bei der Arbeit mit den Pferden sei. Mehr
wusste er nicht, und bis zu ihrem Hilferuf vorhin war sie ihm auch ziemlich aus dem Sinn gekommen. Dieses halbe Jahr war für ihn schwierig
gewesen, ganz allein verantwortlich für Burg, Berg und Dorf, mit all den
Änderungen, die sich aus dem verstärkten Graben nach Silber ergaben,
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mit der Eingewöhnung als Herr der Menschen in seinem Lehen, mit Gerichthalten, Steuer einziehen und für den Winter vorsorgen. Und auch
das Leben mit Salwa war nicht nur ungetrübte Freude – sie waren oft
nicht einer Meinung, und die Kompromisse, die sie schließen mussten,
brauchten Zeit und machten Mühe. Aber sie hatten nie gestritten, und
die gemeinsamen Nächte waren immer ein gutes Pflaster gewesen.
Wann immer er nachts nicht auf Burg Steigerthal war, spürte er das Fehlen Salwas wie einen körperlichen Schmerz. Und diese Nächte wurden
häufiger, sei es, dass er nach Erfurt musste oder Einladungen auf andere
Burgen nicht abschlagen konnte, sei es dass er sich den Köhlern und den
Bauern, die Steigertahl mit Getreide und Fleisch versorgten, als Herr
und Kaufmann zeigen musste.
„Wir sollten mal wieder miteinander reden.“ „Nein, Cuno, das hat Zeit.
Ich möchte erst mein neues Leben im Gestüt eingerichtet und Wenzel
so weit haben, dass er auch mal alleine klar kommt – ich weiß, dass es
dir gut geht; mir geht es gerade gut, so wie es ist; der Winter wird uns
Zeit genug zum Reden geben.“
Damit wandte sie sich ab und führte Váží zurück zu den Stallungen. Etwas betroffen schaute ihr Cuno nach, aber sie hatte wohl recht, und als
Franz zurück kam, der Wenzel und Wolf auch dorthin gebracht hatte,
befassten sie sich wieder mit der Mühle. „Wie gesagt, der Leimbach ist
zu schwach. Was hältst du davon, wenn wir doch das Gestein mit Ochsen mahlen, so wie wir das Hebewerk nutzen? Die Gesteinsmühle
könnte dann ganz in der Nähe des Schachtes gebaut werden, so dass sie
auch für den zweiten Schacht genutzt werden kann, den du mit dem
Schwarzen Boris ja schon markiert hast.“ „Aber die Kosten werden
nochmal riesig sein!“ „Schon, aber das Teuerste sind die Mahlsteine,
weil wir die nicht selbst bauen können – und da können wir doch die
nehmen, die drüben am Bach liegen und zu schwer sind für das Wässer-
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chen.“ „Und dann die Wassermühle etwas umbauen und unser Getreide selber mahlen – wie bei Boleslav – ein guter Einfall, du kriegst das
Geld dafür!“ Die beiden, die in der Abgeschiedenheit Steigerthals
Freunde geworden waren, auch wenn der Standesunterschied das woanders verhindert hätte, schlugen ein. Für beide war es eine Lösung, die
ihnen Raum für Träume bot: Cuno konnte dann endlich so viel Silber
ausschmelzen, wie sein Vater es in Erfurt benötigte, und hatte wieder
mehr Zeit für sich – und für Salwa; Franz konnte mit dem Lohn, der großzügig bezahlt wurde, für sich und seine Berta, die er noch vor der Geburt
des Töchterchens Franziska geheiratet hatte, sein Haus fertigstellen. Er
hatte von Cuno ein Grundstück am Leimbach erbeten, oberhalb der
Stelle, an der er den Mühlgraben gebaut hatte, und dort angefangen,
seine Werkstatt zu bauen. Darüber wollte er viel Platz für die Familie Franziska sollte kein Einzelkind bleiben!
Franz schickte seinen Helfer, dass er in den Wäldern von Steigerthal und
Stampeda nach Eichen suchen solle, die ein zweites Getriebe wie das
für das Hebewerk verkraften könnten, ließ die schweren Mahlsteine an
den Rand des Schachts schaffen und baute, begeistert wie ein Kind, die
ehemalige Gesteinsmühle in eine schnell und sauber arbeitende Getreidemühle um; dafür reichte die Kraft des Mühlbachs. Und immer wieder
kam ein Stückchen seines Heimes dazu!
Cuno war auf die Burg zurückgekehrt und war wie immer beglückt darüber, dass alles sauber war, Mägde und Knechte fröhlich ihre Arbeit taten und es an nichts zu fehlen schien. Als er schließlich Salwa in der Küche fand, schloss er sie von hinten in seine Arme und fragte: „Braucht
dich in diesem perfekt organisierten Haushalt heute Nachmittag irgend
jemand außer mir?“ „Ja, nein, wieso?“ „Ich möchte endlich mal wieder
mit dir hinaus, die Sonne brennt vom Himmel, vielleicht das letzte Mal
dieses Jahr - hast du Lust?“ Sie schaute umher und alle, die in der Küche
waren und die Frage gehört hatten, nickten heiter! „Gern! Und ich
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möchte meine neue Stute reiten!“ „Zu Befehl, Herrin!“ äußerte er mit
einer Verbeugung und lief hinüber zu den Stallungen, um Váží und die
Stute satteln zu lassen. Ein paar Minuten später stand er mit beiden
Pferden vor der Tür der Halle, befestigte den Korb, den Salwa mitgebracht hatte, an seinem Sattel und half ihr in den ihren. Sie ritt im Damensitz, die züchtig mit dem Rock bedeckten Beine auf der linken Seite
der Stute, die Zügel in beiden Händen. „Ich will auch Reiten wie ihr Männer, das ist viel bequemer. Man muss sich nicht ständig verdrehen und
sieht, wo man hin reitet. Und sag nicht, dass Frauen so nicht reiten
könnten oder sollten – Anja tut es ja auch!“ „Wenn ich lange reite, tun
mir die Oberschenkel weh, und das dazwischen so manches Mal auch
– willst du das?“ Er hätte die Frage zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt
stellen können. Salwa stoppte die Stute, glitt aus dem Sattel und stellte
sich an die Seite des auch gezügelten Váží: „Steig ab und mach mir Platz
– wir sind in einem völlig menschenleeren Wald, vielleicht streunt irgendwo ein Köhlerkind herum, aber mich sieht hier keiner!“ Cuno glitt
verdutzt auf der anderen Seite des Hengstes herunter und war erstaunt,
wie schnell Salwa den Fuß im Steigbügel hatte und im Sattel saß, während ihr Rock auf die Oberschenkel rutschte. Sie stieg mit dem rechten
Fuß in den anderen Steigbügel und gab dann dem überraschten Pferd
die Fersen, so dass es im Galopp davon stob. Cuno blieb nichts anderes
übrig, als sich hinter dem Damensattel auf den Rücken der Stute zu
zwängen und hinter ihr her zu reiten. Es dauerte eine ganze Weile, bis
Salwa die Zügel anzog, Váží im Schritt laufen ließ und wartete, bis ihr
Gatte sie eingeholt hatte. „Das macht viel mehr Spaß – aber ich brauche
auch Hosen!“. An einer Wiese hielt sie an, stieg ab, nahm den Korb vom
Sattelgehänge und ging zu einem Plätzchen unter einer Birke, kniete
sich hin, öffnete den Korb und nahm eine Decke, einen Krug, zwei Becher und zwei gegrillte Wachteln heraus, breitete die Decke aus, setzte
sich und öffnete einladend ihre Arme. Cuno, immer noch verunsichert,
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glitt ebenfalls auf den Boden, schritt zu ihr hin, kniete sich vor sie und
öffnete auch seine Arme. Al sie sich an ihn schmiegte, flüsterte sie: „ Ich
brauche wirklich eine Hose, ohne die ist es noch schmerzhafter, als du
gesagt hast“, und führte seine Hand an ihren Schritt. Cuno fühlte die
durch die Reibung des Sattels entstandene Hitze und liebkoste Salwa
vorsichtig. „Oh ja, das vertreibt den Schmerz!“ und zog ihn über sich.
Als sie die Welt um sich herum wieder wahrnahmen, sahen sie dass Váží
und die Stute nichts anderes taten als sie beide vorher und brachen
beide in Lachen aus. „Findest du nicht auch, dass die beiden so gut zueinander passen wie wir? Ich nenne die Stute einfach Vážá und dann ist
alles allen klar, oder?“ „Aber natürlich, Cuna!“ Sie warf ihn auf den Rücken und setzte sich auf seinen Brustkorb: „Wehe, du schmeißt mich
runter wie all die Ritter im Turnier, wenn sie frech werden!“„Tue ich
nicht, die haben auch nicht so schöne Brüste wie du“ und liebkoste sie
mit den Lippen. Ein ganz kleines Seufzen entrang sich ihr, sie legte sich
aber vorsichtig neben ihn, „Reiten und nochmal – das geht nicht“ war
das Einzige, was er verstand und schloss Mund mit Mund. Dann: „Vážá
ist rossig, zweimal im Jahr und wir warten auf Fohlen. Wir sind immer
rossig - meinst du, dass ich irgendwann einmal schwanger werde, oder
bin ich krank? Ich habe die alte Agnes gefragt, und die hat mich untersucht; sie behauptet, es sei alles in Ordnung. Dass du Vater werden
kannst, wissen wir, dann kann es doch nur mein Fluch sein…“ Er küsste
sie an viel mehr Stellen, als nötig, bevor er antwortete: „Ich finde es
schön, wenn du erst noch ein bisschen so bleibst, wie du bist – sicher
bist du auch als Mutter schön, aber das ist doch nicht so eilig.“ „Gut,
dann werde ich mich vernünftig benehmen“, setzte sich auf, öffnete
den Krug, schenkte jedem einen Becher roten Weins ein und griff nach
einer Wachtel.
Als auch er an seiner Wachtel nagte, fragte sie unvermittelt: „Fehlt dir
Anja manchmal?“ Er fühlte sich wie ertappt, hatte er doch am Morgen
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genau das überlegt, als diese ihn wegen Váží um Hilfe gerufen hatte:
„Ich habe ein richtig schlechtes Gewissen, dass ich mich so lange überhaupt nicht um sie gekümmert habe – um Wenzel schon. Aber sie ist
Teil eines Lebens, das hinter mir liegt. Ich mag sie sehr. Eine andere begehren, wenn du in der Nähe bist, ist für mich unmöglich. Wenzel ist
mein Kind. Und Anja scheint mit ihrem Leben als Gestütin völlig zufrieden. Nein, mein Herz, sie fehlt mir nicht!“ Sie nahm es mit einem glücklichen, zufriedenen Lächeln zur Kenntnis und zog sich Rock und Mieder
wieder über. „Mir wird kalt - reiten wir heim? Und ich bin auch ganz
brav und reite auf Vážá wie sich das für eine Frau gehört…“
Aus den Annalen des Hauses der Přemisliden, Anno domini 1321:
Elisabeth, die jüngere Schwester Wenzels III, des letzten Königs
der Böhmen aus dem Hause der Přemisliden, lebte mit ihrem Gemahl, Johann von Luxemburg, seit Jahren in Unfrieden. Sie hatte
ihm schon im ersten Ehejahr nach gebührlich verbrachter Zeit am
Tag des Heiligen Bonifazeinen Sohn und Thronfolger geschenkt,
der der Tradition gemäß Wenzel getauft wurde. Doch Johann, oder wie die Tschechen sagten, Jan, ehrte sie deswegen nicht, sondern ging seinen Geschäften nach und beachtete die Erbin des Königreichs nicht. Die meiste Zeit verbrachte er auch im Jahr des
Herrn 1321 am Hof seines Schwagers, des Königs Karl, genannt
‚der Schöne‘, in Paris und versuchte, seinen Besitz zu vergrößern,
indem er Krieg führen ließ gegen die wittelsbachischen Bayern,
die habsburgischen Österreicher und die wettinischen Sachsen
und Thüringer. Er hurte und soff und ließ das Reich der Přemisliden verfallen. Immer nur in den Wochen vor dem Fest zur Geburt des Herrn kehrte er nach Praha zurück, wo er Steuern nahm,
Unrecht sprach, Bürger verfolgte, den Handel behinderte und einige Männer zu Rittern schlug, die ihn dafür bezahlen mussten.
So war es seit der Geburt des Thronfolgers immer gewesen. Als
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er sich im Jahr des Herrn 1321 wieder nach Praha begab, befahl er
seinen Knechten, sie sollten vorsorglich die Königin Elisabeth und
den Knaben Wenzel festsetzen, da er beabsichtigte, sie im neuen
Jahr nach Paris mit zu nehmen, um die Kosten des Hofs in Prag
zu verringern. Eine treue Magd verriet der Königin den Plan. Sie
nahm Wenzel, ihren Schmuck und die nötigste Kleidung mit und
flüchtete mit einem Pferdeschlitten, den einige Getreue lenkten
und begleiteten, nach Pisek, wo sie sich unter den Schutz des
Burggrafen Heinrich stellte. Der allerdings war König Johann untertan und der Schutz, den er der Königin geben konnte, war zugleich Hochverrat am König. Deswegen sannen Graf Heinrich,
seine Gemahlin Ermingilde und die Königin auf einen Ausweg:
Heinrich pflegte seit Jahren einen engen Kontakt zu Thüringen,
besonders zu einem Rittergeschlecht, in das auch seine Patentochter eingeheiratet hatte. Dieses Geschlecht schickte einige Male im
Jahr Ritter nach Pisek, die dort ihren Dienst leisteten; dafür gingen
böhmische, vor allem tschechische Ritter nach Thüringen, um die
Art und Weise, wie dort Herrschaft und Wirtschaft betrieben
wurden, kennen zu lernen. Was ihnen an Wissen brauchbar erschien, brachten sie nach Böhmen und verbesserten die Lage im
Königreich. Just bei der Ankunft der Königin war eine große
Gruppe Ritter bereit, nach Thüringen zu ziehen. Heinrich besprach sich mit den Anführern der Ritter, Gernot von Steigertahl
und Tibor von Sázava. Man kam überein, dass sich die Königin
außerhalb Piseks mit ihrem Schlitten und ihren Getreuen dem Ritterzug anschließen solle. So wurde verhindert, dass es viele Mitwisser gab.
Für die Ritter, die die Königin alle nicht von Angesicht zu Angesicht kannten, war Elisabeth eine Verwandte des Grafen, die die
junge Rittersfrau in Steigerthal besuchen wolle und sich gern dem
Schutz der ehrenwerten Ritter anvertraue.
So gelangte die Königin von Böhmen noch zum Fest der Geburt
des Herrn nach Thüringen, wo sie auf der Burg des Ritters von
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Steigerthal feierlich willkommen geheißen wurde. Sie war nun
Gast und von der Ritterehre vor Verfolgungen geschützt. Prinz
Wenzel, der sich mit dem Ritter schon anlässlich dessen feierlichem Ritterschlag angefreundet hatte, war den Fängen seines unwürdigen Vaters entzogen und verbrachte mit seiner Mutter den
Winter auf der besagten Burg, deren Lage keinem der böhmischen Ritter bekannt war, außer den beiden Führern – war der
eine doch hier zu Hause und der andere schon oft Gast gewesen.
König Jan bemerkte das Fehlen seiner Gemahlin und des Thronfolgers erst, als bei der Christmette die beiden Plätze neben ihm
leer blieben. Ohnmächtig tobend kehrte er bald nach Paris zurück
und schwur, den Prinzen nie mehr aus den Augen zu lassen,
wenn er seiner habhaft würde.
Steigerthal, Spätwinter 1322
Salwa stand am Fenster der Wachstube über der Zugbrücke; das Feuer
im Kamin brannte lichterloh, aber die meiste Wärme zog durch die
Fensteröffnung hinaus. Trotzdem war die Rittersfrau in den letzten Wochen gern hier oben und schaute auf das Dorf hinab. Nasser Schnee
hatte das Land eingehüllt; auf den Wegen, den Straßen war er matschig
geworden; nur im Burghof und vor allem im Lichthof hatte sie die
Mägde den Schnee wegkehren lassen, damit die tauende Feuchtigkeit
nicht in die Mauern sickern konnte.
Hinter ihr im Palas tobte der königliche Wenzel mit Cuno herum; seine
Hoheit beliebten, den Ritter als Pferd zu benutzen. Königin Elisabeth
saß wohl wie immer mit einem von Enttäuschung und Unglück geprägten Gesichtsausdruck dabei, ohne sich einbeziehen zu lassen: sie hatte
diesen Johann von Luxemburg nie heiraten wollen, sondern, als
Schwester des Königs recht frei in der Wahl ihres Gatten, galt ihre Aufmerksamkeit einen böhmischen Edlen aus der Nähe von Pisek. Aber mit
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dem Tod König Wenzels durfte sie aus dynastischen Gründen nicht den
Auserwählten heiraten, sondern musste als Mittel des Machterhalts
herhalten. Die Přemisliden glaubten, dass sie Böhmen mehr nutzen
könne, wenn sie den Herzog von Luxemburg heiraten würde; dessen
Ländereien waren überschaubar, so dass er sich wohl eher um Böhmen
kümmern würde als der andere Fürst, der um die Hand Elisabeths angehalten hatte, der bayrische Wittelsbacher Ludwig, der jetzt König war
und Kaiser werden wollte. Der war zwar schon verheiratet, aber er
glaubte, den Papst erfolgreich um die Scheidung bitten zu können – behauptete man doch nach der Eheschließung, dass die Frau nicht jungfräulich gewesen sei. Würde Elisabeth den Bayern heiraten, würde Ludwig Böhmen und Mähren mit Bayern verschmelzen. Damit gäbe es kein
unabhängiges Königreich mehr. Also wurde die Prinzessin gezwungen,
diesen Johann, Jan, Jean von Luxemburg zu heiraten, der nicht sie, aber
Böhmen wollte. Er hatte sie, ziemlich trunken, in der Hochzeitsnacht
unter Schmerzen, Furcht und Widerwillen zur Frau gemacht, das befleckte Tuch stolz geschwenkt und sie immer nur dann wieder berührt,
wenn er im Advent betrunken in Prag war. Das Kind dieser Nacht hatte
den Luxemburger nur insoweit interessiert, als er fast ein Jahr später
wieder in Prag aufkreuzte, dass er nach einem Blick auf die Geschlechtsmerkmale wusste: ein standesgemäßer Erbe der luxemburger, böhmischen und mährischen Lande war vorhanden; ein zweiter und dritter
Sohn, Ottokar und Johann, wurden unter ähnlichen Umständen gezeugt. Ansonsten widmete sich der König von Böhmen weiterhin seinen
zweifelhaften Vergnügungen, meist bezahlt mit böhmischem Silber.
Salwa musste beim Blick auf das Gesicht der Königin immer wieder daran denken, wie sie sich gegen Georg von Hellenburg als Ehemann gewehrt hatte – natürlich war es leichter gewesen, als edle, aber unbedeutende Dame, sich zu wehren, aber trotzdem!
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Der Spätwinter, in den der richtige Winter nach dem Fest der Geburt
des Herrn auszuarten pflegte, war eine Zeit, der Nässe, Kälte, des Mangels und der Langeweile; in Pisek kannte sie das, in Steigerthal war es
offensichtlich ganz genauso. Und die häusliche, der Familie gegebene
Zeit, die so häufig in Geburten im Herbst ihr Ergebnis fand, konnte sie
mit Cuno nicht genießen, weil diese griesgrämige Königin nicht nur ihr
Kind bei Cuno ablud, sondern auch noch den einzigen wirklich angenehmen Raum der Burg in Anspruch nahm. Der alte Gernot hatte schon vor
Jahrzehnten, bevor er Ada als Frau heimführte, die Kemenate mit dicken Teppichen an den Wänden und auf dem Fußboden gegen die Kälte
geschützt und die Fenster statt mit Brettern mit bleigefasstem Glas verschlossen, so dass man auch tagsüber Licht ohne Kälte hatte. Eine
große, offene Feuerstelle gab Wärme und diente auch zum Erhitzen des
Wassers für das hinter der Kemenate liegende Bad. Als Salwa und Cuno
in das ehemalige Zimmer der Knaben umziehen mussten, hatte Cuno
sofort Glas bestellt, aber da die örtlichen Handwerker das nicht herstellen konnten, waren erst wenige Butzen – die runden Scheiben, zu denen
man Glas schmelzen konnte – angekommen. Ihr eheliches Zimmer glich
einer kalten, nicht heizbaren Höhle! Der wärmende Bär in dieser Höhle
war abends oft so müde, dass er nur noch wärmte, sonst nichts. Die
Arbeiten an der Gesteinsmühle und das Niederbringen des zweiten
Schachts nahmen viel von seiner Zeit und Kraft in Anspruch. Beides
sollte aber bis zum Frühjahr fertig sein, so dass die zusätzlichen Bergleute, die zu schicken Juri versprochen hatte, Arbeit hätten. Und war er
dann auf der Burg, war der kleine Wenzel hinter ihm her und wollte mit
ihm spielen. Oft schaute Salwa still lächelnd dem Spiel der beiden zu,
denn so wie Cuno sich verhielt, würde er einen guten Vater abgeben,
aber es gab ihr jedes Mal auch wieder einen Stich, dass sie noch nicht
die Mutter war.
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Manchmal ertappte sie sich sogar dabei, dass sie Anja, die Gestütin, beneidete: die hatte ihr eigenes Reich in den Stallungen an der Burgmauer, der Junge war prächtig gediehen und hatte Wolf als gutmütigen
und wachsamen Spielgefährten; manchmal wusste die Mutter nur, wo
der kleine Kerl war, wenn Wolf kurz heulte. Denn sie war sehr beschäftigt: Váží hatte nicht nur Salwas Stute geschwängert, die im Sommer ihr
Fohlen bekommen würde, sondern auch zwei andere Stuten, die ihre
Fohlen schon geworfen hatten. Alle galt es zu pflegen, ausreichend zu
bewegen und im langen Winter vor all zu viel Kälte und Nässe zu schützen. Und dabei redete ihr keiner hinein. Allen war klar, dass Anja besser
wusste als die anderen, was mit den Pferden zu tun sei und dass sie eine
Sonderstellung im Haushalt einnahm. Wenn die kleine Zucht dann auch
noch erfolgreich sein würde, wäre Anja die unangefochtene Herrin der
Stallungen.
Salwa war des Grübelns überdrüssig und wollte sich gerade vom Fenster abwenden, als der wachhabende Knecht mit einem leisen Ausruf auf
einen dunklen Punkt wies, der sich durch den Schnee zielstrebig auf das
Dorf zu bewegte. „Von uns ist heute noch keiner nach draußen geritten,
oder? Wer kann das sein?“ Sein fragender Blick ging zur jungen Herrin.
Die zuckte nur mit den Schultern, blieb aber noch am Fenster, bis genauer zu sehen war, dass sich ein leicht Gerüsteter den Weg durch den
Schnee bahnte, bis er die gepflasterte Straße zur Burg erreichte und hinaufgaloppierte.
Am Tor angekommen, erklang das „Wettin“ von einer vertrauten
Stimme, und als die Wache mit „turingia semper“ antwortete, war
Salwa schon auf dem Weg zur Zugbrücke: „Willkommen zu Hause, Gernot!“ rief sie dem Reiter entgegen. Der glitt vom Pferd und nahm seine
junge, schöne Schwägerin in die Arme. „Lass‘ Anja rufen, sie soll nach
dem Pferd schauen, ich habe es ganz schön gequält, bis ich hier war.“
Salwa schickte den Wachposten die Gestütin holen und wartete mit
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Gernot, bis diese das Ross in Empfang genommen hatte. Dann geleitete
der Ritter Salwa den ihm wohl bekannten Weg zur Halle. „Frag nicht,
lass uns warten, bis Cuno auch da ist! Wie geht es bei euch? Bist du froh
über den hohen Besuch, den ihr seit Wochen habt?“ Dabei hatte er
Salwa angeschaut und brach in Lachen aus: „Danke, keine Antwort nötig! Wie geht es euch sonst?“ Damit hatte sie die Halle erreicht und die
von der Feuchtigkeit quietschende Tür geöffnet. Die wenigen Mägde
schauten auf, lächelten und begrüßten ihn freundlich. „Habt ihr noch
was von Vaters gutem lothringischen Wein?“ Eine der Mägde knickste
und eilte in die Küche, von wo sie mit einem vollen Krug, Bechern und
einem frischen Brot zurückkam. Sie ließen sich an der hohen Tafel nieder, Salwa schenkte Gernot ein, und nach einem wohligen „Ah!“ füllte
sie den Becher nochmals nach.
Die Wache hatte unterdessen einen anderen Knecht beauftragt Cuno
zu suchen, und der steckte, dreckig wie ein Bergmann eben ist, den Kopf
durch die Tür: „Bin sofort bei euch, wasche mir nur schnell die Hände!“.
Als er dann eintrat, war ganz offensichtlich auch das Gesicht gewaschen
worden. „Bruderherz, schön, dich zu sehen!“ Die beiden umarmten
sich, und als sie dann wieder an der Tafel saßen, ging der Blick des Älteren von Cuno zu Salwa und von Salwa zu Cuno. „Wenn ich euch so sehe,
dann wäret ihr nicht wirklich böse, wenn ihr wieder in eurer Burg zu
Hause wäret, oder? Also: ich komme direkt aus dem Lager König Ludwigs, der zwar unterdessen geschieden und mit der Erbin von Tirol verheiratet ist, und ansonsten ein guter Kerl, aber dass ihm Böhmen durch
die Lappen gegangen ist, ärgert ihn doch noch sehr. Und als man ihm
vor Wochen zutrug, dass die böhmische Königin samt Thronerbe verschwunden ist, hat ihn das königlich erfreut. Und genauso königlich geärgert hat er sich, als bekannt wurde, dass Johann von Luxemburg herausbekommen hat, wo die beiden stecken. Ihr könnt euch vorstellen,
dass der König, bald der Kaiser, das Grinsen nicht unterdrücken konnte,
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als klar wurde, dass ihr sie vor dem Luxemburger versteckt. Und deswegen hat er mich hierher geschickt, dass ich die beiden mitnehme und
über Erfurt nach Ziegelhütte am Main bringe, da kann ich sie schnell in
jede Richtung bewegen und damit ihr reinen Gewissens sagen könnt,
Elisabeth und Wenzel seien nicht unter eurem Dach, auch wenn sie kurz
hier Rast gemacht hätten! Johann hat nämlich in der Tat vor zwei Wochen eine ganze Schar böhmischer Ritter von Eger aus in Marsch gesetzt, damit sie euch zwingen, die beiden herauszugeben, widrigenfalls
sie die Burg einäschern sollen.“
Das war eine gute und eine schlechte Nachricht: gut, weil sie dem jungen Paar seine Zweisamkeit zurückgeben würde, schlecht, weil dem
Lehen Steigerthal massive Gefahr drohte. Gernot, der ja schon seit seiner Abreise vom Hof das Problem kannte, hatte sich aber erste Lösungsansätze ausgedacht: „Als erstes müsst ihr alles Silber, das in der Burg
liegt, sofort nach Erfurt schaffen lassen – ist es für euch in Ordnung,
wenn ich dabei das Kommando übernehme?“ Beide nickten. „Dann
müsst ihr die Stallungen an der Burgmauer zerstören, die sind zu verwundbar – besser abbrechen als abbrennen, natürlich müssen die
Pferde vorher weg. Cuonrad von Hohnstein hat im gleichen Moment
Besuch von Walter, ich denke, dass der noch heute oder morgen
kommt, um die Tiere und alles weitere Wertvolle nach Hohnstein zu holen, selbst die Kemenatenfenster und den guten Wein, so war es abgemacht. Und wenn dann die Ritter kommen, lasst ihr sie einfach die Burg
durchsuchen – sie werden nichts finden, und da der Anführer ein alter
Bekannter ist, wird auch nichts Gesetzwidriges geschehen!“ „Wer ist
es?“ „Tibor von Sázava!“ „Johann muss von Sinnen sein, meinen Knappenbruder zum Befehlshaber eines Ritterheeres zu machen, das mich
ausräuchern soll!“ „Du sagst es!“
Am nächsten Morgen hatte die Königin alles Notwendige und vor allem
alles Persönliche zusammen gepackt. Wenzel schimpfte und heulte,
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aber weder seine Mutter noch die Steigerthal-Männer konnten in diesem Moment seinen Launen nachgeben. Elisabeth dankte für die Beherbergung, Wenzel schmollte, hielt die Fellnachbildung von Wolf, die
ihm Anja gebastelt hatte, fest umklammert und dann jagte der Schlitten, gezogen von vier Pferden, auf dem weichen Schnee davon Richtung
Erfurt, im Gefolge ein zweiter Schlitten mit dem Silber, begleitet und
gesichert von einem Trupp steigerthalscher Knechte. Salwa und Cuno
erklärten der Gestütin und den Stallburschen, was zu tun sei und was
kommen könnte; Anja verlegte als erstes ihre Kammer wieder in den
Dienstbotentrakt und nahm außer Wenzel auch Wolf mit. Dann begleitete sie die Hohnsteiner, die noch am Abend eingetroffen waren, mit
den Pferden zurück nach Hohnstein. Herr und Herrin räumten das Knabenzimmer neben der Kemenate und zogen wieder in ihr Heim, damit
alles wieder seine Richtigkeit hatte. Zuvor erklärte Cuno Franz und den
Bergleuten, was zu erwarten sei und gab den Männern freie Hand, um
die Gewerke so zerfallen wie möglich zu gestalten, ohne wirklich etwas
zu zerstören. Die Wachmannschaft wurde verstärkt und das Losungswort ausgetauscht.
Am Abend, als sie sich nach dem Essen hinauf begaben, hatte das Paar
das Gefühl, dass endlich alles wieder so war, wie sie es sich bei der
Hochzeit erträumt hatten. Und so war auch die Nacht – sie konnten ja
nicht wissen, dass es die letzte ruhige gemeinsame Nacht für viele Wochen sein würde!
Als der späte Morgen graute, wachte Cuno von dem Lärm vor der Zugbrücke auf, sprang in Hosen und Stiefel, warf sich seine Felljacke über
und lief zur Wachstube. Unten am Burggraben standen vierzig, fünfzig
Reiter mit geschlossenen Visieren, hinter ihnen hielt eine Gruppe Schlitten mit Gepäck. „Im Namen des Königs Johann von Böhmen, öffnet!“
„Ich kenne König Johann, hat er mich doch zum Ritter geschlagen. Aber
sein Herrschaftsbereich endet weit weg von hier – ich unterstehe nur
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dem Landgrafen und dem römischen König und Kaiser. Wer seid Ihr?
Wer ist Euer Anführer? Was wollt Ihr?“ „Ihr, Ritter Cuonrad von Steigerthal werdet beschuldigt, die Königin und den Kronprinzen von Böhmen in Eurer Gewalt zu haben. Wir sind Ritter des Königs und werden
die beiden Gefangenen befreien, so Ihr sie nicht freiwillig herausgebt.
Unser Führer ist eigentlich Tibor von Sázava, den Ihr wohl kennt. Aber
wir mussten ihn während des Zuges gefangen setzen, da die Gefahr bestand, dass er uns an Euch verrate. Deshalb führe jetzt ich, Vaclav von
Zvêřinec, die Ritter des Königs. Lasst die Zugbrücke herab und öffnet
das Tor, sonst stürmen wir Eure Burg.“ Das war viel schlimmer, als er es
nach dem Bericht von Gernot gedacht hatte. Und er musste schnell handeln und noch schneller denken, die Männer von Vaclav sahen gefährlich aus. „Ich gebe Euch mein Wort, dass die Königin und der Kronprinz
nicht in dieser Burg sind. Sie haben hier einige Tage gerastet, aber sind
längst weitergereist. Ich werde die Brücke herablassen und unbewaffnet auf sie treten. Ihr, Vaclav, tut das ebenso. Dann können wir verhandeln. Eure Männer sollen sich auf Pfeilschussweite zurückziehen, ich
werde die Schießscharten nicht mit Bogenschützen besetzt halten.“ Er
lief zurück zum Palas, ließ alle Knechte zusammenholen und bewaffnen;
die Mägde, die Frauen und Kinder und ein paar Alte verschanzten sich
in der Küche, auch Salwa musste mit. Dann legte Cuno den wappengeschmückten Brustharnisch an, vergaß auch das kleine scharfe Messer
nicht, das er von Pritbor zum Abschied bekommen hatte und das im
Harnisch in einer eingenieteten Scheide sicher lag und gab den Befehl,
die Brücke niederzulassen. Vom Fenster der Wachstube beobachtete
er, was draußen vorging. Vaclav sprach mit seinen Männern und da die
meisten jetzt das Visier offen trugen oder gar den Helm abgesetzt hatten, stellte er fest, dass er einige kannte. Es war die gleiche Mischung,
die früher auf Kreuzzüge gegangen war: zweite und dritte Söhne, arrogant, anmaßend und bettelarm, denn das Erbe ging auch in Böhmen an
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den ältesten Sohn. Deswegen waren solche Gruppen bereit zu jedem
Abenteuer, das sie erst einmal ernährte und dann noch Hoffnung auf
Gewinn machte. Wenn sie dem Luxemburger den Thronerben zurückbrachten, konnten sie auf Lehen und Geld im Reich hoffen.
Als Vaclav die Männer weiter zum Dorf hin geschickt hatte und ohne
sichtbare Waffen zur Brücke schritt, lief auch Cuno hinunter und betrat
durch eine sehr enge, versteckte Tür die Brücke, ohne dass das Tor dafür geöffnet werden musste. Der Böhme hatte die ganze Zeit auf das
Tor gestarrt und fuhr zusammen, als Cuno ihn plötzlich direkt neben
ihm ansprach: „Nun, Ritter Zvêřinec, Ihr könnt kaum erwarten, dass ich
Eure ganze Mannschaft in mein Haus lasse. Was schlagt Ihr vor?“ „Ihr
öffnet das Tor oder wir setzen es in Flammen!“ „Ich sage Euch: die Königin und der Prinz sind nicht hier! Wenn Ihr vier oder fünf Männer auswählt, die ohne Waffen die Burg betreten und von oben bis unten
durchsuchen, dann werden wir sie nicht daran hindern. Ihr seid dann ja
immer noch genug, uns anzugreifen, wenn den Boten etwas geschehen
sollte. Wenn Ihr allerdings glaubt, mit Gewalt ans Ziel zu kommen, so
täuscht Ihr Euch!“ Cuno drehte den Kopf zum Fenster der Wachstube:
„Sag Franz, er soll den Herren einmal zeigen, wie ein Handrohr wirkt!“
Die Wache rief nach hinten und nach wenigen Augenblicken ragte aus
einer Schießscharte des Turmes links vom Tor das Ende eines Handrohrs
heraus. „Feuer!“ Mit mächtigem Getöse schoss die Bleikugel, umhüllt
von Rauch und Blitzen, aus dem Rohr und ließ einen Baum zersplittern,
der abseits des Weges zur Burg, aber ungefähr in der gleichen Entfernung stand, in der sich die Ritter jetzt aufhielten. Pferde bäumten sich
auf, Männer stürzten, Geschrei und Gewieher waren die Folge des
Schusses.
Vaclav von Zvêřinec war erschrocken; natürlich wurde unter Rittern
auch über diese Waffen geredet, die Ritter wie Landsknechte aus der
Entfernung dahinrafften, ohne dass man den Gegner überhaupt sah,
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aber auch er hatte noch keinen Handrohrschuss selbst erlebt. Kanonen
ja, aber die waren auch nicht zu übersehen. Wortlos wandte er sich ab
und ging zu den beunruhigten Böhmen zurück. Nach wenigen Minuten
kam er mit vier Männern zurück, die Cuno mit entsprechenden Anweisungen an die Wachen durch das enge Türchen passieren ließ. Dann
richtete er noch einmal das Wort an Vaclav: „Nachdem Ihr hier seid –
könnt Ihr dann Tibor freilassen und mir übergeben?“ „Erst wenn wir sicher sind!“
Auch Cuno glitt zurück in den Zwinger und beobachtete die vier Ritter,
die sich vor der Durchsuchung besprachen. Als sie ihn sahen, fragten sie
unfreundlich: „ Wer hat die Schlüssel?“ Cuno rief nach der alten Wiebke
und bat sie, die Männer zu begleiten. Er war sehr froh, dass er rechtzeitig daran gedacht hatte: wer weiß, was alles hätte geschehen können,
wenn statt der Alten die Burgherrin, seine schöne junge Frau, die Männer hätte begleiten müssen. Das Warten zog sich hin.
Die Mittagszeit war längst vorüber.
Die Ritter außerhalb der Burg wurden zunehmend unruhig und machten feindliche Äußerungen, so dass Cuno die Boten bat, sich an einer
Schießscharte zu zeigen: „Budeme končit!“ riefen sie hinunter. „Hoffentlich sind sie wirklich bald fertig“ sagte Cuno zu den Wachen. Und
wirklich kamen die vier Ritter bald vor dem Tor zusammen und bestätigten, dass sie weder die Königin noch den Prinzen gefunden hatten.
„Öffnet uns das Tor, damit wir dieses ungastliche Haus verlassen können!“ forderte einer der vier. Cuno gab seinen Männern ein Zeichen,
und während die Böhmen darauf warteten, dass – wie verabredet – die
restlichen Ritter in die Burg stürmen konnten, riefen sie, sobald das Tor
offen war: „Plenime, vše, cotam majdeme!“ „Das habe ich mir doch gedacht!“ war die Antwort Cunos. „Hier wird nicht geplündert, nichts, oder ihr seid tot!“ Und damit drehte er einen der vier so, dass der die
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kleinen Kanonen von der Hochzeit hinter sich stehen sehen konnte,
zwei Männer mit der Lunte bereit, und an der Schießscharten erschienen die Mündungen der Handrohre. „Vaclav von Zvêřinec, wenn Ihr
plündern wollt, wie es diese seltsamen, unehrenhaften Ritter gerade
gesagt haben, dann plündern wir erst einmal Euer Leben. Und wenn Tibor nicht sofort hierher gebracht wird, gebe ich das Feuerzeichen!“
Dem Böhmen blieb nichts anderes übrig als den gefangenen und gebundenen Ritter zur Zugbrücke bringen zu lassen, wo ihn die Männer Steigerthals in Empfang nahmen und in den Lichthof brachten. Dann gab
Cuno dem einen der Boten, den er an der Schulter hielt, einen Stoß, so
dass er aus dem Tor hinaustaumelte; die anderen rannten hinter ihm
her, das Tor fiel zu, und die vier schafften gerade noch den Absprung an
die Außenseite des Burggrabens, bevor die Zugbrücke bis vor das Tor
hochgezogen worden war.
„Grüßt König Johann von uns – wenn Ihr den Prinzen finden wollt, solltet Ihr versuchen, das Heer des Landgrafen in Erfurt anzugreifen!“ rief
Cuno ihnen nach, bevor im Inneren der Burg verhaltener Jubel ausbrach. „Wenn die gewusst hätten, dass die Kanonen nicht geladen sind
und dass ich den einzigen Schuss des Handrohres, den wir hatten, abgefeuert habe…!“ Franz konnte das Lachen nicht mehr unterdrücken.
„Und wenn sie gewusst hätten, dass all die anderen Handrohre Teile
unseres Entwässerungssystems des zweiten Schachts waren, aber keine
Waffen!“ Das war Gerhard, der Bergmeister. „Lasst uns die Frauen befreien und dann wird gefeiert!“ – eine Aufforderung des Ritters von
Steigerthal, der jeder gerne nachkam.
Cuno und Salwa kümmerten sich um Tibor von Sázava, der am Körper
wenig verletzt, wenn auch ausgehungert und halb verdurstet war, aber
immer noch wutentbrannt über das böse Spiel, das die ihm unterstellten Ritter mit ihm gespielt hatten. „Vaclav von Zvêřinec hat sich eine
Woche lang jeden Abend freundlich mit mir unterhalten, und ich Idiot
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habe ihm vertraut und ihm alles erzählt, was er wissen wollte. Er ist einfach ein gieriger Schurke, der den reichlich gefüllten Beutel, den Johann
uns mitgeben ließ, benutzt hat, um die anderen auf seine Seite zu ziehen. Als ich eines Morgens die Zeche in einem Wirtshaus zu bezahlen
hatte, in dem alle untergekommen waren, reichte er mir hohnlächelnd
den leeren Beutel und war noch so unverschämt zu behaupten, ich
hätte das Geld gestohlen! Auf sein Zeichen fielen ein Dutzend Männer
über mich her und banden mich!“ Er konnte sich kaum beruhigen. „Das
war noch nicht das Letzte, was wir von dem Kerl gesehen haben, verlieren kann er nicht, da bin ich mir sicher.“
Der Abend senkte sich über die Burg. Einige des Gesindes gingen über
den Hof zum Gesindehaus, um Platz zu schaffen für die Leute aus den
Stallungen, die zumindest vorerst auch hier schlafen mussten, bis die
Stallungen wieder benutzbar waren und Anja mit den Pferden aus
Hohnstein zurück war.
„Feurio!“ hallte der Schrei über den Hof bis in die Halle. Alle drängten
hinaus. Cuno stürmte den Bergfried hinauf, gefolgt von Franz, dem
Bergmeister Gerhard und anderen. Da sahen sie, was geschehen war:
die Reiter waren gar nicht wirklich abgezogen, sondern hatten einen
Bogen geschlagen. Ein Teil von ihnen schoss Brandpfeile auf das Gesindehaus und das Schindeldach des Palas – nach der Durchsuchung wussten sie genau, wo sie hinzielen mussten und beide brannten schon - der
andere Teil hatte sich das Dorf vorgenommen. Viele Häuser standen in
Flammen, Vieh wurde weggetrieben, Hausrat auf die Schlitten verladen
und die Schreie einiger Frauen ließen befürchten, dass ihnen Gewalt angetan wurde. „Diese unwürdigen Hunde“, knurrte Cuno. Er konnte den
Dörflern nicht helfen: er hatte viel zu wenig Männer und Waffen und
keine Pferde.
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„Lass mich das mit dem Palas regeln“, das war Franz. „Ich hoffe, du
schaffst das! Wir anderen bilden eine Kette zwischen Brunnen und Gesindehaus und versuchen zu löschen.“ Damit rannte er wieder hinunter.
Unten standen viele Frauen und Kinder und Salwa fragte, was geschehen sei. Aus den kurzen, unzusammenhängenden Worten Cunos reimte
sie sich das Richtige zusammen, und als der Bergmeister an ihr vorüber
laufen wollte, hielt sie ihn am Arm fest: „Haben wir irgendwo noch so
viel Schwarzpulver, dass wenigstens eine Kanone geladen werden
kann?“ „Ich glaube, im Arsenal liegt noch etwas.“ „Hol es und mach eine
Kanone fertig!“ Dann lief sie zum Tor, befahl der Wache, die Zugbrücke
herabzulassen und einen Torflügel zu öffnen. Die Kanonen standen
noch von vorher da, und als Gerhard zwei Hand voll Pulver brachte, luden sie eine der Kanonen, legten als Munition eine Handrohrkugel auf
den Propf und dann ließ Salwa zünden. Der enorme Knall ging bis ins
Dorf, und als die Kugel tatsächlich bis auf den Dorfplatz reichte und ein
Ritterpferd durchschlug, verstanden die böhmischen marodierenden
Ritter endlich, was die Stunde geschlagen hatte: Sie ließen von ihrem
schändlichen Tun ab und machten sich mit der bisherigen Beute aus
dem Staub.
Unterdessen hatte Franz mit ein paar seiner Helfer es geschafft, bis zu
den Dachbalken des Palas vorzudringen. Mit Äxten und Stangen lösten
sie den zum Burggraben zeigenden Teil des Daches aus seinem Zusammenhalt und ließen ihn in den Graben stürzen. Dann machten sie sich
an die andere Seite und nach einem kurzen:“ „Alle weg aus dem
Burghof, das Dach fällt!“ ging auch die andere Hälfte des Palasdaches
zu Boden. Die wenigen verbliebenen Brandherde schlugen sie mit
Schaufeln, nassen Säcken – alles was ihnen zur Hand kam – aus. Burg
Steigerthal war zwar jetzt vorerst ohne Hut, aber es blieb ihr das Schicksal vieler Burgen erspart: durch ein Feuer brannte oft das Innere völlig
aus und nur die Außenmauern blieben stehen, meist nicht mehr fest.
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Im Burghof war durch den Fall des Palasdaches der schnelle Weg zwischen Brunnen und Gesindehaus zum Hindernislauf geworden, aber da
alle gemeinsam weiterarbeiteten, war der Brand des Wohnhauses bald
eingedämmt, an vielen Stellen sogar gelöscht, so dass man sich um die
Reste des Daches und die verletzten Menschen kümmern konnte.
Burgherrin Salwa war in ihrem Element. Sie kannte alle Bewohner, jeden Winkel und alle Vorräte. Für jeden hatte sie ein freundliches Wort,
eine helfende Hand und im Notfall einen Krug Bier – die Ritter hatten
den Bierkeller unter der Kastanie am Brunnen nicht gefunden! Als Cuno
sah, wie gut sie alles im Griff hatte, lief er hinunter zum Dorf, nicht um
den Schaden zu begutachten, sondern um den Menschen Mut zuzusprechen.
Steigerthal, Frühjahr 1323
Die kleine Barbara lag im Arm ihrer Mutter, die glücklich auf das schlafende Kindlein herabschaute und sich in den Arm Cunos kuschelte. Das
Feuer im offenen Kamin brannte und gab eine wohlige Wärme, das
letzte Licht dieses kalten Frühlingstages erhellte durch das große Glasfenster die Kemenate. Vier Monate war das Mädchen jetzt alt und
Salwa hatte die Schmerzen bei der Geburt längst vergessen.
Wie groß war ihre Freude gewesen, als sie feststellte, dass sie guter
Hoffnung war – endlich auch sie! Es musste in der Nacht vor dem Überfall der böhmischen Reiter geschehen sein, denn am nächsten Abend
hatte die Kemenate keine wasserdichte Decke und der Palas kein Dach
mehr gehabt. Cuno und sie waren ins Haus des Zimmermanns gezogen,
der mit aller Kraft an der Reparatur des Daches des Palas arbeitete und
nebenbei die Knechte und die Dörfler anleitete, um die Schäden zu be-
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seitigen, die die fremde Horde angerichtet hatte. Salwa und Cuno dankten Gott immer wieder, dass ihnen wenigstens die Menschen geblieben
waren, und das Silber, um all die Arbeiten zu bezahlen. Menschenleben
waren im Lehen nicht verloren gegangen, aber die drei Frauen des Dorfes , denen die Reiter Gewalt angetan hatten, litten lange unter dem
Geschehen, und eine, fast noch ein Mädchen, war sogar schwanger geworden; für sie fand sich einer der Helfer des Zimmermanns, der das
Mädchen heiratete und dem Kind der Gewalt ein friedfertiger Vater zu
werden versprach.
Es war über ein Jahr, das seit dem Überfall der böhmischen Reiter und
der Flucht der Königin vergangen war. Und viel war geschehen, nicht
nur Salwas Schwangerschaft:
Franz hatte zuerst dem Palas einen neuen Dachstuhl gebaut und Cuno
hatte aus Probstzell Schieferplatten kommen lassen, die statt Holzschindeln die Häuser vor Regen und vor Brandpfeilen schützen sollten.
Das Gesindehaus war größer und praktischer wieder aufgebaut worden; statt der ständigen Anbauten gab es jetzt eine Unterkunft, die allen
Mägden und Knechten reichte und noch Platz für mehr hatte. Besonders glücklich war Anja, die ganz neue Stallungen bekam, direkt oberhalb der Burg, wo immer noch der Pavillon von der Hochzeit stand und
bisher von Franz gepflegt wurde. Und Wolf war begeistert, dass er jetzt
viel mehr Auslauf hatte und eigentlich ständig mit Váží unterwegs sein
konnte. Zu seinem Herrchen war es nicht weit und Anja hatte er wie
Váží als Herrin akzeptiert. Unter dem Dach aus Schindeln konnte die Gestütin die Pferde bewegen, wenn es heiß oder nass war, und die Idee
des alten Gernot hatte sich tatsächlich verwirklicht: die Heere der Landesherren setzten zunehmend Fußtruppen mit Feuerwaffen ein; die
schwer gerüsteten Ritter auf ihren riesigen Schlachtrossen waren gegen
die Handrohre und Kanonen der Landsknechte nicht gewappnet und
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begannen, sich mit schnellen, kleineren Pferden als Führer der Fußtruppen neue Aufgaben zu schaffen. Und Anja konnte mit den Sprösslingen
von Váží und Vážá und weiteren schnellen Stuten genau solche schnellen, leichten, gelehrigen Reitpferde liefern, die in Steigerthal gut gezogen wurden. Die Ritter zahlten gut dafür. Cuno staunte, dass die junge
Frau nach dem Aufbau der Stallungen nicht nur kein Geld mehr von ihm
wollte, sondern anfing, über die Rückzahlung der Kosten des Baus zu
sprechen. „Warum willst du etwas bezahlen, das uns gehört?“ „Cuno,
du hast mir ein Leben ermöglicht, dass ich zu Hause nie gehabt hätte;
die Zeit mit dir war schön, und unser Wenzel ist das Beste, was ich habe.
Aber du bist nicht mehr der kleine Knappe, den ich im Bad verführen
konnte, weil er mir so gut gefiel und ich auch mal selber den Mann für
mich aussuchen wollte. Du bist Lehensmann und Ritter, Salwa ist die
richtige Frau an deiner Seite; jetzt bekommt sie dein Kind. Und ich bin
mit meinen Pferden und Wenzel doch wieder allein, und da - “, sie zögerte, „und da habe ich in Hohnstein einen Mann gefunden, der genau
so verrückt ist wie du und dem Pferde über alles gehen. Den habe ich
mitgebracht und mit dem würde ich gern die Zucht übernehmen und
dann bin ich auch keine alleinstehende Frau mehr und…“
Cuno hatte sie angeschaut und in den Arm genommen. „Anja, wenn du
mir damit sagen möchtest, dass du heiraten und dann mit diesem Mann
auf unserem Boden Pferde züchten willst – du wirst mir fehlen, aber du
bist ja immer noch da! Lauf, sag ihm Bescheid, dass ich ihn hier sehen
will, und dann reden wir über Preise!“ Er drückte ihr einen Kuss auf die
Stirn und schob sie hinaus. Wenige Stunden später stand die junge Frau
errötend vor Cuno, an der Hand einen jungen Mann mit dunklen, lockigen Haaren, einem runden Gesicht, fröhlichem Ausdruck und vierschrötiger Gestalt. „ Das ist Egbert.“ Das war das Einzige, was Anja herausbrachte. Cuno fragte ihn nach seiner Herkunft und was er in Hohnstein
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gearbeitet habe. Der junge Mann antwortete nicht allzu klar, die Aufregung war beiden deutlich anzumerken, und dann drückte Egbert dem
Ritter ein verknittertes Dokument in die Hand. Cuno entrollte es und
konnte lesen, was Graf Cuonrad von Hohnstein eigenhändig geschrieben hatte: dass Egbert ein guter Mann sei und in Hohnstein für alle
Pferde zuständig war; der Verlust würde Hohnstein schmerzen, aber so
würde der Kontakt zwischen Steigerthal und Hohnstein vielleicht wieder enger. „Du weißt, dass der kleine Wenzel mein Sohn ist und Anja
seine Mutter?“ Er nickte nur. „Wenzel wird immer mein Sohn bleiben,
aber wenn du das hinnehmen kannst, dann werde ich euch keinen Stein
in den Weg legen – sollen wir sagen, dass ihr erst einmal heiratet und
dann bekomme ich von jedem verkauften Pferd zwei Fünftel des Kaufpreises? Ich muss erst noch einmal rechnen, was das neue Gestüt gekostet hat. Wenn ihr dann diese Summe bezahlt habt, ist das Gestüt
euer und ihr braucht mir lediglich die übliche Pacht zahlen. Überlegt es
euch – und viel Glück!“ Anja warf sich an seine Brust und ließ ihren
Glückstränen freien Lauf. Dann ließ sie Cuno los, wandte sich zu Egbert
um: „Siehst du, ich habe doch gesagt, dass es geht!“ Der junge Mann
kniete sich vor dem Ritter nieder. „Danke, Herr.“ Und rannte mit Anja
wieder hinaus. Cuno schaute ihnen lächelnd nach. „Schon seltsam“
sagte er zu sich selbst, „ich bin gerade 19 Jahre alt und benehme mich
wie ein alter, weiser, erfahrener Mann!“
Aber es gab vieles andere, wo er noch lange nicht abgeklärt war. Und
es vielleicht auch nie würde – und es nie vergessen könnte: Im Herbst
des letzten Jahres war Gerhard, der Bergmeister immer wieder zu ihm
gekommen und hatte ihn in den alten Schacht geholt, da die Steiger an
der bisher ergiebigsten Stelle kein silberführendes Gestein mehr fanden. Cuno, der sein gutes Auge dafür ja schon in Jihlava bewiesen hatte,
wurde noch zwei, drei Mal fündig, aber dann schien es auch für ihn aussichtslos. Gerhard, der sein Handwerk auch im Böhmischen gelernt
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hatte, machte einen Vorschlag: „Wenn wir hier etwa in der Mitte des
Schachts einen neuen Gang einsprengen, könnten die Steiger vielleicht
an die andere Seite der Silberader kommen. Ich könnte mit Hilfe von
Leitern einen Spalt in den Stein schlagen. Dann kommt ein trockener
Eichenkeil hinein. Wenn wir den feucht machen, quillt er auf und reißt
vielleicht genügend aus der Wand, um einen Gang anzulegen. So habe
ich das mal gesehen.“ „Aber dann müssen alle aus dem Schacht. Kannst
Du sagen, wie lange das ungefähr dauert?“ „Nein, aber ich sehe ja, was
sich verändert, wenn ich den Keil feucht halte. Das reicht dann immer
noch um alle zu warnen.“ „Lass es uns versuchen!“ Sie ließen sich mit
dem Hebewerk, das dazu von nur einem Ochsen angetrieben wurde,
ganz langsam nach oben ziehen und fanden eine Stelle an der Schachtwand, die vielversprechend aussah. Aber sie war zu weit oben, um mit
Leitern heranzukommen. Deshalb holte Cuno den Zimmermann, der
eine einfache Winde baute, mit der ein alter Weidenkorb bis an den
geplanten Gang herabgelassen wurde. Gerhard holte Meisel und Hammer und schlug einen Schlitz in die glatte Wand. Cuno warf ihm einen
Eichenkeil zu und goss Wasser an der Schachtwand hinunter, bis der
Keil richtig nass war.
Zwei Wochen lang wiederholte Gerhard das Anfeuchten des Keils, dann
ließ er Cuno rufen: „Ich glaube, jetzt knallt es bald – der Spalt ist schon
doppelt so breit wie vorher!“ „Lasst den Schacht räumen!“ Gerhard waltete seines Amtes, und als alle Bergleute draußen waren, gab er noch
einmal Wasser auf den Keil und hämmerte ein bisschen am Gestein
herum. Nichts passierte. Cuno ließ sich gemeinsam mit dem Bergmeister im Korb hinabkurbeln und besah sich die Sache. In dem Moment
zerbarst der Fels und riss ein riesiges Loch in die Schachtwand. Franz,
der nach dem Knall hinunter schaute, sah deutlich die Öffnung eines
möglichen Ganges, aber Cuno und Gerhard waren verschwunden. Die
ausgefransten Reste des Seils hingen noch an der Winde. „Zu Hilfe!“
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brüllte der Bayer und alle Hauer und Steiger, die vorher im Schacht gewesen waren, rannten herbei. Franz ließ immer zwei zusammen nach
unten ab, die versuchten, das herausgesprengte Gestein in die Wannen
zu laden, die nun wieder mit voller Ochsenkraft nach oben gezogen
wurden. „Ein Fuß – helft hier!“ und nach quälenden Stunden – das Geschehene hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet, und das ganze Dorf
und die ganzen Burgbewohner standen um den Schacht herum – gelang
es, den böse zugerichteten, aber lebenden Gerhard unter dem Geröll
heraus zu holen und nach oben zu schicken, wo er von der alten Agnes
versorgt wurde.
Wo war Cuno?
Das war es, was er niemals vergessen würde: er lag von Gesteinsbrocken zugeschüttet, im Eingang des Gangs auf der untersten Schachtsohle. Arme, Beine, Brust waren von Steinen bedeckt; bewegen konnte
er sich nicht, und rufen auch nicht, er konnte kaum atmen. Wie sehr er
verletzt war, konnte er nicht feststellen, aber er war bei Bewusstsein –
die harte Schule Pritbors von Jihlavy hatte vielleicht doch ihr Gutes. Er
hörte die Männer, die Gerhard befreiten und er hörte, wie sie ratlos
berieten, was mit ihm geschehen sein könnte. Aber er konnte sich nicht
äußern. Er wusste, dass ohne Gerhard niemand entscheiden würde,
was zu tun sei – die meisten Bergleute waren angelernt und hatten immer den Angaben des Bergmeisters gefolgt. Und dann spürte er am
Luftzug, dass sich etwas veränderte. An einer Stelle wurde das Dunkel
des Schachts heller, er hörte das Poltern der Steine, die in die Wannen
geladen wurden. Und dann die Stimmen Anjas und Egberts: „Er muss
hier sein, es ist doch nirgendwo ein anderer Platz. Kommt, helft!“ Von
Minute zu Minute wurde es heller, es gab mehr Luft und irgendwann
schrie er trotz Atembeklemmung, als ein Gesteinsbrocken den Helfern
wegrutschte und sein linkes Bein noch mehr einschloss. „Hier ist er!“
Das gab den Männern die nötige Kraft. Endlich gelang es, Cuno so weit
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freizulegen, dass man ihn herausziehen und auf eine Wanne legen
konnte, die ihn ans Tageslicht brachte. „Hilf, Herrgott!“ sagten die Umstehenden, als sie Cuno erblickten. Er blutete aus vielen Schnitten und
Wunden, beide Beine waren verdreht, die linke Hand war plattgedrückt
und der Brustkorb richtig eingesunken. Aber er atmete und öffnete
langsam die Augen, geblendet von dem düsteren Licht des Herbstages.
Die alte Agnes war eigentlich schon mit dem überfordert, was mit dem
Bergmeister zu tun wäre. Deshalb schickte Salwa den Knappen Sigbert
nach Nordhausen, um dort den Abt um einen heilkundigen Mönch zu
bitten. Die Knechte trugen beide Männer vorsichtig in das Zimmer neben der Kemenate und machten ein großes Feuer im Kamin. Die Frauen
des Dorfes hatten den letzten Spitzwegerich gesammelt, zu Mus zerdrückt und dann den beiden Männern Hosenbeine und Ärmel aufgeschnitten, so dass sie die vielen Schnitte und kleinen Wunden erst mit
warmem Wasser auswaschen und dann mit dem Kräuterbrei verschließen konnten – die großen Wunden mussten warten. Gerhard hatte eine
klaffende Wunde am Kopf und verlor viel Blut, Cuno konnte sich nicht
bewegen und kaum atmen. Bis Benedikt, der Heilkundige des Klosters
Himmelgarten, am nächsten Vormittag kam, ging es den beiden Verunglückten zunehmend schlechter. Benedikt stieg von seinem Maulesel,
hieß den Knappen Sigbert die große Kiste nach oben tragen und schaute
nach den Verunglückten. „Die Kopfwunde muss zuerst versorgt werden“, stellte er nach kurzer Untersuchung der beiden fest. „Ich brauche
eine brennende Kerze und einen guten Schluck des schärfsten Schnapses, den ihr habt!“ Als beides gebracht worden war, flößte er Gerhard
den Schnaps ein, bis dem die Augen zu fielen, und dann fädelte er einen
dünnen Faden in eine kleine Silbernadel und hielt sie mit der Spitze in
den bläulichen Teil der Kerzenflamme. „Zwei Mann halten den ganzen
Kerl auf dem Lager fest und zwei halten den Kopf an der Seite, so dass
sich der Arme nicht bewegen kann, selbst wenn er aufwacht!“ Damit
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zog er die glühende Nadel durch die Kopfhaut des Bergmeisters, der
kurz auffahren wollte, sich nicht bewegen konnte und wieder das Bewusstsein verlor. „Sehr gut“ war der Kommentar des Mönches. Schnell
zog er mit dem Faden die aufgeplatzte Kopfhaut zusammen, verknotete
alles und legte einen sauberen Verband um den Kopf des Verletzten.
„Er muss liegen bleiben und sollte den Kopf mindestens eine Woche
kaum bewegen, gebt ihm also Flüssigkeit mit dem Löffel und keine feste
Nahrung, nur Brei. Ich schaue dann wieder nach ihm“ und damit wandte
er sich Cuno zu. „ Hm, beide Beine gebrochen, Hand zerquetscht, mindestens“, er zählte, „fünf Rippen gebrochen. Am Kopf ist nichts wirklich
Schlimmes zu sehen. Habt Ihr ein Glück gehabt! Hört Ihr mich?“ Cuno
flüsterte ein „ Ja“. „Ich werde die Beine wieder richten, das wird. Die
Hand kriege ich vielleicht auch wieder hin, und die Brust nehmen wir
uns vor, wenn das andere erledigt ist.“ Er verlangte nach glatten, kurzen
Holzlatten und Franz rannte, das Gewünschte zu besorgen. Dann ließ er
auch den Ritter festhalten und schob ihm ein Holzstück zwischen die
Zähne „Beißt drauf, das hilft“ und drehte mit zwei schnellen Rucken
beide Beine wieder in ihre richtige Lage, fuhr mit der Hand an den Beinen entlang, drückte und schob noch ein wenig und machte dann die
Beine steif, in dem er sie mit je zwei Latten unterlegte und dann mit
Linnenstreifen verband. „Lasst das Holz durchaus noch zwischen seinen
Zähnen“ knurrte er und ließ sich einen Apfel geben.
Deb drückte er in die Hand Cunos und umwickelte die Hand ebenfalls.
„Legt feuchte Tücher über den Verband, damit die Hand etwas gekühlt
wird!“ Dann nahm er Cuno das Holz aus dem Mund und zeigte den Umstehenden, dass es tiefe Bissspuren hatte. „Was jetzt kommt, könnt nur
Ihr selber machen! Versucht, so tief wie möglich einzuatmen und haltet
die Luft so lange wie möglich an, auch wenn es höllisch weh tut!“ Cuno
rann der Schweiß über das Gesicht, denn es tat höllisch weh, so wie Benedikt es angekündigt hatte. „Macht das, so oft Ihr könnt, ansonsten:
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keine Bewegung, ruhig liegen und Gott danken, dass er Euch so beschützt hat!“ Dann verließ er mit den meisten den Raum, nahm in der
Halle noch einen Imbiss ein und versprach, in einer Woche wieder da zu
sein. Egbert geleitete ihn zu dem Maultier und wollte die Kiste holen.
„Die bleibt hier, die brauche ich noch!“ und damit war Mönch Benedikt
durch das Tor geritten. Die Mägde kümmerten sich um Gerhard, Salwa
und Anja um Cuno. „Immer sind wir Frauen gefordert, wenn es den
Männern schlecht geht“ murmelte Anja. „Ja, aber wenn es ihnen gut
geht fordern sie uns, oder?“ Beide lächelten.
Nach einer Woche war Bruder Benedikt auf seinem Maulesel wieder da,
erneuerte Gerhards Kopfverband, versorgte die kleinen Wunden, kontrollierte den Sitz des Beinverbandes bei Cuno und wickelte die Hand
auf: „ Das sieht gar nicht so übel aus, ist längst nicht so geschwollen, wie
ich fürchtete. Könnt Ihr die Finger bewegen?“ Cuno versuchte es vorsichtig, aber es ging nicht. Benedikt tastete jeden Finger und dann den
Handteller ab. Plötzlich nahm er die Hand in seine und streckte alle Finger. Cuno konnte den Aufschrei nicht unterdrücken, was den Mönch
nur zu der trockenen Aussage brachte: „Das Atmen geht auch schon
besser. Ich binde die Hand diesmal um die Holzkugel hier, aber Ihr,“ und
damit wandte er sich an Salwa, „müsst den Verband jeden Tag aufmachen, die Finger strecken und dann die ganze Hand für ein Weilchen in
kaltes Wasser legen – sie soll ja nicht steif werden. Kaltes Wasser, noch
besser Schnee wird es bald reichlich geben! Schaut gut zu, wie ich die
Kugel in die Hand binde, damit Ihr es auch machen könnt. Ich bin dann
in einer Woche wieder da.“
Als der Mönch das nächste Mal kam, hatte er zwei Briefe für Cuno dabei. Während Benedikt sich um die Verunglückten kümmerte, bat Cuno
seine Frau, ihm die Briefe zu öffnen. Der erste kam aus München, von
seinem Bruder Gernot. Der hatte, wie Heinrich von Hohnstein, König
Ludwig so gute Dienste geleistet, dass beide Männer von diesem mit
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freigefallenen Lehen versehen wurden; Gernot erhielt das Lehen Selb
an der bayrisch-böhmischen Grenze und war glücklich und hochzufrieden. Im Brief verwies er auf ein Schreiben des Landgrafen von Thüringen, das auch bald kommen müsste. Und in der Tat, es war schon dabei
und Cuno bat Salwa, es vorzulesen:
„Friedrich von Thüringen, Markgraf zu Meißen, Herzog der Mark etc.
etc. tue Euch hiermit kund, dass in der Erbfolge der Lehen Steigerthal
und Stempeda eine Veränderung eingetreten ist. Nachdem der rechtmäßige Erbe Gernot in die Dienste eines anderen trat und auf sein väterliches Lehen verzichtete, lade ich Euch an meinen Hof, um Euch
selbst mit diesen Gütern zu belehnen und den Treueeid einzufordern.
Dank der Fürbitte Eures Vaters, meinem Münzmeister, lasse ich Gnade
vor Recht ergehen.“ Ein kleiner Zettel fiel heraus, den der alte Gernot
selbst geschrieben hatte: „Ich freue mich für dich und unsere Familie.
Aber eile nicht zu sehr mit dem Treueschwur. Du weißt, dass der Landgraf kurz nach eurer Hochzeit in Schwermut und Krankheit verfallen ist
und nicht mehr herrschen kann. Die Regentin, Landgräfin Elisabeth,
wartet nur darauf, dass der junge Landgraf volljährig wird, um die Geschäfte an ihn zu übergeben – das wird Ende des Jahres geschehen.
Dann komm und bringe am besten Salwa und euer Kind mit.“
Das war jetzt sechs Monde her, und bis zur Geburt des Kindes war er
soweit wiederhergestellt, dass er mit Krücken laufen konnte und dauernd Übungen mit der linken Hand machte.
Der Tag, an dem die Frauen der Hauer und Steiger in den winterlichen
Obstgärten Zweige schnitten, die der Tradition gemäß dann Weihnachten ihre Blüten öffnen würden, war auch der Tag, an dem sich Salwa
öffnete. Die alte Agnes war rechtzeitig geholt worden und hatte nach
all den Aufregungen um die falschen Anschuldigungen wieder einmal
bei einem Krug Bier mit einer werdenden Mutter tschechisch plappern
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können und so die Furcht vertrieben. Es war der Tag der Heiligen Barbara, der Schutzheiligen der Bergleute – da war klar, wie das kleine
Mädchen in Steigerthal heißen würde. Sie hatte des Blaus der Kleinkinderaugen schon die grünen Augen ihrer Mutter, allerdings etwas dunkler als diese, ihre hohe Stirn, ihre Wangenknochen und offenbar auch
ihr Temperament – wenn sie hungrig war, setzte sie sich gegen alle Widerstände durch, bis sie an Salwas Brust lag. Auch das war der Einfluss
der alten Agnes: Stillen ist nicht nur für die Kinder gesund, sondern auch
für die Mütter, die ihren Kindern so viel näher waren, als wenn sie sie
an eine Amme abgetreten hätten, wie es unter den edlen Damen Sitte
war. Die kleine Familie genoss den Moment der Ruhe und Cunos rechte
Hand glitt vorsichtig über das Köpfchen und fand dann den Weg zu Salwas Wangen, Hals, Schulter. Wenn das Wetter ruhiger werden würde
und Steigerthal und Stempeda in guten Bahnen, ginge es nach Erfurt an
den Hof, wo der Regierungswechsel unterdessen stattgefunden hatte.
Dank der schnellen Genesung Gerhards – ihm blieb lediglich ein großer
Durst und die Narbe am Kopf als Nachwirkung – waren die Arbeiten in
den Schächten wieder aufgenommen worden. Und es war so, wie der
Bergmeister vermutet hatte: Hinter der alten Silberader im alten
Schacht begann an der gesprengten Stelle eine neue Ader, die die Hauer
verfolgen konnten. Der Ertrag des Berges wuchs.
Die Menschen waren dank der Vorräte und der Möglichkeit, Nahrungsmittel zu guten Preisen zu kaufen, gut durch den Winter gekommen und
erwarteten voller Vorfreude Sonne, Wärme und frische Garten- und
Feldfrüchte. Die alte Agnes hatte viel zu tun, Steigerthal und Stempeda
schienen zu wachsen wie nie zuvor.
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Aus der Autobiographie Karls IV, Drittes Kapitel (1323)
Mein Vater, König Johann von Böhmen hatte zwei Schwestern;
eine gab er dem König von Ungarn zur Frau, die andere vermählte er mit dem König Karl von Franzreich.
Zu diesem König schickte mich der Vater, als ich sieben Jahre alt
war. Der französische König ließ mich durch einen Bischof firmen
und gab mir seinen eigenen Namen Karl statt meines bisherigen
Wenzel, der ihm zu böhmisch schien. Außerdem vermählte er
mich mit der Tochter seines Oheims Karl. Sie hieß Margareta,
wurde aber Blanca genannt.
Dieser König liebte mich sehr. Er vertraute mich seinem Kaplan
an, damit dieser mir ein wenig Unterricht erteile, obwohl er selber
keine solche Ausbildung genossen hatte. So lernte ich auch die
marianischen Antiphonen des Stundengebets.
Dieser König war nicht habsüchtig, er bediente sich guten Rates
und sein Hof glänzte als Versammlungsstätte geistlicher und
weltlicher Fürsten von großer Lebenserfahrung.
Sieben Jahre blieb ich mit meiner Gemahlin am Hof von Franzreich, ehe mich mein Vater nach Luxemburg rief.
Erfurt, Sommer 1323
Die kleine Kavalkade näherte sich der Gera entlang von Norden der
Stadt Erfurt, in der schon der verstorbene Landgraf Friedrich der Freudige oft Hof gehalten hatte. Als sie das Andreastor in der Ferne vor sich
sahen, hielt Cuno die Seinen noch einmal an. Hinter ihm, züchtig im Damensitz auf der unermüdlichen Vážá, Salwa mit der kleinen Barbara vor
der Brust, mit einem Tuch gegen einen Sturz abgesichert. Es war warm,
deshalb glänzte der Schweiß auf dem Gesicht seiner Gemahlin, aber er
fand sie weiterhin die Schönste: ihre kastanienroten Haare waren wie
damals in Pisek geflochten und um den Kopf gelegt, bedeckt von einer
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grünen Haube, das Reisekleid umspielte ihre Figur; die grünen Augen
zwischen der hohen Stirn und den ausgeprägten Backenknochen musterten die Welt und ihre Familie voller Neugier und Erwartung. Hinter
ihr saß Sigbert der Knappe, mit dem wappengeschmückten Schild am
Pferd und der wimpeltragenden Lanze in der Hand, auf dem ersten
Pferd, das von dem Hengst und der Stute der Steigerthals gezeugt worden war. Dann kamen zwei von Pferden gezogene Karren, der eine ein
Zweispänner, mit Berte, der einen Magd, die Salwa ausgewählt hatte,
um ihr mit Barbara zu helfen, dem Gepäck, den Geschenken und allem,
was noch schnell mitgenommen werden musste, der andere ein Sechsspänner, beladen mit den reinen Silberbarren der letzten Monate, die
der alte Gernot angemahnt hatte, damit die Landgrafschaft weiter florieren könne. Den Abschluss bildeten ein Dutzend bewaffneter
Knechte, mit Lanze, Eibenbogen und Schwert; zwei von ihnen hatten
zusätzlich Handrohre an den Sätteln befestigt. „Und, was sehe ich,
wenn ich den ersten Reiter anschaue?“ Damit gab Salwa lächelnd seine
prüfenden Blicke zurück. „Einen etwas schräg im Sattel hängenden Ritter, dem schnell der Atem ausgeht, weil die Rippen immer noch schmerzen, aber ansonsten einen Edlen, mit hellem Lockenhaar und schwarzen
Augen, starken Schultern, wie verwachsen mit Váží, und einem Blick,
wenn er mich anschaut, dass es besser wäre, wir wären irgendwo zu
Hause im Wald statt hier auf der Straße vor dem Tor!“ Er ritt die paar
Schritte zurück zu ihr, strich ihr mit der unbehandschuhten, unverletzten Rechten über Kopf und Stirn, drückte einen Kuss auf ihre Lippen
und rief dann, wie um die Idee Salwas zu verscheuchen: „Vorwärts!“
Sie ritten durch das Tor, und obwohl sie mit dem Lauf der Gera kamen,
deutete sich schon an, warum die Stadt so hieß, nämlich Erphfurt, „Stinkende Furt“. Erfurt bezog seinen Reichtum vor allem aus zwei Quellen:
der Waidpflanze, die in der Umgebung gut gedieh und zum Blaufärben
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von Stoffen benutzt wurde. Das war noch nicht anrüchig, aber der Herstellungsprozess, denn die zerquetschten Blätter der Pflanze mussten
monatelang in Fässern mit Männerurin gären, bevor sie den mit Gold
aufgewogenen Farbstoff abgaben, und um genug Urin zu bekommen,
gab es viele Brauereien, deren Öffnungszeiten sogar von den Kirchenkanzeln verlesen wurden! Die zweite Quelle des Reichtums war der
Schnittpunkt des Handelsweges von Oberitalien nach Brandenburg und
der „Via Regia“ von Russland nach Franzreich und Spanien genau an
der Furt der Gera.
Cuno war froh, gleich nach dem Stadttor seine kleine Truppe am Abhang des Petersbergs entlang führen zu können, ohne sich dem Gestank
zu sehr zu nähern. Sie bogen vor der Domkirche nach rechts ab und ritten den steilen Abhang hinauf, die Karren durchaus unter Zuhilfenahme
der Arbeitskraft der Knechte, weil vor allem beim Sechsspänner die
Pferde den steilen Anstieg nicht bewältigten. Oben angekommen, ließ
sich Cuno melden. Der Petersberg beherbergte eigentlich ein Kloster,
das aber schon in altvorderen Zeiten von Königen, Kaisern und Fürsten
als Pfalz benutzt worden war. Hier wohnte der alte Gernot und hier residierte momentan Landgraf Friedrich der Ernsthafte, jünger als Cuno,
aber erzogen als erster unumstrittener Erbe der Landgrafschaft Thüringen, teilweise auch Dank des Silbers aus Steigerthal. Wie die meisten
Fürsten hielt er sich immer nur ein paar Monate an einem Ort auf, weil
sonst die Vorräte der Stadt oder der Burg nicht für den ganzen Hof ausreichen würden.
Die Wache, die Cuno zu seinem Vater geschickt hatte, kehrte zurück:
„Ritter Gernot und seine Frau sind genau wie Landgraf Friedrich bei einem Jagdausflug und kehren erst am Abend zurück. Aber der Haushofmeister hat mir gesagt, dass Ihr erwartet werdet und wo Ihr im Gäste-
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haus untergebracht werdet und wird Euch dort gleich selbst empfangen. Um Eure Knechte kümmere ich mich.“ Damit schritt er voraus in
das Innere der Klosteranlage.
Als alles zur Zufriedenheit Cunos geregelt war, meinte er zu Salwa: „Sollen wir die Gelegenheit nützen und uns die Stadt anschauen?“
Erfurt, die größte Stadt Thüringens und eine der größten des Reiches,
war eine dreigeteilte Stadt; in der Oberstadt, gleich unterhalb des Petersbergs und der Domkirche wohnten in mehrstöckigen Gebäuden an
mehr oder weniger breiten Gassen die Bürger, die Honoratioren, die
Patrizier und die vielen Menschen, die dem Magistrat und dem Landgraf
dienten. Die Gassen waren gepflastert und hatten in der Mitte eine in
Stein gefasste Rinne, die von Gera-Wasser durchspült wurde und allen
Unrat hinweg transportierte. Die Waidproduktion fand in der Unterstadt statt, auf der anderen Seite des Breitstroms, eines Nebenflusses
der Gera. Dort, wo eigentlich eine Furt war, wurde der Fluss seit Jahrhunderten von einer Brücke überspannt, die auch Fuhrwerken den
Übergang ermöglichte; weil die Holzbrücken immer wieder abgebrannt
waren, baute der Magistrat eine steinerne Bogenbrücke, die schon fast
fertig war. An jedem Ende war eine Torkirche und auf der Brücke waren
statt eines Geländers rechts und links zahlreiche Fachwerkhäuser, deren unteres Geschoß als Laden diente. Die Torkirche St. Benedikt
schloss den oberen Teil der Stadt ab, die Torkirche St. Ägidien öffnete
den Weg in die quirlige Stadt der Handwerker und Kleinhändler außerhalb der ersten Stadtmauer, wo die Gera wieder die Stadt verließ.
Als Salwa über den Benedikt-Markt und die fast fertige Brücke schlenderte, merkte sie, wie sehr es ihr gefehlt hatte, einfach mal anzuschauen, was angeboten wurde und vielleicht eine Idee oder auch einen
Gegenstand mitzunehmen. Sie hatte noch ihr Reisekleid an, Barbara
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war so an ihre Brust gebunden, dass sie die Leute, die hinter Salwa liefen, anschauen konnte, Und Cuno war ohne Krücken, aber leicht humpelnd in seinen einfachen Reithosen und einem Kittel der richtige Begleiter. Keiner hielt sie für Leute vom Hof – eine Edle hat ihr Kind nicht
dabei. Und bald stellte sich heraus, dass Barbara ab und zu anfing zu
quietschen. Cuno schaute sich jedes Mal vorsichtig um, und es waren
immer „gehobene“ Leute, die das Kind zum Lachen brachten, sei es,
weil die steife Kleidung oder ihr Gehabe das Kind amüsierten.
Viele der Stände auf dem Markt boten Lebensmittel feil, Brot Wurzelgemüse, Fleisch und auch schon die ersten Puffbohnen, eine Erfurter
Spezialität. „Wie schmecken die?“ „Ich bin ganz sicher, dass Mutter
schon für den Abend solche Bohnen hat vorbereiten lassen! Aber schau
mal, diese süßen Kuchen – sollen wir davon nicht einen mitnehmen?“
Im Gehen von dem Kuchenfladen abbrechend schlenderten sie weiter,
und als sie an den Kaufläden auf der Brücke ankamen, staunte auch
Cuno über das Angebot, obwohl er ja schon oft in Erfurt gewesen war –
aber nie auf dem Markt! Es wurden Gewürze feilgehalten, die beide
noch nie gesehen oder geschmeckt hatten. Natürlich wurden in Steigerthal und auch in Pisek Speisen mit Salz gewürzt und auch haltbar gemacht; wenn sie nicht mehr ganz gut waren, kamen Pfeffer und Nelken
zum Einsatz. Aber hier gab es grüne, gelbe, rote Pulver mit intensivem
Geschmack. Salwa nahm von allem etwas mit. Dann gab es die Stände,
an denen Beutel und Taschen aus Leder oder aus Stoff verkauft wurden,
Bänder, Gürtel, Spitzen. Und eine Vielzahl von Gold- und Silberschmieden, die für den Reichtum der Stadt standen, boten allerfeinstes Geschmeide an. Bei einem der Juweliere erstand er für das Kind ein Kettchen mit einer kleinen Heiligen Barbara, selbst in der Miniatur an der
Kerze in ihrer Hand zu erkennen, und für Salwa eine zwei Finger breite
goldene Kette, die wie gewoben aussah, mit einem Jadestein in der
Mitte.
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Ein Kuss von beiden Frauen war ihm eine vorläufige Belohnung!
Zurück auf dem Petersberg waren sie Zeuge der Rückkehr der Jagdgesellschaft: Der junge Landgraf ritt mit dem Falken auf der Faust vorneweg, ein gewandter, gutaussehender Mann von kaum mehr als zwanzig
Jahren, gekleidet in edle Stoffe in Grün, eine exakt gestutzter Bart gab
dem Gesicht Kontur, die hellen, etwas farblosen Augen schienen alles
zu sehen, was zu sehen war, auch die drei Zuschauer. Dann kamen die
hohen Herren, darauf folgten die Jagdknechte und hinter ihnen die Damen, zerzaust, schwitzend, aber fröhlich. Als Ada die junge Familie am
Wegesrande entdeckte, lenkte sie ihr Pferd unter den missbilligenden
Blicken der anderen Damen, besonders der verwitweten Landgräfin Elisabeth, aus dem Zug und ritt hinüber, wo sie von Cuno aus dem Sattel
gehoben wurde. Er drückte sie an sich: „Mutter!“ „Vorsicht, denk an
deine Rippen!“ Aber auch sie drückte ihn an sich und nahm dann Salwa
und die Kleine in ihre Arme. „Es ist so schön, euch zu sehen. Ich habe
hier einen Menge Freunde, aber die Familie fehlt mir doch sehr, mehr,
als ich vor zwei Jahren gedacht hätte! Und Gernot – dein Vater – geht
ganz in seiner Münzerei auf und gehört ja auch nicht mehr zu den großen Unterhaltern.“
So hatte sie das schon ausgedrückt, als sie kurz vor dem Fest zur Geburt
des Herren mit Gernot in Steigerthal war; der Hof war auf dem Weg
nach Quedlinburg und hatte für ein paar Tage Quartier im Kloster Himmelgarten in Nordhausen genommen; sie waren gnädiglich für ein paar
Tage nach Steigerthal entlassen worden, nicht weil sie Gelegenheit haben sollten, ihre Großtochter zu sehen, sondern damit Gernot weiteres
Silber holen konnte.
Landgraf Friedrich war der Stiefbruder Adas, aber außer dem gemeinsamen Vater verband sie wenig, noch weniger als Ada gedacht hatte:
Sie war älter als seine Mutter, teilte seine Interessen wie Jagd, Kleidung,
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Spiel nicht; er fand kein Gefallen an tiefergehenden Gesprächen oder
der Musik, und ihre uneheliche Herkunft ließ er sie häufig fühlen, so
dass die gewünschte Rückkehr an den Hof nicht so wie geplant verlaufen war. Und dann war für die Frau, die ihr Leben lang gearbeitet hatte,
der Müßiggang am Hof schwer erträglich. Sollte sie vielleicht mit den
anderen Damen Altardecken besticken? Gut, sie hatte Barbara ein Jäckchen gemacht, aber ihr stand der Sinn eher nach einer Arbeit, die Ertrag
für alle brächte.
Sie brachte Salwa und das Kind in ihre Gemächer; Cuno ging zu den Stallungen und den Gesindehäusern um nach zu schauen, ob seine Leute
und die Tiere gut versorgt waren. Als er sich den Stallungen näherte, in
denen gerade die Pferde, die die Jagdgesellschaft getragen hatten, abgerieben und versorgt wurden, war er wieder einmal froh, dass er Wolf
bei Anja gelassen hatte: Dutzende von Jagdhunden, der Zucht ihrer Herren entronnen, balgten und bissen sich vor den Stalltüren, und keiner
der Knechte hatte die Zeit, die Hunde zurecht zu weisen. Wolf wäre in
bitterste Kämpfe verwickelt worden. Ein scharfer Pfiff Cunos, dann beruhigten sich die Hunde etwas und liefen zum Kochhaus, wo sie aus der
Wasserrinne schlapperten und auf ihr Fressen warteten.
Auch die Hofgesellschaft wartete auf das Abendmahl. Cuno, der sich am
Brunnen noch Hände und Gesicht gewaschen hatte, sah seinen Vater
im Gespräch mit der verwitweten Landgräfin Elisabeth, sie an der Hohen Tafel sitzend, er davor stehend. Er ging gemessenen Schrittes hinüber und wartete, bis die Herrin gesehen hatte, dass jemand wartete,
ohne das Gespräch unterbrechen zu wollen. Als sie ihm daraufhin ihr
Gesicht zuwandte, verbeugte er sich, nahm ihre dargebotene Hand und
begrüßte sie formell: „Gnädige Frau, ich bin Cuonrad von Steigerthal“,
ein Seitenblick von ihr zu Gernot, „und von Herrn Friedrich an den Hof
geladen, um an der Stelle meines älteren Bruders das Lehen zu nehmen,
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das wir seit Generationen innehaben und ihm dazu den Treueid zu leisten, da mein Bruder in die Dienste Eures Vaters, Kaiser Ludwig getreten
ist.“ „Ihr seid also die heutige Quelle des Reichtums Thüringens! Ihr holt
Silber aus der Erde, das sonst niemand finden würde und gebt der Landgrafschaft die Hälfte ab, obwohl Ihr all die Mühe habt! Ich glaube, nur
König Johann von Böhmen hat ein ähnliches Glück, dass er ohne eigene
Leistung Reichtümer bekommt – oh, ich vergaß, Euer Vater hat mir erzählt, dass Ihr mit diesem Johann durchaus bekannt seid. Aber wenigstens geben unsere Friedriche das meiste Geld für das Wohlergehen und
die Sicherheit des Landes aus – nicht so wie Johann!“ Innerlich musste
Cuno grinsen: er wusste, dass seine Mutter Ada eine scharfe Zunge haben konnte, Gräfin Elisabeth aber ganz offensichtlich auch; das schien
ein Markenzeichen des thüringischen Herrscherhauses zu sein! Dann
wurde er leicht rot und vergaß, dem Gespräch zwischen der Gräfin und
seinem Vater zu folgen: auch seine Salwa hatte eine scharfe Zunge –
aber er hatte keine Absicht auf Herrschaft! „…deswegen ist es mir wichtig, dass Ihr meinen Sohn darin unterstützt, die Angriffe des durchaus
adeligen, aber gierigen Hauses Askanien, das uns bedrängt, so gut wie
möglich abzuwehren, ohne sie anzugreifen. Es kann schwierig für Friedrich werden, wenn das Silber dazu fehlt.“ „Dann müsste ich ihm verschweigen, dass Cuno“, er legte die Hand auf die Schulter des Sohnes „
mehr als hundert Pfund heute in die Schatzkammern befördert hat. Da
kommt der Landgraf.“
Alle im Saal, der eigentlich das Refektorium des Klosters war, erhoben
sich und warteten, bis der Landgraf den Platz neben seiner Mutter eingenommen hatte. Erst als er sich gesetzt hatte, setzten sich auch die
anderen wieder, sofern sie schon angestammte Plätze hatten oder
ihnen Plätze zugewiesen worden waren. Cuno kam das ein bisschen so
vor wie das, was er von der böhmischen Königin Elisabeth über die französische Etikette gehört hatte – es erschien unnatürlich. Als Friedrich
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Platz genommen hatte, richtete er die Blicke auf Vater und Sohn Steigerthal und sagte: „Ihr, junger Mann, müsst Cuonrad sein, die silberne
Stütze der Landgrafschaft! Seid willkommen und nehmt Platz bei uns
hier oben – Gernot, du kennst deinen Platz! Kommt Ada und die, wie
ich gehört habe, schöne junge Steigerthalin auch?“ Er schüttelte Cunos
Hände und wies ihm einen Platz neben sich zu – allerdings war noch ein
freier Stuhl dazwischen. Als die beiden benannten Frauen die Halle betraten, stand Friedrich auf und wartete, bis sie die Hohe Tafel erreicht
hatten. „Gnädige Frau – nehmt Ihr mit einem Platz neben Eurem Gemahl vorlieb? Und Ihr, Salwa von Steigerthal, darf ich Euch an meine
Seite bitten?“ Salwa knickste leicht, wie sie es in Pisek gelernt hatte und
nahm zur Rechten Friedrichs Platz. „Berte ist bei der Kleinen, die schlief
schon, als ich ging!“ flüstere sie Cuno schnell zu und wandte dann ihre
ganze Aufmerksamkeit dem Landgrafen zu. „Auf das Wohl unserer
Gäste! Möge ihr Weg erfolgreich und gut für Thüringen sein!“ Damit
leerte er seinen Pokal und begann Salwa auszufragen. Die junge Frau,
gewaschen, wenn auch nicht gebadet, schien frisch und munter zu sein.
Sie hatte die Haare gelöst und die kastanienbraunen Massen mit einem
einfachen Silberreif gebändigt; die Lippen waren noch röter als sonst,
das Ergebnis der Gewürzproben, die Haut schimmerte seidig und das
hochgeschlossene Kleid aus feinstem, weißen Leinen war an den Ärmeln mit Spitzen in der Farbe ihrer Augen besetzt. Am Hals trug sie das
Geschenk Cunos vom Nachmittag.
Friedrich war neugierig. Er fragte, wo und wie sie aufgewachsen sei, wie
sie Cuno kennengelernt und ob sie ihn sich ausgesucht habe, woher sie
sicher gewesen sei, dass er der Richtige war… Als sie irgendwann nachfragte, ob sie das wirklich beantworten müsse, hielt er inne : „Verzeiht,
wenn ich so viel frage und wissen will, aber ich habe eine Dame getroffen, die mir sehr am Herzen liegt – glaube ich! Und wenn ich all die hier“,
und hier zeigte er mit einer Handbewegung über Hohe Tafel und die
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ersten Tische in der Halle, „frage, kommt immer die gleiche Antwort:
Deine Mutter wird dir schon die richtige Frau heraussuchen. Ich will
aber die Genannte, wenn ich mir sicher bin, dass ich mehr will als nur
ein Abenteuer! Woher habt Ihr das gewusst?“ Die Frage ging an Cuno.
„Ich war zwölf, als ich Salwa das erste Mal gesehen habe, sie elf. Ich war
gebannt von ihr, sie war so selbstsicher, so schön – und ich wusste eigentlich noch nicht wirklich, wer ich war. Und dann habe ich sie die
Jahre über immer wieder gesehen, und als ich mir überlegte, was es
heißt, jemanden zu lieben, da habe ich mir gedacht: jeden Tag mit dieser Frau verbringen, jeden Tag neben ihr aufwachen und – das schon
auch – jede Nacht mit ihr genießen. Das war es, das wollte ich. Da war
ich sicher. Und als vor der Hochzeit Abt Onno, Euer Onkel, mir noch
klarmachte, was gemeint ist, wenn es heißt, dass Jesus die Menschen
liebt, nämlich dass er sie schützen will vor dem Bösen, da war ich sogar
ganz sicher!“ Während er sprach hatte Salwa ihre Rechte auf seine immer noch nicht ganz gesunde linke Hand gelegt, und er hatte ihre Hand
mit seiner Rechten bedeckt und die strahlenden Augen, mit dem sich
die beiden anschauten, und den Friedrich von der Seite sehen konnte,
sprach Bände. „Also, das muss ich mir überlegen! Wenn ich das auch so
empfinde, dann werde ich sie heiraten, und wenn sie aus dem den Wettinern feindlichsten Geschlecht wäre! Das ist sie nicht, aber Ihr beide
seid bei der Hochzeit dabei!“ Sprach‘s, hob seinen Pokal, dass er neu
gefüllt würde und befahl, das Essen zu bringen.
Bis die Mägde die Platten aufgetragen hatten, beladen mit Bratwürsten,
Sauerkraut und salzigem Haferbrei, gewürzt mit ein wenig von dem aus
fernen Ländern kommenden gelben Pulver, erklärte er Cuno, wie der
Abend ablaufen sollte: „Nachdem du“ , er war zu dieser persönlichen
Anrede übergegangen, als Landesherr dazu berechtigt, „ durch die Verschüttung im Berg deinen Wert als Ritter für das gemeine Ritterheer
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nicht beweisen kannst, bevor du völlig genesen bist, habe ich mit deinem Vater vereinbart, dass ihr zwei den ersten Schreittanz anführt und
mir dann einen Silberbarren auf die Tafel legt. Damit kann ich allen im
Saal, auch den immer Unzufriedenen beweisen, dass deine Belehnung
mit Steigerthal und Stempeda, fürderhin nur noch Steigerthal genannt,
für unser Land von großer Wichtigkeit ist. Und wenn du dann noch so
freundlich wärest, vor mir auf das rechte Knie zu fallen und die rechte
Hand zum Treueschwur zu erheben, wäre schon fast alles klar. Der
Haushofmeister hat die Urkunde schon erstellen lassen, ich habe bereits unterschrieben und gesiegelt, und er wird dir vorsagen, wie der
Text des Eides geht! So, und nun guten Appetit, ihr beiden Glücklichen!“
Und damit verschwand das erste der kleinen Bratwürstchen in seinem
Mund.
Es folgten Wildbret, Geflügel, Fisch, alles begleitet von den berühmten
Puffbohnen, frischem Brot und zu Ehren Salwas Scheiben von böhmischen Knödeln. Den Abschluss bildete für jeden Tisch, auch für die Tafel,
eine große Schale mit dicker, süßer Sahne und Himbeeren.
Während die Letzten noch der Sahne und vor allem Wein und Bier zusprachen, betraten fünf Musikanten die Halle und begannen zu spielen.
Als dann der Rhythmus des Schreittanzes aufklang, stand Friedrich noch
einmal auf, gebot mit einer Handbewegung Ruhe und wandte sich an
die Edlen im Saal: „Herren und Damen, es wird sogleich getanzt werden,
aber den ersten Tanz möchte ich nur dem Ritter neben mir und seiner
Gemahlin widmen.“ Cuno erhob sich, führte Salwa zu der kleinen Tanzfläche, die schnell für sie freigeräumt worden war und tanzte mit ihr in
der vorgeschriebenen Form den ersten Tanz. Als die Musik endete,
schritten sie, noch ganz im Takt, zur Hohen Tafel, blieben vor Friedrich
stehen und dann legte Cuno einen Silberbarren, den ihm Gernot vorher
gegeben hatte, vor den Landgrafen.
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„Herren und Damen, dies ist eine besondere Gelegenheit. Dieser junge
Ritter, Cuonrad von Steigerthal, den König Johann von Böhmen nach
tapfersten Taten in sehr jungen Jahren schon zum Ritter geschlagen hat,
hat eben den Beleg dafür auf die Tafel gelegt, warum er zu den höchsten der Landgrafschaft gehören muss, auch wenn er als Folge seines
Schaffens uns im Moment in keinem Tjost seinen Wert als Ritter beweisen kann: Er verwaltet für seinen Vater, unseren Münzmeister, den Ihr
alle von zahllosen Bittgängen um Geld kennt, die Lehen Steigerthal und
Stempeda. Er holt Reichtum aus der Erde, der sonst in der Erde bliebe,
und gibt Thüringen die Hälfte des Reichtums, obwohl alle Mühe bei ihm
und seinen Männern liegt. Mit diesem Silber haben wir die Askanier zurückgewiesen, mit diesem Silber sind wir vor den Wittelsbachern geschützt gewesen und mit diesem Silber hat schon mein Großvater Thüringen gestärkt. Nachdem der rechtmäßige Erbe, Gernot von Steigerthal, bei eben diesem Wittelsbacher Amt und Lehen genommen hat und
nie zum Reichtum Thüringens beitrug, erscheint es mir nur gut und dem
göttlichen Willen entsprechend, dass ich dich, Cuonrad von Steigerthal
mit dem Lehen deiner Ahnen und dem dazugewonnen Gebiet Stempeda belehne! Haushofmeister – die Urkunde!“
Cuno sank, wie vereinbart, auf das rechte Knie, hob die gesunde Rechte
zum Schwur und sprach die Eidesformel nach, die ihm der Haushofmeister vorsagte: „Ich gelobe, die mir verliehenen Lande allzeit gut und zum
Nutzen der Landgrafschaft Thüringen zu verwalten, dem Landgraf zu
geben, was des Landgrafs ist und ihm in Treu und Ehr zu Diensten zu
sein. Sollte ich fehlen, so sei mir gerechte Strafe gewiss, sollte ich Schutz
und Hilfe brauchen, so ist auch das mir gewiss “
Friedrich kam vor die Hohe Tafel, hob Cuno auf und schlug ihm mit Herzhaftigkeit auf die Schulter, umarmte Salwa vorsichtig und entführte sie
sofort zum Tanz, während Cuno durch die Tische der Edlen schritt und
die Glückwünsche entgegen nahm. Und dann musste auch er mit vielen
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der anwesenden Damen tanzen, während Salwa von Arm zu Arm glitt.
Als die Musik eine Erfrischung zu sich nahm und der Tanz unterbrochen
wurde, ließ sich die junge Frau vom letzten Tanzpartner zur Hohen Tafel
geleiten; Cuno war im Saal noch ins Gespräch vertieft, und Gernot besprach abseits der Tafel intensiv mit einem Bittsteller ein Problem. „Darf
ich mich zu dir setzen?“ fragte Salwa ihre Schwiegermutter. „Von Herzen gern, setz dich!“ Ein Schluck aus dem Pokal. „Haben Cuno und ich
das richtig verstanden, dass der Hof zwar dein Zuhause ist und Erfurt
die Stadt, wo du die meiste Zeit deines Lebens vor der Hochzeit verbracht hast, aber es fehlt dir so einiges?“ „Kluge Kinder! Ja, mir fehlt
vieles: die reine Luft, der Morgenspaziergang durch die taufeuchten
Wiesen, ihr Kinder, mein Hausstand, die Mägde und Knechte, die Leute
aus dem Dorf, die Tiere… Und manchmal fehlt mir auch Gernot, der
zwar des nachts neben mir liegt, aber so erschöpft ist von seinem
Dienst, dass wir die Gespräche, die wir früher hatten, als wir noch auf
unserer Burg waren, nicht mehr führen brauchen – es gibt nichts, wo
ich meine Meinung einbringen oder etwas selbst entscheiden kann –
und ich fürchte, wir haben verlernt, diese Gespräche zu führen.“ „Ich
kann dazu eigentlich nichts sagen, aber ich weiß schon jetzt, wie das ist,
wenn der Mann mit dem Kopf so weit weg ist, weil ihn so vieles umtreibt. Wenn du dich hier nicht wirklich wohlfühlst, komm doch mit zurück zu uns; du wärest keine Belastung, sondern ich wäre froh, wenn
ich vieles abgeben könnte, damit ich mehr Zeit für Barbara und ihre Geschwister habe!“ „Möchtest du denn viele Kinder?“ „Ich war als Kind so
allein, weil meine Eltern ja schon starben, als ich noch keine drei Jahre
alt war. Graf Heinrich und seine Frau haben mir immer alle Wünsche
erfüllt, aber ich hatte keine Schwester, keinen Bruder und auch keine
wirkliche Freundin. All das möchte ich für unsere Kinder. Und wenn du
bereit wärst, als Großmutter auch für uns alle da zu sein, wäre das wunderbar.“ Ada nahm sie nochmal in den Arm und flüsterte: „Können wir
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die Kleine noch einmal anschauen gehen?“ Salwa nahm ihre Hand und
zog sie zur Treppe. Als sie vorsichtig die Tür öffneten, sahen sie die
Kleine , die geballten Fäustchen an die Backen gehoben, tief und fest
schlafend; auch Berte schlief, aber das stand ihr ja zu. Ada strich Barbara
vorsichtig eine Haarsträhne aus der Stirn und sie verließen den Raum.
„Sie wird so schön wie du! Salwa, ich danke dir für das Angebot, das du
sicher gemacht hast, ohne Cuno zu fragen! Ich werde es überlegen und
natürlich mit Gernot besprechen. Du musst sicher noch einmal hinunter
in die Halle, Ich gehe schlafen.“ „Schlaf gut“ und damit trennten sich die
beiden Frauen.
Als Cuno und Salwa nach einem langen Abend endlich ihr Lager teilen
konnten, fragte sie, ohne mehr zu verraten: „Ich habe deine Mutter
schon immer sehr gemocht, aber sie trat mir heute mit solcher Herzlichkeit und Offenheit entgegen, dass ich nicht weiß, was ich davon halten
soll.“ „Vielleicht liegt es daran, dass sie zwischen Gernot und mir drei
Kinder geboren hat, drei Töchter, die alle bald verstarben – ich könnte
mir vorstellen, dass du für sie ein Ersatz für die verlorenen Mädchen bist
und Barbara in doppelter Hinsicht ihr Enkel. Aber sie sagte ja auch, dass
sie sich einsam und nutzlos fühle – da kommen wir drei Glücklichen
doch gerade recht!“ Sie schmiegte sich an ihn und war bald eingeschlafen.
Aus den Analen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation
1333)
Karl, eigentlich Wenzel von Böhmen, der Sohn König Johanns, erobert für seinen Vater in Norditalien ein Reich, das von Siena und
Lucca bis an die Grenzen Tirols reichte. Die vereinigten Heere der
Signorien Oberitaliens und der Republik Florenz schlug der Siebzehnjährige schon Ende November 1332 bei San Felice nahe Modena.
262
Kaíser Ludewig, genannt der Bayer, aus dem Hause Wittelsbach,
festigt durch Gnadenerweise und Rechtsabtretungen an Äbte und
Bischöfe, an Städte und Gilden seine Unabhängigkeit von anderen Reichsfürsten, vergibt aber die Mittel, mit denen der römische
König oder der Kaiser seine Herrschaft aufrechterhalten kann,
nur um andere Reichsfürsten zu schwächen und seinem Haus die
Thronfolge erblich zu machen.
Friedrich von Thüringen, genannt der Ernsthafte, heiratete, nachdem er die ihm bestimmte Braut, Elisabeth von Böhmen, Cousine
Karls, zurückgeschickt hatte, Mechthild von Bayern, die Tochter
des Kaisers Ludwig. An Stelle der versprochenen Mitgift erhält er
die Stadt Nordhausen als Pfand, geht aber trotzdem stetig und
treu auf die Seite der Wittelsbacher über. Er lässt seine Schwester
Elisabeth, Landgräfin von Hessen, nach Thüringen entführen,
weil ihr Gemahl die Luxemburger unterstützt und mögliche Kinder zum Erbschaftsstreit hätten führen können. Die steigenden
Kosten seiner Politik gedenkt er, mit Silber aus Steigerthal zu decken und zu diesem Behufe überschüttet er das kleine Lehen und
seinen Vasallen mit Zeichen des Wohlwollens, die nichts kosten.
Steigerthal, Sommer 1333
Cuonrad von Steigerthal, nun ein gestandener Mann von neunundzwanzig Jahren, gehörte inzwischen zu den reichsten Rittern des Landes
und war für alle, die ihm nahestanden, immer noch Cuno. Für alle. Es
hatte sich viel verändert in diesen zehn Jahren. Cuno und Salwa lebten
immer noch in der trauten Gemeinsamkeit, die sie von Anfang an miteinander hatten, aber sie hatten sich auch verändert.
Cuno, längst von seiner Verschüttung genesen, hatte sich in Tjost und
Turnier zumindest die Achtung der anderen Ritter in der Nähe verschaffen können; sein Rat, und oft seine Hilfe, hatten Angriffe, wie die, die
vor zwanzig Jahren das Bergwerk fast zerstört hätten, hoffentlich unmöglich gemacht. Der erste Schacht war endgültig ausgebeutet und um
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den Wegfall des Silbers auszugleichen, hatte Cuno und sein Bergmeister
Gerhard Schacht um Schacht abgetäuft, bloß um nach wenigen Monaten festzustellen, dass auch hier das Silber rar war. In seiner Ratlosigkeit
hatte Cuno sich auf den Weg nach Jihlava gemacht, wo er den Schwarzen Boris, der nicht mehr als Bergmeister arbeitete, aber wenigstens
noch relativ gesund lebte, einladen wollte, ihm noch einmal zu helfen,
nachdem der Schacht, den Boris und Cuno bei der Hochzeit angesetzt
hatten, immer noch ertragreich war. Salwa hatte ihn auf der Reise, die
vor zwei Wintern stattfand, begleitet um Barbara, Gernot und Cuonrad
ihren Paten in Pisek vorzustellen und wieder einmal im Tschechischen
zu schwelgen. Graf Heinrich und Gräfin Ermingilde waren sichtbar gealtert, aber Salwa fand ihre Jugendzeit wieder und war für die wenigen
Tage, die sie in der Stadt an der Otava weilte, glücklich, so wie die Grafen mit ihren ‚Enkeln‘. Cuno wurde von einem immer noch dickeren Boleslav empfangen, der sich über den Lebensweg seines Knappen freute,
als ob er sein eigenes Kind sei. Seine nicht weniger dicke Gemahlin Aljina war zu ihren Vorfahren heimberufen worden und da ihn niemand
mehr einschränkte, bestand Boleslavs Leben hauptsächlich aus Trinken
und Essen, wozu er immer Gesellschaft brauchte und deshalb Cuno
nicht von seiner Seite ließ, bis der alles Wichtige erzählt und zwei Mahlzeiten verzehrt hatte. Der Schwarze Boris war gern bereit, Cuno nach
Steigerthal zu begleiten. Da war noch etwas, was Boris zusätzlich bewegte: Anja hatte Cuno gebeten, mit nach Böhmen kommen zu dürfen;
Egbert schaute nach Wenzel und der kleinen Ada, so dass sie das Gestüt
kurz sich selbst überlassen konnte, aber es war immer noch der Weiße
Boris, an den sie Fragen hatte und von dem sie wissen wollte, was sie
besser machen könnte. Und beide Borise wollten mitkommen, nachdem sie weder ihre Arbeit noch ihre Familie in Jihlava hielt. Und die
Reise war für alle erfolgreich gewesen: der Schwarze Boris hatte mit
Gerhard und Cuno drei Schächte abgetäuft, die bessere Ergebnisse zu
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bringen versprachen als der alte Schacht, in dem Gerhard und Cuno verschüttet worden waren. Der Weiße Boris hatte enge Freundschaft mit
Egbert geschlossen – das war seine Weise, sein Verlangen nach Anja in
geregelte Bahnen zu lenken, und alle drei zusammen fanden Regeln und
Wege, die Pferdezucht noch erfolgreicher zu machen und Krankheiten
zu beseitigen oder gar nicht erst aufkommen zu lassen; Anja war so erfolgreich, dass sie den Hochzeitspavillon zum Stall umbauen lassen
musste. Als sich nach einigen Monaten die beiden Borisse reich beschenkt auf den Rückweg machten, indem sie sich einem der nun längst
üblichen Austausche von Rittern anschlossen, waren die beiden, das
Bergwerk und das Gestüt auf einem guten Weg.
In Steigerthal selbst war viel geschehen in den Jahren seit der Belehnung; Cuno hatte das ganze Lehen auf den Ertrag des Bergbaus abgestellt; die landwirtschaftlichen Flächen in Stempeda dienten dem Anbau
von Getreide und Gemüse für alle Bewohner; Cuno hatte die Bauern mit
Festpreisen dazu gebracht, die benötigten Mengen von Getreide, Bohnen, Fleisch und Beeren zu liefern, sofern das Wetter es ermöglichte.
Da er höhere Preise garantierte als die umliegenden Märkte, fehlten im
Lehen selten die Grundnahrungsmittel, die es den Handwerkern, Steigern, Hauern und Knechten möglich machten, ohne Überlebenssorgen
Silber und alles was dazu gehörte zu produzieren. So hatte ein wandernder Schmied die Gelegenheit ergriffen, aus besonders hartem Eisen
Meisel und Hämmer herzustellen, die den Steigern die Arbeit leichter
machten; ein jüdischer Händler hatte Scheuklappen mitgebracht, die
den im Kreis laufenden Ochsen der Hebe – und der Mahlwerke das Arbeiten erleichterte, ein findiger Schuhmacher hatte die Idee verbessert
und lieferte diese Scheuklappen nun nicht nur ins eigene Bergwerk,
sondern sogar bis nach Böhmen; ein Jugendfreund von Franz, dem Zimmermann, der mit seiner Berta unterdessen schon fünf Kinder hatte,
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hatte sich im Dorf angesiedelt und stellte mit Hilfe eines von Franz gebauten Mühlrads auf einer Drehbank Platten, Teller und Schalen aus
Holz her, die er im ganzen Umkreis verkaufte; zu den beiden Bäckern
war ein dritter gekommen, ein Geselle, der um das Recht gebeten hatte,
ebenfalls backen zu dürfen, obwohl er noch nicht Meister war. Nach
einer Befragung der beiden ansässigen Meister und einer Absprache
darüber, wer was herstellt, ließ Cuno ihn backen und seine Kuchenfladen und Lebkuchen gingen auf allen Märkten der Umgebung weg wie
die sprichwörtlichen warmen Semmeln; alle Flächen, die im Lehen nicht
direkt für den Ackerbau nutzbar waren, hatte Cuno mit Fichten, Kiefern
und Tannen aufforsten lassen: sie wuchsen relativ schnell und ihr Holz
gab mehr Hitze als die bisher dort wachsenden Birken, wenn auch weniger als Buchen oder Eichen, abert sie wuchsen eben viel schneller als
diese; damit hatten die Köhler meist genügend Rohmaterial, um in Dorfnähe Holzkohle zu gewinnen und die Schmelzöfen zu versorgen, ohne
dass allzu oft Kohle von außerhalb des Lehens zugekauft werden
musste. Die Holzasche, die als Abfall beim Anfeuern und in der Nähe
des Luftschachts entstand, wurde gleich am Kohlenmeiler gesammelt,
zu Pottasche verarbeitet und an die Waldglashütten verkauft. Wenn es
Cuno noch gelänge, an das Rezept für die Glasherstellung zu kommen!
Selbst der Ruß wurde gesammelt und zu Schuhwichse und Tinte verarbeitet, so dass sich die unglaublich harte Arbeit der Köhler, die Tag und
Nacht ja fast stündlich kontrollieren mussten, ob das Holz auch nur
gloste und nicht brannte, wenigstens lohnte.
Bei all diesen Arbeiten, die ihn ständig in Bewegung hielten, war Cuno
älter, aber auch etwas kräftiger geworden. Seine Locken waren nicht
mehr ganz so voll, die ersten Falten waren nicht mehr zu übersehen.
Salwa machte sich oft darüber lustig, um ihn zu foppen. Auch sie war
nicht ohne Veränderungen durch die letzten zehn Jahre gegangen, aber
sie fühlte sich wohl in ihrer Rolle. Und sie hatte in Anja, Adelheid, der
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Tochter des Bergmeisters, und der Freifrau Hildegard von Uthleben
Freundinnen gefunden, die sich trotz aller Standesunterschiede so nahe
standen, wie Frauen es gerne haben. Diese Zufriedenheit trug natürlich
auch dazu bei, dass sie wie ihre Schwiegermutter Ada in sich ruhen
konnte. Ihr ging es gut und sie strahlte das aus mit ihrer Fröhlichkeit,
ihrem Witz und ihrem ganzen Körper, den sie so, wie er war, mochte.
Wenn Cuno sie anschaute, stellte er natürlich fest, dass die drei Geburten ihren jungfräulichen, glatten Leib schon ein wenig weniger glatt hatten werden lassen, aber wenn Cuno sie in so manchen Situationen sah,
stieg immer noch ein heißes Begehren nach dieser Frau in ihm auf und
das Erstaunen, dass sie zu ihm gehörte! Sie hatte ihre kecke Zunge nicht
nur nicht verloren, sondern sogar noch geschärft; ihre Haarpracht war
dicht und kastanienfarben wie eh, ihr ovales Gesicht mit dem Reiz des
leicht Böhmischen war so anziehend wie immer, ihre Haut glänzte seiden, und die etwas volleren Hüften wurden durch die etwas volleren
Brüste ausgeglichen; wann immer er sie im Bad oder auf dem Lager
nackt sah – ihr Körper schien ihm weiterhin vollkommen.
Barbara war ein kleines Ebenbild von Salwa geblieben, mit nun zehn
Jahren schon fast ein kleines Fräulein, aber gleichzeitig auch ein absoluter Wildfang, der sich mit Wenzel Wettreiten lieferte, sich mit den andern Kindern der Burg und des Dorfes prügelte, mit allen gut Freund
war und gemeinsam mit den anderen versuchte, den Dorfpfarrer beim
Unterricht zu ärgern! Cuno hatte den Priester gebeten, die Kinder von
Steigerthal ab dem sechsten Lebensjahr in Dingen der Religion zu unterrichten, aber auch in Lesen, Schreiben und Rechnen und die Kosten
dafür übernommen, da er fest davon überzeugt war, dass diese Kinder
irgendwann mehr wissen müssten als ihre Eltern, um gut zu überleben.
Die gleiche Barbara erschien dann mit gezierten Schritten und hochgestecktem Haar zum Abendessen und spielte das Burgfräulein. Der kleine
Gernot, der der Überlieferung gemäß einst als Ritter Steigerthal das
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Lehen und alle seine Belastungen übernehmen würde, war dagegen ein
stiller, ernster, lieber kleiner Junge, auch wenn er jetzt schon sechs
Jahre alt war – sein Pate, Abt Ono von Nordhausen, sagte immer, er sei
der ideale Mönch für das Kloster Himmelgarten. Und dann war da der
kleine Cuonrad, natürlich auch Cuno genannt: fürwitzig, frech, vorlaut
und ohne Angst: Er lief mit zwei Jahren Anja, die von nichts wusste, hinterher ins Gestüt, ging in die Stallungen, pikste die Hengste in die empfindlichsten Stellen, flüchtete dann die Leitern hoch ins Heu und beschimpfte Anja oder Egbert, wenn sie ihn zur Rechenschaft ziehen wollten. Langeweile war auf Burg Steigerthal nicht bekannt.
Da passte es gut, dass Ada tatsächlich das Angebot Salwas angenommen hatte und zumindest für viele Monate im Jahr wieder auf Steigerthal residierte. Cuno hatte sich so gefreut, dass er den ganzen Palas umgestalten ließ: Neben der Kemenate, die ihm und Salwa vorbehalten
war und die das für sie gebaute Bad einschloss, wurden Räumlichkeiten
für die Kinder und die Mägde, die sich um sie kümmern sollten, angebaut. Eine sehr begehrte Arbeit für junge Frauen im Lehen! Dann wurde
ein Stockwerk höher ein Bereich für Gäste errichtet – Franz baute das
Dach zum zweiten Mal neu – und in diesem Bereich erhielt Ada eine
eigene Kemenate, natürlich mit Bad.
Im Dorf hatte sich die Zahl der Menschen stark vergrößert: gesicherte
Arbeit und gesicherte Löhne ließen Zuwanderer ins Lehen kommen, die
gesicherte Nahrung ließ die Menschen gesünder bleiben, gesündere
Menschen bekamen gesündere Kinder und die alte Agnes hielt mit ihren
Regeln zum gesunden Leben nicht hinterm Berg – und da sie den Krug
Bier niemals verbot, nahm man ihre Regeln gerne an. Cuno hatte sich
Erfurt als Beispiel genommen und alle Gassen im inneren Dorfbereich
pflastern lassen, mit einem kleinen, aus dem Krebsbach gespeisten
Wasserlauf in der Mitte, der den Unrat wegtransportierte.
268
Und mit dem Wohlstand in Steigerthal hatten die benachbarten Ritterschaften und Lehen ihre Probleme: Sei es Sonderhausen, Franzenhausen oder Nordhausen – überall herrschte Mangel, bei den Menschen in
den Dörfern, bei den Bürgern in den größeren Städten, bei den Edlen.
Kriege, Fehden und Misswirtschaft forderten ihren Tribut. Nur das als
unritterlich verspottete Steigerthal gedieh und wuchs und zog Menschen an, die sich als Arbeitskräfte verdingten oder ein Gewerbe ausübten. Zusätzlich hatte Cuno zwei Dutzend Reisige, also berittene Krieger, angeworben um einen Überfall wie in seiner Kindheit zu verhindern
und das Silber zu schützen; für sie waren an der Straße zur Burg
Wohnstätten und Stallungen entstanden. Zur großen Freude Cunos war
eines Tages mit einer Gruppe böhmischer Ritter, die auf dem Weg nach
Quedlinburg waren, sein Knappenbruder Urban aufgetaucht; bald
stellte sich heraus, dass Urban mit seinem älteren Bruder, der das väterliche Lehen übernommen hatte, in Streit lag und nun ein Auskommen suchte. Cuno bot ihm die Hauptmannschaft für seine Reisigen an
und schob ihm auch gleich noch den Knappenmeister unter, als Urban
mit Freude akzeptierte. Damit wusste Cuno seine kleine Truppe und die
zwei Knappen in guten Händen und hatte einen Freund wieder bei sich,
mit dem er über alles sprechen und auf den er sich verlassen konnte.
Urban war nicht so ehrpusselig wie viele andere Ritter und war nun in
der Runde Cuno, Franz und Gerhard der zweite Adlige, aber der vierte
Freund. Und Urban ließ seine Männer so lange und so oft mit allen
Kampfesarten üben, bis sie den Angriff zu Pferd mit Lanze, Schild und
Schwert ebenso gut beherrschten wie den Gebrauch des Handrohrs oder der Armbrust zu Pferd und zu Fuß; die geeigneten Pferde erwarb
Urban zu guten Preisen bei Anja.
Händler aus dem ganzen Reich legten gern ihre Waren im Dorf aus, auch
wenn viel weniger Menschen als zum Beispiel in Nordhausen die Waren
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begutachteten. Steigerthal hatte kein Marktrecht, aber die steigerthalschen Reisigen gaben auch den Händlern Sicherheit. In Nordhausen waren die Marktbesucher meist Neugierige, in Steigerthal meist Käufer.
Und da der Lehnsherr von allen Verkäufen seinen kleinen Obolus erhielt, war Cuno immer geneigt, die fahrenden Händler zu ermuntern.
Besonders erfreut war er, als eines Nachmittags eine Handelsgesellschaft um Schutz und Marktzeit bat, deren Anführerin eine gewisse Rebecca Herschel war. Er erinnerte sich noch gut an den Weg nach Jihlava,
als sie mit den Juden gemeinsam zu Abend aßen und Rebecca ihm die
Reste des Abendessens für den Wölfling überlassen hatte. Als die Reisenden ihr Lager aufgeschlagen hatten, ritt er hinüber und präsentierte
sich der Herrin des Handelshauses, ohne sich vorzustellen. Sie musterte
ihn lange, wusste, dass sie ihn kannte, konnte ihn aber nicht einordnen.
Ein scharfer Pfiff Cunos ließ Wolf herbei stürmen, und da war auch Rebecca klar, wer vor ihr stand. „Ihr seid damals ganz offenbar an Euer Ziel
gekommen!“ und streckte ihm die Hand entgegen. Cuno nahm sie und
fragte: „Wie ist es denn Euch ergangen – Euer Vater hatte ja gefürchtet,
dass sich die Lage der Juden wieder verschlechtern würde?“ „Euer Brief
an den Zeugmeister zu Weimar hat uns Einlass in die Stadt verschafft,
und seitdem wohnen wir im kleinen jüdischen Ghetto in Weimar und
fühlen uns relativ sicher; das hat sogar meinem Vater die letzten Jahre
etwas erleichtert und er verschied in Frieden mit seinem Gott. Seitdem
bin ich das Handelshaus“. Sie lächelte, als sie merkte, dass er sie verstohlen musterte, „auch wenn ich nicht wie ein Haus aussehe.“ „Nein,
das stimmt. Ich hätte nur nicht gedacht, dass eine junge Frau ein Handelshaus führen dürfte!“ „Darf ich auch nicht, ich mache das für meinen
kleinen Bruder Ravi, der noch in Vaters letztem Lebensjahr geboren
wurde, und da er erst drei Jahre alt ist, bin ich sein Vormund. Die großen
Geschäfte mache ich von Weimar aus, aber ich verkaufe gern und gehe
deshalb auch immer wieder mit auf die Märkte! Aber das eigentliche
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Problem der Lage der Nichtchristen ist schon gegeben. Wir hören von
unseren Handelsfreunden in Italien, dass eine furchtbare Seuche im Süden der Halbinsel angekommen ist, die alle, Christen, Juden und Moslems, dahinrafft, und beschuldigt werden natürlich wie immer die Juden.“ „Wisst Ihr Genaueres über die Seuche? Mein Bruder ist nämlich
mit dem deutschen König in Italien um die Erhebung zum Kaiser durch
den Papst mit zu erleben.“ „Noch ist nichts ganz sicher, aber es wird –
und das ist nicht der Pessimismus meines Vaters – schlechter werden
als vorher!“ Cuno lud Rebecca ein, einen Abend in der Halle auf der Burg
zu verbringen, mit Salwa und Ada, um ihre Sicht der Zeiten mitzuteilen,
aber sie lehnte ab: „ Ich bin schon in so vielen Schwierigkeiten, da
möchte ich mich auf kein Streitgespräch einlassen – soviel habe ich hier
nämlich schon gehört, dass Eure Gattin und Eure Mutter durchaus
streitbar sein können. Und ich habe meinem Vater auf dem Totenbett
versprochen, nur noch koscher zu essen, das ist in einem thüringischen
oder bayerischen Haushalt mit vielen Essern nicht zu machen! Ich hätte
gut darauf verzichten können, aber da wir Juden mit dem Ende des Lebens das unwiderrufliche Ende sehen und kein Nachleben wie bei Euch
Christen denkbar ist, gebietet das eigene Leben in Zufriedenheit, sich
an Versprechen zu halten.“ Cuno akzeptierte, wünschte geschäftlichen
Erfolg und ritt grübelnd zurück. Das, was Rebecca ganz am Schluss gesagt hatte, war ihm nicht neu, aber es war doch sehr fremd.
Wenige Abende später war eine noch viel beunruhigendere Nachricht
nach Steigerthal gekommen: Das Wohlergehen der Menschen in Steigerthal hatte ja schon lange den Neid, die Missgunst und den Hass der
anderen Lehensherren in der Region mit sich gebracht. Und als Ergebnis
eines Beichtgesprächs des Herren von Kelbra, des von Steigerthal aus
gesehen nach Mittag gelegenen Lehens, war ohne Zutun des Ritters die
Sacra Rota des Erzbistums von Mainz zu dessen Bereich auch Thüringen
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gehörte, beauftragt worden, die Taten einer gewissen Agnes mit böhmischen Wurzeln auf Ketzerei und Hexerei zu untersuchen! Die Inquisition in Steigerthal! Cuonrad von Steigerthal erhielt den offiziellen Brief
des Erzbischofs mit dem Befehl zur Zusammenarbeit durch einen Boten
aus Erfurt, aber er war von seinem Vater schon gewarnt worden. Salwa,
die die guten Dienste und die Hilfe der alten Agnes genauso gebraucht
und genossen hatte, wie all die Frauen – und viele Verletzte – auf der
Burg und im Dorf, starrte Cuno fassungslos an: „Sie beschuldigen Agnes
der Hexerei und Ketzerei? Wer denkt sich denn so einen Unsinn aus?“
Salwa musste nicht lange auf eine Antwort warten. Im Burghof erschien
in der schwarzen Kutte der Dominikaner- Mönche mit dem weißen Seil
als Gürtel ein Mann, der fast Boleslavs Umfang hatte und sich so einführte: „Ich bin Bruder Laurentius vom ehrenwerten Ordo Fratrum Praedicatorum und komme im Auftrag der Sacra Rota, vertreten durch den
Erzbischof von Mainz. Euch wird vorgeworfen, einer Hexe und damit
Ketzerin in Eurem Lehen Schutz zu gewähren, ja, ihre schändlichen Taten zu unterstützen. Ich muss Euch fragen: Bekennt Ihr das?“ Cuno
schaute dem Dicken drohend direkt in die Augen: „Bevor ich etwas bekennen kann, müsste ich ja wohl erst einmal wissen, was ich da bekennen soll! Wer soll diese Person sein? Was wirft man ihr vor?“ „Eine gewisse Agnes, vor der Inquisition aus böhmischen Landen geflohen. Sie
soll von hier aus die Menschen und Tiere in den Nachbarlehen mit Giftmischerei und Zauberei schädigen.“ „Wie wollt Ihr solch eine Behauptung belegen?“ „Ich bin nur hergeschickt worden, um mich umzusehen,
die Betroffene und die Menschen im Dorf zu befragen. Eine hochnotpeinliche Befragung kann dann nur die Sacra Rota veranlassen.“ „
Eine solche Frau gibt es hier tatsächlich, auch wenn es nur stimmt, dass
sie aus Böhmen stammt. Ich lasse sie rufen!“ „Nein, nein, ich schaue mir
lieber an, wo und wie sie wohnt. Lasst mich zu ihr führen.“ Uno winkte
die beiden Pferdeknechte des Gestüts heran: „Gebt dem Maultier des
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Fraters Wasser und etwas Hafer, dass es den langen Weg bis zur alten
Agnes aushält“ Und auf tschechisch flüsterte er dem einen zu, dass er
ins Gestüt laufen solle und Anja Bescheid geben, damit sie Agnes warnen könnte. Dann rief er eine der gaffenden Mägde zu, dass sie auch
dem Frater einen Imbiss und einen Schluck bringen solle. „Zu gütig, Herr
Ritter“ dankte der Mönch, als er sah, dass ihm ein Becher Wein und frisches Brot mit Fleisch gereicht wurde. Salwa, die die tschechischen
Sätze an den Pferdeknecht auch gehört hatte, ging gemächlich, um keinen Verdacht zu erwecken, zur Halle zurück und erklärte dort einem der
verlässlichen Knechte, was er tun solle: „Du weißt, wo die alte Agnes
wohnt, oder“ Er nickte. „Man braucht kaum mehr als ein viertel Stündchen, um dorthin zu gelangen. Du musst das Maultier des Mönches so
führen, dass der Mönch nicht merkt, dass ihr im Kreis herumlauft; bleib
also immer schön im Wald. Es wird gleich finstere Nacht werden, das
sollte dir das Spiel erleichtern. Warte, bis der Mönch mit Agnes fertig
ist und führe ihn dann genauso im Kreis zurück!“
Als der Mönch den Becher geleert hatte und eigentlich bereit war, sein
Reittier zu besteigen, fragte er Cuno noch scheinbar unverbindlich:
„Wie kommt es, dass hier mitten in Thüringen Böhmen Zuflucht finden?“ „Die meisten sind hier, weil sie Arbeit finden! Ich habe meine
Knappenzeit in Böhmen verbracht und bin von Johann, König von Böhmen, zum Ritter geschlagen worden. Dort habe ich auch das Berghandwerk gelernt, ohne das der Landgraf noch weniger Geld zur Verfügung
hätte. Natürlich habe ich gute und treue Bergleute und Knechte mit
hierher gebracht, und die haben ihre Familien nachgeholt – es ist also
völlig klar, warum hier viele Leute aus Böhmen sind!“ Der Frater gab
sich mit der Antwort zufrieden und ließ das Maultier lostrotten.
Mehr als eine Stunde später erreichte der Mönch die Hütte er alten Agnes, mitten in einer Lichtung gelegen. Der Mond, immer wieder hinter
Wolken verschwindend, beleuchtete die Szene: Das von Franz mit
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Schindel gedeckte Haus stand inmitten eines großen, von einer Hecke
umgebenen Gartens; links vom Haus wuchsen Gemüse und Kräuter,
rechts vom Haus war eine Weide für die zwei Ziegen, die sofort an den
Zaun der Weide gerannt kamen, als der Hund – ein Abkömmling Wolfs
– die Ankommenden verbellte. Die Tür ging auf, und vor den Schein der
verlöschenden Glut des Herdes schob sich die Gestalt der alten Agnes.
„Was wollt ihr? Wer seid ihr?“ Der Mönch antwortete mit dem schon
bekannten Spruch: „Ich bin Bruder Laurentius vom ehrenwerten Ordo
Fratrum Praedicatorum und komme im Auftrag der Sacra Rota, vertreten durch den Erzbischof von Mainz. Dir wird vorgeworfen, eine Hexe
und damit Ketzerin zu sein. Man sagt, dass du Mensch und Tier in den
umgebenden Lehen vergiftest.“ „Herr, das ist ganz unmöglich, ich bin
viel zu alt und zu krank, um so weit fort zu gehen – gerade habe ich die
Mutter Gottes angefleht, mir zu helfen! Ich muss gesündigt haben, dass
ich solche Schmerzen im Rücken habe, aber ich weiß nicht, was es war.
Ich habe bei unserem Priester im Dorf lange und oft gebeichtet und alle
mir auferlegten Bußen getreulich erfüllt, aber die Schmerzen bleiben.
Tretet ein und schaut Euch um“ und damit pfiff sie dem Hund, der sich
neben der Haustür verzog und gab den Weg ins Haus frei.
Außer der Glut des offenen Herdes war eine Kerze vor dem Bild der Madonna die einzige Lichtquelle. Sie entzündete einen Kienspan und
reichte ihn dem Frater, der sich neugierig umschaute. Es gab nur diesen
einen Raum, mit einem Strohsack und einem festen Kasten in der Ecke,
dem Herd gleich neben der Tür, der eigentlich nur aus zwei aus Steinen
aufgeschichteten Mäuerchen auf einer Lehmplatte bestand, einem
Tisch und drei ungleichen Stühlen. Die beiden Fensteröffnungen waren
mit hölzernen Läden verschlossen, weswegen der ganze Raum vom
Rauch des Herdes erfüllt war. Über dem Herd hingen einige Würste, an
den Wänden wenige letzte Zwiebelschnüre, etwas getrocknete Pfeffer-
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minze und recht frischer Spitzwegerich. Der Kupfertopf war sauber geschrubbt, die eiserne Pfanne mit dem Holzstiel lehnte neben dem Herd,
leer und kalt. Als Bruder Laurentius den Kasten öffnete und durchwühlte, fand er wenige, aber saubere Kleidungsstücke, einige Heiligenbilder und ein in ein besticktes Tuch eingeschlagenes Medaillon mit einer lateinischen Inschrift. „Kannst Du lesen?“ „Nein, Herr. Die habe ich
von dem reichen Kloster Teplá als Lohn bekommen, weil ich viele Jahre
die Klosterkirche gereinigt und geschmückt habe. Als der alte Abt starb
und ich das Kloster verlassen musste, weil der neue Abt keine Frauen
innerhalb der Klostermauern duldete, gab mir der Prior dieses Medaillon, sagte ich solle es immer ehren und dann würde es mir Glück bringen.“ Laurentius entzifferte die Inschrift. Es enthielt ein Bild von der Heiligen Mutter Gottes von Teplá und war recht grob gemacht. „Zeig deine
Hände und Füße!“ Agnes schaute ihn verwundert an, aber hob ihm die
Hände entgegen, setzte sich dann auf einen wackeligen Stuhl und hob
abwechselnd den rechten, dann den linken Fuß in das Licht des Kienspans. „Keinerlei Zeichnung“, murmelte der Mönch, ließ sich einen
zweiten Kienspan geben –der erste war gerade verloschen – und leuchtete noch einmal Dach, Wände und Boden ab. Dann rief er nach dem
Knecht, bestieg das Maultier und verließ die Alte ohne ein weiteres
Wort zu sagen.
Als er nach mehr als einer Stunde wieder in der Burg ankam, war das
Tor verriegelt. Die Wachen mussten es auf Bitten des Knechts für ihn
noch einmal öffnen, und als er die Halle betrat, saß nur noch Cuno mit
Gerhard an einem Tisch und besprachen sich beim letzten Licht einer
verlöschenden Fackel. Sonst war alles leer und dunkel. „Nun, Frater,
was habt Ihr vorgefunden?“ „Sie scheint eine harmlose Alte zu sein,
aber gerade damit foppt uns der Teufel immer wieder – ich denke, ich
muss sie mit nach Erfurt nehmen, damit das Inquisitionsgericht sie dort
befragen kann.“ Damit drehte er sich um und ging zu einer der Bänke
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an der Wand der Halle, legte sich nieder und war sofort erschöpft eingeschlafen. Cuno legte Gerhard die Hand auf den Arm, deutete auf den
Mönch, die Tür, die Treppe. Gerhard verstand und verließ lautlos den
Raum; Cuno stieg die steinerne Treppe zur Kemenate empor, wo er von
Salwa und Anja schon erwartet wurde. „Er hat nichts gefunden –und
das kommt ihm verdächtig vor; deshalb will er sie mit nach Erfurt nehmen, wo sie sie wohl unter der Folter vernehmen werden!“ „Das ist ihr
Ende!“ Anja stützte den Kopf in ihre Hände, die Ellbogen fest auf dem
Tisch. „Du hast doch alle ihre Kräuter, Säfte, Tinkturen, Pülverchen mitgenommen, oder?“ „Natürlich, Salwa, sonst hätte er doch gleich gefunden, wonach er suchte.“ „Wo sind die Sachen?“ „Bei mir oben im Heu.“
„Cuno, was hältst du davon, wenn wir dem Herrn Mönch etwas von den
Säften geben, die Verstopfung beseitigen? Ich weiß genau, wie der Krug
aussieht, in dem der Saft ist und wie der Saft riecht – Barbara hatte
letzte Woche das Problem und Agnes hat es gleich mit einem Löffel voll
beseitigt. Wenn wir ihm davon zum Frühstück zehn Löffel geben, läuft
er auf der Stelle aus, und Agnes kann ihn mit ‚Gebeten‘ wieder gesund
machen, so dass er vielleicht doch noch zu einem anderen Ergebnis
kommt?“ „Wir können es nur versuchen, sonst ist Agnes verloren!“ Die
beiden Frauen liefen aus der Kemenate, die Treppe hinunter, aus der
Halle und durch das kleine Tor im Westen hinauf zum Gestüt. Salwa
kehrte mit dem gesuchten Krug zurück und bereitete für den Abschiedstrunk einen Krug und zwei Becher vor: der mit dem glatteren
Rand war der für den Mönch.
Am nächsten Morgen ließ Cuno auf Anweisung des Frater die alte Agnes
zur Burg holen und der Dominikaner sorgte dafür, dass die Frau an Händen und Füßen gefesselt und auf einen Eselskarren geworfen wurde,
auf den Anja eine Lage Stroh hatte legen lassen. Bevor der seltsame Zug
sich auf den Weg machte, brachte Cuno die zwei Becher, schenkte
beide aus dem Krug randvoll, gab einen dem Mönch und beide leerten
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sie ihre Becher bis zum Grund. „Ich hoffe, dass Ihr die Alte wieder zurück
kommen lasst, hier ist doch ihre Heimat. Aber ich weiß, Ihr müsst Eures
Amtes walten.“ Gewichtig nickte der Mönch, gab den Becher zurück
und stieg auf sein Maultier. Kaum saß er oben, verzerrte sich sein Gesicht vor Schmerzen und unter ziemlichem Getöse rann ihm die braune
Soße unter der Kutte hervor. „Was ist Euch?“ Doch bevor Bruder Laurentius antworten konnte, sank er ohnmächtig von seinem Reittier.
Als er wieder zu sich kam, lag er auf einem Strohsack, angetan mit der
Kleidung eines Knechts und neben ihm die alte Agnes, die ihn bei dem
Versuch, ihm etwas Fleischbrühe einzuflößen, aus seiner Ohnmacht
aufgeweckt hatte. „Ich habe Bruder Benedikt vom Kloster Himmelgarten immer geholfen, wenn er als Arzt auf die Burg kam und von ihm
vieles gelernt und erfahren, was mir hilft, den Kranken hier im Lehen
Erleichterung oder gar Heilung zu verschaffen“, war ihre Erklärung, weil
er sie entsetzt angestarrt hatte. Er konnte auch nicht gegen ihre Brühe
protestieren, denn erstens verspürte er einen entsetzlichen Hunger und
zweitens war der ganze Mund voll damit, so dass er erst einmal schlucken musste und sich dabei verschluckte. Der Hustenanfall schüttelte
ihn so, dass die Decke, die über ihn gebreitet war, zu Boden fiel, und als
er sich etwas beruhigt hatte und die Decke aufheben wollte, sah er, welche Kleidung er trug: „Was ist mit meinem Ordenshabit geschehen?“
rief er so laut er konnte. „Beruhigt Euch, Frater! Erinnert ihr Euch, was
geschah, bevor Ihr vom Maultier fielt?“ Er schüttelte den Kopf. „Ihr habt
Euch völlig entleert, und der Geruch war so schlimm, dass die zwei
Knechte, die Euch in diese Kammer getragen haben, Eure Kutte gleich
mitgenommen und ins Waschhaus getragen haben. Sie hängt schon
zum Trocknen draußen.“ Halbwegs beruhigt ließ sich der Mönch wieder
auf den Strohsack sinken. „Kann ich Euch für einen Moment allein lasen? Der Ritter hatte mir aufgetragen, ihn zu holen, sobald Ihr wieder
wach seid?“
277
Als sie nach wenigen Minuten mit Cuno zurückkehrte, hatte sich Laurentius aufgesetzt, lehnte mit dem Rücken an der Wand und war dabei,
gierig den Rest der Brühe aus dem Napf zu trinken, den Agnes neben
dem Strohsack abgestellt hatte. Cuno bückte sich, um durch die niedere
Tür zu treten. Die alte Agnes ging aufrecht durch die Tür, die letzten
Sonnenstrahlen beleuchteten sie von hinten und ließen ihr wirr vom
Kopf abstehendes Haar mit einem goldenen Strahlen aufscheinen. Cuno
schaute auf den Mönch, und erst als der mit weit aufgerissenen Augen
auf die Türöffnung starrte, drehte sich auch Cuno um: Die Alte sah tatsächlich so aus, als hätte sie einen Heiligenschein! „Heilige Agnes, du
Beschützerin der Lämmer Gottes, verzeiht Eurem übereifrigen demütigen Knecht, dass ich Euer Wirken in dieser irdischen Agnes nicht richtig
erkannt habe! Satan hat mich durch Hartherzigkeit in Versuchung geführt. Nicht du, Helferin, bist zu bestrafen, sondern ich, der der Versuchung erlegen ist.“ Er wollte aufstehen, aber seine Knie gaben nach, so
dass er vor seinem Strohsack kniete und tief in ein stummes Gebet versank.
Cuno zog Agnes erleichtert an der Hand hinaus in den Hof. „Noch Mal
Glück gehabt - du und wir! Du bleibst ohne dass dir etwas geschieht
hier, und wir haben weiterhin eine Heilkundige und weise Frau.“
Monate nach dem ‚Besuch‘ von Frater Laurentius kam ein Schreiben aus
Erfurt. Die alte Agnes wurde von allen Anschuldigungen freigesprochen.
Dem Brief der Sacra Rota war ein handschriftlicher Brief des Landgrafen
Friedrich beigefügt, der den Steigerthalern mitteilte, dass sein geschätzter und geliebter Münzmeister wohl im Sterben läge. Wenn sie ihn noch
sehen wollten, müssten sie schnell nach Erfurt kommen. Noch am gleichen Tag machte sich Ada und die junge Familie auf den Weg, Steigerthal in der Obhut Urbans lassend. Die erste Nacht auf der Jechaburg, die
zweite in einem Gasthof in Vehra, am Abend des dritten Tages erreichten sie den Petershof in Erfurt und kamen noch rechtzeitig, um nach der
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letzten Ölung und der Absolution durch den Bischof einige Stunden mit
dem Sterbenden zu verbringen. Er fieberte, phantasierte, aber zwischen seinen Träumen erkannte er die bei ihm Sitzenden. „Geliebte
Ada“ war ein überraschter Ausruf, auch Gernot und die anderen Kinder
erkannte er, suchte dann die Hand Salwas und flüsterte, hauchte fast:
„Du hast unserer Familie Glück gebracht, wache über sie und sieh zu,
dass Cuno Berg und Burg an den kleinen Gernot übergeben kann!“ Dann
bäumte er sich noch einmal auf, hob die Hände segnend über seine
kleine Familie und verschied. Cuno drückte ihm die Augen zu und versuchte, seine eigenen Tränen vor den Kindern zu verbergen, aber Salwa,
noch gestärkt durch den Auftrag des alten Gernot, sagte nur: „Ich bin
so traurig, auch wenn der Großvater jetzt im Paradies ist“, und sie weinten eine Zeit gemeinsam.
Das pompöse Begräbnis entsprach dem Rang des Verstorbenen und seinem Beitrag zur Existenz der Landgrafschaft, aber Cuno und die Seinen
verließen Erfurt noch am Tag der Beerdigung und beeilten sich, nach
Hause zu kommen.
Wenige Wochen danach verschied auch die alte Agnes nach einem sehr
langen Leben friedlich in ihrem Häuschen im Wald, bis zum Schluss im
Geplauder mit Adelheid, der ältesten Tochter des Bergmeisters
Gerhard; die hatte alle Männer abgelehnt, die ihr Vater ihr als Ehemänner vorgeschlagen hatte und war oft hinaus zur Alten geflüchtet, wenn
die Familie wieder zu sehr drängte, und hatte dabei alles Wissen und
alle Kenntnisse der weisen Frau angenommen und trat freudig ihre
Nachfolge an..
279
Arnstadt, Herbst 1342
Cuno lag mit vierzig seiner Männern im Unterholz an der Straße, die von
Erfurt nach Arnstadt führte, wenige hundert Meter vor dem Nordtor
dieser Festung, dem Sitz Günthers von Schwarzburg. Der fröhliche Begleiter Cunos auf dem langen Weg nach Iglau war Graf geworden, hatte
das Erbe seines Vaters angetreten und sich hohes Ansehen erworben,
vor allem durch den Feldzug, den er als siegreicher Feldherr der Hansestädte Hamburg, Lübeck, Wismar, Stralsund und Rostock gegen den
Grafen von Holstein geführt hatte. Jetzt aber war er zum Gegner geworden. Er stand treu zu Heinrich von Virneburg, dem Erzbischof von
Mainz, der ihn in den Erbauseinandersetzungen der Schwarzburgs mit
Rat, Tat und Truppen unterstützt hatte und nun versuchte, Landgraf
Friedrich von Thüringen, der ihm zu mächtig wurde, zu entmachten.
Friedrich, der oft mit seinem Hof in Erfurt weilte, hatte nämlich, wohl
ohne es beabsichtigt zu haben, die Beschwerden der Erfurter Bürger gegen den willkürlich herrschenden Stadtherren, eben den Erzbischof von
Mainz, unterstützt; die Folge war eine Lossagung der Stadt von der erzbischöflichen Herrschaft und die Aufrichtung einer Selbstverwaltung.
Das ging nicht ohne Hilfe des Landgrafen, und deshalb sollte ein Exempel statuiert werden: Anfang September schlossen sich, angeregt oder
sogar aufgerufen durch Erzbischof Heinrich, in Arnstadt unter Eid Graf
Günter von Schwarzburg, die Vögte von Plauen, die Herren von Weimar, einige hohnsteinsche Grafen und andere Edle der Landgrafschaft
zusammen, um Landgraf Friedrich nicht nur daran zu hindern, seine
Macht weiter zu vergrößern, sondern ihm seine ganze Macht zu nehmen. Da Friedrich der Schwiegersohn des Kaisers Ludwig der Bayer war,
ließen sich die Eidgenossen lediglich dazu herab, ein wohlwollendes Urteil des Kaisers in ihrem Sinne als Grund zur Auflösung des Bundes zu
betrachten.
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Der Landgraf schäumte vor Wut und ließ alle verfügbaren Truppen nach
Arnstadt marschieren; die aufrührerischen Eidgenossen sollten durch
eine Belagerung ausgehungert werden. Und damit kein auch noch so
kleiner Nachschub von Norden in die Stadt gelangte, lagen die Steigerthaler verborgen am Rand des Nachschubweges. Die Nacht Ende Oktober war kalt und nass, der Himmel wolkenverhangen, immer wieder
gingen Schauer nieder. Cuno hatte fast alle seine Leute etwas weiter in
den Wald hinein geschickt, wo sie sich wenigstens unter Planen legen
konnten, ohne weiter nass zu werden – warm wurde ihnen ohne Feuer
natürlich auch nicht; aber Urban hatte die Mannen so gut ausgebildet,
dass sie diese Mühsal klaglos ertrugen und vor allem ihre so wichtigen
Waffen, die Handrohre und das Pulver, trocken hielten. Seit dem Versuch auf Burg Steigerthal vor mehr als fünfundzwanzig Jahren waren
diese Schussapparate wesentlich verbessert worden: ein Holzrahmen
hielt als Gestell das gegossene Eisenrohr, zwei ausklappbare eiserne
Stützen erleichterten das Zielen und das Treffen, die Bleikugeln waren
so glatt, dass sie sich leicht in den Lauf hineindrücken ließen und leicht
hinaus schossen. Die in der Verarbeitung von Metallenen erfahrenen
Leute aus den Schmelzhütten hatten zusammen mit Urban eine Art und
Weise entwickelt, wie sie das Kernstück dieser Waffe, das Rohr, so
gleichmäßig gießen konnten, dass die Kugeln in jedes Rohr passten und
jeder Schütze mit jedem Rohr schießen konnte: ein im Durchmesser
etwa drei Finger breiter Holzpfahl wurde mit Ton umwickelt; nach dem
Trocknen wurde der Pfahl entfernt und der Ton in einem der Schmelzöfen gebrannt; in die aufrecht gestellte und im Boden festgemachte
Tonform wurde eine Tonsäule gestellt, die man in immer der gleichen
Form aus Eisen trocknete und dann brannte. In den Zwischenraum der
beiden Tonformen wurde flüssiges Eisen gegossen. Nach dem Erkalten
wurde der Ton weggeschlagen und das Innere des entstandenen Eisenrohres mit einem mit Draht besetzten Holzstiel poliert. Dann wurde das
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Rohe mit einer Eisenkappe verschlossen und ein Loch für die Zündlunte
gebohrt. Schwarzpulver, ein Stopfen aus Stoff, beides mit dem Ladestock in das Rohr gedrückt, die Kugel darauf geschoben – fehlte nur
noch der Zündfunke, den die steigerthaler Schützen in einem kleinen
Blechdöschen mit sich führten. Diese Waffen hatte Cuno nach dem
Überfall der Böhmischen Raubritter zur Befreiung Wenzels von Böhmen
eingeführt und seine Mannschaft um viele Schützen verstärkt, die auch
das Schießen mit Handrohren und Kanonen übten. Zur Verteidigung ließ
er auch Teile der Burgbefestigung verstärken.
Der Ritter war mit den wenigen Übriggebliebenen auf Wache, weil ihm
ein Bote die Nachricht übermittelt hatte, dass nicht nur Nahrung, sondern auch weitere Soldaten in dieser Nacht in die Stadt gebracht werden sollten. Aber die Stunden zogen sich dahin. Gerade als Cuno das
Gefühl hatte, dass er sich nicht mehr wachhalten könne, stieß ihn einer
seiner Männer an und deutete nach Norden. Cuno zwang sich, die Augen aufzureißen und spähte in die angegebene Richtung. Zu sehn war
nichts. Doch dann hörte er, was die Aufmerksamkeit der Wache erweckt hatte: leicht patschende Geräusche und das Klackern von Steinchen auf Steinchen – Pferde mit umwickelten Hufen! Cuno schickte die
Wachen mit ihren Waffen auf die andere Seite der Straße und schlich
zurück zum Rest der Mannschaft. In Minuten lagen auf beiden Wegseiten zwanzig Handrohrschützen, Waffen geladen, die glimmenden Zündschwämme in den in Holz gefassten eisernen Dosen. Dann veränderte
Cuno noch einmal den Plan: jeweils fünf Männer auf beiden Seiten schlichen zwanzig oder dreißig Fuß weiter nach Norden, jeweils fünf andere
nach Süden; alle hatten den Befehl, auf zehn zu zählen, wenn die Handrohre der dreißig Männer, die in der Mitte der Aufstellung blieben, gezündet hatten und dann auf die verbleibenden Gegner zuschießen. So
geschah es.
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Als das erste Dutzend Pferde, die nun trotz Nässe und Dunkelheit deutlich zu erkennen waren, den Hinterhalt passiert hatte, heulte Cuno wie
ein Wolf und die Schützen ließen ihre Rohre fast gleichzeitig krachen.
Das Durcheinander war groß: man hörte Pferde wiehern und stürzen,
Männer schrien verwundet auf und wurden teilweise von ihren Pferden
abgeworfen und zertrampelt, und als dann eine Tragladung mit Brennbarem in Flammen aufging, sah man auch die ganze Wirkung. Eine befehlsgewohnte Stimme setzte zu lauten Befehlen an, verstummte aber
sofort, als die nördlich und südlich aufgestellten Handrohre die Verwirrung noch erhöhten. Unterdessen hatten die Männer in der Mitte wieder geladen und auf ein erneutes Wolfsheulen wiederholte sich das Geschehen. Ohne weitere Befehle abzuwarten, machten die wenigen übriggebliebenen Angreifer kehrt und flüchteten in verschiedene Richtungen in die Wälder. Der Ausfall arnstädtischer Truppen, die durch das
Nordtor ihren angegriffenen Leuten zu Hilfe eilen wollten, wurde von
einer erneuten Salve der Handrohre gestoppt und durch einen Trompetenstoß von der Stadtmauer zurückgerufen.
Als es tagte, zeigte sich die furchtbare Ernte: Etwa drei Dutzend Männer
lagen tot oder verletzt am Boden, Knechte, Knappen, Reisige, aber auch
einige Ritter. Der Jüngste derer von Gera war von einer Kugel getroffen
worden, die seine Rüstung glatt durchschlagen hatte; das schwere
Streitross hatte ihn dann wohl abgeworfen und war einige Schritte getrabt, bevor es ebenfalls getroffen wurde und einen Reisigen unter sich
begraben hatte. Cuno schüttelte den Kopf: „Dass die immer noch nicht
begriffen haben, dass sich die Zeiten ändern... Unsere leichten Pferde,
Schnelligkeit statt Massengewicht, und schon sind alle Rittertugenden
beim Teufel!“ Dann sah er, wer neben ihm stand: sein Knappe Pavel.
„Lass diese ketzerischen Worte ja nicht Herrn Urban, deinem Knappenmeister zu Ohren kommen.“ Trotz des schrecklichen Anblicks grinste
Pavel und deutete dann auf eine kleine Einbuchtung des Waldes in der
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Nähe des Weges: „Sieht so aus, als hätten die führerlosen Packpferde
sich dort hin geflüchtet.“ Cuno gab seinen Männern die nötigen Befehle, um die Verletzten zu versorgen, damit die Männer das vor lauter
Beutemachen nicht vergaßen, ließ einen Reisigen ins Lager des Landgrafs reiten um einen Priester zu holen und Friedrich zu informieren.
Dann ritt er mit Pavel zu den Packpferden hinüber. Sie stiegen ab, ließen
ihre Pferde zwischen die verängstigte Herde. „Komm, lass dich streicheln.“ Pavel fuhr dem ersten der fremden Pferde über die Nüstern. Als
es nicht scheute, ging er noch näher und löste den Sattelgurt, so dass
die schweren Satteltaschen auf der rechten Seite zu Boden glitten.
Während der Bursche sich den anderen Pferden in gleicher Weise näherte, öffnete Cuno eine der Satteltaschen und stieß einen leisen Pfiff
aus: „Hier ist eine Menge Gewürze drin“, er bohrte eine Hand in die
Tiefen der Tasche, „und sonst nichts.“ Der Knappe holte einige der Steigerthaler zu Hilfe und gemeinsam führten sie die immer noch verängstigten Pferde zu einem Bächlein, wo sie die Tiere so aneinander banden,
dass sie Saufen und Fressen konnten ohne verloren zu gehen. Unterdessen hatte Cuno die Mehrzahl der Satteltaschen geöffnet: noch mehr
Gewürze, edle Stoffe, Schmuck, Wein – wenn nicht in einigen wenigen
Taschen auch Mehl gewesen wäre, hätte man an einen Handelszug von
Kaufleuten denken können, die adlige Händler mit den schönen Dingen
des Lebens versorgen. Und alle Taschen trugen das Wappen Heinrichs
von Virneburg, des Erzbischofs von Mainz.
Unterdessen war einer der Priester, die die Belagerung begleiteten, an
der Stelle des Überfalls angekommen, gab Wenigen noch die Letzte
Ölung, ließ einen ihn begleitenden Mönch nach den nicht so schwer
Verletzten schauen und bereitete das Begräbnis der vielen Toten vor.
Nur wenig später erschien Landgraf Friedrich selbst. „Glückwunsch zu
deinem Handstreich!“ „Danke, aber er wird außer ein bisschen Beute
und die Verletzten und Toten keinen Beitrag zu Eurem Sieg leisten!“
284
„Warum nicht?“ „Schaut Euch an, was der Nachschub in die Stadt bringen sollte“ und damit führte er Friedrich zu den Satteltaschen. „Das ist
unglaublich – ich versuche, Virneburgs Leute auszuhungern und die riskieren eine Kolonne mit Nachschub, der eigentlich nur aus Kriegsunnötigem besteht! Arnstadt muss hervorragend versorgt sein, was meinst
du?“ „Das war mein erster Gedanke! Wenn wir die aushungern wollen,
müssen wir aufpassen, dass sie die folgenden Angriffe nicht mit dem
Werfen von Schweinebraten abwehren!“ Jetzt grinste auch der Landgraf. Als er zu dem Ort des Scharmützels geritten war, erwies er den
Toten die Ehre, ließ die Verwundeten auf Tragegestellen zwischen jeweils zwei Pferden laden und wies Cuno an, die Beute nach Erfurt zu
bringen. Dann schickte er Boten zu allen Truppenteilen und ließ den Befehl zum Rückzug nach Erfurt verkünden.
Nachdem alle nötigen Anweisungen erteilt waren, machten sie sich gemeinsam auf den Weg nach Norden, vorneweg zwei von Friedrichs Rittern als Späher, dann der Landgraf und Cuno, gefolgt von den Packtieren mit der Beute. Den Schluss bildeten die Verwundeten und die beiden Kirchenmänner. Die sechzig Männer Cunos, alle unverletzt und in
Hochstimmung, bildeten die Nachhut.
„Ich muss irgendwie die aufrührerischen Edlen Thüringens dazu bringen, meine Herrschaft bedingungslos anzuerkennen, sonst ist meine
Macht trotz all deines Silbers ständig in Gefahr. Und was das für die
Landgrafschaft bedeutet, wissen wir beide nur zu gut. Aber wie soll ich
mich gegen den Adel durchsetzen, wenn ich das noch nicht einmal bei
meiner Frau schaffe!“ Er zögerte kurz. „ Erinnerst du dich noch an unser
Gespräch in Erfurt über die Liebe?“ Cuno nickte zustimmend. „Damals
habe ich getönt, dass ich die zur Frau nehmen werde, die ich liebe – das
ist immer noch Elsbjeta, eine Kammerjungfer von Elisabeth, der Tochter
Johanns von Böhmen. Als ich in Prag zur Verlobung mit dieser Dame
war, habe ich Elsbjeta zum ersten Mal gesehen. Sie ist das schönste
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Mädchen, das ich je gesehen habe! Schlank, groß, fest, mit strahlenden
dunkelblauen Augen, einem vollkommenen Gesicht und einer Haarpracht, die zum darin Wühlen verlockt. Wir haben uns über so viel unterhalten – das Vertrauen war sofort da! Selbst streiten konnte man mit
ihr herrlich. Und wenn wir uns berührten, ging mir immer ein Schauer
des Wohlseins über den Rücken. Nur ihretwegen bin ich länger in Prag
geblieben, nicht wegen der drögen Elisabeth oder ihres unmöglichen
Vaters. Wenn ich der Staatsräson folgen würde und die Schwester des
zukünftigen Königs von Böhmen heiratete, wäre Elsbjeta immer in meiner Nähe – und ich hatte sie gefragt: auch sie würde es genießen. Wahrscheinlich war es das, was meine Mutter und der Bischof befürchteten.
Kaum zurück aus Böhmen sollte ich die Verlobung wieder lösen um eine
noch bessere Absicherung Thüringens und des Hauses Wettin zu ermöglichen. Und was habe ich Esel gemacht? Ich habe nachgegeben und
Mechthild, die Tochter Kaisers Ludwigs zur Gemahlin genommen – du
warst bei der Hochzeit dabei. Ich wollte das Haus Wettin absichern,
aber bei der Frau kriege ich wohl nicht mal einen Erben, und das Haus
Wettin stirbt mit mir aus!“ Cuno ließ den verbitterten Landgrafen seinen Gedanken nachhängen, die er so wohl nur mit Wenigen teilte. Aber
auch Friedrich wurde bald aus seinen Grübeleien geweckt: Immer mehr
Trupps stießen zu dem kleinen Heereszug; sie kamen von den verschiedenen Straßen, Wegen und Furten, wo sie der Wettiner stationiert
hatte, um Arnstadt auszuhungern. Es waren vor allem Erfurter Bürger,
die froh waren, dem ungewohnten Kriegshandwerk noch vor dem Winter wieder zu entkommen.
Bei Egstedt, nur ein paar Stunden von Erfurt entfernt, war der Heereszug angeschwollen auf viele hundert Mann, die ohne Ordnung und
durcheinander, laut rufend und prahlend, schon von warmen Betten
und geneigten Frauen erzählten. Cuno war mit seinen Schützen mitten
drin, wenigstens die Beute und die herrenlosen Pferde absichernd.
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Plötzlich schien sich der Wald zu bewegen, aber es war eine Phalanx
schwer gerüsteter Reiter mit eingelegten Lanzen, Brust und behelmter
Kopf mit erhobenen Schildern geschützt, die auf sie zustürmte. Die unerfahrenen Erfurter Truppen erstarrten zuerst, dann versuchten sie, in
alle Richtungen zu entfliehen, bis sie merkten, dass nun von allen Seiten
bewaffnete Berittene auf sie zu kamen und sie einschlossen. Cuno
konnte bei einem der Reiter das Wappen der Grafen von Schwarzburg
erkennen. Sein Hinterhalt von gestern wurde durch die Falle hier bei
Egstedt vergolten! Landgraf Friedrich versuchte, so etwas wie eine
Schlachtordnung aufzubauen, aber das Durcheinander war zu groß. Die
gepanzerten Reiter stießen die nur leicht geschützten Bürger von ihren
Pferden und hieben dann mit ihren Schwertern auf sie in. Die Friedrich
treuen Ritter nutzten die in Tjost und Turnier geübten Listen, um die
gegnerische Reiterei wenigstens in Schach zu halten, wenn auch erst
vergeblich; auch Cuno schloss sich ihnen an, nachdem seine Schützen
ihre Rohre in dem dichten Gewühl nicht nutzen konnten, war Freund
und Feind doch kaum noch zu unterscheiden; sie bahnten sich unter
großen Opfern und die Handrohre wie Schilder über den Kopf haltend,
vorsichtig einen Pfad aus dem Getümmel, um wenigstens neue Angreifer auf Schussentfernung abwehren zu können. Graf Günter von
Schwarzburg hatte seine Leute genau eingewiesen und steuerte sie
jetzt von einem leicht erhöhten Standort aus; die Zielrichtung zeigte
sich nur zu bald: Landgraf Friedrich selbst! Gefangen oder getötet wäre
er der Preis für die Freiheit des Adels in Thüringen, denn nur die Wettiner – noch ohne Erben – versuchten, die Landgrafschaft in ein einheitliches Ganzes zu bringen, auf Kosten der Edlen des Landes. Fünf, sechs
Ritter drängten sich durch die Kämpfer in die Nähe Friedrichs und kreisten ihn ein. Ein aufmerksamer Erfurter schrie auf, als er den Lanzenangriff von hinten auf den Landgraf bemerkte; zwei neben Friedrich kämpfende Getreue warfen sich in die Angriffsbahn, einer, Wetzel vom Stein,
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ein Freund Friedrichs, wurde von der Lanze durchbohrt, der andere
konnte dem Angreifer den Helm vom Kopf schlagen, bevor ihn eine weitere gegnerische Lanze traf; ein dritter treuer Thüringer, der Graf von
Beichlingen, vollendete das Werk, der Angreifer sank tödlich getroffen
vom Pferd. In dem Moment hörte man das Krachen der Handrohre,
durch die weitere frische Truppen der Eidgenossen am Angriff gehindert wurden und die nun ihrerseits, ohne den gefallenen Ritter, führungslos schienen und den Befehlen Günters von Schwarzburg nicht
mehr oder nur sehr zögernd nachkamen. Friedrich tobte und spornte
durch seinen Kampfgeist auch die Bürger an, vor allem, als unter den
Erfurtern die Parole umging, dass der, der sich ergibt, nur gegen ein Lösegeld in Höhe des gesamten Besitzes des Einzelnen freigelassen werde.
Der Anbruch der Nacht machte dem Gemetzel ein Ende. Beide Seiten
zogen sich zurück und ließen das Schlachtfeld im Licht des zwischen rasenden Wolken immer wieder hervor scheinenden Mondes zurück; wenige Soldaten blieben auf dem Schlachtfeld, um die Gefallenen zu beerdigen und vielleicht doch noch den einen oder anderen bisher übersehenen Wertgegenstand als Beute zu ergattern.
Die Männer Günter von Schwarzburgs hatten den Getreuen Friedrichs
große Verluste beigebracht. Ein halbes Dutzend Ritter war gefallen, der
Graf von Beichlingen schwerverletzt in den Händen der Arnstadter.
Viele ehrenwerte Erfurter Bürger waren gefangen genommen worden.
Auch die Eidgenossen hatten große Verluste; sogar der jüngste Brudersohn Günters von Schwarzburg, Heinrich, war in die Gefangenschaft des
Landgrafen gefallen; von den vierzig steigerthaler Schützen begleiteten
nur noch fünfunddreißig Cuno nach Erfurt. Entsprechend bedrückt war
dort der Empfang spät in der Nacht: statt die Herrschaft Friedrichs über
ganz Thüringen zu festigen und Erfurt zur Hauptstadt zu machen, hatte
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der Kriegszug wieder nur Verluste gebracht. Landgräfin Mechthild bemühte sich nicht einmal aus dem Bett, um ihren verletzten Mann willkommen zu heißen.
Auf Cuno wartete allerdings ein freudiger Empfang: Seine Tochter Barbara, seit drei Jahren mit Ulrich von Hohnstein verheiratet, dem Jüngsten aus dem edlen Hause, der sich gegen seine Familie gestellt und zu
Landgraf Friedrich gehalten hatte, empfing ihn trotz der späten Stunde
im Petershof mit ihrem kleinen Sohn Walter im Arm. Getreu der Lehre
der alten Agnes und ihrer Mutter Salwa, stillte die junge Frau ihr Kind
selbst und hatte es deshalb immer um sich und konnte so Vater und
Mann, unverletzt vom Kriegszug zurück, in ihre Arme schließen. Barbara
war eine Schönheit geworden. Sie war nicht sehr groß, aber mit einem
anmutig ausgeglichenen Körper; die für ihre Größe langen Beine waren
schlank und endeten in einem festen Gesäß - beides zeichneten sich
durch den Stoff ihres Kleides ab; Taille und Schultern waren fast zu
schmal für die kräftigen Brüste, die Hände zierlich; das Gesicht war eine
Kopie des Gesichtes ihrer Mutter Salwa, noch verstärkt durch die Angewohnheit beider, das lange kastanienfarbene Haar geflochten als Kranz
um den Kopf zu legen. Sie war so facettenreich geblieben, wie sie es
schon als kleines Mädchen war. Die schmusende Geliebte konnte übergangslos in die wütende Amazone oder die strenge, entscheidungsfreudige Hausherrin übergehen, durchaus auch alles mit dem an ihre Brust
oder auf ihren Rücken gebundenen Walter. Und sie war klug.
Wahrscheinlich war sie die einzige Gräfin am thüringischen Hof, die
nicht nur ihre Abrechnungen selber machte, schriftliche Bestellungen
aufgab und Erweiterungsbauten berechnen konnte, sie war auch gern
bereit, ein Streitgespräch über religiöse Themen zu führen oder mit einem Minnesänger sein Reimschema und die passenden Kadenzen der
Leier dazu zu erörtern. Ulrich von Hohnstein war glücklich mit dieser
Frau, die Freudentränen vergoss, als sie Gatten und Vater sah. Cuno
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freute sich über den Anblick des wiedervereinten jungen Paares, aber
auch über den eines kleinen Hundes, der aussah wie Wolf. Sein treues
Tier war schon vor Jahren eines Morgen nicht mehr von seiner Decke in
der Ecke der Halle aufgestanden, nicht ohne im Lauf der Jahre alle Hündinnen des Lehens, deren er habhaft hatte werden können, mit seinem
wölfischen Erbe zu verbinden. Und Barbara hatte sich für Walter einen
Hund ausgebeten, der Wolf möglichst ähnlich sein sollte!
Die drei zogen sich in die Gemächer der jungen Familie zurück, erzählten von den Ereignissen der letzten Wochen, und bald bat Cuno nach
einigen Bechern schweren Weines, sich in seine Decke wickeln zu dürfen, legte sich auf die Bank und ließ das junge Paar sein Wiedersehen in
der Kemenate begehen.
Am Morgen musterte er seine Schützen, froh, dass zu den fünfunddreißig ein weiterer, allerdings recht schwer verletzt, dazu gekommen war,
den man in Steigerthal in der Obhut Hildegards wieder auf die Beine
bringen wollte. Die Nachhut hatte ihn statt tot noch lebend auf dem
Schlachtfeld gefunden. Der Ritter hatte von der Kriegsbeute für seine
Leute das abgezweigt, was er für nützlich hielt: Pferde für die, die ihre
Tiere verloren hatten; Waffen, die besser waren als die verloren gegangenen; edle Stoffe für die Freienden; Münzen und Pfeffer für alle; für
sich ein Fässchen Wein, das hoffentlich gut war, und für Salwa eine
Kette mit bunten Edelsteinen. Trotz der Gefallenen waren die Überlebenden einschließlich des Verletzten guten Mutes. Man machte sich
reisefertig, der verletzte Schütze wurde auf einen Wagen mit Stroh gebettet, der auch den Proviant trug, und als alles bereit war, ging Cuno,
sich von Landgraf Friedrich zu verabschieden.
Er fand ihn in der Kemenate, im Schüttelfrost fiebernd, einen Dominikaner an seiner Seite, der ihm Kräutersud einzuflößen versuchte, eine
Magd, die ihm abwechselnd eine Wärmflasche und kalte Tücher
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brachte; Friedrich redete im Fieberwahn, unverständlich und ohne Zusammenhang; das Einzige, was Cuno immer wieder heraushörte, war
„Elsbjeta“; vielleicht war es das, was Landgräfin Mechthild dazu
brachte, mit ihrer Stickerei scheinbar unbeteiligt am Fenster zu sitzen,
vielleicht aber war das Zerwürfnis dieser Ehe schon so groß – Cuno
schloss das aus den Worten Friedrichs nach Aufhebung der Belagerung
– dass das auch schon keine Rolle mehr spielte.
Der alte Gernot war nun schon vor zehn Jahren verstorben, Ada war
ganz nach Steigerthal umgesiedelt, Barbara und Ulrich würden sie bald
besuchen kommen – nichts hielt Cuno mehr in Erfurt. So schrieb Cuno
nur eine kurze Notiz für Friedrich auf ein Stück Papier, das er die Magd
zu bringen gebeten hatte, gab es dem Mönch, verbeugte sich höflich
vor Mechthild und ging hinunter, um den Heimweg anzutreten.
Die drei Tagesritte gingen ereignislos dahin. Das Wetter war, wie es im
Herbst zwischen Harz und Thüringer Wald ist: windig, regnerisch, dann
plötzlich sonnig und warm, dann wieder nass. Und meistens nass. Am
Abend des dritten Tages sahen sie, von Uthleben kommend, wo sie der
Freifrau einen kurzen Besuch abgestattet hatten, Dorf und Burg Steigerthal vor sich, aber ungewöhnlich still und leblos. Kein Rauch aus den
Schmelzöfen, kein Hämmern, kein Quietschen der Mahlwerke, keine
Tiere auf den Koppeln, und als sie näher kamen, sahen sie auch, dass
keine Kinder draußen spielten und die Zugbrücke der Burg hochgezogen
war. Cuno gab Berno die Hacken und galoppierte die Dorfstraße hinauf
zur Burg; wenigstens der Wimpel von Steigerthal wehte noch auf dem
Bergfried! Und als Cuno in Schussweite von der Burg war, hörte er einen
lauten Befehl aus der Wachstube, die Zugbrücke senkte sich, das eiserne Torgitter wurde hochgezogen und Urban erschien in voller Rüstung im Tordurchgang, hinter sich die bemannten Kanonen. „Gott sei es
gedankt, dass du kommst!“ rief er und lief Cuno entgegen, der beunruhigt von Berno glitt. „Was ist denn los? Alles scheint wie ausgestorben
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und tot!“ „Ich habe seit einer Woche ‚totstellen‘ befohlen! Die Hohnsteiner vor dem Wald –Gott sei dem alten Cuonrad selig gnädig – haben
Nordhausen angegriffen, eine freie Reichsstadt. Sie haben geplündert
und gemordet und nach Schätzen gesucht, hat Egbert berichtet, der
zum Pferdekauf in der Stadt war. Daraufhin hätte ich am liebsten ganz
Steigerthal unter einer Decke versteckt, aber vielleicht hat ein letzter
Rest von Loyalität Walter von Hohnstein daran gehindert, uns zu überfallen. Auf jeden Fall bin ich Heils froh, dass du wieder da bist und ich
meinen ganz normalen Tätigkeiten nachgehen kann, statt Gernot dauernd zu erklären, warum ich etwas so oder so entscheide, und dann
noch Dinge, die ich bisher nie entscheiden musste!“ Cuno grinste, denn
sein ältester Sohn und Erbe des Lehens – sofern der dann regierende
Landgraf zustimmte – war ein Bursche geworden, der alles von Grund
auf verstehen wollte, egal, ob es religiöse Regeln, die Gründe für die
Auseinandersetzungen zwischen den Rittern und dem Landgraf, die Abbauweise des Silbers oder die Begründungen für das relative Wohlergehen der Menschen in Steigerthal ging. „Jetzt ist der Alte ja wieder da
und kann die Erklärungen übernehmen! Dank dir, Urban! Du hast offensichtlich alles richtig gemacht und das Lehen so gut geschützt, wie ich
selbst es nicht besser gekonnt hätte!“ Der Angesprochene senkte kurz
das Haupt, aber es war ihm anzusehen, dass er sich über das Lob freute.
„Lass die Männer die Pferde versorgen und dann zu ihren Familien gehen; das Schwarzpulver muss zum Teil wieder getrocknet werden, die
Handrohre gründlich gereinigt, aber das hat Zeit. Wen könnten wir zu
den Frauen schicken, deren Männer gefallen sind?“ „Wer ist denn gefallen?“ Als Cuno ihm die Namen nannte, atmete Urban auf, da er mit
viel größeren Verlusten gerechnet hatte. „Zu Gernots und Wilderichs
Frau gehe ich selbst, zu den Frauen von Walter und Ernfried schicke ich
den Pater. Die Zusage der lebenslangen Versorgung von Witwen und
Waisen durch das Haus Steigerthal gilt weiterhin?“ „Ja.“ Das war einer
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der Gründe, warum Cuno gute Kämpfer und Schützen ins Lehen ziehen
konnte, die auch in schwierigen Lagen eher den Befehlen gehorchten
als zu fliehen, wie es bei vielen anderen Truppen der Fall war.
Dann übergab er endlich Berno an Pavel, der den Hengst und sein eigenes Pferd zu den Stallungen brachte. Und Cuno stieg die Treppe zur
Halle hinauf. Das Tor war geschlossen, kein Laut drang hinaus. Als der
Burgherr das Tor öffnen wollte, fand er es verschlossen. „Was soll der
Unsinn?“ rief er laut. Als drinnen die Stimme erkannt wurde, flogen die
Torflügel auf und alle Frauen und Kinder der Burg, angeführt von Salwa,
Gernot und dem kleinen Cuno stürmten hinaus. „ Cuno!“ „Vater!“
„Papa!“ Und alle drei hingen an ihm, als müssten sie ihr Leben verteidigen. „Du warst so lange weg!“ Das war wie im Chor. Und dann besann
sich Gernot auf seine fünfzehn Jahre und darauf, wie sich ein Knappe zu
benehmen hatte. Denn mit einer besonderen Erlaubnis des Landgrafen
durfte Gernot seine Knappenzeit auf der väterlichen Burg und unter der
Obhut Urbans erleben: dem Landgraf war die Quelle seines Reichtums
zu wertvoll, um einen Teil davon zu verspielen. „Seid herzlich willkommen, Vater!“, dazu ein Kniefall. Cuno hob ihn auf, und die vier setzten
sich an einen der Tische, um in Ruhe mit einander sprechen zu können.
Der kleine Cuno durfte zuerst berichten und erzählte von den kindlichen
Spielen, aber auch der Angst, die sie alle gehabt hatten, als sie von dem
Überfall auf Nordhausen erfuhren. Gernot berichtete, wie er es gelernt
hatte, sachlich über alles, was die Verteidigung des Lehen, die Ausbildung der Männer und Knappen und die Lage in den Bergwerken anging,
wobei ihm zwischendurch immer wieder eine von Gefühlen geprägte
Aussage entwischte. Dann brachten die Mägde ein spätes Abendessen.
Der Burgherr drückte seine Gemahlin an sich und flüsterte: „Wir haben
nachher alle Zeit der Welt für uns – wenn du willst.“ Salwa schmiegte
sich an ihn und nickte mit dem Kopf.
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Bald darauf dampfte das Wasser im Bad. Beide lagen bis zum Hals in der
wohlduftenden Wärme, ließen ihre Hände den andern erkunden und
erzählten von den Geschehnissen des letzten Vierteljahrs, in dem sie
getrennt waren. „Das war viel zu lange“, beschwerte sich Salwa. „Ja,
mein Herz, und jetzt weiß ich wieder, wie sehr du mir fehlst, wenn ich
nicht um dich bin!“ Sie griff beherzt nach seiner aufgerichteten Männlichkeit und schob ihn im Wasser so weit wie möglich von sich: „Weiter
weg darfst du nicht mehr länger als einen Tag ohne mich.“ Dann glitt sie
zu ihm zurück und über ihn und beide ließen ihrer Lust freien Lauf. Später, in der von einem prasselnden Kaminfeuer erwärmten Kemenate,
lagen sie immer noch hellwach unter der warmen, nach außen mit Fell
besetzten Decke. Cuno erzählte von dem gescheiterten Kriegszug, beschrieb die Beute und verschwieg die Gräuel. Salwa wusste nur zu gut,
wie Krieg und Gemetzel aussehen und sich anfühlen. Sie erzählte von
der Ernte; von den beiden neuen Babies im Dorf; von Anjas Zuchterfolgen mit einem Araberhengst, weswegen Egbert in Nordhausen war, um
einen zweiten Hengst zu kaufen; von der neuen Heilkräutermischung,
die Adelheid benutzte, um Verbrennungen zu lindern und zu heilen.
„Und stell dir vor, Wolf hat ja nun wirklich viele Welpen gezeugt, und
manche Hundehalter haben ihre Tiere nicht im Griff. Deshalb musste
Urban mit einigen Männern zwei Rudel völlig verwilderter Wolfshunde
erschießen, weil sie Schafe und Ziegen überfielen und zum Teil sogar
gerissen haben.“ Und bevor die Schläfrigkeit sie übermannte, hatten sie
vieles berichtet, vieles vergessen, aber nicht, dass sie einander immer
noch und wieder begehrten, und in einem langen, mit Zärtlichkeiten
und Koseworten durchsetzten Liebesakt genossen sie das Zusammensein mit Herz, Kopf und Leib.
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Steigerthal, Sommer 1343
„Dich habe ich nicht hier erwartet!“ Cuno stand unter der Wölbung des
Burgtores und sah sich Günter von Schwarzburg gegenüber, der ohne
Gefolge und Waffen nach Steigerthal geritten war und nun, den Hengst
am Halfter, vor dem Stammsitz Cunos stand, des Mannes, den er mit all
seinen Schützen vor kurzem noch zu vernichten gesucht hatte. Es war
nicht mehr der fröhliche Ritter von damals, als sie gen Iglau gezogen
waren, sondern ein immer noch ansehnlicher Mann, aber mit tiefen
Sorgenfalten und verbittert nach unten gezogenen Mundwinkeln. Cuno
streckte ihm die Rechte entgegen. „Trotzdem ein Willkommen!“ Sie gingen gemeinsam schweigend durch den Zwinger und den Lichthof in den
eigentlichen Burghof, wo Cuno einem Knecht winkte und ihm den
Hengst übergab. Dann schritten sie gemeinsam die Treppe zur Halle empor, Cuno suchte einen Sitzplatz an einem der offenen Fenster, gab einer neugierig hereinschauenden Magd den Auftrag, einen Imbiss herbeizubringen und bat seinen Besucher, sich zu setzen.
Günter druckste ein wenig herum und fing dann unvermittelt an: „Ich
hätte dich und deine Männer vor wenigen Monaten am liebsten vernichtet, weil du mit deinen verdammten Handrohren schneller warst als
wir mit unseren schwerfälligen und ungenauen Kanonen. Es hat nicht
sollen sein. Und nachdem Ihr die Belagerung abgebrochen hattet, hat
sich ja noch einmal die Kraft eines Ritterheeres gezeigt. Aber ich weiß
natürlich, auch aus den Kriegen in Holstein, wo ich das Heer der Mark
Brandenburg und der Hanse geführt habe: Das gepanzerte Ritterheer
verliert täglich an Bedeutung. Und an seine Stelle tritt die besoldete oder zum Kriegsdienst gezwungene Masse der Schützen. Und das kann
nur der haben, der genügend Geld oder genügend Überzeugung hat,
um diese Kriegsknechte an sich zu binden. Und das fehlt den meisten
von uns.“ „Uns? Du meinst, den meisten thüringischen Edlen, die für
Fehden und Ehrengefechte mehr ausgeben als sie einnehmen, oder?“
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„Du weißt, dass das bei mir nicht so ist! Schwarzburg-Arnstadt hat noch
jedem Angriff widerstanden und als Feldhauptmann des Nordens habe
ich auch meinen Sold erhalten. Ich kann dir versichern, dass ich vor ein
paar Wochen nicht nur meinen Frieden mit Landgraf Friedrich gemacht,
sondern mich auch mit ihm verbündet habe. Zum einen natürlich, um
meines Bruders Sohn aus der Gefangenschaft des Fürsten zu befreien,
zum anderen aber, weil wir das gleiche Ziel verfolgen: Ruhe in der Landgrafschaft, die Herren und Bauern ein auskömmliches Leben ermöglicht. Du bist mit deinen Lehen fein raus, denn durch das Silber kannst
du es dir leisten, dich mit Feuerwaffen zu verteidigen – wir anderen
müssen versuchen, uns durch die Ausweitung unseres Besitzes abzusichern. Und wenn das jeder tut, entsteht zwangsläufig Krieg. Tun wir es
nicht, müssen wir unsere Macht und unseren Besitz abgeben an den,
der etwas dafür bezahlen oder eintauschen kann. Dein Bruder Gernot
konnte in den bayrischen Landen sein Lehen bei Selb fast verdoppeln,
weil Kaiser Ludwig der Bayer, seinen Adligen den Krieg und die Fehde
bei Verlust all ihrer Güter verboten hat. Gernot, der im Italienfeldzug
nicht ärmer geworden ist, hatte so das Glück, zwei Nachbarlehen käuflich zu erwerben.“ „Das weiß ich, aber was hat das alles mit deinem
Krieg gegen unseren Landesherren und meine Rolle dabei zu tun?“
„Friedrich beansprucht bei jedem Landerwerb durch Kauf oder Vertrag
das Vorkaufsrecht, so dass zwar seine Macht und sein Besitz wachsen
kann, die des Adels aber immer geringer wird. Friedrich ist Schwiegersohn Kaiser Ludwigs und im Augenblick der mächtigste der Reichsfürsten. Wenn er sein Vorkaufsrecht durchsetzt, gibt es in Thüringen bald
keinen Adel mehr und das Volk treibt, was es will, denn es gibt niemand
mehr von unserem Rang, der es in Schach hält. Deshalb habe ich mich
mit ihm verbündet unter der Zusage, dass er sein Vorkaufsrecht nur einfordert, wenn die Nachbarn des betroffenen Lehens nicht selbst kaufen
wollen und seinem Kauf zustimmen.“ „Schön, und jetzt erwartest du
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von mir, dass ich dem Landgraf kein Silber mehr liefere, oder?“ „Richtig
erkannt!“ „Und was habe ich von diesem Treuebruch? Denn Treue habe
ich geschworen, wie du auch!“ „Auch du wirst früher oder später darauf
angewiesen sein, deine Lande so zu bewirtschaften, dass ihr alle davon
leben könnt. Denn das weiß ich sicher von Borislav Přemisl: selbst bei
ihm mit den schräg liegenden Stollen und dem reichen Silbergehalt der
Gesteine geht der Silberertrag stark zurück – das hat er mir erst vor einigen Monaten im Vollrausch gebeichtet.“ „Und wenn es bei mir genauso wäre – ich betone: wäre: was bringt dieses Angebot zum
Treuebruch für mich?“ „Du könntest an unserer Seite eine Herrschaft
errichten, die groß genug ist, dich, die Deinen und deine Bauern und
Handwerker zu ernähren, ohne dass ihr Abgaben an einen Landesherren entrichten müsstet; oder ganz kurz gefasst: Wir sorgen für uns, und
der Landesherr soll sehen, wo er selbst für sich sorgt – was zeichnet ihn
denn vor uns aus? Ich komme aus einem der ältesten Adelsgeschlechter
des Reiches, das unter Karl dem Großen schon Dienst tat, während die
Wettiner noch nicht einmal wussten, dass sie sich einst so nennen würden. Und denen soll ich mich unterwerfen?“ „Und dein Treueschwur bei
der Belehnung mit Schwarzburg-Arnstadt?“ „Es war das, was das Recht
damals einforderte –und du weißt gut, dass ich damals große Schwierigkeiten hatte, meinen eigentlich einzigen legitimen Bruder Bodo zu
beerben, den ehelich geborenen, ritterlichen Versager.“ „Und wie soll
das gehen? Ihr habt euch doch sicherlich Gedanken gemacht, wie eine
Grafschaft, eine Landgrafschaft oder ein Kurfürstentum zu regieren ist,
wenn an jeder Ecke ein anderer Adeliger bestimmt, wie sich das Leben
zu entwickeln hat, oder ?“ „An jeder Ecke ist fürchterlich übertrieben!
Die Frage ist einfach: sollen wir, die Adligen, die unsere Länder, Menschen, Gegebenheiten kennen, entscheiden, wie es weitergehen soll,
oder wollen wir das alles irgendeinem Herren überlassen, der von
Nichts eine Ahnung hat, aber ohne irgendetwas zu tun von unseren
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Leistungen lebt und uns befehlen darf, was wir tun sollen?“ „Es gehen
ja genügend Gerüchte um, und da ich mit den Händlern, die Steigerthal
besuchen, gut bekannt bin, kenne ich natürlich alle Gerüchte. Es heißt,
dass die Brandenburger, die Hanse und eine ganze Reihe anderer dich
als Anwärter für die Würde des Römischen Königs ausgesucht haben –
“ er hob abwehrend die Hand als der Schwarzburger anfangen wollte zu
protestieren. „Ich sage: Gerücht! Doch wenn es denn je so käme, dass
du König des deutschen Reiches würdest und dich alsbald vom Papst
zum Kaiser krönen lassen wolltest: Wie, bitte schön, würdest du das
Reich regieren können, wenn in jeder Region eine Handvoll Edler bestimmen könnte, wie es weitergehen soll? Willst du mit den Einnahmen
von Schwarzburg-Arnstadt das Reichsheer finanzieren?“ Günter von
Schwarzburg war blasser geworden, seine Augen schmaler. „Ich
möchte wirklich wissen, wer solche Gerüchte in die Welt setzt! Es geht
doch um eine ganz einfache Tatsache: Die Reichsfürsten leben von unseren Abgaben und erarbeiten nichts selbst; wir müssen diese Abgaben
erwirtschaften und dann noch etwas für uns übrig behalten. Damit nehmen wir den Menschen in unseren Lehen oft die Möglichkeit, ein ausreichend gutes Leben zu führen! Trockenheit, Überschwemmungen,
Krankheiten kommen sowieso noch dazu. Und das Ergebnis ist Hunger,
Not, Tod, Armut auch des Adels. Wenn wir all das, was wir an Diensten
und Abgaben unseren Reichsfürsten geben müssen, dem gemeinen
Volk ließen, ginge es dem gut und uns auch!“ Cuno schüttelte nur den
Kopf. „Das ist doch einfach unsinnig! Du weißt, dass ich Knappe in Böhmen war und auch böhmischen Besitz habe. Dort gibt es kein Lehenswesen und keine Leibeigenschaft. Wenn es den Menschen zu schlecht
geht, flüchten sie in andere Gegenden, wo Arbeitskräfte gebraucht werden. Also versucht jeder adlige Landbesitzer, seine Leute so gut zu entlohnen, wie er kann. Und dazu muss er auch gut wirtschaften. Also,
keine sinnlosen Fehden wegen angeblich verletzter Ehre - dafür werden
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Tjoste genutzt. Und damit geht es den Leuten relativ gut, solange das
Wetter mitspielt.“ „Wir sind hier aber nicht in Böhmen und ich hoffe bei
Gott, dass wir nie unter die Herrschaft Böhmens kommen.“ „Dann lass
mich noch eine Frage stellen: Du hast im Namen von Ludwig von Brandenburg, dem Sohn des Kaisers, auch das Heer der Mark Brandenburg
befehligt und du hast gegen Friedrich von Thüringen und Meißen, den
Schwiegersohn des Kaisers, Krieg geführt. Ich will deine Treue nicht in
Frage stellen, aber wem dienst du wirklich? Nur dir und deinem Machtzuwachs? Hat seine Heiligkeit, Papst Clemens, der den Kaiser wegen
Ketzerei gebannt hat, nicht einen neuen Bann über den Kaiser und alle
seine Unterstützer verhängt, weil Kaiser Ludwig eben diesen Sohn wider alles Recht mit der bereits verheirateten Erbin Tirols verheiratet
hat?“ „Ich streite mit dir nicht über Reichspolitik. Deine Lage ist doch
genauso verworren, denn du behauptest, dem Landgrafen treu zu sein,
aber stehst fest zu Karl von Mähren, dem Sohn des böhmischen Königs,
der des Kaisers Feind ist und damit Feind Friedrichs – oder etwa nicht?
Was ich von dir will, ist doch ganz einfach: Du gibst dem Landgraf gegenüber zu, dass der Ertrag der Bergwerke nachlässt und du deshalb
nicht mehr so viel Silber liefern kannst; mit den eingesparten Abgaben
kannst du neue Wege suchen, um deinen Bauern und Handwerkern einen ausreichenden Lebensunterhalt zu garantieren – und den Witwen
und Waisen der Gefallenen auch – du erinnerst dich sicher an dein unsinniges Versprechen, gute Krieger anzuwerben! Wir hätten dich gerne
auf unserer Seite, wir: das ist mein Schwestermann Walter von Hohnstein, der Freund deines Bruders Gernot, Botho von Eulenburg, die Grafen von Orlamünde und viele andere. Denk darüber nach und gib uns
Nachricht. Wir wollen nicht dein Silber, aber wir wollen sicher gehen,
dass deine Schützen uns fern bleiben.“ Mit diesem Eingeständnis erhob
sich Günter von Schwarzburg, verbeugte sich kurz und strebte der Hallentür zu. Dort angekommen, rief er nach seinem Pferd, schwang sich
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in den Sattel und ritt hinunter ins Dorf, von wo aus er sich nach Nordhausen wandte.
Cuno blieb in Gedanken versunken am Tisch sitzen und schenkte sich
noch einen Becher ein. Es war schon richtig, was Günter von Schwarzburg vermutet hatte: der Ertrag der Schächte wurde geringer und auch
mit allem Wissen, das er vom Schwarzen Boris bei dessen Besuch in
Thüringen erworben hatte, fand er keine neue, reiche Ader. Der alte
Bergmeister, Gerhard, war schon lange nicht mehr in der Lage, Schächte
oder Stollen abzutäufen, aber mit Rat und Ideen war er immer noch dabei – vergebens. Der Ertrag sank. Cuno brauchte deshalb weniger Steiger, weniger Hauer, sogar weniger Ochsen mit ihren Treibern, um die
Gewerke am Laufen zu halten. Und die Zahl der Bewohner von Steigerthal und all den anderen Orten im vereinigten Lehen stieg weiter, dank
des guten Lebens, das die meisten führen konnten, und wenn es dann
soweit war, dank Adelheids Wissen und Lehren. Wäre es eine Lösung
für Steigerthal, dem Landgrafen das ihm zustehende Silber zu verweigern?
Er schrak aus seinen Überlegungen auf, als die Halle sich zu füllen begann und die Knechte, Mägde, Schützen, Gäste und Besucher lebhaft
und laut eintraten. Gernot führte die Gäste an die hohe Tafel, Salwa trat
zu Cuno und legte ihm die Hand auf die Schulter: „Z čeho máš strach,
Cuno?“ Ihre Frage war berechtigt: Wovor hatte er Angst? Er war glücklich mit der Entscheidung, diese Frau geheiratet zu haben; er war dankbar, dass er bei Borislav so viel über Rittersein und Bergbau gelernt
hatte, dass er sein Lehen gut regieren und seinem Lehnsherren viel Silber liefern konnte; er war zufrieden mit dem, was er erreicht hatte: eine
bezaubernde, glückliche Tochter, einen mehr als würdigen Erben, einen
Sohn als Knappen, der der ganzen Welt trotzen konnte, ein Gestüt, das
ihm zwar nicht mehr gehörte, aber das die besten Pferde der ganzen
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Region hervorbrachte; und alles gab so vielen Menschen Brot und Arbeit, dass Prior Ono vom Kloster Himmelgarten schon manchmal gesagt
hatte, der Himmelgarten sei eher nicht in Nordhausen, sondern hier! Er
legte seine Wange auf Salwas Hand und sagte: „Du hast recht – wir
brauchen uns zumindest nicht vor irgendwelchen Menschen zu fürchten!“ Nachdem sie das abendliche Vesper eingenommen hatten, saß
die Familie beisammen und Cuno berichtete, was Günter von Schwarzburg gesagt hatte. „Aber Vater, der ist doch ein Schurke!“ „Oder einer,
der sich zu Höherem berufen fühlt! Ich habe schon sagen hören, dass
die Wittelsbacher ihn zum Nachfolger Kaiser Ludwigs machen wollen.“
„Gernot, wer zum Teufel sind die Wittelsbacher?“ Ehe Salwa auf den
Fluch des kleinen Cuno reagieren konnte, antwortete Gernot: „ Die Wittelsbacher sind die Familie das Kaisers, so wie du ein Steigerthaler bist.“
„Und was würdest du tun, um dein Lehen zu retten, wenn wir kein Silber
hätten?“ wandte sich Cuno an Gernot. Der junge Mann, mit seinen
sechzehn Jahren schon mit tiefer Stimme und erstem Bart, ließ die breiten Schultern fallen und setzte an: „ Ich müsste etwas anderes finden,
von dem wir alle leben könnten, so wie Anja und mein Halbbruder Wenzel die Pferdezucht gefunden haben. Was gibt es hier, was es wo anders
nicht gibt? Wald, Wiesen, nichts Besonderes. Doch!“ Er straffte sich und
schaute die Familie an: „Wir müssen nur suchen. Es gibt sicher irgendwo
genügend Quarzsand und Feldspat, Pottasche haben wir selber, Öfen
und Holzkohle auch und dann gehe ich zu einem Glasmacher in die
Lehre und dann bauen wir hier Glashütten und dann bleiben wir reich,
weil alle Leute unser Glas wollen…“ Seine Eltern lächelten, der kleine
Cuno war begeistert und der große Cuno machte den Vorschlag: „Was
meint ihr, kommt ihr alle mit auf einen Spaziergang rund um die Burg?
Vielleicht finden wir ja schon den richtigen Sand!“ Die vier gingen zum
Tor, draußen auf der Treppe pfiff Gernot nach Wolf, einem Enkel von
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Cunos Wolf, genauso gut erzogen, aber nicht mehr ganz so wölfisch aussehend, die beteiligten Hirtenhündinnen zeigten deutlich ihre Spuren,
schon bei der Farbe des Fells. Dann ging es auf den gepflasterten Weg,
der zum Dorf führte. Gerade als der ältere Cuno von diesem Weg abbiegen und nach links am Burggraben entlang gehen wollte, entdeckten
die beiden Jungen, dass unten am Dorfbrunnen ein Reigen getanzt
wurde, sogar Fetzen der Musik von Sackpfeifen war zu hören. Die beiden schauten sich an, dann den Vater und als der nickte, rannten sie los
um am Tanz teilzunehmen. „Schön, dass sie so unbeschwert mit den
Dorfkindern umgehen können.“ „Ich weiß nicht so genau, aber ich habe
den Eindruck, dass Gernot nicht nur beim Tanzen sehr ungezwungen
mit mancher Dirne aus dem Dorf umgeht, in seinem Alter war ich schon
fast Vater!“ „Cuno, lass uns einfach mal nach dem Sohn sehen!“ Sie
nahm seine Hand und dann gingen sie immer am Burggraben entlang,
bis sie auf der ehemaligen Festwiese waren, auf der sich nun das Gestüt
befand. Geschäftiges Treiben zeigte an, dass Tier und Mensch noch
nicht so schnell Ruhe finden würden, und in der Mitte des scheinbaren
Durcheinanders stand Anja, trotz ihrer mehr als vierzig Jahre noch kraftvoll und lauter denn je, nur das Grau der Locken zeigte an, dass viele
Jahre vergangen waren, seit sie mit Cuno hier ins Dorf gekommen war.
Sie winkte ihnen fröhlich zu und wies auf die Holzbank, die rund um die
Linde am Rande des Stallgebäudes herum gezimmert war, auch ein
Werk von Zimmermann Franz. Sie setzten sich; eine Magd brachte zwei
Krüge schäumendes Bier und kleine frisch gebackene Brote. Anjas Bier
war berühmt geworden, auch wegen seiner Geschichte: einer der vielen
böhmischen Ritter war ins Gestüt gekommen, um ein leichtes Reitpferd
für seine Frau zu kaufen; der Bursche, der ihn dabei begleitete, verliebte
sich auf der Stelle in eine der jungen Helferinnen Anjas; auf seine Bitte
hin entließ ihn der Ritter aus seinem Dienst und der Bursche verdingte
sich bei Egbert, so dass er um das Mädchen werben konnte. Die fragte
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ihn, bevor sie seinem Drängen nachgab, ob er denn etwas könne, was
andere Burschen nicht könnten. Nach einigem Überlegen ging ein
Strahlen über sein Gesicht, er sagte ja und verschwand. Eine Woche
später stand er mit einem Krug schäumenden Bieres vor ihr und sagte:
„Das ist das Besondere!“ Sie probierte und nahm ihn zum Mann. Seitdem hatte er die Braukunst noch verbessert, nahm nur noch ein ganz
bestimmtes Quellwasser und dörrte sein Malz selbst. Man schmeckte
den Unterschied.
„Uns geht es so gut, dass wir in unserer Burg in Ruhe leben können;
wenn du aus dem Bergwerk oder von den Schmelzen kommst, bist du
oft so unruhig wie das Gestüt hier, aber dann kommt die Ruhe und das
ist schön.“
Nach und nach wurde es auch auf dem Hof ruhiger und bald trat Anja,
ebenfalls mit einem Krug in der Hand, zu ihnen und setzte sich auch.
„Schön, dass ihr mal wieder nach mir seht“, sagte sie grinsend, „ich weiß
doch, dass euch nur der Wunsch nach frischer Luft hier an den Misthaufen,“ sie deutete auf den in Gülle schwimmenden Haufen hinter dem
Haus, „geführt hat.“ „Es sieht hier so aus, als gingen die Geschäfte
prächtig.“ „Das ist so. Egbert hat ein Händchen, was die Zucht angeht,
Wenzel ist der geborene Verkäufer und ich halte den Laden zusammen.
Nur das kleine Fräulein Ada hält sich in der letzten Zeit aus allem raus,
die hat sich so in einen böhmischen Knappen verliebt, der beim letzten
Austausch mit böhmischen Rittern dabei war, dass sie nur noch vor sich
hin heult, seitdem er wieder weg ist!“ „Kann sie nicht den umgekehrten
Weg machen wie du damals?“ fragte Salwa. „Natürlich, aber dazu hätte
sie den Knappen wenigstens mal befragen müssen!“ Sie musste lächeln,
auch wenn ihr ihre Tochter natürlich leid tat. „Der Kerl hat sicher genauso wenig bemerkt wie Egbert, aber ein gut aussehender Kerl war er!
Und außerdem ist Ada noch keine fünfzehn, da hat das mit den Kerlen
und dem Kinderkriegen sowieso noch ein bisschen Zeit. Wie geht es
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denn eurer Ada? Ich habe gehört, dass sie oft Besuch bekommt von
Adelheid. Ist sie krank oder unterhalten sich die beiden bloß?“ „Ich bin
froh, dass Adelheid so oft zu ihr kommt und ihr dann alles erzählt, was
sich in der Welt, also im Dorf so zugetragen hat, und ihr dabei das eine
oder andere Tränklein verabreicht. Nein, ich glaube nicht, dass meine
Mutter krank ist, aber sie kann sich nur schwer mit dem Tod meines
Vaters abfinden und sucht immer die Schuld bei sich, weil sie zu der Zeit
hier war statt in Erfurt bei ihm. Dann lässt sie den Priester kommen und
beichtet zum hundertsten Mal die gleichen Sünden, um irgendwann
Vergebung zu spüren.“ „Das ist das Schlimmste: sie war eine starke, in
sich ruhende Frau. Als ich sie das erste Mal gesehen habe – erinnerst du
dich, Cuno, ich habe es noch am gleichen Abend zu dir gesagt - wusste
ich, dass ich so werden wollte wie meine zukünftige Schwiegermutter.
Jetzt ist sie weder stark noch ruht sie in sich selbst, für mich ist sie eine
andere Frau geworden. Wirklich nur, weil sie ihren Mann, für den sie
sich ja freiwillig entschieden hatte, verloren hat! Ich weiß nicht, was dahinter verborgen ist.“ „Wir haben beide schon oft genug um Cuno gezittert!“ Über den Hof kam Wenzel auf sie zu, ein Pferd am Halfter. Er
reichte den Burgherren ohne Umschweife die Hand und begrüßte sie.
Man sah ihm schon an, dass er Cunos Sohn war, denn auch wenn seine
Augen wieder etwas heller waren als die des Vaters – aber es waren
immer noch Leilas Augen, verbunden mit der kräftigen, großgewachsenen Gestalt der Steigerthals. Sein Gesicht war offen und ansprechend
in seiner Symmetrie, der Mund war etwas groß geraten, wie der Anjas,
die Zähne stark und weiß. „Schaut euch diese Stute mal an, sie ist jetzt
sechzehn Monate alt und sie scheut bei allen unseren Hengsten, wenn
die ihr zu nahe kommen; deshalb will ich sie verkaufen. Gibt es bei Pferden so etwas wie die hochgelobte Jungfräulichkeit, oder ist das eher ein
Makel?“ Die Älteren lachten laut bei dieser Frage: „Wenzel, du bist und
bleibst das liebenswerteste Schlitzohr, das ich kenne. Von mir kannst du
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das nicht geerbt haben!“ „Na ja“ murmelten beide Frauen wie im Chor.
Jetzt war es an der Zeit für Cuno, empört zu schauen, bevor er wieder
zu lachen anfing. „Also, ich würde die Stute als scheu bezeichnen“
meinte Anja. „Ich denke eher, dass die Beschreibung ‚ zurückhaltend
und berechenbar, ideal als Reitpferd für eine Dame‘ lauten sollte.“ Das
war Cuno. „Viel besser: Absolut vertrauenswürdig, auch wenn sie rossig
ist und deshalb das passende Reitpferd für eine Dame oder Kinder!“
„Danke, Salwa, mit dem Spruch weiß ich auch schon, an wen ich die
Stute verkaufen kann. Euch noch einen schönen Abend, ich reite noch
nach Nordhausen – vielleicht werde ich den Gaul noch heute los.“
Sprachs, lief die wenigen Schritte zu seinem Hengst, saß auf, führte die
Stute am langen Zügel und verschwand in Richtung Sonnenuntergang,
als dunkler Schatten vor dem roten Licht der Sonne. „Ich habe keine
Idee, an wen er die Stute verkaufen will, aber ich fürchte, es geht nicht
nur um eine Stute aus unserem Gestüt!“ „Anja, gib doch zu – wenn er
sich nur hier herumtreiben würde, wäre dir auch nicht wohl, oder?“
Steigerthal, Herbst 1343
Ada war tot; die Großmutter von Barbara von Hohnstein, Gernot und
Cuonrad von Steigerthal; die Mutter von Gernot und Cuonrad von Steigerthal; die Witwe Gernots von Steigerthal; Halbschwester des zweiten
und uneheliche Lieblingstochter des ersten Friedrich von Thüringen.
Obwohl alle auf der Burg gesehen hatten, wie sich die Herrin verändert
hatte im Lauf der letzten Jahre, war ihr Tod doch überraschend gekommen. Es war der Tag der Heiligen Hildegard, der Schutzheiligen der Heilkunde, als Ada am Morgen nicht dafür gesorgt hatte, dass die Mägde
die morgendliche Mahlzeit für alle vorbereiteten. Das war ein Privileg
für Salwa: sie durfte immer noch ein wenig liegen bleiben, bis der Haushalt zu laufen anfing, und dann löste sie ihre Schwiegermutter ab. An
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diesem Morgen arbeiteten die Mägde wie immer, kaum einer hätte es
bemerkt, dass Ada nicht auf ihrem Posten war, bis Adelheid, die Tochter
des alten Bergmeisters und seit Jahrzehnten die ‚weise Frau“ des Weilers, zur Tür hereintrat, um mit Ada den Tag der Heiligen Hildegard zu
begehen, und ihre Freundin nicht auf dem gewohnten Platz sah. Sie
rannte hinauf zu Adas Gemächern. Ada lag mit gebrochenem Blick auf
ihrem Lager, mit Fellen zugedeckt, die Haare wirr, der Mund mit den
noch immer erstaunlich guten Zähnen offen, ein leichter Speichelfaden
zog sich zum faltigen Hals hin, die Arme ausgebreitet, die Hände offen
zur Decke. Die Bibel, die sie wohl noch als letztes gelesen hatte, lag verkehrt herum aufgeschlagen auf dem Boden, das eine der verglasten
Fenster war offen, Wenn Adelheid zu Aberglauben geneigt gewesen
wäre, hätte sie behauptet, dass sie die Seele noch zum Fenster hinausfliegen sah, denn Ada war noch nicht erkaltet, auch wenn kein Hauch
mehr über ihre Lippen kam. Ohne irgendetwas zu den anderen zu sagen, lief sie wieder hinunter und in die kleine Dorfkirche, wo der von
Abt Ono zur Seelsorge und zum Unterricht der Kinder berufene Mönch
gerade die Messe las. Sie wartete, bis er die Wandlung vollzogen und
dem Herrn gedankt hatte. Dann berichtete sie ihm vom Tod Adas und
er raffte das Kännchen mit heiligem Öl, das Glöckchen und sein Psalter
zusammen und lief mit ihr zurück zur Burg. Jetzt allerdings war die Aufmerksam des ganzen Gesindes geweckt, denn ein Geistlicher zu dieser
frühen Morgenstunde war doch recht ungewöhnlich. Als sie sahen, dass
er mit dem Ölkännchen die Stufen zu der alten Herrin Gemach hinaufeilte, war jedem klar, was geschehen war. Gernot und der kleine Cuno,
die mit dem Gesinde beim Frühstück saßen, liefen ebenfalls die Treppe
hinauf und klopften an die Tür der elterlichen Kemenate. „Vater, Mutter, kommt schnell, wir glauben, dass es Herrin Ada gar nicht gut geht!“
Salwa und Cuno stürzten aus ihrem Gemach und liefen mit den Kindern
hinter dem Priester und Adelheid her. Der beugte sich über die alte
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Frau, hielt einen kleinen Spiegel, den er mitgebracht hatte, vor ihren
Mund, und als sich auch hier kein Hauch zeigte, drückte er ihr vorsichtig
die Augen zu, schob die Arme der Verstorbenen an den Körper und
fügte ihre Hände so ineinander, dass sie wie zum Gebet gefaltet aussahen, legte sich die Stola über die Schultern, gab in Ermangelung eines
Ministranten Adelheid das Glöckchen. Dann öffnete er sein Buch und
begann, die Worte zur letzten Ölung zu verlesen: „Emitte. Domine, Spiritum Sanctum tuum Paraclitum“. Dann zeichnete er mit dem Heiligen
Öl, das in Steigerthal tatsächlich Olivenöl war, wie es der Jünger Jakobus
vorgeschrieben hatte, der Verstorbenen je ein Kreuz auf die Stirn, die
Augen, die Nase, die Ohren und die Handflächen. „Per istam sanctam
unctione et suam piisissimam misericordiam indulgeat tibi Dominus
quidquid deliquiste.“ Dann legte er Ada eine geweihte Hostie in den
Mund; es gelang ihm noch, ihren Mund zu schließen. Damit war der
Versehgang beendet und Weltliches konnte wieder getan werden.
Gernot hatte schon öfter diesen Glaubensakt erlebt, aber für den kleinen Cuno war es das erste Mal. Anfangs stand er mit offenem Mund da
und nahm alles in sich auf, aber als ihm dann, so gering seine Lateinkenntnisse auch noch waren, klar wurde, dass mit diesen Worten die
Seele aus dem sterblichen Leib verabschiedet wurde, fing er jämmerlich
zu schluchzen an, und Salwa zog ihn an ihre Seite, wo er wie ein Kind
sein Gesicht in ihrer Schulter verbarg. Die Familie trat an das Lager der
Verstorbenen, und wie es der Brauch war, übernahm der Sohn die erste
Totenwache. Die anderen drängten sich heran, um von Herrin Ada Abschied zu nehmen, während der Mönch noch Kerzen entzündete, die
bis zum nächsten Morgen brennen sollten.
An diesem Tag war nichts in Steigerthal, wie es immer war: das Gesinde
verabschiedete sich von Ada und wurde von Salwa dazu angehalten,
Speisen und Getränke für den Leichenschmaus vorzubereiten; die Bergleute passierten einer nach dem anderen am Totenbett vorbei, mit
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Frauen und Kindern; jeder sprach ein stummes Gebet, so wie es die
Handwerkerfamilien und die Händler, die nach ihnen kamen, auch taten; am Schluss, nach den Leuten vom Gestüt und den bäuerlichen Familien, kamen sogar Abordnungen der Köhler aus den umliegenden
Wäldern, um von Ada, die für alle eine gnädige und gerechte Herrin gewesen war, Abschied zu nehmen. Cuno schloss Salwa in seine Arme, als
sie später noch einmal ins Sterbezimmer kam: „All die Erwartungen, die
die Leute den ganzen Tag über geäußert haben, liegen nun auf uns –
und ich fürchte, es wird nicht so einfach sein wie bisher, allen zu helfen!“
Am folgenden Freitag wurde Ada begraben. Ihr Halbbruder Friedrich
von Thüringen gab ihr das letzte Geleit. Er war zusammen mit seinem
gerade zehnjährigen zweiten Sohn Balthasar gekommen, den ihm seine
wenig geliebte Gattin, die Kaisertochter Mechthild dann doch noch geschenkt hatte, nachdem eine erste Mutterschaft den Erben Friedrich
zur Folge hatte, die das Verhältnis des Landgrafen zu seiner Gemahlin
wesentlich zum Besseren verändert hatte. Auch Abt Ono vom Kloster
Himmelgarten, das sie ihr Leben lang reich beschenkt hatte, war mit einer großen Abordnung der Mönche gekommen. Gernot von Steigerthal
und Selb war ohne seine Gemahlin erschienen, die hochschwanger war
und den langen Ritt nicht überstanden hätte. Der unterdessen uralte
Graf Hohnstein gab ihr die Ehre, mehr getragen als geführt von seinem
Neffen Ulrich und dessen Frau Barbara, die an der anderen Hand den
kleinen Walter hielt und wegen des Hinscheidens ihrer geliebten Großmutter vor sich hin schluchzte. Die Herren der Nachbarlehen folgten
dem Sarg ebenso wie die Dörfler und das Gesinde von Burg und Gestüt.
Als Cuno, sein Bruder Gernot, Ulrich von Hohnstein, Urban und zwei Ritter aus der Nachbarschaft den Sarg die Dorfstraße hinunter trugen,
brach einer dieser für die Gegend typischen Herbststürme los: ein kur-
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zer Blitz, krachender Donner und dann peitschte der ganz plötzlich aufkommende Wind den Regen über das Land; kurze Zeit später war alles
vorbei, aber der Regen und der Wind hatten genügt, Burg und Dorf in
Trauer zu hüllen: Es war kalt geworden; die eben noch bunten Blätter
der Bäume waren nur noch braune Flecken auf Weg und Anger, die kahlen Äste schienen sich anklagend in den Himmel zu heben. Das monotone Läuten der tiefsten Kirchenglocke gab die passende Musik.
Wie es der Tradition entsprach, waren die Mittrauernden zum Leichenschmaus geladen, die Herren in der Halle, für das Gesinde hatte Anja
die Reithalle beim Gestüt leer räumen lassen, für die Dörfler hatte Franz
auf dem Kirchplatz ein Zelt aufgeschlagen. Es gab reichlich Essen und
Getränke, aber dem Anlass entsprechend blieb das Feiern recht gedämpft.
An der hohen Tafel gab es neben Nachrufen auf die Verblichene vor allem ein Thema: Im Sommer hatte der neue Papst Clemens, der sechste
seines Namens, in Avignon, wo die Päpste seit längerem residierten,
Kaiser Ludwig mehrfach als Ketzer gebannt und zur Neuwahl eines Kaisers aufgerufen. Als Anwärter für den Thron hatte er Karl von Mähren
vorgeschlagen, den Sohn König Johanns von Böhmen, der eigentlich
Wenzel getauft worden war und den Clemens als Lehrer und Berater
am Hof in Paris selbst erzogen hatte. Landgraf Friedrich war, vor allem,
nach dem Balthasar als Erbe Thüringens und Enkel des Kaisers geboren
wurde, nicht nur als Schwiegersohn, sondern aus politischer Überzeugung Parteigänger Ludwigs des Bayern, der ihn auch gegen den unbotmäßigen Adel in der Landgrafschaft unterstützt hatte. Gernot von Steigerthal hatte sich in die Dienste des Wittelsbachers gestellt und war dafür mit der Ritterschaft Selb belehnt worden –auch er ein Parteigänger
Ludwigs. Ulrich von Hohnstein war sich in der Beziehung mit seinen vielen hohnsteiner Verwandten einig: die Treue zu Ludwig musste halten.
Nur Cuno war unsicher: Die Gegner Landgraf Friedrichs, geführt von
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Günter von Schwarzburg, müssten eigentlich Karl, den Gegner Ludwigs,
unterstützen, dem Cuno ja sehr zugeneigt war; wenn diese siegreich
wären, dann würden sie ihre Vorstellung von Adelsherrschaft durchsetzen können und er bliebe mittellos, da die Leibeigenschaft als Grundlage des guten Lebens des Adels schon von seinem Urgroßvater aufgehoben worden war, als er Lohnarbeiter für das Bergwerk brauchte; und
die Silberminen brachten tatsächlich immer weniger Ertrag. Aber er
hatte Friedrich seinen Treueid geschworen, und zwar freiwillig und mit
Überzeugung. „Wenn es zu einem Gegenkönig kommt, der dann vom
Papst zum Kaiser gekrönt wird, dann haben wir schlimmere Zustände
im Reich als seit Menschengedenken!“ „Ja, Cuno, davon bin ich auch
fest überzeugt, und da wir die Neuwahl nun einmal nicht verhindern
können, muss jedes Fürstentum so stark sein, dass es sich allein verteidigen und ernähren kann, nur so bleibt der Krieg außerhalb der Grenzen
Thüringens!“ „Gernot, du kennst doch den Kaiser als Herrscher, nicht
nur als Schwäher – wird er sich dem Bann beugen?“ „Nein, niemals!
Schon der alte Papst Benedikt hatte Ludwig ja gebannt, weil er versucht
hatte, den Heiligen Stuhl wieder in Rom zu beleben, der Papst aber die
Römer fürchtete. Es ist schon so, dass Ludwig die Exkommunikation und
der Bann sehr belastet, sonst hätte er nur wegen der Fürsprache des
französischen Königs Philipp beim Papst niemals das Bündnis mit England zugunsten eines solchen mit Frankreich aufgegeben. Aber dass er
sich unterwirft, halte ich für ausgeschlossen.“ „Nun gut, dann muss ich
weiter versuchen, meine Stellung in der Landgrafschaft durch Bündnisse zu sichern wie die mit den Vögten von Plauen und Gera letzte Woche.“ Mit diesen Worten beendete Landgraf Friedrich den Abend für
sich und gab damit das Zeichen zum Aufbruch.
Die nächsten Tage waren bedrückend. Das Herbstwetter machte die
letzten Arbeiten auf den Feldern, Wiesen und im Wald beschwerlich,
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die Nässe brachte die Mühlräder für Mahl- und Hebewerke zum Knirschen und Kreischen, die Arbeit in den Schächten und Stollen litt unter
der Feuchtigkeit, nur das Schmelzen war leichter als im Sommer. Salwa
und Cuno versuchten, einen neuen Lebensrhythmus ohne Ada zu finden
und lagen abends oft noch lange und in Gespräche vertieft wach, nicht
ohne sich ganz fest zu halten.
Die Vorbereitungen für den Martini-Markt brachte ein wenig Abwechslung. Er hieß zwar „Martini-Markt“, aber da Steigerthal kein Marktrecht
hatte, war es nicht wirklich ein Markt, sondern die Händler stellten sich
unter den Schutz des Ritters, um ihre Waren anzubieten. Und da die
wirklichen Martini-Märkte die ganze Arbeitskraft der Verkäufer erforderten, war der Markt in Steigerthal am Tag des Heiligen Franz von Assisi, etwa vier Wochen früher, und für die fahrenden Händler wie eine
Generalprobe. Dafür hatte Cuno alles Andere, was eigentlich im ganzen
Reich an Martini stattfand, aber auch auf den steigerthalschen Markttag umgestellt: Zinsen mussten bezahlt werden, das Gesinde, das man
im nächsten Jahr nicht mehr brauchte, wurde entlassen, neue Knechte
und Mägde wurden eingestellt; die Neuen bekamen ein Handgeld, die
Entlassenen den Rest ihres Lohnes, so dass für den Markt Geld vorhanden war.
Die Handwerker des Dorfes hatten in den Wochen zuvor mehr Waren
hergestellt, als bestellt waren, so dass Eisenwaren, Schuhe, Stoffe, Holzgeschirr und gerauchtes Fleisch vor den Werkstätten und Läden ausgestellt werden konnten. Die Bäcker hatten Besonderes gebacken, vor allem viel Süßes, da sie wussten, dass die Kinder ihre Eltern schon dazu
bringen würden, etwas davon zu kaufen. Die fahrenden Händler brachten Gewürze, Schmuck, feinste Tuche aus Wolle oder Seide, Lederwaren, eingesalzene Fische, geheimnisvolle Heilmittelchen und was das
Herz sonst noch begehren mochte.
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Schon am Vortag kamen, sehr zur Freude der Gestütsbrauerei, die ersten Händler, um sich an der Dorfstraße einen guten Platz möglichst weit
weg von den anderen Händlern, die die gleiche Ware anboten, zu sichern; man kannte sich, man tauschte den neuesten Klatsch und
Tratsch aus und sprach Brot, Fleisch, Kuchen und dem Bier zu.
Am Morgen dann, nach einer feierlichen Messe, begann das Markttreiben. Cuno und Salwa mussten noch die neu einzustellenden Mägde und
Knechte begrüßen und vorher denen, die entlassen wurden, ihren restlichen Lohn auszahlen, bevor auch sie sich nach unten begaben, wo Gernot und der kleine Cuno schon lange unterwegs waren. Gerhard, der
Bergmeister, machte das Gleiche bei den Bergleuten, so wie Anja auf
dem Gestüt. Aber Gerhard hatte die schlechtere Aufgabe, denn er
musste mehr Bergleute entlassen als er neu anstellen konnte – die Gruben gaben immer weniger her und so viele Leute wie bisher konnten
nicht mehr vom Ertrag des weniger werdenden Silbers leben.
Als der Ritter mit seiner Frau auf dem Kirchplatz ankam, sah er einen
großen Wagenzug noch nach Steigerthal kommen, der für den kleinen
Markt viel zu viele Waren mitbrachte. Vom Bock des ersten Fuhrwerks
sprang ein großer Junge, mit leicht gebogener Nase und dunklen Haaren und schon einem Ansatz von Schläfenlocken. Da war klar, dass es
jüdische Händler waren, und nachdem der Junge die hintere Öffnung
des Wagens gelöst hatte, sahen Salwa und Cuno Rebecca Herschel, die
lächelnd aus dem Wagen stieg und die beiden herzlich begrüßte. Sie
war seit Jahren immer auf dem Markt in Steigerthal gewesen und gehörte einfach dazu, allerdings noch nie mit so vielen Fuhrwerken und
Karren, und auch nicht so vielen Leuten. „Willkommen auf dem Markt!“
Rebecca dankte und erklärte: „Ich habe wohl eure Blicke gesehen, mit
denen ihr meine vielen Fuhrwerke gemustert habt. Ich will natürlich nur
ganz wenig davon hier verkaufen, aber nachdem ich mein Leben bisher
dem Geschäft und Ravi gewidmet habe, möchte ich auch selbst noch
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etwas leben; eure Tochter hat schon selber ein Kind, und ich, die ich so
alt bin wie ihr, bin noch nicht einmal Mutter! Ich habe in Erfurt einen
Mann kennengelernt, Israel heißt er, auch Jude natürlich, der in Wismar
am Meer sein Handelshaus hat und zu Geschäften in Erfurt war. Wir
haben dann überlegt, dass es schön wäre, wenn wir beide in der Hansestadt am Meer leben würden. Das geht nur, wenn mir der Rat der
Stadt es erlaubt, mich dort niederzulassen, denn da gibt es kein Judenviertel, nicht einmal eine Judengasse, deshalb werden wir mitten unter
den Christen wohnen. Die Genehmigung habe ich seit Wochen. Da
musste ich nur noch warten, bis Ravi seine Bar Mitzwa hinter sich gebracht hatte, denn diese Aufnahme in die jüdische Gemeinde kann natürlich nur eine Gemeinde gewähren. So, und nun ist Ravi vollgültig
Jude, und da haben wir gleich nach der Bar Mitzwa alles zusammengepackt, unsere Häuser verkauft, die Kredite, die wir gegeben haben, an
andere verkauft und haben uns auf den Weg gemacht und wollen eigentlich bis Martini in Wismar sein.“ Ravi, den Cuno zum ersten Mal sah,
war der große Junge, der vom ersten Fuhrwerk gesprungen war. Als Rebecca davon sprach, dass er in Erfurt noch die Bar Mitzwa gefeiert
hatte, bevor sie losgezogen waren, berichtete er begeistert von dem
Text aus der Thora, der jüdischen Heiligen Schrift, den er auf hebräisch
vorgetragen hatte und der Freude der Gemeinde über einen neuen
Menschen in ihren Reihen, und dann erzählte er, sich den Bauch reibend, was es alles beim Kiddusch, dem Imbiss für die ganze Gemeinde,
nach der Feier zu essen gab. „Da können wir hier nicht mithalten“, sagte
Salwa, „aber ich gehe dir mal einen unserer Kuchenfladen holen, die
sind köstlich“, und ging hinüber zu dem Bäckergesellen. Cuno schaute
ihr verträumt nach: „In der Tat, wir kennen uns schon sehr lange und
haben schon viel vom Leben gehabt …“ und zur verwundert schauenden
Rebecca: „Das vergisst man manchmal! Und – du kannst beruhigt sein
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– Salwa holt einen der Kuchen, die hier ohne Schweineschmalz gebacken werden!“
Doch bevor Salwa mit dem Kuchen zurück war, galoppierte ein völlig
aufgelöster Bruder Benedikt auf seinem Maultier auf Cuno zu. Der
schaute dem Mönch des Klosters Himmelgarten, der ihn damals, als er
im Schacht verschüttet gewesen war, wieder zusammengeflickt hatte
mit bösen Vorahnungen entgegen. „Ono schickt mich, weil ich den Weg
kenne! Die Hohnsteins vorm Wald, viele Männer und viele Reiter, plündern gerade die freie Reichsstadt Nordhausen und uns wurde zugetragen, dass wir das nächste Opfer sein werden!“ „Der Zeitpunkt ist teuflisch gewählt! Die Erfurter und Nordhausener Truppen liegen vor der
Orlaburg, die Landgraf Friedrich rechtmäßig erworben und mit unserem
Silber bezahlt hat, die der jüngere Orlaburg aber nicht herausgibt. Rebecca“, er wandte sich der Jüdin zu, „du hörst, dass ich gebraucht
werde. Möge dein Weg friedlich in Wismar enden!“ Damit wandte er
sich um und lief zum Burgtor hinauf. „Alle Schützen auf die Pferde! Urban, du sicherst Burg und Bergwerk, ich reite zum Kloster.“ Dann an die
Mägde gewandt, die bei dem Geschrei aus allen Türen drängten: „Packt
so viele Lappen auf ein Packpferd, dass die Hufe aller Pferde damit umwickelt werden können. Und ihr Schützen, sattelt und auf geht es!“ Minuten später erdröhnte die Zugbrücke vom Getrappel der zweiundsechzig Pferde; alle Schützen hatten ihre Waffe mit Munition und Pulver aufgeschnallt, die Schwerter an der Seite. Wenzel, dem Cuno versprochen
hatte, beim nächsten Scharmützel dabei sein zu dürfen, ritt mit der aufgerichteten Lanze, die den Wimpel der Steigerthals trug, neben seinem
Vater an der Spitze. „Erklärt den Frauen, was geschehen ist“, rief Cuno
noch Bruder Benedikt zu, dann hatten die Männer gerade noch Zeit,
den Frauen zuzuwinken, bevor sie aus der Dorfstraße in den Wald galoppierten.
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Für die Zeit, die sie nach Nordhausen benötigten, hatten sie noch genügend Licht, um weiter galoppieren zu können, bis sie ganz in der Ferne
Rauchwolken sahen, die aus der eroberten Stadt aufstiegen. Als sie so
nah am Kloster waren, dass sie die Glocken im als Turm dienenden
Dachreiter erkennen konnten, ließ Cuno anhalten. Die Männer lagerten
und Cuno ging ohne Lanze und Wimpel mit Wenzel weiter bis ans hölzerne Tor. Auf sein Klopfen wurde ein winziges Guckloch im Torflügel
aufgemacht. Als der Bruder Portuarius sah, dass es wirklich die erhofften Helfer und nicht die Angreifer waren, schickte er einen Novizen zu
Abt Ono, der unruhig zwischen dem Tor und dem Portal der Kirche hin
und her wanderte und öffnete das Tor so weit, dass Cuno und Wenzel
hineinschlüpfen konnten. „Gut, dass Ihr da seid. Ich glaube, dass die
Kerle bei Dunkelheit herschleichen und dann das Tor mit einem Rammbock zerschlagen wollen. Nächsten Monat, an Martini, wären die Zinsen für die vielen Kredite fällig, die vor allem die Hohnsteiner und die
Orlaburger von uns genommen haben. Stattdessen wollen sie sich wohl
alles aneignen, was dem Kloster gehört und was man wegtragen kann!“
„Ich schlage vor, dass sich viele meiner Leute hier am Tor in einen Hinterhalt legen, die anderen verteilen sich um die Klostermauern. Wenn
die Verteidigung aus dem Kloster selbst kommt, wissen die Angreifer,
mit wem sie es zu tun haben, kommt die Attacke aber aus dem Rücken
der Angreifer, dürfte es einige Verwirrung geben, und dann ist unsere
zahlenmäßige Unterlegenheit nicht so schlimm!“ „Du bist der Krieger,
du weist am besten, was zu tun ist. Ich habe den Mönchen schon befohlen, alle Wertgegenstände in die Krypta der Kirche zu bringen, überall Fässer mit Wasser aufzustellen, damit wir die Folgen von Brandpfeilen bekämpfen können, und dann in die Kirche zu kommen, um den
Schutz des Herrn zu erbitten. Gott sei mit uns.“ „Amen.“
Damit wandten sich Cuno und Wenzel um und gingen zurück zu ihren
Leuten im Wald. Cuno erklärte den Schlachtplan, wählte die Leute aus,
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die sich in den Hinterhalt legen sollten, gab den anderen Anweisungen,
wie sie sich um das Kloster herum verteilen sollten und erläuterte die
Parole. Die Pferdehufe wurden umwickelt, wie er es vor Arnstadt bei
den Gegnern gesehen hatte, die Männer mussten die Tiere am Zügel
führen. Am liebsten hätte Cuno die Pferde zurückgelassen, aber Handrohre, Munition und Pulver waren zu schwer, um damit zu Fuß größere
Strecken zu überwinden. Nach kaum einer halben Stunde war alles erledigt, die Schützen verbargen sich im schon herbstlich kahlen Gestrüpp, so gut es ging, und warteten auf die völlige Dunkelheit. Der
Mond verschwand hinter Wolken, und die Wachposten am Weg zum
Kloster mussten sich höllisch anstrengen, um bei der Finsternis überhaupt noch etwas zu erkennen.
Kurz vor Mitternacht war es dann soweit: die Angreifer brachten ein
großes Holzgestell auf umwickelten Rädern vor dem Klostertor in Stellung, in dem ein riesiger Baumstamm, versehen mit einer eisernen
Spitze, hing, mit mindestens zwanzig Männern, die das Ungetüm vorwärts und rückwärts bewegen konnten. Cuno gab mit dem Krächzen eines Kolkraben das Signal zur Vorbereitung. Als der Baumstamm die nötige Schwingung erreicht hatte, schoben ihn viele Männer direkt vor das
Tor des Klosters. Cunos schriller Pfiff löste die Salve der Verteidiger aus.
Zwar riss die Salve der Handrohrschützen große Lücken in die Reihen
der Angreifer, aber Cuno hatte die Gewalt des Rammbocks unterschätzt. Schon beim ersten Anprall zerbarst das Tor und die Angreifer
stürmten direkt auf das Kirchenportal zu, das sie aufhielt, bis auch hier
der schwingende Baumstamm zum Einsatz kam. Diesen Moment nutzten die um die Mauer verteilten steigerthaler Schützen, den Befehl
Cunos missachtend, aber das Ziel der Verteidigung im Auge: die Schützen, die rechts und links vom Tor an der Klostermauer versteckt waren,
stellten sich auf ihre Pferde, konnten so über die Klostermauer schauen
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und zielten genau auf den Rammbock und die ihn bedienenden Männer. Ohne Absprache, aber dank des Übens mit Urban ohne Verzögerung, hagelte eine Salve auf die mit dem Kirchenportal beschäftigten
Männer nieder, die den Angriff erst einmal erlahmen ließ. Und dann
waren die anderen Handrohrschützen da, die durch das zerborstene
Klostertor eine Salve nach der anderen in die Menge der Angreifer
jagte, ohne von diesen wirklich angegriffen zu werden, da das Mündungsfeuer zu ungenau den Standort des Schützen angab, um mit
Speer, Lanze oder Schwert den Schützen anzugreifen. Ein unerwartetes
Gemetzel entstand, weil Angreifer und Verteidiger zu Schwert, Lanze
und Morgenstern griffen. Vor allem die letztgenannte Waffe der Orlaburger, eine Eisenkugel mit vielen herausstehenden Spitzen, befestigt an
einer kurzen Kette und geschwungen mit einer hölzernen Keule, hielt
eine furchtbare Ernte in die Reihen der wenigen Steigerthaler. Der Reiter, der die Angreifer befehligte, sah, dass er den Sieg eigentlich schon
in den Händen hielt und spornte sein Ross an. Das setzte zum Sprung
über die Kämpfenden hinweg zum Platz neben dem Rammbock, der genau in diesem Moment das hölzerne Tor im Kirchenportal traf und zerbersten ließ. Der Reiter sprengte durch die Tür in den Innenraum der
Klosterkirche und sah sich der Gesamtheit der Mönche, Novizen und
Knechte gegenüber, die hinter dem Lettner auf den Knien liegend mit
angstvoll aufgerissenen Augen auf den Angreifer starrten. „Vade retro!“
rief Abt Ono, und ein Bruder, der das Nichtverstehen im Gesicht des
Angreifers gesehen hatte, übersetzte: „Ziehe dich zurück!“ „Mit Vergnügen“, entgegnete der Reiter, „sowie ich alles Gold, Silber und alle
Edelsteine habe, die ihr hier versteckt haltet! Wenn das nicht schnell
geht, werden auch noch einige von euch veredelt, denn ihr wollt doch
alle ins Himmelreich, oder? Da kann ich ganz schnell helfen“ und warf
sein Messer genau in die Brust eines ganz vorne knienden Mönches. Mit
einem Aufschrei sackte dieser zusammen. Der Reiter stieg gemächlich
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ab, griff durch das Gitter des Lettners und zog den Dolch aus der Brust
des Sterbenden. „Wer möchte der nächste sein?“
„Du!“ erscholl es plötzlich hinter ihm und ein Handrohrschütze, dem es
gelungen war, innerhalb der Kirchenmauern seine Waffe wieder zu laden, legte den Zunder an die Zündschnur, und ehe der behelmte Angreifer reagieren konnte, schlug die Bleikugel an seine Brust, durchbohrte den Harnisch und warf den Mann zu Boden. Der Helm schob sich
über den Kopf hinweg und gab das Gesicht des jüngeren Grafen von
Orlamünde-Weimar frei, das in Todeskrämpfen zuckte. Ono erkannte
den jungen Mann und sagte laut: „ So ist es wahr, dass aus ihrer Gier
die adeligen Herren Thüringens die Gebote unseres Herrn Jesus Christus genauso missachten wie die Gebote des weltlichen Herrschers! Statt
eure selbst gewählten Schulden zurückzuzahlen, wollt ihr die Häuser
unseres Herrn Jesus ausrauben – seid verdammt in alle Ewigkeit!“ Die
wenigen Männer des Orlamünders, die ihm in die Kirche gefolgt waren,
ergriffen die Flucht, als sie ihren Anführer tot oder wenigstens schwer
verletzt am Boden sahen und liefen zu ihren Gesinnungsgenossen zurück, die noch vor dem Klostertor sich sammeln wollten, nachdem sie
alle Schützen erledigt hatten, deren sie habhaft wurden. Ein behelmter
Reiter rief ihnen „Feiglinge! Vorwärts, nicht rückwärts!“ entgegen und
gab das Zeichen zum erneuten Angriff, kaum aufgehalten durch wenige
Schüsse aus den Handrohren. Die Angreifer, an der Kirchentür angekommen, setzten das Tor und die Dächer der umliegenden, schindelgedeckten Häuser in Brand und drangen mit brennenden Fackeln in die
Kirche ein. Der eiserne Lettner war nicht wirklich ein Hindernis für die
wütende Menge; während einige Kämpfer mit gezückten Waffen und
Feuer in den Händen vor dem Gitter stehen blieben, drangen die anderen um die Säulen herum in die Seitenschiffe ein und von dort zum
Hauptaltar. Der, der den Befehl zum erneuten Angriff gegeben hatte,
ritt zum Hauptaltar, nahm das kostbare Kreuz und steckte es in einen
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Sack, der am Sattelknauf befestigt war. Dann glitt er vom Pferd und lief
auf den Tabernakel zu, in dem er zu Recht die goldenen und silbernen
Abendmahlsgefäße vermutete. Beim Aufreißen der Tabernakeltür stieß
er das Ewige Licht um, das oben auf dem Schränkchen stand. Es fiel zu
Boden, das Öl, das die Flamme über viele Stunden nähren konnte, lief
aus, entzündete sich und in wenigen Sekunden stand der Frevler von
den Füßen aufwärts in Flammen. Er griff sich die Kanne, in der er den
Abendmahlwein vermutete und schüttete die dunkelrote Flüssigkeit
über die Flammen. Mit einem Knall brannte der ganze Ritter, denn es
war kein Wein in dem Kelch gewesen, sondern das Öl für das Ewige
Licht. Ein Aufschrei, der Versuch, den Helm vom Kopf zu reißen, um wenigstens Luft zu bekommen, und dann brach der Frevler zusammen,
entsetzt beobachtet von Mönchen und Kriegern. „Gratias domine!“ Das
war Abt Ono, der Gott für die Bestrafung des Ritters danken wollte;
„Weg hier – die Hölle ist uns nah!“ – das war der Ausruf einiger Krieger,
die auf den Absätzen kehrt machten, aus der Kirche stürmten und vor
dem Klostertor versuchten, ihre Pferde zu finden, immer wieder angegriffen von den Schützen aus Steigerthal, auch wenn ihrer nur wenige
waren.
Nach dem Lärm des Angriffs war es still in der Kirche. Das leise Winseln
der beiden tödlich verletzten Ritter wurde übertönt durch das Prasseln
der Flammen, die bereits am Chorgestühl leckten und von der brennenden Kirchentür zum Dach hoch züngelten. Einige der Knechte, ob des
Sakrilegs des zweiten Ritters nicht ganz so erschrocken wie die Mönche,
rappelten sich auf und riefen allen anderen zu: „Auf – löschen!“ Damit
liefen sie hinaus und suchten beim Brunnenhaus nach Eimern. Die anderen Knechte folgten, die Mönche schlossen sich an, und bald war eine
Menschenkette an der Arbeit, die volle Eimer vom Brunnenhaus zum
Chorgestühl reichte. Dort versuchte der Stallmeister des Klosters, das
Feuer notdürftig mit dem wenigen Wasser je eines Eimers zu löschen
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und gab den dann zurück. Bald gloste und qualmte das Gestühl nur noch
und die Kette wurde verlängert bis zur Kirchentür, wo es nicht gelang,
das Feuer zu löschen, bevor es das ganze Vordach zerstört hatte und
sich in den Dachstuhl fraß. Zwei Lagerhäuser und die Herberge für arme
Pilger brannten lichterloh, doch der Rest der Gebäude schien nicht direkt zu Schaden gekommen zu sein.
„Gott sei es gedankt, dass wenigstens kein Wind weht“, hörte man einen der Mönche sagen, der aus einem Schuppen weiter weg eine Leiter
herbeitrug, damit man näher an das Kirchendach käme um zu löschen.
Gerade als er die Leiter anlegte, loderte die Flamme empor und Abt Ono
sah in der blutig roten Beleuchtung, welche Folgen die Verteidigung der
Schätze des Herrn gehabt hatte. Überall lagen Verwundete herum, vielleicht auch Tote, meist Steigerthaler, von den Morgensternen niedergemäht; am Tor Orlamünder, von den Handrohrsalven zerfetzt; am
Rande des Feuerscheins sah er noch Lebende: Wenzel kniete neben seinem Vater, die Lanze mit dem Wappen auf den Boden geworfen, und
versuchte, Cunos Kopf anzuheben, so dass er ihm ein wenig Wasser einflößen konnte. Bruder Benedikt, der seinen Patienten noch gut kannte,
eilte herbei und schaute, was dem Ritter eigentlich geschehen sei. Und
dann waltete Abt Ono endlich seines Amtes: „Alle Knechte und Mägde
– holt sie her – löschen weiter und wenn ihr das Wasser aus den Fischteichen holen müsst! Die Novizen helfen ihnen; wir, die wir im Gelübde
stehen, sammeln die Verletzten ein und bringen sie ins Hospital, die Toten gleich in die Kirche! Gibt es noch unverwundete Krieger?“ Zaghaft
hoben sich wenige Hände am Rande des vom Feuer beleuchteten Bereichs. „Ihr geht ans Tor, ruft die restlichen Verteidiger zusammen und
versucht, uns vor weiteren Angreifern zu schützen!“ Eine fast erleichterte Geschäftigkeit folgte auf die Worte des Abtes, wusste doch jeder,
was er zu tun hatte und konnte die Gedanken an das Geschehene erst
einmal fortschieben.
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Von den sechzig steigerthaler Schützen waren es noch vierzehn Unversehrte, die das Tor verteidigen konnten, mehr als zwanzig waren tot;
von den Angreifern waren mehr als dreißig gefallen, viele waren schwer
verletzt, die beiden Anführer, der jüngere Orlamünder und der Frevler,
der sich als ein Neffe der Hohnsteins vorm Wald entpuppte, waren an
ihren Verletzungen gestorben.
Bruder Benedikt eilte ins Hospital, wo er mit seinen Helfern den Verwundeten Erleichterung zu bringen suchte. Cuno war von Wenzel und
zwei Mönchen herübergetragen worden. Er atmete noch, äußere Verletzungen waren nicht zu erkennen, aber er hatte offenbar große
Schmerzen, sein Herz raste und seine Haut wurde immer blasser,
Schweiß lief ihm über Gesicht und Körper, er stammelte nur, sprechen
konnte er nicht. Wenzel saß neben ihm auf dem Boden und hielt seine
Hand, wischte ihm immer wieder den Schweiß aus dem Gesicht und
deckte ihn mit seinem Mantel zu, wenn die Kiefern wieder im Schüttelfrost klapperten oder fächelte ihm Luft zu, wenn der Schweißausbruch
erneut zunahm. Deshalb bemühte sich Benedikt erst einmal um die anderen, den Grad der Verletzung als Hinweis auf die Reihenfolge der Hilfe
nehmend, nicht die Zugehörigkeit zu den Verteidigern oder zu den Angreifern, so, wie es ihm sein ärztlicher Eid gebot.
Als der Morgen graute, waren Kirche und Kloster vom Feuer befreit; die
Knechte, Mägde und Novizen hatten die letzten Glutnester mit Wasser
gelöscht oder mit Feuerpatschen ausgeschlagen; gut, die Herberge und
die zwei Schuppen waren zerstört, aber der Wiederaufbau war sogar
mit eigenen Mitteln möglich; die Kirche allerdings hatte sehr gelitten;
das Chorgestühl war unwichtig, aber der Altar war entweiht. Das zu ändern musste der Bischof nach Kloster Himmelgarten kommen. Das Vordach war verbrannt und die vordersten Dachbalken waren so angekohlt, dass sie sicher auszutauschen waren, aber auch das ließ sich bewerkstelligen.
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Nicht wiederherzustellen war das Leben der Gefallenen: Vierundzwanzig Verteidiger, vielleicht auch noch mehr, weil einige so schwer verletzt
waren, dass Bruder Benedikt wohl nicht mehr helfen konnte, mehr als
fünfzig Angreifer, die ihren Verletzungen schon erlegen waren, zwei
Dutzend waren sehr schwer verletzt, lediglich eine Handvoll war kaum
oder gar nicht verletzt; die waren von den verbliebenen Schützen in Gewahrsam genommen worden, um sie zu verhören, was immer dann mit
ihnen geschehen würde. Abt Ono und viele andere beteten darum, dass
nicht auch Cuno zu den Verstorbenen zu zählen sei: er lag weiterhin auf
dem Lager, abwechselnd zitternd und schwitzend, von Schmerzen in
der Brust stammelnd, nicht fähig, sich zu bewegen oder gar auf zu setzen. Der Kopf des armen Wenzels sank immer wieder auf die Brust, weil
er vor Sorgen weinte oder zwischendurch erschöpft einschlief, auch
wenn Cuno immer schwächer zu werden schien. Ono stürzte sich in
seine Aufgaben, um nicht nachdenken zu müssen. Die gefallenen Angreifer wurden auf dem Klosterfriedhof begraben, den Familien der toten adligen Führer wurde Nachricht gesandt, so lange blieben sie aufgebahrt in der Kirche. Die Gefallenen und die transportfähigen Verwundeten aus Steigerthal brachte noch an diesem Tag ein Wagenzug zurück ins Dorf, damit die Verwandten sie versorgen könnten und die Gemeinde sich um die Beisetzung kümmere. Die verletzten Angreifer wurden behandelt in der Hoffnung, dass irgendjemand sie holen würde.
Und Cuno lag immer noch da, vor Kälte zitternd und schwitzend gleichzeitig, nahm keine Flüssigkeit zu sich und wurde immer bleicher. Als
Bruder Benedikt endlich erschöpft neben Wenzel auf einen Hocker
sank, fragte er den jungen Mann: „Was ist denn passiert? Hast du irgendeinen Angriff oder sonst etwas mitbekommen?“ „Es war doch so
finster, und es war mein erstes Gefecht und Vater hatte mir verboten,
nahe bei ihm zu bleiben; ich sollte Lanze und Wimpel schützen, er
könnte sich selbst verteidigen; das letzte was ich gesehen habe, bevor
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mich der Knall niederwarf, war, dass Vater ein Handrohr lud und es auf
einen Angreifer zu Pferd richtete, aber keine Zeit hatte, die Holzbeine
des Rohrs auf die Erde zu stellen, sondern aus dem Stand zündete. Als
ich wieder zu mir kam, lag er da wie jetzt…“ Die Stimme des Burschen
verlief sich ins Schweigen, es war nicht mehr der kecke Draufgänger,
der mit seinem Pferdeverstand alle Kunden überreden konnte, er hatte
Angst. Bruder Benedikt schnitt daraufhin Cunos Wams auf – den Harnisch hatte Wenzel schon vor langem abgeschnallt – und sah auf der
linken Seite der Brust eine schon grün-schwarz werdende Fläche. „Hier
muss ihn der Rückschlag des Handrohrs getroffen haben. Da hilft nichts
als Warten, Beten und statt Wasser Hühnerbrühe und Rotwein mit Honig, auch wenn er das in wachem Zustand nicht trinken würde! Du,
Wenzel, besorgst am besten bei Euch oben im Gestüt ein Fuhrwerk, gut
mit Stroh gepolstert, von lammfrommen Gäulen gezogen. Sag der Herrin Bescheid und beeile dich, ich bleibe so lange bei ihm. Und da du
schneller bist als der Wagenzug mit den Verwundeten und den Toten,
der schon vor einigen Stunden nach Steigerthal losgezogen ist, kannst
du auch gleich Wagen, Pferde und Knechte von uns hier mit zurückbringen!“ Damit scheuchte er Wenzel zum Tor hinaus. Sein scheinbar zuversichtlicher Gesichtsausdruck verfinsterte sich, und ein Mönch, der Benedikt zu helfen pflegte, hörte ihn murmeln: „ Diese Brust hat schon zu
viele Schläge erhalten – Gott stehe ihm bei!“ Wenige Stunden später
erschien es den Leidtragenden, als würde sich das Schicksal endlos wiederholen: Urban ging zusammen mit dem Mönch, der als Dorfpriester
abgestellt war, zu den Witwen, versuchte sie zu trösten und garantierte
ihnen in jedem Fall, dass sie aus der Hand des Ritters so viel Silber erhalten würden, dass sie ohne Not überleben könnten. Der Küster bereitete zwei Reihen von Gräbern vor, die Frauen des Dorfes weinten zusammen, und oben auf der Burg saßen Salwa und Anja je auf einer Seite
des Lagers, auf dem Wenzel Cuno gebettet hatte. „Ich finde, es reicht!“
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sagte Salwa und schaute Anja in die Augen. „ Wir sitzen nun schon zum
vierten Mal zusammen, um irgendwelche Wunden aus irgendwelchen
unsinnigen Kämpfen zu heilen. Kennst du einen schlüssigen Grund, warum diese komische Sorte von Mensch, genannt Ritter, immer wieder
versucht, sich selbst umzubringen?“ Anja musste lächeln, „Nein, Salwa,
ich weiß es nicht und ich verstehe es nicht. Aber ich weiß, dass Cuno bei
all den Verletzungen immer wieder versucht hat, den Menschen hier im
Dorf, im Kloster oder im Reich zu helfen, und wenn nicht mehr passiert,
als dass er schlecht schläft, können wir uns doch glücklich schätzen!“
„Du hast ja recht, wenn es dabei bleibt, aber mir wird das alles zu viel:
Cuno steht seinem Landesherr bei und wird in diese sinnlose Streitereien zwischen Adel und Herrscher hineingezogen, obwohl wir doch fast
alles, was andere Adlige ‚auszeichnet‘, Leibeigene, brutale Herrschaft,
Rechtsunsicherheit für die Menschen im Lehen und so weiteraufgegeben haben. Du weißt sicher auch, dass die Gruben nicht mehr so viel
hergeben wie früher, die Silberadern sind fast erschöpft, und ob wir
dann etwas anderes finden, mit dem wir uns und die ganzen Leute hier
durchbringen können, ist ungewiss. Gar nicht zu reden von Thüringen.
Du kannst die Deinen wahrscheinlich auch ohne den Ritter Steigerthal
und seinen Pferdebedarf durchbringen. Aber wir? Gernot ist mit seiner
verrückten Idee, die er im Sommer hatte, nämlich dass wir Glas herstellen könnten, noch kein Stückchen weitergekommen; er hat Quarzsand
gefunden und im Schmelzofen bearbeitet, aber es wird kein Glas! Und
jeder, der weiß, wie man Glas herstellt, schützt das geheime Wissen,
und wir haben noch keinen gefunden, der ohne Erbe ist und krank, dem
man vielleicht das Geheimnis abkaufen könnte…“ Sie wischte Cuno wieder den Schweiß von der kalten Stirn und strich ihm über den Kopf.
„Wenn du erst mal wieder gesund bist, müssen wir eine Lösung finden!“
„Ja, wenn!“ war das Einzige was er zwischen klappernden Zähnen herausbrachte.
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Gegen Abend kam Bruder Benedikt noch einmal auf seinem Maultier
angeritten. Er hatte nach den Verwundeten im Dorf gesehen und zu seiner Freude ging es allen zumindest nicht schlechter als gestern, als sie
noch im Kloster waren. „Für Euch, Herrin, habe ich heute Morgen in der
Bibliothek nach dem Buch der Hildegard von Bingen gesucht und es
glücklicherweise auch gefunden. Sie – Ihr kennt doch sicherlich wenigstens den Namen, oder? – hat für solche Zustände, wie sie Cuno offensichtlich hat, ein Heilmittel genannt: Weißdorn. Unser Kreuzgang in
Himmelgarten hat um den Brunnen in der Mitte herum eine Weißdornhecke, die jetzt im Herbst viele rote Beeren trägt. Schaut“, und er öffnete ein Säckchen, das er in das Seil gesteckt hatte, mit dem die Zisterzienser sich umgürteten, „hier sind viele. Ich hatte keine Zeit, sie als Arznei zuzubereiten, aber ich denke, das könnt Ihr selber: Die Beeren werden zerdrückt und dann einen Tag in so viel Schnaps eingelegt, dass sie
ganz bedeckt sind. Wenn der die rote Farbe angenommen hat, gebt Ihr
dem Ritter morgens, mittags und abends einen großen Schluck, unverdünnt und vor allen anderen Getränken. Ich denke, das wird ihm helfen!“ Damit überreichte er Salwa das Säckchen, wandte sich ab und verließ schnell die Burg, da er sich fürchtete in diesen unruhigen Zeiten im
Dunkeln zurück zu reiten.
Der Beginn der Nacht war für Salwa ein Martyrium: wenn sie sich an
Cuno schmiegte, schob er sie weg, weil ihm heiß war, lag sie alleine,
versuchte er, sie an sich zu ziehen. „Ich habe solche Angst zu sterben“,
war der einzige verständliche Satz, den er von sich gab. Zittern, schwitzen, und immer das Herzrasen – irgendwann stand sie auf, ging in die
Küche und holte ein Becherchen mit dem schon recht roten Schnaps.
Als sie versuchte, ihm den Schluck einzuflößen, bekam er einen ungeheuren Hustenanfall, der ihn aufsitzen ließ – und dann sank er zurück
und lächelte erleichtert. „Ich habe noch große Schmerzen, aber das
Herz ist wieder normal!“ Damit fiel er zum ersten Mal seit zwei Tagen
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in Schlaf. Salwa legte die Hand vorsichtig auf seine Brust und fühlte,
dass Cuno Recht gehabt hatte: Das Herz schlug wieder wie sie es von
ihm kannte, ein wenig unregelmäßig, aber kräftig. Sie sank auf die Knie,
dankte Gott und legte sich dann erschöpft aber zufrieden neben ihren
Gemahl.
Steigerthal, Winter 1343
Mit einem wohligen Seufzer ließ sich Salwa ins heiße Wasser gleiten, wo
sie Cuno schon erwartete, der ihr beim Ausziehen zugesehen hatte. „Du
bist immer noch so schön, wie vor zweiundzwanzig Jahren, wenn auch
anders!“ „Oh ja, du auch – die Zahl deiner Narben, wehen Stellen und
der krumm zusammengewachsenen Knochen hat sich sehr erhöht,
aber“, und sie schmiegte sich an ihn, so wie sie es am liebsten mochte,
„ich will dich immer noch, so wie du bist!“ Mit dem rechten Zeigefinger
fuhr sie die Narben entlang, die er aus Bergwerk und Kampf angesammelt hatte: Hals, Brust, Arme, Beine – und um sie fühlend entlang tasten
zu können, musste ihr Finger immer wieder über ein ganz narbenfreies
Gebiet, dessen Besonderheit dann eher die ganze Hand als ein einzelner
Finger erkunden musste. „Gott sei Dank, dass du hier nie verletzt wurdest.“ „Du kannst ja noch mal etwas genauer suchen.“ Mit diesen Worten hob er sie auf seine Arme, trug sie zur Lagerstatt und legte sie sanft
nieder. Mit einem trockenen Tuch rieb er sie ab und dann inspizierte sie
die unverletzte Gegend mit Händen und Lippen, bis er sich wehrte und
mit: „Jetzt muss ich aber suchen“ seinerseits mit Lippen und Händen
nach Narben oder eher Fältchen suchte. Jedes mal, wenn er etwas fand,
begutachteten beide die Stelle, bis sie beide das Gefühl hatten, jedes
Stückchen Haut warte nur auf die Berührung des Anderen. Es war warm
in der Kemenate, im Kamin prasselte ein Feuer, die Kälte der Nacht vor
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dem Fenster konnte nicht eindringen und beim Ineinandergleiten bekamen beide Herzrasen, aber der angenehmsten Art. Als sie nach einer
Weile erfüllt neben einander lagen und sich mit einer pelzbesetzten Decke zudeckten, sagte Cuno: „Seltsam und schön, denn eigentlich sind
wir doch schon alt, ich bin neununddreißig, du zwei Jahre jünger, und
es ist immer noch wie früher.“ „Es war eben auch früher so schön“, flüsterte sie in sein linkes Ohr und musste kichern, weil sein noch halb nasses Haar sie kitzelte. Er schaute sie verwundert im flackernden Licht der
Kerze an, um den Grund ihrer Heiterkeit zu erforschen, als sie ihm den
Finger auf den Mund legte: „Und früher war oft noch mehr.“ Damit ging
sie erneut auf Entdeckungsreise an seinem Körper und fand schließlich,
was sie suchte und was er dann in ihr verbarg. Diesmal schliefen sie ineinander verschlungen ein, wenigstens jetzt unberührt von dem, was
draußen vorging.
Der nächste graue Morgen brach an; Schneeregen legte sich auf das
Land, und obwohl das Fest zur Geburt des Herrn schon nahe war, gab
es wenig Grund zur Freude. Steigerthal hatte es noch recht gut getroffen, denn der Herbst war wildreich gewesen und Cuno hatte den Bergleuten und Handwerkern erlaubt, je ein Stück Wild zu erlegen, was zumindest etwas Fleisch für das Fest versprach, aber die Ernte war im ganzen Reich schlecht gewesen, und ohne viel Silber konnte niemand Getreide erwerben. Das Wenige, das im Lehen selbst angebaut wurde,
würde schon bis zum neuen Jahr reichen, aber dann?
Adelheid, die weise Frau des Dorfes, hatte den Frauen gezeigt, welche
Pilze und Beeren essbar waren und wie sie zu trocknen seien; Salwa
hatte vorgemacht, wie man Knödel herstellen konnte, die außer Mehl
auch viele Kräuter und Wurzeln enthielten, so dass man weniger Mehl
brauchte; Anja hatte bei einem Pferdeverkauf in Böhmen den Gegenwert in Getreide eingehandelt, das die Vorräte jetzt ergänzte; und das
Kloster Himmelgarten hatte zum Dank für die Rettung im Herbst viele
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Fische aus den Klosterteichen eingesalzen und in Fässern auf die Burg
geliefert. Aber trotzdem zeichnete sich Mangel ab.
Verschlimmert wurde die Not, weil die Großen des Reiches wieder Krieg
gegeneinander führten. Wenzel von Böhmen, der seit seiner religiösen
Erziehung am Hof des französischen Königs den Namen seines Paten,
Karl, trug, war von seinem Vater, König Johann, schon vor einigen Jahren als Markgraf von Mähren eingesetzt worden und hatte das heruntergekommene Fürstentum durch ein strenges Regiment und das Beschneiden der Rechte des Adels wieder zu einem blühenden Land gemacht. Auf die Bitte seines jüngeren Bruders Johann, auch seine Herrschaft wieder zum Blühen zu bringen, zog Karl mit wenigen, aber zuverlässigen Truppen nach Tirol. Dessen Erbin, Margarete, genannt Maultasch, war zu der Zeit seit drei Jahren mit Johann verheiratet, ohne dass
die Ehe Kinder hervorbrachte. Karl setzte im Namen Johanns Zehntwächter ein, die vom Adel die genaue Summe der Abgaben einforderten und konnte mit Hilfe dieser zusätzlichen Mittel weitere Truppen anwerben und Tirol nach Süden bis an die oberitalienischen Seen ausdehnen. Aber der Adel grollte; Margarete war mit Johann unzufrieden, und
in einem gemeinsam geplanten Aufstand vertrieben sie im Spätherbst
des vorletzten Jahres Johann aus Tirol, während Karl Verona belagerte.
Damit aber nicht genug: Margarete heiratete, obwohl mit Johann verheiratet und ohne päpstlichen Dispens, fast sofort den jüngsten Sohn
Kaiser Ludwigs, dem dieser die Mark Brandenburg schon als Lehen verliehen hatte und belehnte beide mit Tirol. Brandenburg aber grenzte im
Süden an die Lausitz und an die schlesischen Herzogtümer, auf die Johann von Böhmen und sein Sohn Karl Ansprüche hatten, weil sie ihnen
als Erbe eigentlich zugefallen wären. Der schon lange schwelende Streit
zwischen den Herrscherfamilien, hier die Luxemburger, dort die bayrischen Wittelsbacher, brach in offenen Krieg aus, den beide Seiten mit
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unterschiedlichen Bündnisgenossen und vor allem auf Kosten ihrer eigenen Länder ausfochten. Um den Kampf zu beenden oder wenigstens
abzuschwächen, überlegten die Parteigänger der Wittelsbacher, ob sie
Ludwigs Neffen Rudolf von der Pfalz oder seinen Schwager Wilhelm von
Holland als römischen König, der dann später das Anrecht auf die Kaiserkrone hätte, wählen sollten, aber beide Kandidaten lehnten ab. Für
die Luxemburger war klar, dass Karl der Kandidat für die römische Königswürde wäre. Große Unterstützung bekam der dabei von Papst Clemens VI., seinem Ziehvater aus Paris, der Kaiser Ludwig erneut zum Ketzer und Frevler gegen den Glauben erklärte, nachdem dieser die Wiederverheiratung Margaretes von Tirol als rechtmäßig hatte darstellen
lassen. Aber jetzt, kurz vor dem Christfest und im Angesicht drohenden
Hungers im ganzen Reich, sammelten beide Seiten ihre Verbündeten,
noch nicht die Truppen.
Friedrich von Thüringen war sich sehr unsicher, auf welcher Seite er eigentlich stünde. Gut, er war Schwiegersohn des Kaisers, aber selbst
seine Gattin, Ludwigs Tochter Mechthild, fand das Vorgehen Margarete
Maultaschs unehrenhaft und sündig. Thüringens mächtiger Nachbar
war Böhmen, die Landgrafschaft und die Markgrafschaft Meißen, die
beide von Friedrich regiert wurden, bildeten den Grenzwall zwischen
Luxemburger und Wittelsbacher Gebiet. Friedrich war ratlos, all seine
Erfurter Berater konnten ihm nicht weiterhelfen. Deshalb beschloss er,
noch vor dem Fest mit dem thüringischen Adligen zu reden, der den
Böhmen am besten kannte.
So kam es, dass der Landesherr völlig unerwartet und unangekündigt
zwei Abende nach dem genussvollen Bad von Salwa und Cuno in beißendem Wind und dünnem Schneefall vor dem für die Nacht bereits
verschlossenen Tor der Burg Steigerthal stand, nur begleitet von wenigen Getreuen, und Einlass begehrte.
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„Es ist schon seltsam, wer dieses Jahr alles so unerwartet vor dem Tor
steht! Seid willkommen, Landgraf Friedrich!“ Mit diesen Worten hieß
Cuno die Wachen das Tor öffnen und die Zugbrücke herablassen. Als
Friedrich durchs Tor schritt, gab Cuno einem der Knechte die Zügel des
herrscherlichen Rosses und bat Urban, die Vertrauten des Wettiners zu
versorgen. Mit Friedrich selbst schritt er zur Halle.
„Ihr habt Euch sicherlich über mein Verhalten gewundert, als Ihr vor
dem Tor standet, aber vor einem halben Jahr stand hier Günter von
Schwarzburg, und ich bin mir ganz sicher, dass er das Gleiche bereden
wollte wie Ihr heute!“ „Günter? Der hatte sich, wie du weißt, nach seinem Erfolg im Osten mit uns verbündet und sich verpflichtet, keinen
Anlass zu Unruhe mehr zu geben. Dann war er hier – und seitdem betreibt er wieder die Sache der aufständischen Eidgenossen? Cuno, ich
erwarte eine Erklärung!“ Der Steigerthaler schaute seinen Landesherren an, schenkte aus dem Krug, den eine Magd gebracht hatte, zwei
hohe, grünliche Gläser voll und schickte nach Salwa. Dann wandte er
sich wieder Friedrich zu: „Zuallererst: Willkommen auf Steigerthal! Lasst
Euch den Wein schmecken.“ Beide nahmen einen großen Schluck. „Es
muss tatsächlich wieder eine Lieferung aus Lothringen angekommen
sein – ich hoffe, noch mehr davon zu kosten! Und dann will ich wissen,
woher ihr diese Gläser habt.“ Cuno grinste: „Ihr seid nicht gekommen,
um eine Weinprobe und die Überprüfung der Ausstattung eines ritterlichen Haushalts zu machen, oder? Lasst uns das für den Schluss aufheben.“ „Einverstanden, solange der Nachschub gesichert ist.“ Friedrich
war durch dieses Geplänkel bereits guter Laune. „Du kannst dir denken
– hast du ja gesagt – warum ich hier bin: Wer bietet Thüringen und dem
Hause Wettin mehr Sicherheit – die bayrischen Wittelsbacher oder die
luxemburger Böhmen? Ich kenne Kaiser Ludwig, meinen Schwiegervater, ganz gut. Ihm ist die Ausdehnung der Macht seiner Familie oberstes
Ziel, und die Hochzeit Mechthilds mit mir als Landgraf von Thüringen
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hat ihm die Möglichkeit geboten, ein von ihm beherrschtes Gebiet von
Norditalien über Tirol, Bayern Thüringen, Schlesien, Brandenburg bis
zur Ostsee zu schaffen. Wenzel, ich meine, Karl versucht das Gleiche:
Eine Herrschaft im Schutz der Macht Franzreichs von Lothringen über
die Pfalz, die Burggrafschaft Nürnberg, Böhmen, Mähren und Ungarn
bis an das Mittelmeer. Thüringen und Meißen wären auch hier die Absicherung der Vorherrschaft. Wenn ich mich nicht entscheide, werden
wir Wettiner, Thüringer, Meißner zwischen den beiden Machtblöcken
zerrieben, wenn ich mich entscheide, verbinde ich mich möglicherweise
mit dem zukünftigen Verlierer und habe eine noch düsterere Zukunft.
Was würdest du als treuer Lehnsmann mir raten?“ „Zuerst einmal
würde ich mein Land auf sichere Füße stellen! Wie könnt Ihr planen,
was in der weiteren Zukunft zu tun ist, wenn Ihr noch nicht einmal wisst,
welche Einnahmen Ihr in den nächsten Monaten habt? Martini ist nah,
aber von Steigerthal bekommt Ihr keine Abgaben, weil wir den Anteil
an Silber, der Euch zusteht, schon im Sommer auf die Wartburg gebracht haben. Und es wird weniger, das wisst Ihr. Was bekommt Ihr von
Orlamünde, Hohnstein, Schwarzburg, den Vögten von Plauen, den Arnstädtern, Weißenburgern und wie sie alle heißen? Könnt Ihr ein Heer
unterhalten, das stark genug ist, um im Kriegsfall die Landgrafschaft zu
schützen? Ihr habt doch schon letztes Jahr gesehen, dass nur noch wenige Lehnsmänner bereit und fähig sind, auf Eurer Seite in den Krieg zu
ziehen, wenn sie nicht dafür bezahlt werden. Waren nicht die steigerthaler Handrohrschützen fast die Einzigen, die mitzogen, weil das der
Lehnseid des Herren erforderte? Und glaubt mir, wir haben bitter bezahlt, als uns Euer Geschwistersohn Ono um Hilfe gegen die Orlamünder und Hohnsteiner zur Verteidigung des Klosters bat.“ „Das weiß ich
alles, aber ich weiß mir keinen Ausweg! Wenn man zu dir reitet, hat
man schon kurz hinter Nordhausen die Empfindung, in eine Gegend zu
kommen, die weniger Not kennt, wo die Menschen aufgeweckt und
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freundlich sind, wo einem selbst die Kinder fröhlich und nicht furchtsam
entgegentreten. Es kann doch nicht nur das Silber sein, das euch so anders leben lässt als die Mehrheit der Menschen im Reich!“ „Nein, es ist
nicht das Silber, aber ohne das Silber wäre es auch nicht so: Der alte
Gernot, der erste Ritter der Familie, kam aus der Leibeigenschaft; er
wusste, was es bedeutet, für immer unfrei und elend zu sein, gleich, wie
sehr man sich anstrengte. Er hat, sowie er mit Steigerthal belehnt
wurde, den Männern, die sich dem Bergbau zuwandten, die Möglichkeit
gegeben, im Berg Silber zu brechen und mit dem Anteil an Silber, der
ihnen dann zustand, besser zu leben als je zuvor. Die Menschen waren
gesünder, weil sie sich ernähren konnten, die Familien wurden größer,
und bald hatte Steigerthal fast doppelt so viele Menschen, wie vorher.
Und fast alle waren zufrieden – nur nicht die Ritter der benachbarten
Lehen! Die Menschen hatten ihre Freiheit, sie konnten hier arbeiten, sie
konnten aber auch gehen – oder kommen; das von ihnen ursprünglich
bewirtschaftete Land verpachtete Gernot gegen Naturalabgaben an
diejenigen, die lieber Bauern blieben, und da auch sie die leibliche Freiheit erhielten, schafften sie mehr als ihre Ahnen zuvor und die Abgaben,
also unsere Einnahmen, stiegen. Ich habe das auch in Böhmen gesehen,
denn dort gab es noch nie so etwas wie Leibeigenschaft: der adlige Herr,
der von den Abgaben seiner Leute leben will, muss es auch schaffen,
dass sie bei ihm bleiben. Meine Salwa – dort kommt sie“, und deutete
zur Treppe, „ hat Land in Böhmen geerbt, und der Verwalter, mein
Knappenbruder Tibor von Sázava, muss schon sehen, dass die Bauern
und er gut über das Jahr kommen, aber es geht!“ „Und ich kann uns
manches kaufen, das wir sonst nicht hätten, weil Tibor auch uns den
Zwanzigst weitergibt!“ Salwa hatte den letzten Satz gehört und den Gedanken weitergesponnen. Cuno und sie hatten das Problem schon jahrelang beredet, und so fügte sie den rechten Satz zur rechten Zeit ein.
Landgraf Friedrich erhob sich, küsste Salwas rechte Hand und konnte es
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nicht sein lassen: „Ihr seht aus wie bei der Hochzeit! Eure Kindszeiten
und die Jahre haben Euch nichts anhaben können – wenn ich noch jung
wäre, würde ich um Euch freien!“ „Da würde ich aber schnell ein Brieflein an Mechthild schreiben, nicht, weil ich Euch ablehnen würde, sondern weil daraus wieder bloß ein Streit oder gar ein Krieg entstünde!
Darf ich Euch stattdessen wenigstens zu einem Mahl einladen, das die
Ankunft des Herrn auch in diesen etwas härteren Zeiten mit Freude ankündigt?“ „Von Herzen gern!“ kam die spontane Antwort Friedrichs, der
dann der sich entfernenden Hausherrin bewundernd nachschaute. „Das
ist auch so etwas“, wandte er sich an Cuno. „Ihr habt wahrlich auch
nicht nur Sonnenschein erlebt, aber ihr scheint beide viel weniger gealtert zu sein als ich.“ Cuno lächelte und füllte erneut die Gläser: „Dafür
kann es eigentlich nur das heiße Bad als Erklärung geben –hat mir doch
neulich Ono von Himmelgarten ein paar Sätze aus irgendeinem lateinischen Buch übersetzt, die das heiße Bad als Himmelsgabe loben!“ „Du
meinst aber nicht, dass ich jetzt mit Salwa ins Bad steigen darf, oder?
Ich wäre sofort bereit!“ „Da müsstet Ihr Salwa fragen, denn die Freiheit
der Entscheidung hört nicht bei den ehemaligen Leibeigenen auf! Das
ist doch das Grundproblem der Adelsherrschaft: Sind wir gottgleich Herren über Leib und Leben unserer Menschen, wie es die Priester in der
Kirche predigen, oder sind wir Menschen wie alle Menschen, nur dass
wir mehr Besitz haben und deshalb unseren Schutzbefohlenen ein Leben ermöglichen sollten, das tatsächlich ein Leben ist? Für mich habe
ich entschieden: ich möchte meinen Leuten ein solches Leben ermöglichen; das wird in Zukunft sehr schwierig werden, denn die Grundlage
unseres bisherigen Wohllebens verschwindet zunehmend: wir finden
trotz aller Anstrengung und allen Kenntnissen kaum noch Silber. Was
das für Euch und Thüringen bedeutet, haben wir ja schon oft besprochen, aber für uns hier ist es das Ende eines Zeitalters. Und deshalb suche ich nach Auswegen. Meine Nachbarn erhöhen einfach die Abgaben,
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die die Leibeigenen zu leisten haben. Das ist gegen die Überlieferung
und vielleicht auch gegen das Reichsrecht, aber es ist natürlich sehr einfach für den Adel, so weiterleben zu können wie bisher. Nur die Menschen in ihren Ländern verelenden und ich bin sicher, dass mit diesem
Hungerwinter die Zahl der Einwohner sehr sinken wird, und damit im
nächsten Jahr die Abgaben.“ „Wenn ich genauso dächte, müsste ich alle
Lehen, die zurückfallen nicht anderen zu Lehen geben, sondern gegen
Geld an die verpachten, die den Boden dann auch bebauen. Da könnte
ich statt des Zehnten, der mir zusteht und des Zehnten, der dem Ritter
zusteht und dem Zehnten, der dem Gerichtsherr zusteht, doch glatt eineinhalb oder zwei Zehnt bekommen und die Leute hätten doch mehr
zum Leben! Das wäre eine Lösung für mein Geldproblem - aber ihr Ritter seid zu fruchtbar, ich habe ja kaum mal ein rückfallendes Lehen, seid
es üblich wurde, dass der Sohn dem Vater als Lehensmann folgt. Kriegsdienst leisten die allerdings meist nicht mehr, trotz Lehenseid, das ist
wohl wahr! Wenn dann noch so ein Erneuerer kommt wie du mit deinen
Handrohrschützen, die jedem Ritterheer überlegen sind, dann fragt
man sich schon, welche Aufgaben diese Herren eigentlich noch haben…“
Bevor Friedrich seinen Gedanken zu Ende gebracht hatte, bat Salwa die
beiden Männer zur Hohen Tafel.
„Ich weiß ja, dass Eure Küche reichhaltig und gut ist, aber wenn das ein
Mahl in Hungerszeiten ist, komme ich lieber nicht in guten Zeiten, sonst
schimpft meine Mechthild wieder mit mir, dass ich nicht mehr in meine
Rüstung passte“, sagte der Landgraf schmunzelnd, als er seinen Blick
über den reich gedeckten Tisch wandern ließ. „Setzt Euch, Ihr Herren.“
Als Friedrich zur Linken, Cuno zur Rechten Salwas saßen, stürmten auch
Gernot und der kleine Cuno in die Halle und nahmen ihre Plätze ein,
nachdem sie Friedrich dem Brauch entsprechend ehrerbietig begrüßt
hatten. Cuno war ganz offensichtlich sehr aufgeregt, aber auch hungrig,
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deshalb wartete er darauf, dass endlich das Tischgebet gesprochen war
und machte sich dann über ein gebratenes Hähnchen her, das mit vier
anderen knusprig gebratenen auf einer Silberplatte lag. Der Landgraf
war etwas wählerischer: er nahm sich eine Scheibe Knödel, belegte sie
mit geschmortem Wildschwein und tat reichlich Soße darüber. „Es freut
mich, dass Ihr der böhmischen Küche zusprecht! Cuno, bleibst du thüringisch oder wirst du auch böhmisch?“ Der Angesprochene schaute
seine Frau an, wie er sie lange nicht mehr angesehen hatte, vielleicht
angestachelt von den Schmeicheleien des Landgrafs. Sie war wirklich
noch immer eine schöne Frau, und klug, und reizend, und – „Schläfst du
wie ein Hase mit offenen Augen?“ stichelte sie ihn schelmisch. „Äh,
nein, ich war nur in Gedanken ganz wo anders.“ „Deine Gedanken
kenne ich“ und legte ihm lächelnd auch ein Hähnchen auf die Holzplatte, während sie ihn in einer Art und Weise anschaute, dass sein
Schwachpunkt aus der Jugend wieder eintrat: er errötete und musste
den Kopf senken. Da außer ihnen beiden niemand dem Geplänkel wirklich Beachtung geschenkt hatte, nahm sich Cuno mit weiterhin gesenktem Kopf ein Hühnerbein vor, bis sein Gesicht wieder seine normale
Farbe hatte.
Der kleine Cuno hatte unterdessen sein Hähnchen abgenagt und wollte,
noch mit halb vollem Mund seine Neuigkeiten loswerden, aber Salwa
kam ihm zuvor: „Ein wenig musst du dich noch gedulden, aber du wirst
es nicht bereuen! Lass uns warten, bis alle das Mahl beendet haben.“
Auch Gernot hatte nach Knödel und Schmorfleisch gegriffen, Salwa begnügte sich mit etwas Käse und einem der letzten noch nicht schrumpeligen Äpfel – sie wusste sehr genau, was Cuno gedacht hatte! Als –
endlich, dachte der kleine Cuno – alle sich zurücklehnten, auf die in der
Halle speisenden Knechte. Schützen, Mägde und Kinder schauten, Ritter Cuno noch einmal die Gläser vollschenkte und der kleine Cuno endlich reden wollte, sagte seine Mutter:
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„Und nun kann es noch ein bisschen weihnachtlich werden“, und winkte
einer Magd, die wartend an der Küchentüre gestanden hatte, zu. Die
kam mit einer frischen Silberplatte mit kleinen, runden, braunen Küchlein darauf an die Hohe Tafel. „Der Kuchenbäcker des Dorfes hat von
Rebecca Herschels Köchin ein Rezept, das diese von einem Geschwisterkind in Nürnberg bekommen hat. Probiert und sagt mir, ob sich das
Warten gelohnt hat.“ Die Jungen waren die Ersten, die ein „Ich will noch
eins“ riefen, bevor sie den ersten Kuchen noch ganz aufgegessen hatten. „Rebecca sagt, dass diese Kuchen Lebkuchen heißen; aber sie sind
so anders als das, was die Lebzelter hier bei Märkten verkaufen, dass
ich ihnen gern einen anderen Namen geben würde, zum Beispiel, weil
heute der Tag der Heiligen Lucia ist, Lucia-Kuchen.“ Cuno vertilgte seinen zweiten Kuchen und legte dann los: „Das passt, denn die ist doch
die Schutzpatronin der Glasmacher, oder? Ihr wisst doch, dass ich ganz
viele der Köhlerkinder kenne, weil ich denen in der Schule des Paters zu
helfen versuche, wenn sie schon mal da sind. Und einer der Burschen
sagte mir, dass er einen Köhlerjungen kennt, dessen Vater einen ganz
weiten Weg gehen muss, wenn er uns die Holzkohle bringt. Ein seltsamer Junge, so hat der andere erzählt: nicht nur schwarz im Gesicht von
der Kohle, sondern auch mit schwarzem Haar und schwarzen Augen,
und er spricht ein seltsames Deutsch. Und als dieser neulich wieder
Kohle gebracht hat, hat er dem anderen und Wenzel, der dabei war,
erzählt, dass der alte Waldglasmacher, der bei ihnen die Pottasche
kauft, dem Vater mitgeteilt hat, dass er mit Glasmachen aufhören
müsse, er sei zu alt, und weil er keinen Nachfolger hätte, bräuchte er in
Zukunft auch keine Pottasche mehr. Der Köhler sei furchtbar erschrocken, denn dass wir immer weniger Kohle brauchten und er deshalb immer weniger Geld bekäme, war ihm schon klar, aber das mit der Pottasche könnte ihn an den Bettelstab bringen. Ich weiß, wo diese Köhlerei
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ist, und wenn ihr mich lasst, reite ich mit Gernot hin und dann suchen
wir den Glasmacher und lernen alles von ihm, was wir hier brauchen!“
Landgraf Friedrich konnte sein Staunen nicht unterdrücken: „Hast du dir
das alles selbst ausgedacht, oder woher hast du all die Ideen?“ Der
kleine Cuno errötete wie sein Vater früher und vorhin: „Ich denke schon
seit dem Sommer darüber nach und frage alle Fremden und mache viele
Versuche im Schmelzofen – bisher leider ohne Erfolg, die Gläser da haben wir gekauft“, verteidigte er sich. Salwa schaute den großen Cuno
an: „Du bist doch auch, kaum älter als unser Bursche hier, in die weite
Fremde, um Steigerthal zu retten, oder?“ Und dann an die Jungen gewandt: „Aber dass ihr mir ohne Frauen zurückkommt – dafür seid ihr
wirklich noch zu jung!“ „Und mich fragt keiner! Gernot, ich nehme an,
du bist schon in den Plan eingeweiht gewesen?“ „Ja, Vater, und ich
würde mitreiten.“ „Wo soll denn die Glashütte sein?“ „Der Köhlerjunge
hat gesagt, man müsse nur die Wipper von Nohra ab bachaufwärts gehen, dann käme man zu den Kohlenmeilern, und sein Vater wisse, wo
die Waldglashütte gerade sei!“ Der Hausherr schaute seine Gattin,
seine Jungen und den Landesherren an, alle schauten mit zustimmendem Nicken zurück. „Also gut – ihr zwei bereitet alles vor, so dass ihr
morgen sehr früh losreiten könnt. Bittet Anja um ein Packpferd und Hafer für die Pferde, euren Proviant holt ihr in der Küche. Ich gebe euch
einen gefüllten Beutel mit, der reichen sollte, den Glasmacher zu überzeugen und der Rest sollte für den Köhler ein weihnachtliches Zubrot
bringen. Und deshalb – ab mit euch und gute Nacht!“ Die beiden verabschiedeten sich vom Gast und waren weg.
„Wenn es für meine schwierige Lage auch so einen einfachen Lösungsweg gäbe…“ „Wenn wir mal versuchen, mein Lehen als Beispiel zu nehmen: Warum geht es uns gut, oder zumindest besser als den benachbarten Ritterschaften? Wir haben viel Silber gehabt, vielleicht in Zukunft noch ein bisschen Silber und vielleicht, wenn wir Glück haben, ein
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bisschen Glas – und den Ertrag müssen wir nicht mit Euch teilen! Das
hat keiner der anderen. Und deswegen zahlen wir keinen Zehnt in Korn,
Tieren oder sonst was Essbarem an Euch, sondern geben Euch den Anteil an Silber, der den Gebräuchen nach dem Fürsten zusteht. Was hat
Thüringen und Meißen, was kein anderer in der Gegend hat? Wir haben
einen Landesherren, der überlegt, was er anders machen muss, statt zu
sagen: Das war schon immer so. Wir haben auf der anderen Seite eine
große Gruppe von Adligen, die sagen, dass sie unter diesen Bedingungen nicht weiter herrschen können. Der Fürst will weniger Rechte für
den Adel, der Adel mehr Rechte für sich und weniger für den Fürsten.
Und außer dem bisschen Silber, dem bisschen Glas und dem vielen
Wald haben wir nichts, was uns auszeichnet. Und dann haben wir Nachbarn: Im Osten und Süden das Königreich Böhmen, ein Land, in dem es
keine Leibeigenschaft und keine Grundherrschaft gibt, und das trotzdem gedeiht. Im Westen haben wir die Kirchenherrschaften Würzburg
und Mainz, die zum Zehnten ihrer Ländereien auch noch von allen anderen den Kirchenzehnt bekommen und deshalb wohlhabend sind, und
im Norden das von den bayrischen Wittelsbachern okkupierte Brandenburg. Und die kaiserliche Herrschaft der Wittelsbacher wankt, so traurig
das für Euch als Schwiegersohn des Kaisers sein muss, auch wenn Euch
das manche Freiheiten gäbe, wie ich wohl weiß – aber immerhin habt
Ihr Euch mit Eurer Gemahlin, der bayrischen Mechthild, so weit ausgesöhnt, dass sie Euch Erben gebärt. Euer bester Feldherr, Günther von
Schwarzburg, verbündet sich mit Euch, verbündet sich mit Euren Gegnern und geht dann wieder als Feldherr nach Mecklenburg. Der sucht
eine Lösung wie der kleine Cuno, bloß keine Glashütte, sondern ein
wirklich mächtiges Lehen, und was dann geschieht, kann ich nur ahnen!“ Friedrich saß während der ellenlangen Aussage des Steigerthalers
immer missmutiger am Tisch und leerte ein Glas nach dem anderen.
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„Du meinst also, ich sollte mich mit einem mächtigen Nachbarn verbünden, dann hätte ich genügend Macht, um dem Adel einige seine Rechte
zu nehmen und die Pflichten wieder einfordern. Dann entstünde Thüringen als freies Land, nur dem mächtigen Nachbarn verpflichtet und im
Inneren von Landgrafen allein beherrscht.“ „Davon habe ich nichts gesagt, ich habe nur versucht die Lage in Thüringen ohne Gedanken an
Fehde, Schachzüge oder Intrigen darzustellen. Wenn Ihr der Meinung
seid, dass Ihr so verfahren solltet, wie Ihr eben gesagt habt, dann stellt
sich doch nur die Frage, mit welchem Nachbar man sich verbündet.“
„Richtig! Mit wem würdest du dich an meiner Stelle verbünden?“ „Gar
keine Frage: Kaiser Ludwig ist ein Ketzer, den die Päpste schon lange in
Bann geschlagen haben. Offenbar kümmern sich nur wenige darum,
aber ich bin sicher, dass irgendwann die Strafe kommt. Die Kirchenfürsten haben andere Interessen als wir, deren Kinder erben die Lehen nicht
– verzeiht den Scherz. Und Ludwig von Brandenburg, aus dem Hause
Wittelsbach wird mit seiner heuchlerisch ehrbaren, ketzerischen Ehe
mit der Maultasch weder Tirol noch Brandenburg halten können, wenn
sein Vater entweder aufgibt oder stirbt; für mich bleibt also nur Karl von
Böhmen als Verbündeter, gerade weil ich ihn kenne.“
Steigerthal, Frühjahr 1344
Anja stand mit Egbert und Wenzel am Zaun der Koppel und beobachtete gespannt, ob Berno sich der rossigen Araberstute annehmen
würde, an die ihn Egbert in den letzten Monaten herangeführt hatte.
„Wenn das klappt, haben wir schnelle, kluge, ausdauernde und gehorsame Pferde anzubieten“, sagte Egbert leise, um das Spiel der beiden
nicht zu stören. Und zumindest der Akt des Besteigens klappte. Wenzel
rieb sich die Hände: „So muss das sein, so ist das am besten…“ und
wurde leicht rot, als Anja und Egbert ihn fragend anschauten. „Ich
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meine, bei Pferden!“ „Wenn wir schon bei dem Thema sind: Gernot hat
mir, als er mal wieder ein Packpferd zurück gebracht hat, erzählt, dass
er, als er dort im Wald bei den Köhlern war, ein wunderhübsches Mädchen getroffen hat, deren ebenso hübsche Schwester ihm immer von
dir erzählt hat und vieles über Steigerthal und das Gestüt wusste…“
„Hm, ja, da ist schon ein Mädel, das immer als Junge verkleidet Kohle
bringt, aber ich weiß nicht…“ „Hör mal, Wenzel, du weißt genau, dass
ich nicht dein leiblicher Vater bin, aber eben doch dein Vater: du wirst
jetzt bald so alt wie ich, als ich deine Mutter geheiratet habe, und sie
war noch ein bisschen jünger und du warst schon ein Weilchen auf der
Welt. Meinst du nicht, dass es an der Zeit wäre, deine vielen Liebschaften auf eine zu vermindern? Der Bruder Gerold, der Pfarrer hier im Dorf,
hat sich schon einige Male bei mir beschwert, dass du allen Mädchen
schöne Augen und vielleicht einen Balg machst, aber zu nichts stehst!“
„Also, das ist Unsinn. Soweit ich weiß, bin ich noch nicht Vater geworden, und ich bin schon vier Jahre älter als Cuno damals, Bruder Gerold
soll also ganz still sein. Aber da ist schon was dran: Mein Leben hier
oben bei euch, über der Burg und am Rand des Dorfes, mit den Pferden,
den vielen Knechten, der Ungebundenheit ist schön, ich fange jedoch
an zu glauben, dass da etwas fehlt, um mich ganz zufrieden zu machen.
Vielleicht dieses verkleidete Mädchen? Anna heißt sie und ist schon
sehr ungewöhnlich. Ich habe sie letzten Sommer unten im Dorf zum ersten Mal getroffen, wo sie Holzkohle ablieferte, über und über schwarz
von der Kohle und mit schwarzen Augen, die mich aus dem Weiß der
Augäpfel heraus anstarrten. Als ich sie fragte, warum sie so schauen
würde, fragte sie mich in einem etwas seltsamen Deutsch, ob ich auch
ein ‚converso‘ sei. Ich hatte natürlich keine Ahnung, wovon sie sprach
und dann haben wir uns auf die Bank am Brunnen gesetzt, sie hat mich
befragt, ich habe sie befragt. Dabei habe ich gemerkt, dass wir völlig
unterschiedlich sind, aber dass sie mich in ihren Bann zieht. Und so
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lange es trocken war, kam sie etwa alle zwei Wochen, brachte Kohle,
und wir haben uns getroffen. Sie hat mir dann auch erzählt, dass Gernot
und Cuno bei ihnen waren, um den Weg zu einer Waldglashütte zu erfragen.“
Nach dieser wohl längsten Rede seines Lebens schwieg Wenzel, als
hätte ihn das Erzählte erschöpft. Aber Anja wollte natürlich noch mehr
wissen: „Dass du dich im Dorf mit einer Köhlerin triffst, hat man mir
schon zugetragen. Aber warum hat sie dich so angestarrt?“ „Weil ich
doch auch fast schwarze Augen habe, und das hatte sie in Thüringen
noch nie gesehen.“ „Hast du Ritter Cuno etwas davon erzählt?“ „Nein,
dazu gibt es doch keinen Grund, oder?“ „Vielleicht doch! Reite hinunter
zur Burg und frage, ob der Ritter heute am Abend Zeit für ein Gespräch
zwischen unseren beiden Familien hat – und sag ihm, dass es keine
neuen Schreckensmeldungen über fehlendes Essen sind, die wir zu besprechen haben!“
Nach Sonnenuntergang saßen Cuno, Salwa, Gernot und der kleine Cuno
auf einer Seite des Tisches, Anja, Egbert und Wenzel auf der anderen,
ein großer Krug Rossknecht-Bier und einige Scheiben dunkles Brot zwischen ihnen. Gernot und Wenzel betrachteten intensiv die Tischplatte.
Ritter Cuno sah Anja an: „Was gibt es zu besprechen, das keine Schreckensnachricht ist, aber so dringend, dass wir noch heute darüber reden
sollten?“ „Es geht um zwei Mädchen, die diese beiden jungen Männer“,
und damit wies sie mit dem Kopf auf Gernot und Wenzel, „doch höchst
interessant finden…“ „Ich hoffe für uns Frauen, jeder eine andere!“ „Ja,
das wohl schon. Aber dahinter steht natürlich mehr. Wer könnte besser
wissen, was Standesunterschiede für Folgen haben als ich. Was ich aus
Wenzel herausgequetscht habe und das bisschen, das ich von Gernot
weiß, passt alles nicht zusammen: Köhler sind immer schwarz - aber Augen und Haare auch? Köhler sind die am schlechtesten bezahlten und
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am wenigsten gebildeten Menschen - aber sprechen sie eine weitere
Sprache, die weder tschechisch noch ungarisch noch italienisch ist und
haben Goldschmuck? Köhler bringen ihre Kohle immer selber, nehmen
das Geld und gehen ins Wirtshaus – schicken Köhler ihre Jungfrauen, als
Knaben verkleidet, um die Kohle zu verkaufen? Vielleicht kriegt ihr noch
mehr heraus als ich, doch das alles genügt mir schon, um mich zu ängstigen!“ Der kleine Cuno mischte sich vorlaut ein: „Ich habe die beiden
Mädchen aus Versehen gesehen, als sie badeten …“ „Cuno, Köhlerkinder die baden?“ „Ja und sie waren ganz hell, außer an einer Stelle!“
„Oh, Cuno! Gernot, Wenzel, was wisst ihr?“ Gernot hob als erster den
Kopf und sprach stockend: „ Sie sagen, sie sind conversos, also zwangsgetaufte Christen, die trotzdem aus ihrer Heimat in einem Land, das Iberien heißt, vertrieben wurden. Vor vier Jahren, nachdem ein Sultan, das
ist so etwas wie ein König, namens Abu I-Hasan oder so ähnlich, von den
Kastiliern und den Portugiesen in der Schlacht am Salado geschlagen
wurde, hat der kastilische König alle, die wie Moslems aussahen, vertreiben lassen, ob sie nun Christen, Moslems oder Juden waren. Die Familie hatten eine Vertraute aus den Zeiten des Fernhandels, die sie
kannten und die wir auch kennen, nämlich Rebecca Herschel in Erfurt,
die so weit weg lebte, dass sie der Rache des kastilischen Königs zu entfliehen glaubten. Als sie endlich hier ankamen, war Rebecca schon mit
ihrer Umsiedlung an die Küste beschäftigt. Und als die Familie, als Juden
unter dem Schutz des Kaisers und des Landgrafen Friedrichs, die Krämerbrücke überqueren wollte, sammelte sich ein Haufen Gesindel, das
unter dem Beifall der Bürger versuchte, sie niederzuwerfen und den
Töchtern ein Leids anzutun. Da hatte Rebecca, der Onkel Gernot und
seine Reisegenossen vor vielen Jahren ja schon Zuflucht in Erfurt verschafft hatte, nur einen Rat: Geht nach Steigerthal, werdet Köhler, das
kann jeder in kürzester Zeit lernen, und versteckt euch im Wald, bis klar
ist, was die nahe Zukunft bringt.“ „Ja, und die brachte uns! Ich traf Anna,
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die eigentlich Hannah heißt, im Dorf, das habe ich dir ja schon erzählt“,
wandte Wenzel sich an seine Mutter, „und Gernot traf Maria, eigentlich
auch eher Mirjam, als er mit Cuno den Glasmacher suchte. Was die beiden beim ersten Blick an uns so vertraut fanden, waren die dunklen Augen – wir wissen, dass wir sie von der Ahnin Leila, der Zypriotin, haben.
Und bei ihnen ist das in der ganzen Familie so, aber sie haben alle auch
pechschwarze Haare, nicht blonde wie wir.“ „Und was meinst du, Anja,
warum wir uns mit dieser Familie beschäftigen sollen?“ „Also: Die beiden jungen Männer hier haben mehr Interesse an diesen Mädchen als
es für einige fröhliche Nächte nötig ist; wenn die Fremden wirklich Juden sind, wie ich vermute, dann gehören sie Landgraf Friedrich, dem
der Kaiser bei der Hochzeit mit der Kaisertochter Mechthild ja alle Juden
in Thüringen geschenkt hat. Und dann sind wir schnell in der Zwickmühle, die ich uns in diesen schlechten Zeiten gern erspart hätte: Juden,
die dem Landesherren keine Abgaben bezahlen, können bestraft werden…“ „Sie können sogar für vogelfrei erklärt werden“, unterbrach sie
der große Cuno. „Was heißt das?“ Das war der kleine Cuno. „Jeder darf
sie töten, ohne eine Sünde zu begehen. Du hast recht, Anja, das könnte
uns Schwierigkeiten bringen, mit allen, dem Landgraf, der Kirche, den
Unzufriedenen, die nicht mehr genug zu Essen haben, bevor nicht die
ersten Wurzeln und Früchte reif sind.“ Salwa schaute ihn an: „Ich spüre
doch, dass dich das Abenteuer, vor allem, weil es ungefährlich ist, reizt!
Ich habe mal gesagt, dass ich dich nicht mehr weiter weglasse als eine
ganz bestimmte Entfernung – du erinnerst dich?“ Cuno nickte und lächelte sie an. „Vielleicht sollte ich hier mal eine Ausnahme machen! Du
nimmst die drei Burschen mit und versuchst herauszufinden, was hinter
der ganzen Sache steckt. Und schaust dir auch mal die Glashütte an.“
Sie nahm den Krug, schenkte allen einen Becher voll – dem kleinen Cuno
nur einen Schluck – und damit war der Ausflug beschlossen.
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Bald darauf war es still geworden in der Burg. Salwa lag schon, frisch
gebadet, unter der fellbesetzten Decke, als Cuno das Gemach betrat, in
seiner ganzen noch ein wenig nassen Nacktheit von der flackernden
Kerze beleuchtet, die neben Salwa auf dem Tischchen stand. Sie
schaute ihm entgegen, hob die Decke ein wenig, so dass er zu ihr in die
Wärme schlüpfen konnte und ließ sich von ihm in die Arme nehmen. Er
küsste ihre kastanienfarbenen Flechten, ihr Ohrläppchen, ihre Halsbeuge und irgendwie gingen seine Hände auf Erkundung dieses Körpers, den er so gut kannte und der ihn jedes Mal aufs Neue erregte. Sie
hielt mit beiden Händen seine aufgerichtete Männlichkeit fest, und als
sie sie los ließ, murmelte er ihr ins Ohr: „Ich weiß, wie weit ich weg darf,
aber ich will doch nur näher sein“, und suchte den Weg in ihren Schoß.
Viele hundert Mal hatten sie dieses Spiel gespielt und sich im Eingehen
auf die Bedürfnisse des Anderen zu Meistern gemacht, die nichts
brauchten, als den anderen, um zu gewinnen.
Der nächste Morgen brachte eine Rückkehr der Kälte; Schnee fiel, der
Wind trieb die Flocken in alle Ecken und Winkel. Das Gespenst der letzten Hunger- und Kältemonate machte sich wieder breit. Deshalb war
zumindest der große Cuno nicht traurig, als vom Gestüt die Nachricht
kam, dass Wenzel bei der viel zu frühen Geburt zweier Fohlen helfen
müsse und frühestens nach dem Sonntag mitreiten könne.
Am Sonntag erschien Anja zur Messe in der Burgkapelle und berichtete
hinterher, dass wenigstens ein Fohlen überlebt hätte und munter sei.
Der Aufbruch wurde auf den Tagesanbruch des Montags festgelegt,
denn Cuno wollte, und das bedeutete strenges Reiten, noch vor dem
Einbruch der Nacht die Hütte des Köhlers erreichen. Er glaubte, bei einem gemeinsamen Abend, beflügelt von einem Schlauch mit gutem
Rotwein, am ehesten dem Geheimnis dieser Familie auf die Spur zu
kommen.
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Schon lange vor Mittag waren sie in Nordhausen, am Spätnachmittag
nach einer kurzen Rast im Dorf Nohra und von dort ging es die Wipper
aufwärts; Gernot und der kleine Cuno führten die kleine Truppe, weil
sie sich noch gut an den Weg vor ein paar Monaten erinnerten.
Die Dämmerung brach ein, als der kleine Cuno, der vorweggeritten war,
ausrief: „Seht ihr den hellen Schimmer da drüben? Das ist einer der Kohlenmeiler, und da vorne müsste gleich eine Furt kommen, so dass wir
fast trocken über die Wipper gelangen können!“ Er gab seinem Reittier
die Absätze. Das Pferd galoppierte los und fand instinktiv die flache
Stelle des Bachs, platschte durch das Wasser und kam vor dem Meiler,
der aus dem Inneren heraus geheimnisvoll glühte, zum Stehen. „Wer
da?“ Eine raue Männerstimme erscholl aus dem Dunkel. „Wir sind es
nochmal, die Burschen, die den Glasmacher gesucht haben, mit unserem Vater und unserem Halbbruder!“
Ein breitschultriger, hochgewachsener Mann, völlig von der Kohle geschwärzt und – wie es alle erwarteten – mit schwarzen Haaren und rabenschwarzen Augen, trat hinter dem Meiler hervor, in einer Hand die
flache Schaufel des Köhlers, in der anderen einen Knüppel, der so manchen fällen könnte.
„Was sucht ihr?“ „Euch“, antwortete Ritter Cuno und stellte sich vor.
„Wir möchten hier unser Lager aufschlagen und dann mit eurer Familie
zu Abend essen und ein paar Fragen stellen, weil ich als Lehnsmann dieser Gegend meinem Lehnsherrn gegenüber Rede und Antwort stehen
muss. Und morgen will ich zu dem Glasmacher.“ Der Köhler zögerte,
dann antwortete er auf Deutsch, aber mit einem starken Akzent: „Ich
kann ja wohl nicht nein sagen. Kommt mit, ich zeige Euch einen guten
Lagerplatz, an dem Ihr von der Wärme der Meiler noch etwas abbekommt und sage dann der Familie Bescheid. Ach so, und mein Name ist
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Aaron“, und damit verbeugte er sich leicht. „Du brauchst uns nicht Bescheid sagen, Vater, wir haben alles mitgehört, ohne zu lauschen!“ Eine
helle Stimme, der man das Lächeln anhörte, begleitet von einem ebenfalls hellen Kichern klang von der anderen Seite des Meilers. Aaron runzelte die Stirn, sagte aber nichts, sondern wies auf eine kleine, etwas
höher gelegene Wiese. Die Männer saßen ab, befreiten die Pferde von
den Sätteln, brachten sie zum Saufen an den Bach, bevor die Tiere an
langen Leinen an die Bäume am Rand der Wiese gebunden wurden, so
dass sie grasen konnten. Für sich selbst spannten die Steigerthaler zwei
Planen zwischen Bäume, die sie vor dem Morgentau schützen würden
und jetzt als Essplatz gerichtet wurden: Die Schlafdecken kamen unter
die flachen Enden der Planen, die Sättel wurden als Sitzgelegenheiten
im Kreis aufgestellt, ein kleines Feuer als Lichtquelle und zum Erwärmen
der mitgebrachten Speisen wurde entzündet, der Köhler rollte vier
Holzblöcke für sich und die Familie herbei, dann gingen alle an die Wipper, um sich zu waschen. Aaron schaute verwundert: „Ritter, die sich
vor dem Essen die Hände waschen – ich glaube, ich habe auch ein paar
Fragen!“ Als sie zum Lagerplatz zurückkamen, standen drei Frauen im
flackernden Licht des kleinen Feuers, drei schlanke, wohlgeformte Gestalten in kräftig bunte Gewänder gehüllt, mit offenen, langen, schwarzen Haaren, die der Älteren bis über die Hüfte gingen, und lächelten den
Männern entgegen. Der große Cuno hielt an, musterte die drei kurz und
neigte den Kopf: „Ich bin Ritter Cuno von Steigerthal, der Herr dieser
Ländereien, das hier sind meine Söhne Gernot, Cuno und Wenzel.“ „Ich
habe mich ja schon vorgestellt; das ist Rahel, meine Frau und unsere
beiden Töchter Hannah und Mirjam.“ Cuno wies auf die Sitzgelegenheiten rund um das Feuer, Gernot reichte allen Becher, der Ritter schenkte
aus seinem Schlauch Wein aus, der kleine Cuno hatte einen Krug mit
Wasser aus der Wipper, und Wenzel reichte eine Holzschüssel herum,
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in der leicht erwärmtes Geflügel, Speckscheiben und dunkles Brot lagen. Alle griffen schweigend zu, auch die Köhlerfamilie nahm sich Speck
und Brot. „Wenn alle zu essen haben, kann ich ja meine Fragen und
meine Sorgen loswerden. Ihr habt zu Speck gegriffen, seid also keine
Juden, die meinem Herrn tributpflichtig wären. Wer seid ihr, die ihr jüdische Namen tragt, ohne Juden zu sein?“ Aaron nahm einen Schluck
Wein, spitzte genießend die Lippen, räusperte sich dann und fing dann
im klagenden Singsang an, die Geschichte der ‚conversos‘ zu erzählen:
„Vier lange Jahre ist es her, dass Sultan Abu I-Hasan von den Kastiliern
und den Portugiesen in der Schlacht am Salado ganz im Süden der Halbinsel geschlagen wurde und nach Andalusien flüchten musste. Jahrhunderte hatten die Sultane auf der iberischen Halbinsel geherrscht, und
das Volk lebte in Frieden. Jeder konnte seinem Gewerbe nachgehen,
jeder konnte seinen Gott verehren, wie es ihm beliebte. Oft beteten
Nachbarn Gott mit unterschiedlichen Namen an, aber sie waren vor seinem Angesicht gleich. Wenn ein Christ von Jahwe sprach, war das für
einen Muselmann nicht befremdlich, und die Bräuche fingen an, sich zu
ähneln. Das Fest der Ankunft des Herrn oder das Laubhüttenfest oder
das Zuckerfest wurde von allen begangen, alle aßen die Speisen, die
dem Anlass entsprachen. Doch nach der Vertreibung Abu I-Hasans
wollte der kastilische König nur Christen im Land lassen, die alle anderen als Feinde betrachteten und unterdrücken, ja, versklaven wollten.
Und da es fast nicht möglich war, Moslems von Juden und Christen zu
unterscheiden, erließ er ein Gesetz, dass sich alle taufen lassen und zum
Christentum bekennen müssten. Wer das nicht tue, werde des Landes
verwiesen. Alle ließen sich taufen und der König hatte sein Ziel, ein echt
christliches Reich zu errichten, wieder nicht erreicht. Daraufhin befragte er seinen obersten Ratgeber, der aus dem hohen Gebirge
stammte, das Iberien von Franzreich trennt, was er tun könne. Der Ratgeber fragte den König: ‚Sehe ich aus wie ein Christ?‘ ‚Ja‘, denn der
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Mann war blond und blauäugig. ‚Und Ihr, Herr, seht auch aus wie ein
Christ‘, denn der König war ebenfalls hellhaarig. ‚Die, die nicht so aussehen, sind keine Christen!‘ Die Adligen, die dabei standen, stimmten
dem Ratgeber zu, denn wenn die Mehrheit der Bewohner vertrieben
würde, könnten sie sich deren Besitz aneignen. Und so geschah es. Wir
mussten fliehen, alle, ob Abu Bakr, Desmoniades oder, wie wir, Garcia.
Nur schnell zusammengeraffte Preziosen und die Kleidung, die wir am
Leib hatten, begleiteten uns. Die Abu Bakr flüchteten nach Granada,
auch nach der Schlacht am Salado eine Festung der Muselmänner. Wir
zogen auf der Via Regia, die von Sonnenuntergang nach Sonnenaufgang
führt, ein Onkel blieb schon in Paris, meine Brüder suchten Schutz in
Straßburg, meine Neffen in Selestadt, aber ich hatte früher mit einer
Rebecca Herschel Geschäfte gemacht, der Ihr in Erfurt ein sicheres Auskommen verschafft hattet. Dort wollte ich hin. Und was dann geschehen ist, wisst Ihr schon. Seit drei Sommern mache ich hier Holzkohle für
Euch, aber es reicht nicht zum Leben. Und unser Schicksal lässt mich
zweifeln, ob überhaupt ein Gott über uns wacht.“ Bedrücktes Schweigen, auch bei den drei Frauen, war die Folge der Erzählung. Cuno gab
sich einen Ruck: „Gut, dass mein Pate Ono den letzten Satz nicht gehört
hat! Wenn ich alles richtig verstanden habe, seid ihr spanische Christen
mit vielleicht etwas ungewöhnlichen Namen und ohne tief im Glauben
verwurzelt zu sein. Ist das richtig?“ Die vier Garcias nickten. „Was könnt
ihr denn außer Kohle machen?“ „Ich habe von meinem Großvater gelernt, ein Saiteninstrument zu spielen, das bei uns ‚guitara‘ heißt, aber
ich habe natürlich kein Instrument mehr. Und früher habe ich Handel
getrieben, meist mit Booten Fisch, Oliven und Wein aus der Gegend den
Guadalquivir hinauf bis Sevilla und von dort Eisenwaren, Stoffe und
Töpferwaren zurück in die Gegend um Cadiz. Einmal habe ich auch bestellte Holzkohle mitgebracht und mich über den Dreck geärgert.“ Er
musste selbst grinsen. „Das Kohlemachen ist harte Arbeit, alle Stunde
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musst du nach der Glut schauen, Tag und Nacht, und dann ist der Ertrag
erbärmlich!“
Während die Väter sich unterhielten, hatten die Mädchen und die beiden älteren Burschen Augenkontakt aufgenommen, und es war ersichtlich, dass sie das mehr interessierte als das Gespräch. Der kleine Cuno
wusste nicht, wohin er schauen sollte, denn auch für ihn waren gesprochene Fragen und Antworten nicht so spannend. Rahel erlöste die fünf,
indem sie ihnen mit den Fingern deutlich machte, dass sie die Männer
beim Gespräch zurücklassen und ihr zur Hütte folgen sollten. Wenzel
fasste mutig Hannah bei der Hand, Gernot nahm sich ein Beispiel und
zog Mirjam an sich, während der kleine Cuno mit Rahel vorneweg lief
und auf ihre Fragen fröhlich plappernd antwortete. Als die drei aus Steigerthal dann allerdings bei der Hütte ankamen, wurden sie wieder still:
Eine schlecht gebaute Behausung, mit Lehm und Gras verstopfte Lücken
unter einem offensichtlich wieder und wieder geflickten Dach, sauber
aber ärmlichst, mit einem Strohsack für die Mädchen, einem für die Eltern. „Zwei von uns müssen sowieso immer draußen sein und die Glut
überwachen, da brauchen wir nicht mehr Lagerplätze.“ Das Mobiliar bestand aus einem kleinen Tisch, einigen Haken mit wenigen Kleidungsstücken an der Wand und einem eisernen Dreibein über der Feuerstelle,
an dem jetzt ein leerer Topf hing. Einige Holzklötze, mit Brettern verbunden, bildeten den Schrank für Vorräte, Werkzeug, Kleinigkeiten. „Ihr
könnt nicht so weiterleben“ ,platzte es aus Gernot heraus. „Wir müssen
einen Ausweg finden“, pflichtete ihm Wenzel bei. „Da geht es unseren
Pferden im Gestüt ja besser!“ „Es stimmt also, dass ihr Pferde züchtet?
Hannah hat das erzählt.“ Rahel schaute Wenzel an. „Ja, und zwar recht
erfolgreich.“ „Und stimmt es, dass deine Mutter die Herrin des Gestüts
ist?“ Wenzel nickte und blickte zwischen Rahel und Hannah hin und her,
auf deren Gesichtern sich ein Lächeln abzuzeichnen begann. „Meine
Mutter kommt aus einer Familie, die Araberpferde gezüchtet hat, und
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ich habe, als ich eine kleines Kind war, viele Wochen im Stall und auf
den Weiden verbracht, bevor Mirjam geboren wurde.“ „Dann ist ja alles
klar“, meinte Cuno erleichtert, „ihr helft Anja auf dem Gestüt, „und für
euren Vater und Mirjam findet sich eine Arbeit. Mirjam kann in der Burg
helfen und Aaron im Bergwerk. Ist doch alles geklärt, oder? Und jetzt
bin ich müde!“ Schmunzelnd die Köpfe schüttelnd folgten sie dem
Jüngsten zurück an das kleine Feuer, wo die Männer dabei waren, den
Rest des Weines aus dem Schlauch zu drücken, damit ja kein Tropfen
verloren ginge. „Vater, hier ist alles geklärt: Rahel und Hannah verstehen was von Pferden, die helfen Anja. Aaron hilft im Bergwerk und Mirjam kommt als Magd zu uns auf die Burg. Und wohnen können sie in
einem der Häuser, die die Hauer haben leer stehen lassen, als sie nach
Joachimsthal gegangen sind, um dort mehr zu verdienen. Ist allemal
besser als hier. Gute Nacht!“ Damit holte er sich seine Decke und rollte
sich nahe des Feuers zusammen.
Die Zurückgebliebenen schauten sich an. „Es wäre denkbar – was
meinst du, Aaron?“ „Fast alles ist besser, als hier weiter zu hausen!“
„Dann lasst uns dem Beispiel Cunos folgen. Morgen müssen wir zu dem
Glasmacher, und bis wir auf dem Rückweg morgen Abend wieder hier
sind, habt ihr Zeit, darüber nachzudenken.“ Er wünschte ebenfalls gute
Nacht, wusch sich kurz am Bach und folgte dem Beispiel seines jüngsten
Sohnes. Aaron drängte die Seinen, zur Hütte mit zu kommen; die Mädchen ließen ungern die beiden Burschen zurück, aber folgten den Anordnungen das Vaters; Hannah allerdings wagte es und drückte Wenzel
einen schnellen Kuss auf die Lippen. Rahel sah es und schüttelte den
Kopf, Mirjam wäre am liebsten zu Gernot zurückgelaufen, um ihn ebenfalls zu küssen, traute sich aber nicht, und bald war in der Hütte Ruhe
eingekehrt, während sich Wenzel und Gernot noch leise am Feuer unterhielten.
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Am nächsten Morgen herrschte eine seltsame Aktivität: Die vier Besucher bereiteten sich früh auf den Weiterritt zum Waldglasmacher vor,
Aaron umrundete kontrollierend seine Meiler, von den Frauen war
nichts zu sehen, aber zu hören, auch wenn es für die Steigerthaler unverständlich war. Rahel schimpfte ganz offensichtlich mit ihren Töchtern, das war aus dem Tonfall zu entnehmen, aber da keiner der vier
Spanisch verstand, konnten sie nicht herausbekommen, worum es ging.
Der kleine Cuno wurde geschickt, um die Abreise anzukündigen; er ging
zur Tür der Hütte und klopfte, erst leise, dann laut, und als auch dann
keine Antwort oder ein Türöffnen kam, machte er selbst die Tür auf. Die
Mädchen standen mit erhobenen Armen an der Wand hinter ihrem
Strohsack, Tränen liefen ihnen über die Wangen und Rahel stand, mit
den in die Hüften gestemmten Armen vor ihnen. Der Luftzug, den Cunos
Türöffnen bewirkte, machte der Mutter klar, dass jemand eintrat und
sie begann einen Satz mit ‚Aaron‘, merkte aber an den Gesichtszügen
der Mädchen, dass sie wohl den falschen ansprach und drehte sich um.
Cuno erschrak vor den wütend funkelnden schwarzen Augen, die natürlich nicht ihm galten und sagte vorsichtig: „Wir reiten jetzt weiter zum
Glasmacher und sind gegen Abend wieder zurück.“ Drehte sich um,
schloss die Tür wieder und rannte zu seinem gesattelten Pferd. Ohne
Worte machten sie sich auf den Weg, jetzt mit Gernot an der Spitze.
Nach einer kurzen Weile ließ der große Cuno sein Pferd zurückfallen, bis
er neben dem kleinen Cuno ritt: „Was war denn los?“ „Ich weiß es nicht!
Die Mutter hat böse mit den Mädchen geschimpft, aber ich weiß nicht
warum, doch ich glaube, es hat mit uns zu tun gehabt!“ „Dann muss ich
heute Abend eben nachfragen“, stellte der Ritter klar.
Eine knappe Stunde später rochen sie bereits den Rauch, der Glashütte
und fanden sozusagen mit der Nase den Rest des Weges. Nur wenige
Menschen waren zu sehen – vielleicht verbargen sich noch einige in der
länglichen Hütte, aus deren Dach durch eine große Öffnung Rauch in
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den Himmel quoll. Die vier stiegen ab, banden die Pferde an einen der
wenigen Bäume in der Umgebung der Hütte und gingen auf den alten
Glasmacher zu, der ihnen vom Eingang entgegen schaute. „So schnell
wollte ich noch nicht aufgeben!“ rief er in ungehaltenem Ton. Ritter
Cuno ging die paar Schritte zum Pferd zurück, zog die wimpelbesetzte
Lanze aus der Halterung, gab sie Gernot, der als Knappe dienen musste
und wandte sich wieder dem Alten zu: „Wir sind nicht gekommen, dich
zu vertreiben. Aber erstens bin ich Vertreter deines Landesherrn, dem
du Rechenschaft und Abgaben schuldig bist, und zweitens hat dich mein
ältester Sohn Gernot hier“, er wies auf den Wimpel-Träger, „bereits
fürstlich bezahlt dafür, dass du ihn und seine Brüder in die Geheimnisse
des Glasmachens einweihst. Darum sind wir hier!“ Der Alte schaute
missmutig auf die kleine Gruppe, während sich hinter ihm einige zerlumpte Gestalten sammelten: „Das Geld ist eines, aber die Leute, die
seit Jahren für mich gearbeitet haben, wollen auch leben und wollen
ihren Anteil, und dann bleibt für mich zu wenig!“ „Ihr lebt und arbeitet
doch nur im Wald, weil ihr für das Schmelzen so viel Buchenholz
braucht, oder?“ Der Alte nickte. „Wenn ihr statt mit Holz mit Holzkohle
arbeiten würdet, dann könntet ihr überall Glas machen, wo sich die
Dinge finden, aus denen ihr Glas macht. Wir haben in Steigerthal, weil
es immer weniger Silber gibt, leerstehende Häuser; wir haben Holzkohle; und wenn ich jetzt lerne, wie das Glas gemacht wird, dann könnten die, die wollen, mit nach Steigerthal kommen und dort weiterarbeiten. Und du könntest mehr von meinem Geld behalten,“ Die Miene das
Glasmachers hellte sich ein wenig auf. „Mal sehen, ob das geht. Kommt
mit.“ Damit ging er zwischen seinen Leuten hindurch zur Hütte. Und öffnete die Tür. In der Mitte des Raumes stand der aus Lehmziegeln gemauerte Ofen, fast doppelt so hoch wie ein Mensch. Er hatte die Form
eines Eies, mit zwei großen, mit Eisentüren verschlossenen Öffnungen
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fast am Boden, durch die das Holz eingeführt wurde. „Das muss anständig brennen, damit genug Hitze entsteht, aber wir brauchen immer unterschiedliche Hitze, je nachdem, was gerade geschieht. Hier“ und damit stieg er auf eine Art hölzerne Bühne, die in einigem Abstand um den
ganzen Ofen herum lief, und öffnete ein etwa zwei Hände großes Türchen, „sind die Tiegel drin. Ihr seht, das sind kleine Wannen, in die wir
die Fritte für das Glas tun. Die Flammen, die in der unteren Etage brennen, schlagen durch das große Loch in der Mitte in diese Ofenkammer;
wenn das Glas geschmolzen ist, nehmen wir die Häfen heraus und füllen
neue. Ganz oben, über dem nächsten Boden, lagern wir das fertige Glas
und lassen es langsam abkühlen, damit es nicht zerbirst. Das kleine Loch
in der Mitte des Bodens verschließen wir nachts mit einem Stein. Für
den ersten Schmelzvorgang, das Frittieren, der dahinten in dem kleinen
Ofen abläuft, braucht man vielleicht einen Tag und eine Nacht, und sobald der Schmelzvorgang beginnt, muss man immer umrühren. Wenn
der Brei fertig ist, kommt er in die Tiegel, bis eine klare Masse entstanden ist, dann wird das Glas von den Glasbläsern verarbeitet und bleibt
zum Abkühlen im oberen Ofenteil.“ „Was nehmt ihr als Werkstoff außer
dem Sand aus der Wipper und der Pottasche?“ „ Zwei Pfund Pottasche,
ein Pfund Sand und ein halbes Pfund gemahlenen Kalkstein aus Dobeln
ergeben eine Fritte.“ „Machst du das alles selber, weil du weißt, wie es
sein muss, oder hat jeder hier seine besondere Arbeit? Beim Silber haben wir Steiger, Hauer, Heizer und viele Helfer, aber jeder kennt nur
seine Arbeit genau.“ „Das ist hier genauso. Deshalb wäre es ganz gut,
wenn Ihr die Leute mit zu Euch nehmen würdet.“ Mit schmerzverzogenem Gesicht stieg er von der Arbeitsbühne zurück auf den Lehmboden.
„Mir täte das Ende der Arbeit wahrhaftig gut, schaut Euch selbst um!“
Die vier aus Steigerthal taten das ausführlich, und irgendwann flüsterte
der kleine Cuno seinem Bruder zu: „Hätte nicht gedacht, dass das so
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schwierig ist!“ „Ich auch nicht! Da lasse ich mich doch lieber von Urban
mit Lanze, Schwert und Handrohr durch den Burghof jagen!“
Als die Sonne sich dem Untergang zuneigte und das Glas im obersten
Teil des Ofens untergebracht war, rief der große Cuno die Leute der
Glashütte zusammen, nachdem er vorher noch mit dem Alten verhandelt hatte: „Ihr wisst, dass hier die Glasmacherei bald zu Ende ist – das
Holz im Umkreis ist aufgebraucht und euer Meister“ , damit deutete er
auf den Alten, „hat nicht mehr die Kraft, die Glashütte an einem anderen Ort neu aufzubauen. Ich biete euch an, dass ihr bei der nächsten
Glashütte, die in Steigerthal gebaut wird, eure Arbeit zum gleichen Lohn
weiter machen könnt. Überlegt es mit euren Familien. Wenn ihr zustimmt, dann kommt ihr noch vor dem Herbst mit euren Werkzeugen
und eurem Hab und Gut ins Dorf, euer Meister hat mir versprochen,
euch zu begleiten und den Aufbau der neuen Hütte zu überwachen.
Und jede Familie wird ein kleines Stück Land erhalten, um Nahrung anzubauen.“ Damit verabschiedeten sich die vier und bestiegen ihre
Pferde.
Vieles ging Cuno auf dem Ritt zurück zu der Köhlerfamilie durch den
Kopf. Würden sie in Steigerthal Glas machen können? Würde das Glasmachen sich lohnen, wenn er jetzt die Leute alle mitnehmen würde? Es
war klar, dass er das ohne ihre Kenntnisse nicht hinbekommen würde,
aber bliebe noch etwas übrig? Hatte er zu viel versprochen? Wenn er
Franz dabei gehabt hätte und den alten Gerhard – die hätten gewusst,
wie viele Menschen das Dorf verloren hatte und ob man die Neuen unterbringen könnte; und war des kleinen Cunos Vorschlag, was mit der
Familie der ‚conversos‘ geschehen könne, durchführbar?
Kurz bevor sie beim Köhler ankamen, unterbrach der kleine Cuno beunruhigt darüber, was sie erwarten würde, das Grübeln des Vaters: „
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Kannst du den Köhler fragen, was heute Morgen los war, als ich Bescheid geben wollte, dass wir losreiten? Die beiden anderen waren den
ganzen Tag auch nicht ganz bei der Sache.“
Als sie abstiegen, die Pferde versorgt hatten und den letzten Proviant
aus den Satteltaschen geholt hatten, kam Aaron zu ihnen herüber.
Ohne Umschweife fragte der Ritter: „Aaron, wir waren uns doch gestern
Abend einig, dass ihr nach Steigerthal kommt und dass es für deine Familie viel besser wäre als hier im Wald. Und die fehlende Sicherheit dieses Verstecks kann die Truppe des Lehens genauso gewähren. Was ließ
deine Frau am Morgen mit euren Töchtern so schimpfen?“ „Ach, sie hat
das Übliche wiederholt: ganz offensichtlich sind Hannah und Mirjam
von Wenzel und Gernot angetan, ohne dass sie sich eigentlich kennen
– gut, Hannah und Wenzel haben wohl schon viel miteinander geredet,
aber trotzdem. Und wenn die nun so nah beieinander sind, hat Rahel
Bedenken, dass, wenn tatsächlich eure Vorschlägen von gestern Abend
verwirklicht würden, die beiden eine wesentliche Regel unseres Lebens
in Spanien verletzen könnten: Egal, aus welchem Stand ein Mädchen
kommt, es muss jungfräulich in die Ehe gehen, das zu sichern ist Pflicht
der Eltern. Es hat mir schon viel Streit gebracht, dass ich Hannah als
Junge verkleidet nach Steigerthal geschickt habe, um Kohle zu liefern,
aber ich musste doch nach den Meilern sehen. Und Hannah ist ein vernünftiges Mädel, obwohl sie gestern, wie Rahel behauptet, Wenzel geküsst haben soll!“
Rahel hatte aus den Resten des gestrigen Abendessens eine schmackhafte Suppe gekocht, die die beiden Mädchen in dem großen Eisentopf
zum Lagerplatz der Besucher trugen. Als sie sich zum Gehen umwandten, fragte Gernot vorsichtig: „Könnt ihr nicht wenigstens noch zum Essen dableiben?“ Die beiden schauten ihren Vater an. „Bleibt, ich gehe
zu Rahel.“ Alle warteten schweigend, die Mädchen und die beiden älteren Burschen unruhig. Dann stürzte die Köhlersfrau aus der Hütte: „Ihr
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seht euch nur, wenn Aaron oder ich dabei sind, ist das klar?“ Alle vier
nickten. „Dann lasst uns das wenige Essen durch acht teilen!“ Sprach‘s,
nahm eine Schöpfkelle und tat je einen Löffel voll auf die Zinnteller der
Steigerthaler und in die Näpfe der Garcias, Cuno holte den verbliebenen
letzten Schlauch mit Wein, und Wenzel verteilte das, was sie aus den
Satteltaschen geholt hatten.
Aus der Autobiographie Karls IV, Fünfzehntes Kapitel (1344)
In dem Jahr kehrten mein Vater, König Johann, und ich aus Friaul nach
Böhmen zurück. Mein Vater legte mir die Verwaltung des ganzen Königreichs in die Hände, unter der Bedingung freilich, dass ich ihm sofort
fünftausend Mark Silber auszahle, dafür der König während der nächsten zwei Jahre nicht nach Böhmen kommen und keine weiteren finanziellen Forderungen stellen würde. Das Geld brachte ich rasch zusammen,
auch mit Hilfe von Borislav Přemisl, gab es meinem Vater und dieser
zog nach Franzreich. Nach seinem Weggang übernahm ich die Führung
des Königreichs und es gelang mir, mit Geschick und Hingabe das, was
zerstreut war, zurückzufordern und das, was auseinandergerissen war,
wieder zu vereinen. Und so fügte ich die rechtmäßige Ordnung wieder
zusammen, und das Königreich blühte wieder auf, wie einst schon die
Markgrafschaft Mähren. Als all dies erreicht war, konnte ich mich mit
meinem geistigen Vater, dem Papst Clemens VI., auf die Gewinnung der
römischen Königswürde vorbereiten, um der ketzerischen Herrschaft des
Wittelsbergers Ludwig endlich ein Ende zu bereiten.
Steigerthal, Herbst 1344
„Es wird klar!“ Mit diesem Freudenschrei stürzte der kleine Cuno von
der Arbeitsbrücke des neuen Glasmacherofens in der Glashütte am
Ende des Dorfes zu seinem Vater, der mit dem Alten vor dem Haus saß
und versuchte, für sich ein System festzulegen, das ihm sagte, wann
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welche Hitze notwendig und erreicht war, wann sie zu viel wurde. Der
Alte hatte mit seinen Arbeitern tatsächlich schon im Spätsommer in
Steigerthal Quartier bezogen und sowohl den Frittenofen wie den
neuen großen Glasmacherofen aufgebaut. Franz, der immer noch unermüdliche Zimmermann – er hatte unterdessen zwölf Kinder mit seiner
dicken Berta – hatte um die beiden Öfen herum ein steinernes Haus
gebaut und über den Öfen richtige Kamine errichtet, so dass Luftzufuhr
und Rauchabfuhr besonders gut glückten. Und der kleine Cuno hatte
einen neuen Freund gefunden: Františec, einen Glasbläser, der mit einer der Rittergruppen nach Thüringen gekommen war, weil ihm die
Herrschaft Karls von Böhmen zu streng war, und der sich mit Freuden
in Steigerthal niedergelassen hatte, wo er Arbeit, Einkommen, gutes
Bier und vor allem viele junge Frauen fand, die sich mit ihm eine Zukunft
vorstellen konnten; dazu eine Herrin, die seine Sprache sprach. Dieser
Františec hatte noch nie zuvor mit Holzkohle die Materialien zu Glas geschmolzen, aber er fand heraus, dass das gut klappte, wenn man die
Zusammensetzung der Fritte veränderte. Da die Kohle eine größere
Hitze entwickelte, brauchte man mehr Quarzsand, weniger Kalk und viel
weniger Pottasche und erhielt ein wunderbar klare, gut formbare
Masse, aus der man mit der Glasmacherpfeife, einem am Ende aus Eisen, am Anfang aus Holz bestehenden Werkzeug, eine nicht geringe
Glasmenge zur Kugel formen konnte, aus der alles Mögliche entstehen
konnte, von Butzenscheiben bis zu Trinkgläsern – je nachdem, ob man
weiteres Glas daran heftete, es in gewässerte Formen drückte oder es
mit einer Auftreibschere zur flachen Scheiben machte.
Der kleine Cuno versuchte täglich, die kostspieligen Teile des Glases zu
verringern, aber die jetzt gefundene Mischung schien die beste zu sein,
auch wenn der Kalk recht teuer war. Aber auch da hatte Cuno eine Sparmöglichkeit gefunden: er ließ seinen Vater Kalksteine aus Dobeln her-
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beischaffen und mahlte sie in den Gesteinsmühlen des Bergwerks selber zu so feinem Kalkmehl, dass das Glas richtig klar wurde; selbst der
leichte Grünton, den das Waldglas bisher hatte, konnte so vermieden
werden. Und dass er nach Farbstoffen suchte, die wirklich buntes Glas
als Folge hatten, war nur ein Folge des erreichten.
Die beiden Cunos waren mit der Glasherstellung voll ausgelastet und
hatten noch nicht mit den Garcias gerechnet. Wenzel hatte Hannah und
Rahel schon wenige Tage nach der Rückkehr der Steigerthaler von den
Ufern der Wipper zu seiner Mutter gebracht, die die ‚Fremdlinge‘ aufnahm, wie sie einst selbst in Steigerthal aufgenommen worden war, obwohl sie von der Idee, dass Mutter und Tochter bei ihr arbeiten sollten,
gar nicht so sehr begeistert war, weil Cuno ihr natürlich sofort klargemacht hatte, was laut Rahel und Aaron nicht zwischen Hannah und
Wenzel stattfinden durfte; sie konnte sich noch zu gut an die schöne
Zeit erinnern, als sie Cuno für sich hatte und mit ihm die Freuden der
Lust entdeckte. Wenn das Wenzel versagt bliebe, würde er – so dachte
sie – auch nicht stetiger werden als vorher, sondern nur noch wilder.
Aber dann sah sie, wie Rahel auf die beiden Araberstuten auf der Weide
zuging: die Pferde schauten der Frau entgegen, ließen sich an Hals und
Nüstern streicheln und als dann unbekannte, wohlklingende Worte in
einer fremden Sprache den Stuten ins Ohr drangen, legten sie ihre
Köpfe auf je eine Schulter der Frau und schauten zufrieden, wie lange
nicht. „Die hier hat etwas am Huf“, war das erste, was Rahel wieder auf
Deutsch sagte und wies auf die größere der beiden Stuten. „Sie steht
nicht im Gleichgewicht!“ Egbert, in seiner Ehre als Züchter gekränkt,
ging zu den Pferden hinüber, hob vorsichtig einen Huf nach dem anderen, und links vorne fand er dann tatsächlich, dass ein langer Schlehendorn neben dem Hufeisen in das Fleisch des Pferdefußes eingedrungen war. Voller Hochachtung sagte er: „Verstehst du das nur bei Ara-
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berpferden, oder bei allen?“ „Ich weiß nicht, ich habe noch nie mit anderen Pferden zu tun gehabt, aber ich werde es ausprobieren, wenn ich
darf.“ „Du darfst nicht, du musst! Aber zuerst müsst ihr klären, wo ihr
wohnen wollt, denn Hannah und du werdet hier helfen, oder?“ Rahel
nickte, und Anja nickte auch. „Und dein Mann und die jüngere Tochter
helfen im Bergwerk und in der Burg, richtig?“ Wieder ein Nicken. „Dann
lass uns hinuntergehen und ein Haus aussuchen; Ritter Cuno muss natürlich zustimmen, und dann wird unser Zimmermann Franz euch helfen, wenn etwas zu richten ist!“ Er ging los, Anja und Rahel hinter ihm,
Hannah bildete mit Wenzel den Schluss, die Gelegenheit nutzend, dass
die Mütter beschäftigt waren, so dass sie sich wenigstens an den Händen halten konnten. Wenzel stand dazu, auch wenn er wusste, dass das
wegen der vielen Augen im Dorf das Ende vieler kleiner Liebschaften
sein würde. Dieses Mädchen war einfach zu überwältigend!
Sieben Häuser standen leer – Häuser war vielleicht nicht ganz der richtige Ausdruck, aber sie hatten stabil gebaute Wände, das Fachwerk mit
Flechtwerk verschlossen, die Fenster mit Fensterläden, die Dächer waren aus Stroh, der Boden war gestampfter Lehm, aber es gab in jedem
Haus einen gemauerten Herd mit einem gemauerten Kamin, so dass der
Rauch des Feuers nicht im ganzen Haus herumzog. Aaron entschied sich
für eines, das an der gepflasterten Straße zur Burg lag; der Steiger, der
zuvor darin gewohnt hatte, hatte wohl viele Kinder gehabt – daran erinnerte sich Anja – und deshalb über dem eigentlichen Raum noch eine
Galerie eingebaut, auf der Strohsäcke für viele Platz fanden. Rahel gefiel
der Herd, der es ihr ermöglichte, aufrecht stehend zu kochen, statt immer auf dem Boden zu knien. Und die Mädchen fanden es wunderbar,
dass jedes einen eigenen Strohsack haben konnte und Platz für die kleinen Schätze, die man so ansammelt.
Alle sieben zogen zur Burg, begehrten und erhielten Eintritt und baten
um ein Gespräch mit dem Lehnsherren. In der Halle traf man sich. Die
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Spanier schauten sich neugierig um, allerdings vorsichtig, um nicht als
neugierig zu gelten. Die Burg und die Halle waren anders als alles, was
sie kannten: Die Zugbrücke, die den Zugang zum Vorhof verschließen
konnte mit dem Graben darunter, der nicht sehr angenehm roch, denn
das Wasser reichte nicht um den Unrat, der täglich hineinfiel hinweg zu
spülen, die dicken Wände, die in ein neues Tor mündeten und dann der
große gepflasterte Hof mit dem Brunnen in der Mitte, die Stallungen
und Häuschen des Gesindes entlang des Inneren der Burgmauer und
dann die fast majestätische Treppe, die zum Doppelportal der Halle
führte. Und dann die Halle selbst, mit dem riesigen offenen Kamin, der
rechts daneben liegenden Treppe zu den Räumen der ritterlichen Familie, die vielen Tische und Bänke und die vielen, aber verglasten Fenster
– für die Flüchtlinge aus dem Süden, die jahrelang in einer fast verfallenen Kate gelebt hatten, eine neue Welt.
Ritter Cuonrad lief die Treppe hinab und begrüßte sie, dann bat er sie
sich zu setzen und als mal wieder eine Magd neugierig um die Ecke der
Küchentür lugte, winkte er sie mit einem doppelten Ansinnen herbei
und zeigte auf Mirjam: „ Maria, dieses Mädchen hier heißt genau wie
du, nämlich Maria; sie und ihre Familie sind von weit her geflüchtet und
hoffen, bei uns Schutz zu finden. Bring sie in die Küche, stell sie den anderen Mägden vor und schicke sie dann mit einem Krug Bier und Bechern zurück zu uns.“ Maria tat wie befohlen und nahm Mirjam an der
Hand, als ob sie Angst hätte, dass sie verloren gehen könnte.
Die anderen setzten sich. „Rahel hat sich schon mit unseren Stuten unterhalten, und das Gespräch war erfolgreich; Hannah, nein, Anna,
wollte auch versuchen, mit den Pferden zu reden, aber dafür fehlte die
Zeit. Dann haben wir uns im Dorf umgeschaut, und das Haus des ehemaligen Steigers Friedrich, der mit den vielen Kindern, würde den Garcias gefallen. Bist Du einverstanden, wenn sie dieses Haus beziehen und
ich Franz schicke, damit er die nötigen Reparaturen vornimmt?“ „Jede
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vierte Woche erhaltet ihr keinen Lohn, so ist das üblich bei uns, wenn
ihr in einem Haus des Lehnsherren wohnt und den dazugehörigen Garten bewirtschaftet. Aaron, stimmst du zu?“ „Von Herzen gern, wenn es
dann auch noch entlohnte Arbeit für mich gibt.“ Er schaute seine drei
Weibsleute an. Alle drei nickten freudig mit dem Kopf. „Dann ist es entschieden!“ Cuno gab Aaron die Hand, dann auch den drei Frauen. „Du
musst dir für die Leute hier allerdings noch einen anderen Namen für
dich und Rahel aussuchen – es soll ja nicht gleich jeder hören, dass ihr
ursprünglich einer anderen Religion angehörtet!“
Als am Abend Gernot von einem anstrengenden Übungsturnier drüben
in Stampeda zurück kam und sich, noch ungewaschen, mit den andren
Knappen in der Halle niederließ und nach Bier rief, traute er seinen Augen nicht: der Krug, randvoll und schäumend mit Rossknecht-Bier,
wurde von einer Magd gebracht, die er seit Wochen allzu gerne viel näher kennenlernen wollte: dunkeläugig, dunkelhaarig, groß und schlank,
aber reizend gerundet! „Was machst du hier?“ „Es war doch abgemacht, dass Anna im Gestüt und ich in der Burg helfe – nun, und da bin
ich! Und schau nicht so auffällig, die andern Knappen grinsen schon!“
Gernot drehte sich um, und in der Tat, fast alle grinsten. „Gut, Männer,
wer sich über mich lustig macht – Morgen um acht ohne Rüstung, mit
Morgenstern, im Burghof.“ Das Grinsen gefror schnellstens, denn jeder
der Knappen unter Urbans Aufsicht wusste, dass Gernot mit der nagelbesetzten Holzkugel, die mit einer Kette an einem Knüppel befestigt
war, jeden anderen im Wortsinn schlug.
Beim Abendessen ergriff der große Cuno das Wort: „Seit heute ist endlich einmal wieder eine Familie zu uns gezogen und wird in dem Haus
wohnen, in dem noch letztes Jahr der Steiger Friedrich wohnte, bevor
er nach Böhmen gezogen ist. Die Neuen kommen aus Spanien, wo sie
vertrieben wurden. Ramon“, er deutete auf Aaron, „wird in der Glasschmelze zusammen mit Františec arbeiten, seine Frau Eleonor arbeitet
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oben im Gestüt, genau wie die älteste Tochter, Anna; und die jüngere
Tochter, Maria, habt ihr alle hier schon gesehen – dort drüben steht sie,
mal wieder mit einem Krug Bier für euch!“ Die Anwesenden klopften
auf die Tische, die Maria Nahesitzenden auch auf ihre Arme, Beine, Sitzfläche, den Krug. Dann setzten sich Ramon, Eleonor und Anna an einen
der Tische und teilten das Mahl mit den anderen Männern und Frauen
der Burg, wohl wissend, dass sie sonst nur bei besonderen Gelegenheiten in der Halle essen würden.
Salwa beobachtete mit Vergnügen von ihrem erhöhten Platz an der Hohen Tafel, wie sich die unterdessen gewaschenen Knappen darum rissen, die Aufmerksamkeit von Maria zu erhaschen. „Es ist gut, Cuno, dass
auch mal wieder Leute kommen, nicht immer nur gehen, wie das im
letzte Jahr der Fall war! Es sieht fast so aus, als würde Gernot am liebsten noch vor dem Ritterschlag mit Maria die Mannbarkeit probieren:
Siehst du, wie er sie anstrahlt und dauernd versucht, so nahe bei ihr zu
sein, dass er sie berühren kann?“ Cuno musste wie vorhin die Knappen
grinsen: „Er wäre nicht der erste Steigerthal, der sich in ein ganz fremdes Mädchen verliebt! Aber erst einmal muss er nach Erfurt, um von
Friedrich zum Ritter geschlagen zu werden; dann habe ich Ruhe und was
immer geschieht, die Erbfolge, und zwar die richtige, gute Erbfolge ist
dann geregelt, und dann mag er auf Freiersfüßen gehen. Ein Steigerthal
wird wohl immer noch keine Tochter aus einem nachbarlichen Rittergeschlecht freien dürfen, das andere wird sich zeigen.“ „Schau doch mal,
er ist so sehr dein Sohn: so saßest du vor vierundzwanzig Jahren in der
Burg in Pisek und hast mich umworben!“ „Und – bist du dabei schlecht
gefahren?“ grummelte er ein wenig. „Nein, das weißt du“ und drückte
sich an ihn. Vierundzwanzig Jahre! Sie hatte sich nicht vorstellen können
und wollen, wie ihr Leben im fernen Thüringen verlaufen würde. In Pisek war sie umgeben von einem großen Haushalt, der Hochadel ging ein
und aus, ihr Pate, Graf Heinrich stand ‚in loco regis‘, also als Vertreter
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des Königs von Böhmen, und Entbehrung war ein Wort, das sie aus den
Predigten der Bettelmönche kannte, nicht als Erlebtes. In Steigerthal
war sie umgeben von Menschen aller Stände, vor allem aber der niederen, für die Entbehrung an vielen Tagen im Jahr der raue Alltag war.
Von ihren Freundinnen Anja, Adelheid und Hildegard, war nur Hildegard
von Uthleben ‚von Stand‘, und trotzdem hatte sie vorher nie ein solches
Vertrauen zu Freundinnen gehabt, Und ‚Eleonor‘, also Rahel Garcia,
schien schon gut in den Kreis zu passen.
Salwa fühlte sich verantwortlich für das Wohlergehen der Menschen im
Ritterlehen, auch wenn die Ernte schlecht war, wie so oft in den letzten
Jahren. Aber sie hatte ihre Kinder, die ihr mehr als nahe standen, auch
Barbara, die Älteste, die einige Tagesritte weit weg auf Burg Hohnstein
wohnte und außer dem kleinen Walter noch eine bildhübsche Tochter
hatte. Vor allem hatte sie Cuno: Sie hätte nie geglaubt, wie tief ihre Zuneigung zu ihm gehen und dauern könnte, und was sie alles klaglos ertragen würde, um das Leben mit ihm so lange wie möglich zu genießen.
Und ein wenig genießen schien dieses Jahr endlich wieder möglich zu
sein:: Hirse und Gerste waren gut gediehen und hatten reichlich Ernten
erbracht, der Weizen stand voll im Halm und würde bald eingebracht
werden; Wurzeln, Beeren und Früchte waren üppig gereift, so dass die
Furcht vor dem kommenden Winter sehr gering war und man sich ganz
auf die Feste freuen konnte, die anstanden.
Das große Ereignis des Herbstes für die Familie war nach der langen
Knappenzeit auf Burg Steigerthal unter der Ägide des unermüdlichen
Urban Gernots Ritterschlag durch Landgraf Friedrich in Erfurt. Die Lage
in der Landgrafschaft war so ruhig, dass Cuno sogar den Knappenmeister mit nach Erfurt nehmen und Burg und Dorf unter der Obhut Anjas
und Egberts zurück lassen konnte.
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Wie damals, als sie kurz nach Barbaras Geburt das Silber nach Erfurt
gebracht hatten, näherten sie sich der Gera entlang von Norden der
Stadt Erfurt und ritten durch das Andreastor in die Stadt; wieder ging es
gleich nach dem Tor am Abhang des Petersbergs entlang, vor der Domkirche nach rechts ab und den steilen Abhang hinauf zum Petershof,
diesmal aber schafften es die Packpferde, die alles für das Rittermahl
Benötigte mitbrachten, ohne fremde Hilfe zum Klostertor. Die Befehlshaber der Torwachen kannten das Wappen der Steigerthals gut, den
Ritter von Angesicht zu Angesicht, und auch der baldige junge Ritter war
von Turnieren, als Begleiter der Transporte und von vielen Festen her
bekannt. „Willkommen in der Residenz, Herr Ritter, ehrenwerte Dame,
Herr Gernot, lieber Cuno! Landgraf Friedrich erwartet Euch in der Halle
mit den Familien der anderen zukünftigen Ritter. Ihr werdet im Kreuzgang untergebracht; schickt Euer Gesinde mit dem Gepäck dorthin und
die Packpferde mit den Nahrungsmitteln lasse ich zur Küche bringen,
bevor sie ihre Ställe beziehen!“
„Cuonradus von Steigerthal mit seiner Gemahlin und dem Bewerber.“
Friedrich erhob sich von der Hohen Tafel, ging auf die Neuankömmlinge
zu und begrüßte den großen Cuno mit einem kräftigen Schlag auf die
Schulter, Salwa mit einem galanten Handkuss, Gernot und den kleinen
Cuno mit einem kräftigen Händeschütteln. „Es ist schön, dass ihr gekommen seid. Ich freue mich immer, euch zu sehen, und nicht nur als
die Quelle des Wohlstands Thüringens! Aber jetzt ist es besonders wichtig, weil ich doch die Regeln geändert habe, was ein Jüngling können
muss, bevor ich ihn zum Ritter schlage: deine Erfahrungen, Cuno, mit
dem Handrohr lassen uns doch nicht einfach die alten Kampfarten
üben, um dann von irgendwelchen Landsknechte aus dem Sattel geschossen zu werden. Auch diese Waffe muss ein Ritter beherrschen und
morgen werden wir nach dem Tjost zum ersten Mal die Fertigkeit im
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Umgang mit Schwarzpulver bei den Bewerbern um die Ritterwürde sehen können. Kommt, nehmt Platz!“ Die Hohe Tafel des Landesherren
war den Anforderungen gemäß viel länger und breiter, als die in Steigerthal, aber es waren so viele Knappen mit ihren Familien gekommen,
dass es doch eng wurde. Mechthild, Landgräfin von Thüringen, Tochter
des Kaisers Ludwig, rückte ein wenig auf die Seite, so dass ein Diener
einen Stuhl für Salwa neben ihren Stuhl stellen konnte, und die drei
Männer, wenn man den kleinen Cuno schon als solchen bezeichnen
konnte, fanden Platz direkt gegenüber der Fürstenfamilie. Barbara und
Ulrich von Hohnstein wurden noch erwartet, der kleine Walter und sein
Schwesterchen Leila wollten unbedingt beim Ritterschlag dabei sein,
wurde Gernot so doch schließlich zum standesgemäßen Nachbarn der
friedrichtreuen Hohnsteiner, zumindest behaupteten Barbara und Ulrich das.
„In die Bahnen!“ Das war am folgenden Morgen der Befehl aller Knappenmeister und des Turniervogts, Bernhard von Statens, des Knappenmeisters des Landgrafen.
Fünf Knappen waren gekommen, im Tjost ihren Meister auszufechten,
wobei Landgraf Friedrich nicht den Sieg als Bedingung für den Ritterschlag festgelegt hatte, wohl aber eine ehrenhafte Teilnahme und ein
Schießen nach dem Tjost. Die erste Bahn gehörte Gernot und Ulrich von
Sundhausen. Beide waren voll gerüstet, mit Helmbusch, Panzer und
dem Wappen auf dem Wams. Gernot hatte sich von Anja für das Turnier
das einzige schwere Schlachtross, das im Gestüt stand, ausgeliehen. Er
war mit dem Pferd noch nicht wirklich vertraut, saßen die Steigerthals
doch sonst auf leichten, wendigen, schnellen Halbarabern, aber er
hoffte, dass er die wenigen Male, bei denen er gegen die Gegner anrennen musste, das Pferd gut steuern könne. Salwa und die beiden Cunos
warteten auf der Turnierwiese vor dem Andreastor, dass sie sich auf der
Tribüne setzen könnten und lächelten alle drei, als sie beobachteten,
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wie unbeholfen die Knechte die unterschiedlich hohen Bänke aufzurichten versuchten und alle drei dachten, ohne darüber zu reden, an ‚ihren‘
Zimmermann Franz. Ulrich und Barbara von Hohnstein mit ihren Kindern, Landgräfin Mechthild mit den ihren, Graf Wildungen mit Familie,
der sächsische Graf Meißen, ein Cousin des Landgrafen – schließlich
fanden alle Platz und Bernhard von Staten gab das Zeichen. Urban stand
in der Öffnung des kleinen Zeltes auf der rechten Seite der Bahn, sein
Mitstreiter, Gero von Uthleben, Knappenmeister von Sundhausen und
Bruder der Freundin Salwas, in der des Zeltes auf der linken Seite. Auf
ein Hornsignal galoppierten beide Knappen los und ließen ihre stumpfe
Lanze auf den Schild des Gegner krachen. Beide hatten den Auftreffwinkel richtig vorhergesehen, so dass die Lanzen nicht splitterten, sondern
von den Schilden in die ungefährliche Höhe gelenkt wurden. „Gut gemacht!“ Das war der Ruf des Landgrafen. Gernot und Ulrich bremsten
ihre Pferde ab, wendeten und galoppierten erneut aufeinander los.
Diesmal gehorchte das schwere Streitross Gernot nur bedingt: als die
Kämpfer schon fast auf Lanzenweite waren, wollte er mit einem Schenkeldruck die Geschwindigkeit des Galopps erhöhen, aber das Pferd
bremste stattdessen ab. Ulrichs Lanze ging ins Leere, Gernots Lanze traf
ungewollt dessen Streitross an der Satteldecke, ließ den Sattelgurt brechen und der Reiter flog in hohem Bogen auf den Turnierplatz. Gernot
ging sofort in die Riemen, brachte das Ross abrupt zum Halten, befreite
seine Stiefel von den Steigbügeln, glitt vom Pferd und lief hinüber, wo
Ulrich lag, die rechte Hand schon vom Handschuh befreit, um dem Gegner beim Aufstehen zu helfen und sich zu entschuldigen. Doch Ulrich
stieß noch im Liegen mit dem Kurzschwert nach Gernot, der gerade
eben, ohne getroffen zu werden, zurückspringen konnte. Ulrich setzte
sich auf, quälte sich mit einer offenbar ungeheuren Kraftanstrengung
auf die Füße, da die Rüstung doch sehr schwer war, und attackierte Gernot erneut. Der hatte sein Schild beim Pferd gelassen und musste sich
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nun nur mit dem Kurzschwert, das kaum länger war als ein Dolch, verteidigen. Hieb auf Hieb klirrte gegen sein Schwert, an Angreifen war bei
der Wut des Gegners gar nicht zu denken. Gernot schien der Kampf
schon eine Ewigkeit zu dauern, als endlich Ulrichs Kraft nachließ und er
bei einem weiteren Hieb sein Schwert verlor. Nun standen sich beide
gegenüber, einer mit Waffe, einer mit Schild, und beim ersten Aufprall
lag Gernots Schwert an Ulrichs Schild und beide drückten gegeneinander, ohne dass sich etwas bewegte. Bernhard von Staten ließ das Signal
geben, der Kampf galt als beendet, ohne Sieger und Verlierer. Geknickt
trotte Gernot zu seinem Zelt und zu Urban zurück, aber als er am Landgrafen vorbei kam, hörte er ein „Noble Geste“ und sofort besserte sich
seine Laune, allerdings so richtig erst, als er sah, dass auch Ulrich, von
Gero von Uthleben geschickt, zum gleichen Zelt schritt, Gernot die Hand
hinhielt und sich entschuldigte, weil er im Eifer des Turniers das Missgeschick des Gegners für eine unritterliche Finte gehalten hatte. Gernot
griff zu. Beide schüttelten sich die Hände und begannen den ersten Tag
einer langen Freundschaft mit heftigem Geschimpfe auf die dummen
Pferde.
Noch zwei weitere Male musste Gernot auf die Bahn, beide Male hatte
er Glück und blieb siegreich, obwohl die anderen Knappen durchaus ihren Mann standen.
So erwarteten alle für den Abend vor dem Ritterschlag für alle fünf Bewerber ein fröhliches Gelage, gespeist aus den mitgebrachten Vorräten
aller beteiligten Familien, als Heinrich von Hohnstein – Sondershausen,
ein Cousin Ulrichs von Hohnstein und der Landeshauptmann von Thüringen auf dem Petershof eintraf; er überbrachte die freudige Nachricht, dass Karl von Mähren einen Beistandspakt mit Thüringen unterzeichnet habe und die Erfurter Truppen die ersten Burgen der Eidgenossen um Günter von Schwarzburg belagerten. Friedrich öffnete daraufhin seine Keller, und das Gelage wurde feuchter und fröhlicher, als es
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alle erwartet hatten. Nur die fünf Bewerber blieben nüchtern, um das
Schießen am nächsten Morgen gut zu überstehen.
Als Gernot sich nach dem Festmahl zu seiner Zelle begab, die er sich mit
dem kleinen Cuno, der noch in der Halle verblieb, teilte, spürte er, dass
er nicht allein in dem kleinen Raum war. Er hatte es abgelehnt, eine
Kerze oder eine Fackel mitzunehmen, da er meinte, sich in dem winzigen Raum auch so zurecht zu finden, bedauerte aber jetzt seinen Entschluss , allerdings nur für Sekunden, denn die andere Person im Raum
fasste ihn an den Händen, drückte sich an ihn und weiche Lippen fanden
die seinen. „Cuno kommt sicher bald, aber ich wollte dir wenigstens sagen, dass ich stolz auf dich bin!“ „Mirjam, wo kommst du denn her?“
„Anja hat festgestellt, dass ihr die eingelegten Früchte und Nüsse vergessen habt, und das Rittermahl soll doch allen im Gedächtnis bleiben,
deshalb hat sie meine Mutter gefragt, ob ich euch nachreiten könnte.
Und die hat überraschenderweise zugesagt, wenn ich mit Hannah gemeinsam reite. Ja, und Hannah ist jetzt im Stall und schaut nach den
Tieren, und ich schaue nach dem Herrn Ritter in spe!“ Noch nie waren
die beiden so allein gewesen, ohne Beobachter aus den beiden Familien. Und sie nutzten die Gelegenheit nach bestem Können und Vermögen. Als der kleine Cuno, auch er ohne Licht, in die Zelle trat, lagen die
beiden eng umschlungen und tief erfüllt auf Gernots Lager. Cuno war
so müde, dass er sofort einschlief und nicht bemerkte, wie Mirjam nach
einem langen Abschiedskuss, den die beiden Liebenden gerne verlängert hätten, die Tür leise öffnete und zu Hannah in die Stallungen lief.
„Was ist mit Gernot los?“ fragte Salwa den großen Cuno, als der künftige Ritter Steigerthal sich am Morgen durch die Halle zu dem Tisch
durchdrängte, an dem die Eltern frühstückten. „Warum?“ „Er strahlt
so.“ „Oh, dann kriegen wir Probleme mit Ramon!“ „Das verstehe ich
nicht.“ „Ich habe gestern Abend Mirjam und Hannah gesehen, die Anja
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uns nachgeschickt hat, weil wir ein Teil des Festmahls heute Abend vergessen hätten. Und du weißt, dass Gernot schon sehr früh in seine Zelle
zurückgegangen ist, damit er heute gut schießt!“ Salwa wartete, bis
Gernot da war. „Nun, mein Sohn, wie war die Nacht?“ Der Bursche
schaute seine Mutter an, seinen Vater, und dann wurde er rot. „Warum
fragt ihr?“ „Weil wir uns sehr gut ausdenken können, was geschehen
ist. Aber ich habe gefragt, wie die Nacht war!“ „Die schönste Nacht meines Lebens!“ „Gut, dann lohnt sich der Krach mit Aaron“, setzte der
große Cuno trocken nach, griff ein Stück Brot und tunkte es in das dünne
Bier, das als Getränk gebracht worden war. „Hauptsache, deine Hände
zittern nachher nicht!“
Sie zitterten nicht. Jeder Schütze hatte sein eigenes Handrohr mitgebracht und erfüllte die Aufgabe, auf hundert Fuß Entfernung das Bild
eines Streitrosses zu treffen, zur Zufriedenheit des Landesherren. Fünf
Pferdedarstellungen waren schon zerfetzt, als ein sechstes aufgespannt
wurde. Urban hatte nämlich mit Gernot noch mehr vor. Er hatte die
neueste Waffe mitgebracht, die in Steigerthal gegossen worden war:
zwei Fuß lang, der Holzgriff fest mit dem Rohr verbunden, die Kugeln
daumendick. Gernot lud das Rohr und brachte sich hinter einem Holzblock in Stellung. „Das vordere Bein!“ Der Schuss krachte und die Kugel
durchschlug das auf Tuch gemalte Bild am vorderen Schenkel. Gernot
lud erneut. „Der Schweif!“ und wieder ein Volltreffer. Erstaunt und erschrocken wollten jetzt alle Bewerber und ihre Väter die Waffe ausprobieren; vielen gelangen gute Schüsse. Und Landgraf Friedrich war bestens aufgelegt, denn mit diesem Beispiel konnte ihn niemand mehr des
Regelbruchs beschuldigen, weil er in das jahrhundertalte Ritual des Ritterschlags eine neue Übung eingefügt hatte. Und in Zukunft konnte er
erwarten, dass seine ihm ergebenen Lehensmänner nicht nur mit dem
Schwert kämpfen konnten.
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Der Abend gestaltete sich erfreulich: Die besten der von den Bewerbern
mitgebrachten Gerichte wurden serviert, Salwas eingelegte Früchte
und Nüsse wurden weggeputzt, als hätte es noch nichts zu Essen gegeben, Wein und Bier flossen reichlich, und diesmal beteiligten sich auch
die Bewerber – bis auf Gernot. Als Landgraf Friedrich merkte, dass die
Halle doch sehr fröhlich wurde, brachte er mit einem Schlag gegen seinen Silberkelch den Saal zur Ruhe.
„Lasst mich meines Amtes walten und vollziehen, weswegen wir uns
heute hier versammelt haben.“ Die fünf Bewerber traten an die Hohe
Tafel und ließen sich auf das rechte Knie nieder. „Gernot von Steigerthal, hiermit schlage ich dich zum Ritter, auf dass du das Erbe deiner Vorfahren antreten kannst!“ Mit diesen Worten berührte Friedrich mit der
flachen Seite des blanken Schwertes die rechte und die linke Schulter
Gernots, zog ihn aus der knienden Stellung auf und umarmte ihn. Das
Gleiche geschah mit Ulrich von Sundhausen, Gero von Wildungen, Reto
von Meißen und Teško von Tachov, einem der wenigen Böhmen, die
ihre Knappenzeit in Erfurt verbrachten. Und dann feierte die Gesellschaft dem Anlass entsprechend, die guten Ernten und die relativ lange
Zeit des Friedens in Thüringen bedenkend.
Cuno und Salwa schauten sich kurz an und lächelten in sich hinein, als
Gernot sich nach dem Essen sehr schnell entfernte, scheinbar in Richtung der an der Klostermauer liegenden Latrinen, aber, wie beide Eltern
deutlich feststellten, nur scheinbar. „Möge es ihm Glück bringen!“
Steigerthal, Frühjahr 1345
Es war fast wie vor vierundzwanzig Jahren: Franz hatte wieder einen
Pavillon errichtet, mit dem Wappen der Familie an den gekreuzten
Dachbalken, die silberne linksläufige Leiter mit den drei sechseckigen
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Sternen zwischen den Rungen auf blauem Grund. Der Tisch, der als Altar
dienen sollte, stand schon, fest verankert. Salwa, wie damals Ada, legte
gestickte Tücher darüber und stellte das silberne Kruzifix aus der Burgkapelle darauf. Hostien- und Weinkelch waren bereit und glänzten.
Aber alle waren doch viel älter geworden. Ada, der alte Gernot, die Grafen von Pisek, Borislav waren nicht mehr unter ihnen– ihr Fehlen würde
erneut schmerzen. Es wünschte sich allerdings auch keiner dass es wie
damals zu einem Bergsturz käme. Salwa hatte viele Gespräche mit Cuno
geführt: Maria war Mirjam Garcia, eine gute Frau, aus dem Stand der
Freien, aber nicht vom Adel; Gernot liebte sie, sie war Gernot verfallen,
aber standesgemäß war die Ehe nicht. Vielleicht half da die Anwesenheit des wichtigsten Gastes, der durch das Läuten der Glocken unten im
Dorf angekündigt wurde: Landgraf Friedrich von Thüringen, Schwiegersohn Kaiser Ludwigs von Bayern, kam mit seinem Gefolge. „Wir haben
wie immer in Himmelgarten übernachtet und Ono wollte unbedingt
rechtzeitig da sein – es ist wahrscheinlich seine hundertste Trauung,
aber er will wie immer alles richtig machen! Schau – da hinten kommt
er mit zwei Hand voll Mönchen, die ihn beim Singen unterstützen sollen!“ Damit kam er der Nachfrage Salwas zuvor und wies mit einer
leichten Handbewegung auf die Personen, die mit ihm auf dem Festplatz angekommen waren: „Ihr kennt natürlich meine Gemahlin Mechthild, aber es ist das erste Mal, dass die ganze Fürstenfamilie zu einer
festlichen Handlung kommt: meine Söhne Friedrich, Balthasar und der
kleine Wilhelm!“ Cuno verbeugte sich: „Ich danke Euch, dass Ihr uns die
Ehre erweist, zur Hochzeit des Erben von Steigerthal zu kommen. Und
der Dank ist umso tiefer, als wir wohl wissen, dass so mancher in der
Landgrafschaft diese Hochzeit nicht für gut heißt, auch wenn wir Steigerthals schon immer etwas ungewöhnliche Bräute hatten!“ Damit
drückte er die neben ihm stehende Salwa an sich. Ono, der inzwischen
zu der Gruppe getreten war, mischte sich ein: „Ich habe die Braut auf
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ihre Gläubigkeit hin überprüft; sie hatte manchmal etwas andere Ansichten als zum Beispiel der Erzbischof von Mainz,“ was beim Landgrafen nur ein verächtliches Grinsen hervorrief, war Heinrich von Virneburg trotz aller Erfolge des Thüringers doch noch immer sein ärgster
Feind. „Aber da der Eintrag in ein Kirchenbuch, der ihre Taufe beglaubigt, fehlt, hat sie sich bereitwillig ein zweites Mal taufen lassen, so dass
sie eine von Kirche und Welt angenommene Christin ist.“ Cuno und
Salwa wussten sehr wohl, dass nur Ono bereit gewesen war, die Glaubensprüfung und die Hochzeit vorzunehmen, da alle anderen Maria verdächtigten, nur scheinbar eine ‚conversa‘ zu sein und in Wirklichkeit Jüdin. „Und eine Eheschließung im Angesicht des Herren auch zwischen
Liebenden, die aus unterschiedlichen Ständen kommen, ist für das
wachsende Kind eine Gnade, keine Schande!“ Keiner außer dem Abt
hätte so bündig und überzeugend all das, was diese Hochzeit schwierig
machte, beiseite wischen können. Die Anwesenden, die Ono gehört
hatten, nickten zustimmend mit den Köpfen. Nur eine stand etwas abseits und war nicht wirklich überzeigt, Marias Mutter, Rahel oder Eleonor. Aber Aaron hielt sie fest an der Hand und deutete mit dem Kopf
hinüber zu Wenzel und Hannah, die Weihnachten geheiratet hatten,
mit wenig adeligem Besuch, vielen Freunden und Geschäftspartnern
des Gestüts und einer den Sitten der Familie entsprechenden Hochzeitsnacht: jungfräulich war das Mädchen, erfahren der junge Mann.
Und glücklich aneinandergeschmiegt standen die beiden an der Längsseite des Pavillons und blickten erwartungsvoll zur Tür um Halbbruder
und Schwester zu sehen. Ramon ging hinaus um Maria aus der Kemenate zu holen.
Der Ablauf war wie damals: Die Geistlichen nahmen ihre Plätze am Altar
ein, der Mönchschor stehend dahinter, der Abt in einem roten Sessel
davor, aber erst nachdem die Reliquie ehrfürchtig auf dem seidenen
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Tuch abgelegt worden war. Durch das Läuten der Glocken herbeigerufen, betraten die Hochzeitsgäste den Pavillon: Die Hochadligen festlich
gekleidet, am Arm ihre Gemahlinnen, ebenfalls dem Anlass entsprechend geschmückt; man neigte huldvoll die Häupter zum Gruß und
nahm die in der ersten Reihe stehenden Bänke, die eine Lehne hatten
und mit samtenen Kissen gepolstert waren, in Beschlag. Dahinter reihten sich die Ritter in ihren blankgewienerten Rüstungen, aber ohne
Helm, ebenfalls mit ihren Damen ein und belegten die anderen Bänke.
Die Dörfler mussten hinter diesen Bänken stehen – es wäre sonst nicht
genug Platz im Pavillon gewesen.
Als alle ihre Plätze eingenommen hatten, schritt Gernot, auch in voller
Rüstung mit dem Wappenharnisch, durch die Reihen und wartete, nach
einer ehrfürchtigen Verbeugung vor der Reliquie und dem Abt, auf
seine Braut. Sie betrat, den linken Arm in den rechten ihres Vaters eingehängt, das Festzelt und schritt an seiner Seite durch den Gang in der
Mitte zum Altar. Die Mönche sangen ein „Entrate“, Abt Ono stand mit
den ausgebreiteten Armen vor dem Tisch des Herrn. Ramon legte die
Hand Marias auf den rechten Arm des wartenden Gernot. Der lächelte
sie an und strich fast unbemerkt mit zwei Fingern über ihren schon
leicht rundlichen Bauch. Sie lächelte zurück und ihr Glück schien sichtbar. Das lange, weite, eierschalenfarbene Kleid mit den weiten Ärmeln
und dem kleinen, ovalen Ausschnitt ließ ihre getönte Haut noch dunkler
erscheinen, das schwarze, zu einem dicken Zopf geflochtene Haar ging
bis an ihre Hüfte und die schwarzen Augen strahlten in die dunklen Augen Gernots. Ein schönes Paar! Gernot nicht ganz so groß wie sein Vater, aber mit dem gleichen gelockten Haar, die Narbe auf der Wange
immer noch gerötet, aber schon zugeheilt.
Abt Ono begann die lateinische Messe zu singen und zu lesen, die Mönche begleiteten ihn beim „Gloria“, und dann kam wieder der Moment,
auf den alle gewartet hatten: „Si tibi videbitur estam uxorem Maria in
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matrimonium ducere?“ Gernot antwortete: „Sic est!“ „Et tu, Maria, si
tibi videbitur istem vir Gertnot in matrimonium habere?“„Sic est!” Ono
von Wettin nahm das Tablett mit den Ringen, gab Gernot den kleineren,
dann Maria den größeren und ließ sie sich gegenseitig anstecken. Dann
deutete er dem Paar nieder zu knien, segnete es und erklärte auf
Deutsch und Latein: „Hiermit erkläre ich euch zu Mann und Frau, bis
dass der Tod euch scheidet!“ Die Mönche stimmten das „Credo“ an und
dann verließ das Brautpaar den Platz vor dem Altar und schritt ins Freie.
Bei Salwa und Cuno hatten damals die Bergleute eine Gasse gebildet,
heute waren es die Handrohrschützen, die erst vor wenigen Tagen siegreich und fast ohne Verluste unter Urbans Führung nach Steigerthal zurückgekehrt waren.
Landgraf Friedrich hatte nämlich den nächsten Schritt im Kampf um die
Macht im Land an der Thyre noch im Winter unternommen: Mit dem
Erwerb Orlamündes hatte er sich an der Saale von Saalfeld über Jena
bis Naumburg eine starke Festungslinie geschaffen, die er mit den Kräften seiner Getreuen hielt und ausbaute, während die kampfwilligen
Bürger von Erfurt, mit Beute jeweils reichlich entlohnt, die unbotmäßigen Adligen südlich und westlich ihrer Stadt angriffen und niedermachten; Weihnachten lagen die landgräflichen Truppen schon nördlich von
Erfurt vor Burg Vippach, die sie dank der zugefrorenen Burggräben innert zwei Tagen eroberten und so gründlich zerstörten, dass sie dazu
bis Epiphania brauchten. Derweil hielt Friedrich Heerschau in Erfurt ab,
bei der deutlich wurde, wie viel stärker er nun war als noch vor zwei
Jahren: Grafen aus den Häusern Schwarzburg und Hohnstein waren
ebenso zu Wege wie die Vögte von Plauen oder von Weida, und viele
andere mehr. Die beim Ritterschlag Gernots bekannt gewordenen
Bündnisse mit Heinrich von Hohnstein-Sondershausen und mit Markgraf Karl von Mähren hatten Bestand gehabt. Und so gelang es den
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Truppen Friedrichs, ein Widerstandsnest nach dem anderen auszuräuchern. Gernot war mit seinen Schützen auf ihren schnellen, leichten
Pferden nie im Getümmel zu finden, sondern sicherte Angriffe oder bildete Verteidigungslinien, aber er war den ganzen Winter dabei gewesen. „Wenn wir jetzt noch Kahla, Stadt und Burg, in unsere Gewalt bringen, unterbinden wir die ständigen Scharmützel und die Angriffe auf die
Handelszüge auf dem Weg nach Erfurt. Sie sind Lehen Günters von
Schwarzburg – zum Teufel mit ihm!“ Friedrichs Worte konnten schnell
umgesetzt werden, denn schon vor Sankt Jakobus fiel die Festung nach
dreitägiger Berennung in die Hand der Thüringer.
Gernot hatte die Schützen unter dem Befehl des sowieso viel erfahreneren Urban zurückgelassen und war an einem kleinen Seitenfluss der
Saale entlang nach Norden zu geritten um eine günstige Stelle für den
nächsten Angriff auszusuchen. Als er, nur durch einen leichten Harnisch
und die eisenbeschlagene Kappe der Schützen geschützt und mit dem
Kurzschwert bewaffnet, sein Pferd am Ufer des Baches auf und ab laufen ließ, um eine Furt zu finden, wurde er plötzlich von einer ganzen
Reihe Behelmter umringt, so dass ihm nur der Ausweg durch den Bach
blieb. Gerade als der Hengst am anderen Ufer auf festen Grund treten
wollte, rutschte er weg und schleuderte Gernot aus dem Sattel ins Wasser, immer noch mit einem Fuß im Steigbügel. „Das ist einer der verfluchten Schützen – schießt ihn ab und dann verschwinden wir!“ Der
Pfeil einer Armbrust schlug in Gernots Wange, Gernots Kopf sank unter
Wasser, das sich rot färbte und die Behelmten stoben davon. Das Pferd
fasste endlich festen Grund und stieg aus dem tieferen Wasser des Baches, wobei es den Verwundeten mit aufs Trockene zog.
Stunden später schickte Urban ein paar Steigerthaler los, weil Gernot
nicht zurückgekommen war. Einer der Schützen fand den jungen Ritter,
leblos am Bach liegend; das Pferd hatte den Fuß des Gefallenen nicht
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aus dem Steigbügel schütteln können und war deshalb stehen geblieben und hatte angefangen, das saftige Gras zu fressen. Die Wunde sah
schlimm aus, denn der Armbrustpfeil war durch die Wange gegangen
und im offenen Mund zwischen den Zähnen Gernots stecken geblieben;
eine Blutlache um den Kopf und die aus dem Mund ragende Pfeilspitze
ließen Schlimmstes befürchten. Der junge Schütze ließ sein Pferd Anlauf
nehmen, setzte über den Bach und glitt neben Gernot auf die Knie.
„Gernot! Was ist? Kannst du mich hören?“ Dann fiel ihm ein, was er
gelernt hatte und er legte Zeige- und Mittel- und Ringfinger der linken
Hand erst an seine Kehle und suchte, bis er merkte, dass sein Herz
schlug, dann tat er das Gleiche an eben der Stelle bei Gernot und fühlte
eine leichte Bewegung. Er legte eine Hand unter den Kopf, die andere
unter die Schulter und wollte Gernot in eine sitzende Position heben,
als der sich plötzlich als Wasserspeier betätigte, was ihm ganz offensichtlich große Schmerzen bereitete, da der Pfeil durch das Herauswürgen des Wassers hin und her bewegt wurde. Ob es die Befreiung von
einem Teil des geschluckten Wassers oder die Schmerzen waren – er
öffnete die Augen, sah das bekannte Gesicht des Schützen und fiel in
Ohnmacht. Der Bursche legte Gernot wieder auf den Boden, löste den
Fuß aus dem Steigbügel und gab dem Pferd einen Klaps auf den Hintern.
Das verstand den Hinweis gut, überquerte den Bach und galoppierte
davon. Der Steigerthaler hoffte sehr, dass auch das Pferd sich an das
erinnern würde, was man ihm beigebracht hatte: zu den anderen Pferden zurückkehren und dann Aufmerksamkeit erwecken.
So geschah es: Urban erkannte den Sattel Gernots, saß auf und folgte
dem Hengst des jungen Ritters mit einigen Leuten bis zum Ort des
Scharmützels. Da Gernot noch immer bewusstlos war, konnte der Knappenmeister die Verwundung genauer untersuchen und stellte fest, dass
es nur eine große Fleischwunde war. Er zerbrach den Pfeil, zog eine
Hälfte aus der Wange, die andere aus dem Kiefer, ließ den Schützen
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Spitzwegerich suchen und legte die Blätter innen gegen die Wunden
und den Brei aus zerquetschten Blättern außen auf sie. Dann hob er
Gernot auf seine Arme, watete durch den Bach und stieg vorsichtig auf
sein Pferd, gestützt von dem Burschen. Dann trabten sie langsam zurück
zur Truppe. Ein Proviantwagen wurde geleert, rasch gesammelte Blätter und Gräser darauf gehäuft und als Gernot hineingebettet worden
war, ging es in Richtung Steigerthal, da Urban glaubte, dass Adelheid
die Genesung herbeiführen könnte und man nicht die gelehrten Mönche bräuchte.
Und jetzt stand Gernot mit seiner ihm eben angetrauten Frau vor dem
Pavillon und schritt die Gasse seiner Schützen entlang. Bei einem hielt
die junge Frau, dankte nochmals und ging weiter, bevor der über und
über errötende Bursche etwas sagen konnte.
Landgraf Friedrich von Thüringen, Markgraf von Meißen versicherte
Gernot des Lehens, überreichte ihm außer den Urkunden einen schweren Ring mit dem Wappen der Steigerthals und erhob ihn zum Baron,
Maria zur Baronin. Seine dicke Frau Mechthild hatte unterdessen Maria
in ihre Arme genommen und wünschte ihr gesunde Kinder und dass sie
ihren Gatten nie vermissen sollte! Onkel Gernot, Cunos Bruder, brachte
als Hochzeitsgabe eine Familie böhmischer Glasmacher, die sich im Dorf
ansiedeln wollten und die Einladung, ihn in Selb zu besuchen. Ulrich und
Barbara von Hohnstein wünschten Bruder und Schwägerin viele gesunde Kinder und brachten das Bild einer mit Intarsien geschmückten
Wiege: „Wir wollten nicht mit der Wiege ins Kinderzimmer oder mit der
Tür ins Haus fallen, aber die Wiege wird eben bei euch oben in der Kemenate abgestellt, so dass sie da ist, wenn ihr sie braucht – in ihr hat
schon Ulrichs Großvater selig geschlafen. Und ab und zu musst du das
Kind ja auch los lassen!“ „Ich weiß“, antwortete Maria, „ dass ihr eure
Kinder immer bei euch habt und sie selbst stillt, und das ist für mich das
Übliche – auch meine Mutter hat es nie anders gehalten! Danke für die
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Fürsorge und die Wiege!“ Cuno und Salwa nahmen beide einfach in die
Arme, wünschten viel Glück und äußerten den Wunsch, dass auch Gernot sich eher dem Berg als dem Krieg widmen möge, was Maria nur bestätigen konnte. Und der kleine Cuno überbrachte sein Meisterwerk:
ein Dutzend gleicher Gläser, weiß und klar, auf einem silbernen Tablett.
Die nachbarlichen Ritter brachten Schmuck und allerlei Zierrat („Sonst
habt ihr ja schon alles!“), die die neue Kemenate, die Franz und Gernot
aus den Räumlichkeiten der vor Jahren verstorbenen Großmutter Ada
geschaffen hatten, schmücken sollten. Anja und Egbert überbrachten
die Wünsche aller auf dem Gestüt und schenkten den Brautleuten einen
Araberhengst und eine Araberstute aus eigener Zucht. „Du darfst sie
aber nicht im Damensattel reiten“, sagte Anja zu Maria, „Da wirft sie
dich sofort ab, aber sonst kannst du ihr vertrauen bis kurz vor der Geburt!“ Adelheid versprach beste Betreuung von Mutter, Kind und Mann
und überreichte ein großes Glas eingelegter Früchte „Nur für Heilzwecke“ und jeder der Gratulanten freute sich ganz offen, dass die Geschicke von Burg, Dorf und Land nun auch in Zukunft gesichert waren.
Das Festmahl wurde nach allen Regeln zelebriert, mit spanischen Vorspeisen, mit Thüringer Spezialitäten, mit böhmischen Knödeln, und als
Essen und Trinken die Geladenen erst einmal gesättigt hatten, kam die
Überraschung: Ramon, gekleidet in schwarze Kniehosen, eine schwarze
Weste über einem offenen weißen Hemd und mit einem breitkrempigen schwarzen Hut, stellte sich an die linke Säule vor dem Fenster nach
Westen, durch das die letzten Sonnenstrahlen fielen und nahm einen
Gegenstand zur Hand, wie ihn keiner der Gäste bisher gesehen hatte:
ein Holzkörper, fast wie eine Frau mit schmaler Taille und einem sehr
langen Hals, mit vielen Saiten bespannt. „Mi guitarra“, sagte er nur,
stellte einen Fuß auf einen Schemel, legte die Gitarre auf, und fing an
zu spielen. In Sekunden war absolute Stille in der Halle und alle lausch-
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ten den fremden, faszinierenden Klängen des Instruments. Nach wenigen Minuten fingen Maria, Anna und Eleonor an, leise im Takt mit zu
klatschen und der ganze Saal, vom Landgrafen bis zum letzten Knecht,
schloss sich an, immer der Musik folgend. Als Ramon das Stück beendete, sich aufrichtete, die Gitarre am Hals haltend, brandete Jubel auf.
Selbst der eigentlich so ernste Landgraf stimmte begeistert ein: „So etwas habe ich noch nie gehört! Das ist doch der Vater der Braut, oder?
Cuno, kann ich den mitnehmen nach Erfurt?“ Der Hausherr lachte lauthals ob der Begeisterung seines Lehnsherren und setzte dann hinzu:
„Ihr wisst doch, dass die Menschen in Steigerthal frei sind – da müsst
Ihr ihn schon selbst fragen!“ Friedrich ging hinüber zur Säule. „Willst du
als Musikant an meinen Hof kommen? Du kannst in Erfurt auf dem Petersberg wohnen und ich bräuchte dich drei oder vier Mal in der Woche
– ansonsten kannst du üben…“ Ramon schaute den Landesherren mit
großen Augen an. Musiker – das, was er schon immer sein wollte! Weg
aus der Hitze der Glasöfen! Weg aus der dörflichen Enge in Steigerthal!
Weg auch von seinen Töchtern? Weg von Rahel? Würde er als Musiker
nicht so bekannt in der Landgrafschaft, dass ihrer aller Sicherheit wieder gefährdet wäre? Hatte er sich nicht schon genug gefährdet, als er
die ersten Silbermünzen, die er ersparen konnte, einem jüdischen
Händler mitgegeben hatte, der ihm aus Spanien die Gitarre besorgen
sollte – und der sie tatsächlich nach Steigerthal brachte? „Überleg‘ es
dir! Deine Frau findet bei uns auch ihren Platz. Ihr seid doch Iberer, oder?“ Als Ramon nickte, fuhr Friedrich fort: „Bei mir wäret ihr sicher,
sicherer als hier versteckt. Aber, wie Cuno sagt, du bist frei, du entscheidest“, und wandte sich schmunzelnd ab. Ramon schaute sich hilfesuchend um und fand sein Weib, Eleonor, in einer Gruppe heftigst debattierend: Anja, Egbert, Wenzel, Anna und Abt Ono standen in der Ecke
neben dem verdeckten Kamin und Ramon sah die gestikulierenden
Hände, die heftig bewegten Gesichtsausdrücke und ging hinüber zu den
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fünfen. „ Ich brauche dich hier!“ Das war Anja zu Eleonor. „Ich war noch
nie lange ohne dich!“ Das war Anna zu ihrer Mutter. „Friedrich hat recht
– wenn ich irgendwann nicht mehr behaupten kann, dass ihr gläubige
Christen seid, weiß ich nicht, was passiert: Du, Eleonor, kannst mit Pferden sprechen; dein Mann macht eine Musik, wie sie noch nie jemand
hier gehört hat; eine Tochter hat den Erben des wohlhabendsten Gestüts in Thüringen geheiratet, die andere heute einen auch nicht armen
Adligen – es sind schon viele Menschen in die Hände der Inquisition gefallen, denen man weniger vorgeworfen hätte.“ Alle schauten Ono entsetzt an. Ramon mischte sich ein: „Wir können doch erst einmal mit
nach Erfurt“, sagte er zu seinem Weib. „Du schaust noch einmal nach
den Pferden, und dann sehen wir uns Petersberg und Erfurt einmal an
– die Mädchen haben jetzt ihr eigenes Heim, und besser als das Haus
im Dorf, nicht zu reden von der Köhlerkate. Und du, Anja, hättest doch
sicher auch ein Plätzchen für uns, wenn wir für Tage, Wochen oder für
immer zurückkommen, oder?“ Die nickte nur, hatte sie sich doch sehr
schnell daran gewöhnt, dass Eleonor bei Schwierigkeiten mit den Tieren
schnelle Hilfe oder zumindest schnelle Auskunft geben konnte, auf die
sie ungern verzichten würde. „Dann ist es so beschlossen! Herr“,
wandte er sich an den Landgraf, „wir kommen mit.“ „Gut! Darauf nehmen wir einen Schluck aus den Gläsern, die Cuno hergestellt hat – so
klares Glas sah ich noch nie!“
Dann wurde Ramon gedrängt, noch einmal zu spielen und die Krüge
kreisten und bald wurde die Gitarre von Laute, Schalmei und Rassel verdrängt, die zum Tanz aufspielten, wie die Leute es kannten.
Das junge Paar war unterdessen in sein neues Heim geschlichen, wo
sich die beiden zum ersten Mal ohne Bedenken, ohne Gedanken an
Sünde und ohne Furcht vor Entdeckungen dem Spiel der Liebe hingaben. Gernot hatte im Herbst der landgräflichen Magd in Erfurt das La-
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ken abgekauft, das noch den Blutfleck von Marias erster Nacht bewahrte, und als er es später vor die Schießscharte hing, kam er grinsend
zurück und flüsterte seiner Liebsten ins Ohr: „Ich weiß fast alles – ich
weiß zum Beispiel, dass unser erstes Kind schon nach kaum mehr als
einem halben Jahr Schwangerschaft geboren werden wird und trotzdem so groß ist wie ein Kind, das neun Monate im Leib der Mutter war!“
Maria schmiegte sich kichernd an ihn, führte seine Hände über das
kleine Bäuchlein und verirrte sich dann mit seinen und ihren Händen.
Ihre Schwester Hannah hatte kurz vor dem Verlassen der Köhlerkate
wie immer als Junge verkleidet die letzte Holzkohle an das öffentliche
Badehaus in Nordhausen geliefert und ihrer Schwester brühwarm erzählt, was sie in der Badestube gesehen hatte, in die sie zum ersten Mal
hinein musste: Da waren einige hölzerne Zuber, voll mit heißem Wasser; in der Mitte war ein Brett darüber gelegt, so dass man Essen, Trinken und Badesachen wie Schwamm oder Seife darauf ablegen konnte.
Und fast jeder Zuber war belegt mit einem nackten Mann und ein oder
zwei nackten Hübschlerinnen; nur in einigen wenigen saß ein Mann und
wusch sich. Zwischen den Wannen liefen Mägde mit Eimern umher, aus
denen sie heißes Wasser nachschütteten. Das wurde auf den Holzkohlebecken, die im Raum verteilt waren, erhitzt. In einem Zuber lag ein so
dicker Mann, dass man das Brett weggeräumt hatte, damit die Frau auf
ihm herumturnen konnte; in einer anderen Wanne schien sie nur auf
seinem Schoß zu sitzen, aber sein Stachel war in ihr und er streichelte
ihr über das Geschlecht, während sie sich stöhnend auf und ab bewegte; im dritten Zuber lagen beide mit geschlossenen Augen, ihre
Schenkel über den seinen, und beide bewegten sich langsam; in einer
Wanne am einen Ende saß der Mann auf dem Brett, während eine Frau
sein Geschlecht im Mund hatte und daran zu saugen schien und die andere ihn an ihren Brüsten spielen ließ; in der anderen Ecke saß ein Man,
der sich schmerzverzerrt den Bauch hielt und dem der Bader Blutegel
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auf die Arme und Beine setzte, um den Überfluss an Blut zu verringern,
während neben ihm der Gehilfe des Baders einem anderen Mann Bart
und Haare schnitt. All das hatte Hannah und Mirjam erst erschreckt und
dann beschäftigt, und als Mirjam ihre Schwester einige Tage nach deren
Hochzeit fragte, antwortete diese: „Versuche all diese Dinge, es lohnt
sich!“ und war nicht bereit mehr zu sagen. Und jetzt hatte sie Zeit und
Muße, dies und noch mehr mit Gernot zu probieren.
Salwa und Cuno waren noch lange in der Halle geblieben. Nachdem
Gernot verschwunden war, blieben sie als Gastgeber zurück. Der Landgraf hatte sich längst zurückgezogen und Abt Ono mit seinen Mönchen
müsste schon fast wieder in Kloster Himmelgarten angekommen sein.
„Außer uns dreien, Anja und noch ein, zwei anderen weiß niemand um
den Zustand Marias. Sorgt dafür, dass es so bleibt. Sie ist, wie ihre ganze
Familie, auch so schon verdächtig genug!“ Das waren seine Abschiedsworte.
Als beide endlich die letzten Gäste verabschiedet hatten und der Rest
sich zum Schlafen auf die Bänke entlang der Hallenwände rollte, gingen
beide Hand in Hand die Stufen zur Kemenate hinauf. Als Cuno die Tür
öffnete, nahm er einen ungewohnten Duft wahr und sah, dass die Tür
zum Bad offen stand. „Ich dachte, dass ein heißes Bad uns jetzt gut tun
würde! Da können wir dann auch gleich das Duftöl ausprobieren, das
Eleonor uns aus Spanien bringen ließ.“ Sie nahm die goldene Kette ab,
die Cuno damals für sie auf der Kramerbrücke in Erfurt erstanden hatte
und löste die schwere Haarflechte. Cuno war gleich hinter ihr und löste
die Verschnürung des Mieders, liebkoste ihre Brüste mit den Händen
und küsste ihren Nacken. Als ihr Kleid ganz gefallen war, drehte sie sich
um und knöpfte sein Hemd auf, löste den Gürtel und versuchte, seine
Beinkleider herunterzuschieben, was nicht ganz einfach war, weil Cunos
Glied sich aufgerichtet hatte und nur unter Mühen und Gekicher zu befreien war. „Komm!“ Sie nahm seine Hand, zog ihn ins Becken und lies
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sich wohlig stöhnend in das heiße Wasser gleiten. Mit geschlossenen
Augen lagen beide nebeneinander und ließen die Anspannung des Tages sich auflösen. Als das Wasser kühler wurde, stand Cuno auf, zog
Salwa an sich und trocknete sie vorsichtig ab. Dann nahm er sie auf
seine Arme und trug sie, mit der Nase über ihre Schulter streichend,
hinüber zum Bett. „Du riechst so gut – aber das ist nicht Eleonors Duftöl,
das ist Salwa, ganz einfach Salwa.“ Als sie aneinandergeschmiegt unter
der leichten Decke lagen, strich er mit dem Nagel seines linken Zeigefingers über ihre Fußsohle, die Wade, die Außenseite des Schenkels,
hinauf über Becken und Hüfte, an ihrer rechten Brust vorbei bis zum
Nacken und freute sich, dass sie leicht schauderte. Dann wieder vom
Fuß nach oben, diesmal an der Innenseite des Beins und über ihr Geschlecht. Beim vierten Mal griff sie nach ihm, drückte ihn auf den Rücken, kniete mit gespreizten Schenkeln über ihm und schob ihm die
Brüste entgegen, die er mit Händen und Zunge umspielte. Dann glitt sie
langsam tiefer und nahm ihn in sich auf, bis ihre Büsche bei jedem Stoß
aneinander rieben. „Jetzt sind wir so alt und es ist immer noch so
schön“, sagte sie, nachdem sie sich aufbäumend erfüllt hatte und Cuno
mit wenigen Bewegungen auch zu Ende gekommen war. „Wenn mir einer vor zwanzig Jahren gesagt hätte, dass wir das immer noch so gerne
tun, hätte ich ihn als dreisten Lügner bezeichnet!“
Weißenfels, Sommer 1346
Das rote Siegelwachs tropfte auf das Pergament. Friedrich von Thüringen aus dem Hause Wettin drückte als erster seinen Ring in das weiche
Wachs: der aufrechtstehende Löwe mit erhobener Tatze schaute nach
links, dorthin, woher das Schicksal kommt. Günther von SchwarzburgArnstadt drückte seinen Siegelring mit mehr Kraft direkt daneben in das
Wachs, das bereits fest zu werden drohte: der aufrechtstehende Löwe,
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die Vordertatzen kurz über den Knien verharrend, schaute den Betrachter direkt an. „Wir Wettiner versuchen, die Zukunft zu erkennen und
dann zu meistern; Ihr, Günther, scheint einfach abzuwarten, was geschieht – ist das nicht die Aussage unserer Siegel?“ Damit schob er das
recht lange blau-rot-gold geflochtene Band, mit dem die Siegel an dem
Dokument festgemacht waren, so hin, dass er lesen konnte, was die Urkunde enthielt. Der Kanzler des thüringischen Hofs trat vor und verkündete laut, so dass alle Anwesenden es hören konnten, die wichtigsten
Beschlüsse: „Friedrich, genannt der Ernsthafte, Landgraf von Thüringen,
Markgraf von Meißen, Fürst zu Saalfeld, vielfach Graf und Herr, bekundet hiermit, dass Günther, Graf von Schwarzburg-Arnstadt, Sohn und
Erbe des Hauses Schwarzburg die Dornburg und die Gebiete um sie von
mir zu Lehen nimmt und mir damit treuen Dienst zu leisten sich verpflichtet. Dafür tritt er die seinen Stammlanden fern liegenden Grafschaften Kahla und Greifenberg an das Haus Wettin ab und erhält für
die ihm vorgeworfenen Taten des Aufstandes Vergebung und als Entschädigung einen Sack thüringischen Silbers. Gleichzeitig schwört besagter Günther, keinerlei Bündnis gegen den Landgrafen mehr zu
schmieden und hinfür keine Truppen mehr gegen ihn zu führen.“ Er
wurde von dem aufbrausenden Lärm unterbrochen, denn alle Parteigänger Friedrichs, und viele der Anhänger Günthers, klopften auf Tische
und Bänke, weil ihnen der Friedensvertrag gerecht schien und den jahrelangen Krieg beendete, ohne dass eine Seite die andere völlig besiegt
hätte; der Ehre war Genugtuung geleistet. Der Landgraf hatte seine
Macht entlang der Saale fast bis an deren Mündung in die Elbe ausgebaut und herrschte nun unangefochten zwischen Saale und Harzgebirge; die aufrührerischen Adeligen blieben straffrei und konnten ihre
Lehen als Erbe betrachten, so dass der Besitz eines Einzelnen nur dann
an den Landgraf fiel, wenn er ohne Erben verstarb; und dieser Erbe
musste nicht ohne Fehl und Tadel sein, denn Günther von Schwarzburg
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war ja auch als uneheliches Kind seines Vaters geboren und erst durch
spätere Heirat der Mutter mit dem leiblichen Vater ‚ehrsam‘ geworden.
„… Gesiegelt am Tage des Heiligen Ladislaus.“ Dieser Satz des Kanzlers
war wieder zu hören gewesen. Die Zuhörer drängten aus dem Refektorium des Klarissenklosters in Weißenfels hinaus in den Kreuzgang, wo
unterdessen Speis und Trank aufgefahren worden war und taten sich
gütlich. Friedrich und Günther waren an dem Tisch der Äbtissin stehen
geblieben, nur begleitet von wenigen Getreuen, unter ihnen Ono von
Himmelgarten, Walter von Hohnstein und der große und der kleine
Cuno von Steigerthal. „Ich glaube, du kannst Deine Schützen vom Dach
holen lassen“ sagte Friedrich, an letzteren gewandt. Günther schaute
unsicher zwischen den beiden hin und her: „Habt Ihr mir so wenig Ehrgefühl zugetraut, dass Ihr glaubtet, mir eine Falle stellen zu müssen?“
erregte er sich. „Euch nicht, aber einigen Eures Raubgesindels – vergesst nicht, dass diese Spießgesellen erst kürzlich versucht haben, das
Kloster meines Neffen Ono auszurauben! Und ohne die steigerthalschen Schützen hätten sie das auch geschafft.“ Günther neigte den
Kopf: „Das macht das Kriegshandwerk zu einer solch misslichen Sache
entweder dir fehlen Männer oder du hast Verbündete, die du am liebsten gar nicht haben möchtest!“ „Wenn wir schon von Verbündeten
sprechen: was denkt Ihr über das Ansinnen meines Verbündeten, Karls
von Böhmen, sich gegen Kaiser Ludwig zum König wählen zu lassen?“
„Ich diene, genau wie Cunos Bruder Gernot, seit vielen Jahren immer
wieder Kaiser Ludwig, dem Bayern. Er hat Fehler gemacht, den Streit
mit dem Papst nicht aus der Welt geschafft oder gar das Papsttum aus
der avignonesischen Gefangenschaft befreit; er hat genau das, was Ihr
und ich heute besiegelt haben, nämlich die Einschränkung des Hausbesitzes eines jeden Adeligen, nicht geachtet und versucht, für sein Haus
Wittelsbach immer mehr und mehr zu gewinnen. Aber er ist ein guter
Mensch und könnte ein gerechter Herrscher sein, wenn der Papst ihn
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denn ließe. Karl dagegen“, er schaute Cuno dabei an „ist ein junger, vom
Papst, seinem ehemaligen Lehrer, gesteuerter Bursche, der Frömmigkeit vortäuscht um die Hilfe der Kirche zu erlangen. „Das ist nicht wahr“,
polterte Cuno los, „ich kenne ihn nun schon seit ich zum Ritter geschlagen wurde. Er ist fromm, mir manchmal zu fromm, und er arbeitet mit
dem Papst Hand in Hand. Damit ist er mir aber lieber als der als Ketzer
aus der Kirche ausgestoßene Kaiser, dessen Ketzereien viel Unruhe und
Unglück über das Reich bringen!“ „Wenn der Böhme sich gegen Ludwig
wählen lässt, dann werdet Ihr, Friedrich, als Ludwigs Schwiegersohn oder auch Ludwig von Brandenburg als Sohn des Kaisers doch gegen Karl
antreten, oder?“ „ Ludwig von Brandenburg sicher nicht, weil er wegen
der Ehe mit Margarete Maultasch wie sein Vater als Ketzer gebannt ist,
und ich nicht, weil ich des Kaisers Vorgehen für falsch halte und den
Böhmen als Nachbarn und getreuen Verbündeten kenne. Wie wäre es
denn mit Euch, Günther?“ „Ein thüringischer Graf gegen den König von
Böhmen? Vergesst das!“
Sie hätten sicher noch weiter hin- und her geredet, wenn vom Kreuzgang kommend nicht Lärm aufgebrandet wäre und eine Gruppe von
Menschen, eindeutig an den Schläfenlocken der Männer und den Hauben der Frauen als Juden zu erkennen, sich nicht durch die Menschen
zu drängen versucht hätte. Als sie vor dem Refektorium ankamen, fielen
sie auf die Knie und der Älteste rutschte auf Landgraf Friedrich zu:
„Herr, wir sind Juden, deine Zinsknechte, und haben immer unseren
Obulus entrichtet. Jetzt ist eine Meute böser Menschen hinter uns her,
vor der wir aus der Jüdengasse dort hinter der Klostermauer über den
Marktplatz hierher geflüchtet sind, um wenigstens unser Leben zu retten, während diese Menschen unser Hab und Gut plündern – seht nur,
es brennt schon!“
Die Herren sahen und rochen den Rauch wohl, auch die angegeben
Richtung stimmte. „Cuno, eine Salve über die Köpfe der Meute, dann
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laufen wir sofort hinüber und gebieten Einhalt! Ihr bleibt hier.“ Das war
an die Juden gerichtet.
Günther und Friedrich liefen voraus, beide kannten die Stadt gut. Sie
trugen, genau wie die anderen Adeligen, zwar nur die Zeremonienschwerter und keine Rüstung, aber der Anblick der herbeistürmenden
Waffenträger genügte dem plündernden Pöbel, um sich schleunigst zu
verziehen. Dann krachte die Salve der Handrohrschützen und über Kloster, Marienkirche und Marktplatz sank Stille, nur unterbrochen vom
Schluchzen eines Mädchens, das mit zerrissenem Kleid auf einer
Schwelle hockte und von dem die Peiniger wohl erst nach der Salve abgelassen hatten. Friedrich kehrte, nachdem er den Schaden begutachtet hatte, ins Kloster zurück und sandte einige seiner Leute los, um die
Rädelsführer herbei zu schaffen und die Zünfte zum Löschdienst zu befehlen.
Das Refektorium, eben noch Schauplatz der Besiegelung des Friedensvertrages, wurde nun zum Gerichtssaal. Friedrich und Günther nahmen
hinter dem Tisch der Äbtissin Platz, die Juden hockten auf der rechten
Seite, die in Ketten und Fesseln herbeigeführten Aufrührer wurden an
die linke Seite geschickt.
Friedrich rief den städtischen Büttel zum Bericht: „Ich weiß, dass die
Bürger von Weißenfels einige Gerichtsrechte erworben haben, auch
durch treue Dienste. Aber diese Tat heute richtete sich gegen thüringische Juden, die der Kaiser mir zum Eigentum gegeben hat. Deshalb
werde ich richten. Sprich!“
Ottfried, der Büttel fing stotternd an, bevor er sich vom Erzählten mitreißen ließ und verständlicher sprach: „Seit letzter Woche sind ein Dutzend Ziegen, Kälber und Schweine verreckt, wir dachten erst, dass mit
dem letzten Heu etwas nicht in Ordnung war. Und dann hat der dort“
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und damit deutete er auf einen der Gefesselten, „heute Morgen gesehen, wie sich der alte Jude dort drüben am Marktbrunnen zu schaffen
machte. Als der brave Bürger dieser Stadt mit Wasser aus dem Brunnen
daheim ankam und das Wasser seinen Kindern zu trinken gab, wurde
allen übel und abwechselnd kalt und heiß. Deshalb sind die wütenden
Nachbarn dieser Familie und einige, die ihre Tiere verloren haben, mit
der Familie in die Jüdengasse gezogen, und als die Juden alles leugneten, haben die Bürger die Sache selbst in die Hand genommen.“
Bei vielen im Saal regte sich deutlich Unmut ob der Missetat der Juden,
doch Friedrich gebot dem Raunen Einhalt. „Rabbi“, sprach er den ältesten der Juden an, „berichte du deine Sicht der Dinge.“ Der Alte erhob
sich mühsam, fiel auf die Knie und jammerte: „Ich war heute Morgen
an Brunnen, das stimmt, aber ich habe nur Wasser geholt, denn das
Wasser aus dem Brunnen in der Jüdengasse macht seit gestern uns alle
krank. Mein kleines Großkind hat heftiges Fieber bekommen und meine
kranke Muhme ist seit gestern deutlich kränker als vorher. So ist es auch
in den anderen Familien, und deshalb habe ich Wasser aus dem städtischen Brunnen geholt.“
Friedrich, Günther und einige andere sahen sich entsetzt an. „Beschreibe die Krankheit deines Großkinds!“ „Der Junge ist erst wenige
Jahre alt und gestern noch fröhlich durch die Gasse gehüpft. In der
Nacht bekam er schlimme Kopfschmerzen, dann taten ihm auch noch
alle Gelenke weh, er ist so heiß, dass wir ihn mit feuchten Tüchern kühlen müssen, damit er nicht verbrennt, und nun bilden sich an seinem
Hals dicke Beulen – seht selbst!“ Er stand auf und schlurfte in eine Ecke,
wo er der verängstigten Mutter das Bündel mit dem kranken Kind abnahm und auf die Herren zuging. „Bleibt, wo ihr seid!“ donnerte Günther. Der Rabbi ließ vor Schreck das Kind fallen, das nun jämmerlich
schluchzte und schrie, auch als es wieder in den Armen der Mutter lag.
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„Sünder. Die ihr alle seid, geht in die Kirchen und betet zu Gott, dass er
euch vor weiterem Schaden bewahre und kümmert euch um eure Geschicke; die Rache ist des Herrn und seine Barmherzigkeit vermittelt uns
der dreieinige Gott durch den Sohn!“ Viele Ritter starrten Ono von Himmelgarten an, als der unvermittelt diese Worte rief, bekreuzigten sich
aber doch und die ersten wandten sich zum Gehen.
„Büttel, wen siehst du als Schuldigen?“ Das war wieder der Landgraf.
Der städtische Beamte wand sich und sagte dann kleinlaut: „Es wird sich
wohl keiner selbst Schaden zufügen, selbst einer dieser vermaledeiten
Juden nicht, der Herr Abt hat wohl Recht und wir haben gesündigt. Ab
in den Kerker“, wandte er sich an die gefesselten Bürger.
Friedrich gab dem Kanzler ein Zeichen, und der rief laut und vernehmlich: „Alle, die nicht zum Kriegsrat gehören, mögen den Saal verlassen
und in ihre Häuser und Burgen zurückkehren, wo sie mit ihren Angehörigen und Eigenleuten den Worten des Abtes Ono folgen sollen und zum
Gebet in die Kirchen ziehen!“
Als endlich alle Gäste, die Juden und die Gefangene den Saal verlassen
hatten, machte sich betretenes Schweigen breit. Jeder hatte schon von
der furchtbaren Krankheit gehört, die im Morgenland, aber auch in
Rom, Venedig und Genua immer wieder auftauchte, und gegen die es
wohl kein Mittel gab – außer der Barmherzigkeit Gottes.
„Kälte, Hunger, Durst und Schwert machen Krankheiten, bei denen
selbst wir oft helfen können, unser heilkundiger Bruder Benedikt oder
die weisen Frauen in Steigerthal können noch mehr tun“, sagte Ono.
„Aber eine Krankheit, die durch den Hauch schlechter Luft entsteht…“
„Mein Bruder Gernot hat berichtet, dass in vielen südlichen Städten,
auch bei ihm in Selb, die Wohngebiete der Juden durch eine Mauer abgetrennt wurden, damit sich bei solch leicht entstehenden Verdächtigungen die kaiserlichen Schützlinge besser verteidigen können. Wäre
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das eine Buße für die Angreifer, dass sie die beiden Enden der Jüdengasse mit einem festen Tor, Türmen und Schießscharten zumauern
müssten?“ „Gute Idee, Cuno. Meine Juden hätten Schutz und die Weißenfelser müssten ihn bezahlen. Aber ich denke, wir müssen noch mehr
tun: Walter von Hohnstein, könntest du hinausgehen und mit dem Büttel nach den Kindern des Mannes sehen, der den Rabbi beschuldigt hat?
Und du, Cuno“, der Landgraf schaute hinüber zum kleinen Cuno, „schau
bitte nach dem Großkind des Rabbis. Wir müssen die Stadt sichern und
sie als gutes Beispiel für die anderen Siedlungen nehmen, denn von so
etwas wie heute habe ich schon öfter gehört, auch aus Erfurt!“ Cuno
schrak leicht zusammen, denn Friedrich spielte ganz offensichtlich auf
Maria, Anna und ihre Eltern an, die vor dem Pöbel nach Steigerthal geflüchtet waren. So hatte er die Lage Gernots und Marias und Wenzels
und Annas noch nie gesehen, aber Friedrich hatte Recht: beim kleinsten
Anlass könnte sich die Wut gegen Menschen richten, die anders waren
als die Übrigen. Es musste also wirklich was getan werden.
Als Walter zurückkam, konnte er den Rat beruhigen: die Kinder des Rädelsführers waren zwar etwas blass, aber gesund. Sie hatten am Abend
lediglich unreife Äpfel gegessen, von denen ihnen dann mit dem Wasser, das sie getrunken hatten, so übel geworden war, dass sie sich erbrechen mussten. „Keine Pest!“ Der kleine Cuno konnte weniger klare
Auskunft geben: „Das Kind ist scheinbar mit seiner Mutter verschwunden. Ich glaube ihnen das, denn sie waren alle furchtbar aufgeregt deswegen, und dass ihnen einiges entwendet worden war oder dass dem
einen Mädchen Gewalt angetan worden war, scheint alles nicht so
wichtig: das Kind ist wohl der Erbe des reichsten Juden, der auch die
Rolle des Rabbi übernommen hat, und ohne den kleinen Jungen scheint
alles irgendwie zu zerbrechen.“ „Haben sie eine Idee, wo Mutter und
Kind sein könnten?“ „Eine Magd flüsterte mir zu, dass die beiden wohl
vor der Stadt in dem Stall, in dem sie ihre Kühe halten, Zuflucht gesucht
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hätten, sie würde einen Topf zur Zubereitung von Milch und das koschere Geschirr dazu vermissen – ein wenig Silber hat sie so gesprächig
gemacht!“ „Gut! Für uns ist wichtig: der einzig wirklich Kranke, und wir
sind wohl alle der Meinung, dass der Junge tatsächlich Pestbeulen hat,
ist nicht mehr in der Stadt. Die Aufrührer sollen schnellstmöglich die Jüdengasse mit Portalen versehen und der Büttel wird ein Auge darauf
haben müssen, dass sich so eine Gewalttat nicht wiederholt! Und dann
bitte ich dich, Ono, mit den Priestern der Stadt, besonders mit denen
der Marienkirche zu reden, dass sie dem Volk zur Buße raten. Mit der
Äbtissin des Klosters hier rede ich selbst. Und nun, meine Herren, erwarte ich ihre Vorschläge morgen früh. Heute“, und damit schlug er
Günther von Schwarzburg-Arnstadt auf die Schulter, „gilt es erst einmal,
den Frieden nach vier Jahren Krieg gebührend zu feiern. Was zu tun ist,
um den Pesthauch abzuwenden, wird die Kirche uns sagen und der Rat
tritt morgen wieder zusammen, um die weltlichen Dinge zu beraten.
Esst, trinkt und lasst es Euch wohl ergehen!“ Damit löste sich die Anspannung und es entwickelte sich ein fröhliches, ausgelassenes Treiben.
Die Klarissen des Klosters hatten sich seit Tagen schon auf das Festessen
vorbereitet, das den Idealen eines Bettelordens entsprach; waren doch
die Klarissen der strenge Frauenorden des von Franz von Assisi ins Leben gerufenen Ordo fratres minorum, die landläufig Franziskaner hießen: Große Kübel mit Pastinakensuppe, gebratener und gekochter Fisch
sollten serviert werden, mit einer würzigen grünen, aus frischen Wildkräutern gemachten, Soße, Beeren aller Art und frisches Brot. Die anwesenden Herren vervollständigten das Mahl mit dem, was sie mitgebracht hatten: die Schwarzburger hatten aus dem nahen Teuchern eine
Herde Kälbchen hergetrieben, andere hatten Fässer mit Wein gebracht,
die Steigerthaler Rossknecht-Bier, Wein und böhmische Knödel, Ono
von Himmelgarten die köstlichen kleinen Kuchen aus Mehl, Honig und
Gewürzen, die die Klosterbrüder zu Mariä Himmelfahrt zuzubereiten
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pflegten – die Nonnen sahen mit unguten Gefühlen auf die sich abzeichnende Völlerei, obwohl sie so Ähnliches bei den vielen Besuchen des
Landgrafen schon öfters erlebt hatten. All das war in die Küche des Klosters gebracht worden, wo die Nonnen der anstehenden Völlerei ablehnend gegenüber standen, aber doch zur Tat geschritten waren, so dass
alles aufgetischt werden konnte. Als im Klosterhof später Musikanten
auftraten, war kein Halten mehr: wer von den Herren und Damen noch
stehen konnte, suchte sich einen Partner oder eine Partnerin und
drehte sich fröhlich im Kreise.
Cuno war intensiv in ein Gespräch mit Ono über Sünde, Schuld und Pest
versunken und erst als die Musik nicht mehr zu überhören war, beendeten die beiden ihren Diskurs; Cuno griff nach Salwa, um mit ihr zu
tanzen. Aber er griff ins Leere. Erschrocken schaute er um sich – im Refektorium war sie nicht. Dann sah er sie, wie sie am Arm Landgraf Friedrichs an der Tür des klösterlichen Speisesaals vorbei glitt, lächelnd den
Worten des Wettiners lauschend. Das für ihre Verhältnisse tief ausgeschnittene Mieder in den Farben ihrer Augen deutete die Pracht ihrer
Brüste an und wurde ergänzt durch ein zu ihren Haaren passendes kastanienfarbenes Seidenband um ihren Hals und einen entsprechenden
engen Gürtel um ihre Taille. Günther von Schwarzburg mit seiner Gemahlin passierten als nächste die Türöffnung, auch Walter von Hohnstein mit Barbara waren zu sehen, viele andere, und dann wieder Salwa
und Friedrich. „Wir sind wohl etwas aussortiert!“ sagte eine Stimme von
der Hohen Tafel. Cuno schaute hinüber, Landgräfin Mechthild hatte ihn
angesprochen. „Lasst uns wenigstens ein paar Runden drehen, damit
nicht jeder sieht, dass wir sitzengelassen wurden!“ Cuno neigte den
Kopf, stand auf und führte die dicke Landesherrin zum Tanz. Salwa sah
die beiden, flüsterte Friedrich etwas zu und lachte fröhlich über dessen
Antwort. Die Mienen Mechthilds und Cunos wurden dadurch nicht fröhlicher, und der Steigerthaler war froh, als Mechthild sagte, dass sie
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müde sei. Er begleitete sie zur Hohen Tafel zurück, schnappte sich einen
Krug Wein und schlich in die Zelle, die Salwa und ihm als Unterkunft
diente.
Als Salwa Minuten oder Stunden später in die Zelle kam, lag Cuno angekleidet und schnarchend auf dem schmalen Lager, der leere Weinkrug
auf dem Boden liegend. Salwa wusch sich, kleidete sich aus und zog die
Decke unter Cuno hervor, um sich einzuwickeln.
Als sie am nächsten Morgen erwachte, saß Cuno frisch gewaschen und
rasiert auf dem Rahmen des Lagers und hatte sein Gesicht in den Händen verborgen. Sie legte ihre Hand auf seinen rechten Oberschenkel
und er zuckte zusammen, als hätte sie ihn geschlagen: „Verzeih mir,
Liebste! Ich habe mich mit Ono in den Streit über die Krankheit und die
Folgen hineingesteigert und dich einfach unbeachtet gelassen. Dabei
sahst du so hübsch aus! Das hat ja wohl auch Friedrich gemerkt. Und
dann war ich voller Wut und habe mich volllaufen lassen - zum ersten
Mal nicht versöhnt mit dir seit unserer Hochzeit!“ „Fandest du mich
schön?“ „Ja, sehr!“ „Du hast aber nichts gesagt und warst nur Lehnsmann!“ Er rutschte von der Bettkante herunter, kniete am Rande des
Lagers und bedeckte das, was von ihr aus der Decke schaute, mit Küssen. „Nochmal: Verzeih mir! Und ich frage dann auch nicht, worüber du
dich mit Friedrich so gut unterhalten hast.“ „Wusste ich doch, dass du
das wissen willst: er hat mich nach Barbara und nach Cunos Neuigkeiten
befragt, nach Gernot und der Kleinen und wie es Maria geht und ob die
beiden noch so viel Spaß an der Ehe haben, wie es in der Hochzeitsnacht
schien. Und er hat mir viele Komplimente gemacht, vor allem als er dich
mit der dicken Mechthild durch den Hof walzen sah – du weißt doch, er
und seine große Liebe Elsbjeta durften nie beieinander sein und da hat
er ziemlich viel Unsinn geredet. Aber jetzt bist du wieder mein Cuno“,
und mit einem langen Kuss besiegelten sie die Versöhnung, wobei Cuno
es nicht lassen konnte, in dem warmen Sommerwetter die Decke immer
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ein Stückchen weiter von Salwa wegzuziehen und ihren Körper zu liebkosen. Wenn die Glocke der Klosterkirche nicht die None geschlagen
hätte… „Ich muss zur Ratssitzung! Finde ich dich nachher noch so hier?“
„Oh, Cuno, lass uns einfach schnell nach Hause zurückkehren! Ja, ich
warte hier auf dich, aber sicher nicht nackt!“
Als Cuonrad von Steigerthal das Refektorium betrat, sah er, dass er der
letzte Teilnehmer war. „Ist dir der Wein nicht bekommen? Meine Gattin
hat mir erzählt, dass du noch einen ganzen Krug mit in deine Zelle genommen hast!“ In das Grinsen der Anwesenden sagte Cuno: „Sie hat
Euch sicher auch erzählt, dass Ihr mit meiner Gattin ein schönes Paar
abgegeben habt – für den Abend!“ Friedrich lachte laut heraus: „Dass
ich dich einmal eifersüchtig sehen würde, hätte ich auch nicht geglaubt!
Doch zur Sache: Was müssen wir tun, damit sich Christen und Juden
nicht gegenseitig an die Hälse gehen, auch wenn sie völlig unterschiedliche Lebensweisen haben?“ Günther von Schwarzburg antwortete als
erster: „Es darf nicht sein, dass wegen des Brunnenwassers Streit entsteht in einer Gegend, die so viel Regen und soviel gutes Wasser hat wie
Thüringen. Deshalb müssen Bürgermeister und Ratsherren zumindest
der landesherrlichen Städte verpflichtet werden, die Zu- und Abläufe
der Brunnen und der Dreckwasserrinnen zu säubern und notfalls zu erneuern!“ „Gut. Das werde ich veranlassen und alle Herren dazu aufrufen, das Gleiche in ihren Städten machen zu lassen. Oh, Cuno, wieder
beratungsfähig, was möchtest du vorschlagen?“ Das setze Friedrich mit
einem leichten Grinsen hinzu. „Günther, erinnerst du dich an die Familie Herschel, die wir getroffen haben, als ihr mich damals nach Böhmen
begleitet habt?“ „Klar, ich habe seitdem oft mit Rebecca und Ravi Handel getrieben.“ „Erinnerst du dich auch noch, dass wir bei dem ersten
Treffen an dem Bach, keine Ahnung mehr, wie der hieß, mit den Herschels gemeinsam einen jüdischen Festtag begangen haben?“ „Ja, obwohl der Tag nicht stimmte, haben wir das genossen, was die Juden an
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Schawuot, also Pfingsten, kochen und ich weiß noch, wie köstlich es
war: Weizen, in Honig angeröstet und dann mit Brühe, Gewürzen und
Gemüse aufgekocht.“ „Weißt du, wann die Juden Schawuot feiern?“
„Keine Ahnung!“ Cuno wandte sich an den Schultheis von Weißenfels,
der am Rat teilnahm: „Haben die Juden dieses Fest schon gefeiert?“ „Ich
weiß es nicht, aber ich glaube, dass es noch bevorsteht.“ „Günther,
Cuno – Ratsherren wie euch braucht man! Ich habe euch doch richtig
verstanden: die Juden feiern ungefähr in diesen Wochen ein großes
Freudenfest mit viel Essen und Trinken, oder? Und wir feiern in wenigen
Tagen das Fest Mariä Himmelfahrt, mit viel Essen und Trinken.
Schultheis, dieses Jahr feiern Christen und Juden gemeinsam am Marienfest auf dem Marktplatz – jeder mit seinen besonderen Speisen, ausnahmsweise bezahle ich – oder besser Cuno – für alle das Essen, und
wer dann noch seinen Trinkgenossen beschimpft, wird in den Kerker
gesteckt!“
Autobiographie Karls IV., Kapitel 19 und 20 (1346)
Als Ludwig der Bayer erkannte, dass König Johanns Söhne das
Abkommen, das Ludwig mit Johann betreffs der Übergabe Berlins, Brandenburgs und Stendals nicht anerkennen und urkundlich bestätigen wollten, blieb alles, was verhandelt worden war,
ungültig und wertlos. Darüber erschrak Ludwig sehr und war unbeschreiblich verwirrt. Er sah es als Vorzeichen eines bösen Endes
an, dass sich die Söhne König Johanns weigerten das Abkommen
anzuerkennen und zu billigen, obwohl es von bedeutenden Fürsten nach reiflichen und umsichtigen Überlegungen beschlossen,
vereinbart und von ihrem eigenen Vater gebilligt worden war,
dass sie vielmehr erregt und hochfahrend widersprachen. Nicht
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glauben konnte er die Behauptungen Karls und des zweitgeborenen Johanns, dass der Vater das gewonnene Gut nur mit Hennegauern und Rheinländern verprassen würde und die Söhne seien
die Geprellten und Betrogenen.
Daraufhin begab sich König Johann an die Kurie in Avignon zu
Papst Clemens und kam mit ihm so weit überein, dass er vor allen
einberufenen Kurfürsten erklären sollte, Ludwig von Bayern sei
kein wahrer Kaiser. Denn er stelle sich gegen die heilige römische
Kirche, die Mutter der Christenheit, und habe widerrechtlich einen Minoriten, einen Bettelmönch, als Papst in Rom eingesetzt,
um sich krönen zu lassen. So schritten die Kurfürsten unverzüglich zur Wahl und wählten Markgraf Karl von Mähren unter
glücklichen Vorzeichen zum römischen König.
Rhense, Sommer 1346
Luzia wurde wenige Tage vor dem Tag der Heiligen Barbara, und damit
vor dem Fest zur Geburt des Herrn, geboren. Adelheid, die weise Frau
des Dorfes war von den Eltern längst in das Geheimnis der verfrühten
Zeugung eingeweiht worden, hatte Maria immer wieder untersucht
und alles zum Besten gefunden. ramon war schon aus Erfurt gekommen, wo sich Ramon immer wohler fühlte, sie aber nicht: die Zeit auf
dem Gestüt hatte ihr ihre wahre Bestimmung gezeigt und sie war froh,
wieder bei Anja und Egbert sein zu können. Wenn sie wieder nach Erfurt
müsste, hatte sie Ramon gesagt, würde sie wenigstens einen der vielen
Welpen aus der Nachkommenschaft Wolfs mitbringen. Cuno nahm Gernot, Wenzel und die zu ihrem Leidwesen immer noch kinderlose Anna,
die wie einst Anja und Salwa zu Pferd saß wie ein Mann, mit auf die
Jagd, um Gernot das Mitfühlen der Schmerzen zu ersparen, nachdem
Adelheid meinte: „Ich glaube, es geht los!“
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Als die vier noch vor Einbruch der völligen Dunkelheit zurückkamen,
Blutspuren von der hinter den Sätteln gelagerten Beute als Beleg einer
erfolgreichen Hatz in den Schnee zeichnend, war bereits alles vorüber.
Gernot rannte hinauf in die Kemenate, sobald er die Nachricht erhalten
hatte und fand eine erschöpfte, aber glückliche Maria mit einem winzigen Bündel auf dem Arm, das sie anstrahlte. Gernot kniete neben der
Bettstatt, nahm Maria in seine Arme und drückte sein Gesicht in ihre
Halsbeuge. „Vorsichtig, die Kleine braucht auch Luft zum Atmen!“ Gernot schaute ins Bündel und sah ein verschrumpeltes Gesichtlein und ein
paar Strähnen dunklen Haares; die geballten Fäustchen waren vor die
Augen gedrücklt. „Es ist ein Prachtkind“, hörte er hinter sich Adelheid
sagen, die der dörflichen Sitte gemäß nach getaner Arbeit mit einem
großen Krug besten Bieres im großen gepolsterten Lehnstuhl saß. „Alles
da, wo es hingehört und alles dran, was dran sein soll! Die beiden Großmütter waren auch schon da und haben mir zugestimmt. Und diese
junge Frau“, damit deutete sie auf Maria, „war so tapfer wie lange keine
– ich glaube der macht Kinderkriegen Spaß!“ „Also so ist es auch nicht,
aber ich habe mich so auf das Kind gefreut, dass ich es nicht abwarten
konnte und ich dachte, je mehr es wehtut, desto schneller ist sie da!“
Gernot strich ihr dankbar über das schweißnasse Haar und versuchte,
ein paar Blicke auf das Kind zu werfen, als es plötzlich anfing, leise zu
weinen. „Luzia hat Hunger“, war die klare Ansage Adelheids. Und in der
Tat, das Weinen hörte sofort auf, als Maria das Kind an die Brust legte.
Ein paar danebengegangene Tropfen zeigten, dass die Milch schon eingeschossen war. Und friedlich lächelnd schlief Maria ein, kurz bevor
auch Luzia wieder einschlief.
Das war vor mehr als einem halben Jahr gewesen, und seitdem war die
Kleine prächtig gediehen und war das Sonnenscheinchen der Burg.
Gernot, der schon bisher einen guten Teil seiner Zeit seiner Gemahlin
und dem Haushalt des Lehens gewidmet hatte, war so glücklich, dass
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beide wohlauf waren, dass er sich nur freute, als ihm sein Vater wenige
Tage nach dem Fest der Ausgießung des Heiligen Geistes eröffnete:
„Gernot, ich muss dich mit dem Lehen erst einmal dir selbst überlassen!
Cuno wird sich um das Glas und die Handrohrherstellung kümmern, der
alte Bergmeister Gerhard ist gegen entsprechende Mengen Rossknecht-Bier gern bereit, sich um das bisschen Silber zu kümmern, das
unsere Leute noch finden. Urban und die Mehrheit der Schützen bleiben hier und Anja und ihre Leute sind immer bereit, zu helfen, wenn
Not am Mann ist.
Deine Mutter und ich sind zum Landgrafen gerufen worden, um ihn zur
Wahl König Karls in Rhense zu begleiten, wo er hofft, seine Herrschaft
endgültig absichern zu können und ich mit meinem guten Verhältnis zu
Karl von Mähren und Böhmen ihm dabei helfen kann, ganz ohne Silber
aus Steigerthal, nur durch neue Verträge. Und deshalb soll auch deine
Mutter mit dabei sein, um die böhmischen Adligen, die Johann und Karl
sicher begleiten werden, in ihrer Muttersprache überzeugen zu können.“
Eine Woche später zog die Mannschaft aus Steigerthal los: Cuno in voller Rüstung auf Berno, mit seinem Knappen Sigbert als Bannerträger neben ihm, ein Dutzend Handrohrschützen auf den leichten, schnellen
Araberhalbluten aus Anjas Zucht, dann Salwa, vorerst noch züchtig im
Damensattel, einige Gespanne mit Vorräten, Pulver und Munition, Geschenken und allerlei Dingen des alltäglichen Bedarfs, auch ein Männersattel für Salwa später, gelenkt von vertrauenswürdigen Knechten und
Mägden; den Abschluss bildete ein weiteres Dutzend Handrohrschützen. Alle waren mit der neuesten Erfindung des kleinen Cunos ausgerüstet: Die Handrohre wurden nicht mehr wie bisher gegossen; eigentlich waren das nur kleine Kanonen. Die Schmiede hatten unter des
jüngsten Steigerthals Anleitung eine Methode erprobt, die die Waffen
viel leichter und auch genauer machte: um einen geschmiedeten Dorn
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wurde erhitztes Flacheisen aufsteigend gewunden; war die notwendige
Länge erreicht, kam der umwickelte Dorn noch einmal in die Glut, so
dass die flachen Eisenstreifen zu einem glatten Rohr verschmolzen;
dann wurde der Dorn herausgezogen und das Rohr kam zur Kühlung in
ein Wasserbecken; die Verspundung und das Zündloch kamen später
hinzu. Durch dieses Vorgehen brauchte Cuno weniger als die Hälfte des
Eisens und somit waren diese Feuerwaffen auch nur noch halb so
schwer wie bisher und trafen genauer, weil durch die Rille innen im
Rohr die Bleikugel in eine Drehung geriet, die sie im Flug sicherer
machte.
Ein kurzer Besuch im Kloster Himmelgarten, dann ging es weiter nach
Erfurt. Das Wetter war angenehm für die Reisenden, ein leichter Wind
wehte, die Sonne schien ohne herniederzubrennen, und da man ja nicht
auf einem Kriegszug war, gönnten sich Cuno und Salwa für jede Übernachtung einen Platz auf einem Gehöft oder in einer Burg, während die
Mannschaft Zeit hatte, Zelte zu errichten und an den Feuern ihre Mahlzeiten zuzubereiten.
Schon nach der zweiten Nacht, als sie auf der Jechaburg gerastet hatten, tauschte Salwa den Damensattel gegen ihren Männersattel; jetzt
konnte der ganze Zug schneller vorwärts kommen, weil ‚die Dame‘ nicht
so oft Rast machen musste, um das unbequeme Sitzen auszugleichen.
Seit damals auf der Wiese am Leimbach, vor mehr als fünfzehn Jahren,
hatte Salwa gepolsterte Reithosen benutzt, über die sie einen weiten
Rock zog, der ihre Beine züchtig bis zu den Stiefeln bedeckte, wenn sie
einen normalen Sattel benutzt. Kurz vor Erfurt musste sie allerdings
wieder auf den Damensattel umsteigen.
Landgraf Friedrich freute sich sichtlich, sie zu sehen. Den Mannschaften
wurden Unterkünfte zugewiesen, Salwa und Cuno erhielten Gemächer
im Gästetrakt, den Friedrich an das Kloster hatte anbauen lassen, und
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dann setzte er sich gleich mit ihnen zusammen: „Ich will den Beistandsvertrag mit Karl verlängern, auch wenn Johann eigentlich noch König
von Böhmen ist. Aber die Ablehnung des Vertrages mit Kaiser Ludwig
durch Karl und seinen jüngeren Bruder Johann letztes Jahr zeigt doch,
wer Herr im Hause ist und sicher bald rechtlich sein wird. Cuno, du
kennst einige der böhmischen Adeligen, die Einfluss am Hof haben und
die sicher in Rhense dabei sein werden. Salwa, du kennst weitere, ihr
beiden sprecht tschechisch – was können wir diesen böhmischen Adligen anbieten, damit sie unsere Sache unterstützen?“ „Dein Geschwisterkind Ono würde das ‚do ut des‘, gib, damit dir gegeben wird, als Schachern ablehnen!“ Friedrich schaute wegen des kritischen Einwurfs Salwas etwas düster. „Aber solange Thüringen kein geschlossenes Gebiet
wie Bayern oder Tirol ist, brauche ich immer wortwörtlich eine Rückendeckung, damit ich mich mit Gegnern von Angesicht zu Angesicht auseinandersetzen kann! Was braucht Böhmen, was es nicht hat, aber
wir?“ „Seit du Landgraf bist, hast du die Wettiner Lande schon fast zu
einem geschlossenen Herrschaftsbereich gemacht, das sich von der
Werra bis über die Elbe hinaus erstreckt; ein Bündnis mit diesem Herrscherhaus gibt Böhmen die Sicherheit, dass ein mächtiger und“, dabei
klopfte Cuno auf den noch vollen Beutel an seinem Gürtel, „scheinbar
reicher Nachbar ihm nichts Übles will und die Handelswege offenhält.
Vergiss nicht, dass böhmische Adlige auf gutes Wirtschaften angewiesen sind, weil sie keine Leibeigenen haben, die für sie fronen und ihnen
zusätzlich noch Abgaben zahlen müssen, wie das hier bei unseren Herren so üblich ist.“ „Ihr meint also, dass es nicht allzu schwierig werden
wird, unser Bündnis mit Böhmen zu erneuern?“ Beide nickten und Cuno
fragte: „ Warum soll die Wahl in Rhense stattfinden und nicht, wie bisher immer, in Frankfurt?“ „Vor einigen Jahren haben sich die Kurfürsten
schon einmal in Rhense getroffen und dabei festgelegt, wer küren, also
den König wählen darf. Und der neue König braucht nur die Mehrheit
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der sieben Stimmen, nicht alle. Deswegen braucht man auch keine
große Stadt mehr, um die Wähler zusammen zu bringen; früher durften
schließlich alle Adeligen, die Lust und Zeit hatten, mitwählen; da war
Frankfurt schon geeigneter als Rhense! Das ist sowieso ein ganz besonderer Ort: In Rhense steht auf der linken Rheinseite die Burg, die dem
Erzbischof von Köln gehört; ganz in der Nähe ist der Königsstuhl, eine
offene Halle, in der die Wahl stattfindet; auf der anderen Rheinseite
steht die Burg Stolzenfels, die gehört dem Erzbischof von Trier, und auf
der gleichen Seite, aber nach der Lahnmündung steht Burg Lahneck, die
gehört dem Mainzer; und dann noch ein paar Steinwürfe weiter liegt
die Marksburg, die gehört dem Pfalzgraf bei Rhein! Also vier der sieben
Kurfürsten haben da einen Sitz! Ich weiß, dass mein alter Feind, Heinrich von Virneburg, der immer Günther von Schwarzburg und die anderen Aufständischen unterstützt hat, endgültig vom Papst abgesetzt
wurde und nicht mehr auf Lahneck sein darf; ein neuer Erzbischof steht
jetzt für Mainz – und Karl. Die von Köln und Trier sind auch für ihn,
Johann von Böhmen als Vater und Kurfürst sowieso. Damit hat Karl bereits die Mehrheit, und wahrscheinlich wählt ihn auch Rudolf von Sachsen, der immer noch wütend ist, dass der Kaiser seinen Sohn mit Brandenburg belehnt hat statt den rechtmäßigen Erben, eben Rudolf. Und
ich, als Mann der Kaisertochter Mechthild, stehe auf der Seite Karls,
weil nur er den Wettinern Schutz gegen die Bayern gab und gibt!“ Der
Gewissenskonflikt war ihm deutlich anzusehen, aber nach der widerrechtlichen Verheiratung Margarete Maultaschs war ja sogar Mechthild
zu den Gegnern ihres Vaters übergegangen und unterstütze Friedrich in
seiner Haltung. „Dann lasst uns essen und trinken, damit wir uns morgen gestärkt auf den Weg nach Frankfurt und dann nach Rhense machen können. Wundert euch nicht, dass ich um eure Schützen gebeten
habe und selber Soldaten mitnehme, aber ich weiß, dass Karl Papst Cle-
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mens etwas zugesagt hat und wir uns vielleicht so nützlich machen können, dass wir nicht nur den Vertrag bekommen, sondern auch noch
Gold und Silber, aber das muss er selber klären.“
Friedrich hatte die Reise lange vorbereitet und so ritt am nächsten Morgen nicht all zu früh eine farbenprächtige Truppe aus Erfurt hinaus, begleitet von vielen Wagen, bis zur Brücke geleitet von winkenden Erfurtern, die sich durch die Wahl des neuen Königs neue Rechte und Einnahmen erhofften.
Die Reise entlang der Via Regia verlief ereignislos. Friedrich hatte alle
Fürsten, über deren Gebiet die Truppe zog, vorab über die friedlichen
Absichten aufgeklärt; alle nahmen es hin, dass die landgräfliche, fast
hundert Mann starke Truppe und die Handrohrschützen als Leibwache
zu verstehen seien und stellten bereitwillig Futter für die Pferde und
den einen oder anderen Krug Bier und Wein zur Verfügung. In Frankfurt
schloss sich Rudolf von Sachsen dem Zug an und nun, von einem Kurfürsten angeführt, ging es nach Rhense, wo die Mannschaften im Umkreis um den Königsstuhl ihr Lager aufschlugen und die Herren und Damen Quartier in der kölnischen Burg Rhense bezogen.
Erzbischof Balduin von Trier, Gerlach von Mainz und Johann-Nepomuk
von Köln waren schon zu Rhense, Rudolf von Sachsen ergänzte das
Wahlkollegium. Zwei Tage später kamen auch Johann von Böhmen und
sein Sohn Karl in Rhense an.
Johann war seit dem Ritterschlag Cunos regelrecht heruntergekommen, sein Lebenswandel zeigte sich in Gesicht und Haltung, aber er war
immer noch eine beeindruckende Gestalt. Er konnte sich besser auf
Französisch unterhalten als auf Deutsch und brauchte seinen ältesten
Sohn ständig als Übersetzer. Karl zeigte deutliche Züge der Přemisliden:
das Kindergesicht, an das Salwa und Cuno sich noch so gut erinnerten,
hatte die schmale Form der mütterlichen Familie angenommen; unter
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einer hohen Stirn lagen grüne Augen über den deutlichen Backenknochen, ein energischer Mund und ein kräftiges Kinn gaben ihm einen entschlossenen Ausdruck; das dunkelblonde Haar war nach französischer
Sitte kurz geschnitten. Als einziges Schmuckstück trug er eine Kette mit
einem großen, silbernen Kreuz, einst das Taufgeschenk seines Lehrers,
der jetzt als Papst Clemens die Kirche leitete. Als ihn Friedrich und Cuno
begrüßten, lächelte Karl erfreut: „So seid Ihr meiner Bitte gefolgt und
seid sicherlich nicht ohne Männer und Waffen gekommen. Dann kann
ich mein Versprechen, das ich dem Papst gegeben habe, wenigstens auf
Umwegen einlösen und bin wieder einmal, Ritter Cuno, wie schon vor
mehr als zwanzig Jahren auf Eure Hilfe angewiesen: Der vorherige
Papst, Benedikt XII., war, bevor er zum Papst gewählt wurde, Bischof
von Pamiers und Inquisitor in seinem Bistum. Auf dem Sterbebett nahm
er dem damaligen Kardinal Pierre Roger, dem jetzigen Papst, das Versprechen ab, die unvollendete Arbeit als Inquisitor dort an den Abhängen des großen Gebirges, das Frankreich von Iberien trennt, zu Ende zu
führen. Nach dem, was ich weiß, ist das lediglich ein Spazierritt, abgeschlossen durch das Entzünden einiger verlassener Hütten, aber ich
habe es versprochen, deshalb muss es geschehen. Ich selbst muss mit
meinen Rittern nach Westen, um König Philipp von Frankreich gegen
die Engländer beizustehen, die versuchen auf französischem Boden Fuß
zu fassen! Wir besprechen die Einzelheiten noch.“
Am Abend setzte sich Karl zu den Thüringern, während König Johann
mit seinen Rheinländern feierte und die Erzbischöfe in die Vorbereitungen der Kür vertieft waren: „Ich habe mich umgeschaut und gesehen,
dass ihr Handrohrschützen dabei habt, die mit ganz ungewöhnlichen
Feuerwaffen zu kämpfen scheinen.“ „Ja, das ist das Neueste, was mein
kleiner Bruder herstellt: die Gewehre sind leichter und genauer als die
alten Handrohre, und das gesparte Gewicht kann der Schütze jetzt an
Pulver und Kugeln zusätzlich tragen.“ „Das ist genau das, was ihr für die
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Ketzer dort im Gebirge braucht: keine Berührung von Mann zu Mann,
und trotzdem brennt die Hütte – das wird ihren Aberglauben an ihre
Überlegenheit schnell zunichte machen! Eigentlich hätte ich eure Schützen auch gern beim französischen Heer, aber König Philipp besteht darauf, dass wir kämpfen, wie es Ritter seit jeher in Turnei und Tjost geübt
haben – ihr, Cuno, habt es ja vor dem Ritterschlag durch meinen Vater
beweisen müssen. Aber kommt mit hinüber zu meinen Böhmen und erzählt denen von der Wunderwaffe - vielleicht können wir ins Geschäft
kommen!“ Salwa und die beiden Männer folgten Karl zu dem Tisch, an
dem die böhmischen Adligen schon viel Lärm machten und das Bier, das
ihnen vorgesetzt wurde zu vernichten suchten. „Dobrý večer, pánové!
Imenuji Cuno von Steigerthal , thole je moje žena Salwa“, stellte Cuno
sich und Salwa vor. Jetzt ging der Trubel erst richtig los. Fragen über
Fragen prasselten auf die beiden nieder, Antworten wurden begossen
und so manches schlüpfrige Kompliment ging an die schöne Rittersfrau.
Friedrich saß etwas unbehaglich dabei, immer froh, wenn Salwa oder
Cuno ihm bruchstückhaft übersetzten, worum es gerade ging, aber
dann zog Cuno ihn direkt ins Gespräch mit ein: „Ihr sprecht oder versteht doch alle Deutsch, oder? Landgraf Friedrich von Thüringen hier,
Herzog von Meißen und seit langem Verbündeter und Parteigänger Johanns und Karls möchte, dass wir die guten Beziehungen beider Herrschaften vertiefen...“ Ein lautes Zuprosten unterbrach Cuno. „Was können wir tun, damit das geschieht?“ „Schickt uns so schöne Frauen wie
Salwa!“ „Lasst die Juden auf dem Weg nach Prag passieren!“ „Lasst
überzählige Bauern zu uns auswandern!“ „Sendet eure Jugend zu uns,
damit sie unsere Kultur kennenlernen, so wie wir Ritter zu euch schicken!“ „Friedrichs Tochter soll Karls Bruder Johann heiraten!“ „Zeigt
uns, wie man die leichten Gewehre macht, oder wenigstens, wo man
sie kaufen kann!“
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Je länger es ging, desto unsinniger wurden die Vorschläge, aber als der
Landgraf in einer Pause nachfragte: „Ihr würdet ein engeres Bündnis mit
Thüringen und Meißen begrüßen?“ gab es allgemeines Klopfen auf
Schultern, Bänke, Tische, Salwas Arme und was noch alles in Reichweite
war. Genau in diesem Moment kam Karl wieder an den Tisch der Böhmen und versicherte Friedrich: „Ihr hört die Stimme Böhmens! Morgen,
nach der Wahl, machen wir die Verträge zwischen Euch und dem neuen
König des Reiches, dann ziehe ich gegen Engelland und Ihr gegen die
Katharer!“
Am Tag darauf, dem Namenstag des Heiligen Benedikt von Nursia, traten die Kurfürsten zur Wahl zusammen. Der Reichskanzler, Erzbischof
Gerlach von Mainz, leitete den feierlichen Akt und als die fünf Kurfürsten der Erwartung gemäß Karl als deutschen König benannt hatten,
legte Gerlach ein Schreiben an Papst Clemens vor, in dem ihm mitgeteilt
wurde, dass Karl gewählt wurde, er den Titel ‚König‘ aber erst dann führen würde, wenn Clemens das Schreiben erhalten habe. Andere Urkunden gingen an die Fürsten des Reiches. Alle begannen mit: „Karl, der
vierte König des Deutschen Reiches dieses Namens, Prinz von Böhmen,
Markgraf von Mähren, Herzog von Schlesien, Verteidiger des Glaubens
und der Kirche, teilt Euch mit, dass mit der rechtmäßigen Wahl durch
die Mehrheit der Kurfürsten das Reich einen neuen König hat.“ Dann
folgten jeweils unterschiedliche Erklärungen und Forderungen.
Für Friedrich von Thüringen gab es keine solche Urkunde, sondern einen Vertrag, unterschrieben von den beiden Herrschern, in dem Böhmen sich verpflichtet, Thüringen in seinem Bestand zu schützen, wogegen sich Thüringen bereit erklärt, Böhmen mit Rat und Tat zur Seite zu
stehen. Friedrich strahlte und nahm die beiden Steigerthals in die Arme.
„Danke! Ich weiß nicht, ob es ohne euch so leicht gegangen wäre, aber
mit euch ging es auf jeden Fall leicht.“
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Das Fest anlässlich der Wahl an jenem Abend ging als legendär in die
Erzählungen der Teilnehmer ein; zum ersten Mal war nach den vor wenigen Jahren beschlossenen Regeln der Kurfürsten ein neuer König gewählt worden und es sah so aus, als ob die Wittelsbacher endgültig unterlegen seien. Karl wusste schon von einem gescheiterten Versuch des
Kaisersohnes Ludwigs von Brandenburg, den Adel und die Bischöfe in
Tirol, das eigentlich das Erbe seiner Frau war, zum Aufruhr gegen den
Böhmen zu bringen, der Kaiser selbst war verstrickt in die Prozesse mit
der Kurie, die allsonntägliche Erklärung zum Ketzer in allen Kirchen des
Reiches und eine verfehlte Außenpolitik, in der er den Bund mit England
gelöst hatte, nur weil er hoffte dass König Philipp von Frankreich bei der
Kurie für Ludwig sprechen würde.
Wenige Tage später brach das böhmische Ritterheer auf in den Krieg an
der Seite Frankreichs. Cuno und der Heerführer der Thüringer, Bernhard, Graf von Waldenburg zogen mit den Thüringer Truppen auf ein
nahe gelegenes freies Feld, um das Zusammenspiel von Schützen und
berittenen Kämpfern zu üben, bevor es nach Süden gehen sollte. Die
Kleriker zogen sich in ihre Erzbistümer zurück, Rudolf von Sachsen, der
ebenfalls einen Beistandspakt mit Karl geschlossen hatte, eilte frohen
Mutes mit seiner Begleitung nach Sachsen.
Burg Rhense, der Sommersitz der Erzbischöfe von Mainz war, bis auf
das Gesinde, leer.
„Hättest du Lust, mich an diesem heißen Tag auf einen Ausritt dort in
die Hügel zu begleiten, du kannst auch gern ohne Damensattel unterwegs sein, jetzt wo die Priester alle fort sind ?“ Salwa stimmte sofort zu:
„Es wird uns die schweren Köpfe und die Langeweile vertreiben!“ Sie
ließen satteln und trabten bald gemächlich ein Tal entlang, das sich zum
Rhein hin öffnete, aber bachaufwärts einen guten Weg bot. Salwa wies
auf diese und jene Blume hin, redete über alles, was ihr in den Sinn kam
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und deutete plötzlich, als sie schon eine ganze Weile geritten waren,
auf einen wohl durch Treibholz aufgestauten Teich, durch den frisches
Wasser perlte: „ Schau, das ist doch wie ein Wasserbecken – ach wie
schön wäre es nach all den Tagen, mal wieder zu baden!“ Sie stieg von
ihrer Stute und hielt die Hand ins Wasser: „Es ist nicht mal kalt!“ Friedrich stieg ebenfalls ab. „Wenn du wirklich als gute Thüringerin baden
willst, dann führe ich die Pferde ein Stückchen weiter hügelauf und
warte auf dich!“ Salwa sah zu, wie der Landgraf mit den beiden Pferden
um ein Gebüsch bog, entledigte sich der dicken Reithose und des langen
weiten Rocks, löste das Mieder und den Gürtel, streifte das Kleid ab und
ließ sich in das kalte Wasser gleiten. „Endlich mal wieder richtig viel
Wasser“ und begann, sich mit ein wenig Sand vom Grund des Teiches
abzureiben. Sie löste die Flechten, tauchte unter und ließ das strömende Wasser durch ihre Haare fließen. Erst als ihr langsam kalt wurde,
stieg sie aus dem Teich, strählte die Haare mit ihren Fingern und warf
sich, von der brennenden Sonne schon fast getrocknet, das Kleid über,
ohne es zu schnüren und setzte sich auf die Wiese.
Friedrich bog um das Gebüsch, ohne die Pferde, aber mit einem Körbchen mit Wein und kaltem Fleisch, setzte sich neben sie und bot ihr von
beidem an. Die Sonne brannte wirklich, und Friedrich lief der Schweiß
über die Stirn. „Dir würde ein Bad auch nicht schaden“, lachte Salwa
und wies auf den Teich. „Vielleicht hast du Recht“. Der Landgraf zog sich
hinter ein Gebüsch zurück, und bald hörte Salwa ihn plantschen, bevor
ihr die Augen zufielen.
Als sie wieder zu sich kam, spürte sie, wie ihre Beine auseinandergezwungen wurden und fühlte, dass ihr Rock sie nicht mehr bedeckte.
Vorsichtig öffnete sie ein Auge ein wenig und wäre beinahe erstarrt:
zwischen ihren Beinen kniete der Landgraf, nackt, aber sehr erregt, und
schickte sich an, sie zu nehmen. Sie setzte sich auf, ergriff seinen Stachel
und rieb ihn mit der Hand so schnell sie konnte. Nun war es an Friedrich,
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fast zu erstarren, aber nach kürzester Zeit stöhnte er laut auf, sackte
zusammen und tränkte mit seinem Samen die Wiese.
Salwa stand auf, wusch sich Hände und Arme und zog die Reithose wieder an, bevor sie Mieder und Gürtel schnürte. Dann ging sie, die Pferde
suchen.
Friedrich lag fast bewegungslos, als sie zurückkam. Sie schüttelte ihre
Haare in der Sonne, stieg in den Sattel und sagte: „Zieht Euch an, Landgraf. Ich bin nicht entehrt, auch wenn Ihr das gern getan hättet. Cuno
wird weiterhin ein treuer Vasall Thüringens sein, weil ich ihm von dem
Geschehen heute nichts berichten werde. Ich fühle mich beschmutzt,
obwohl ich gebadet habe, aber das sind die Empfindungen einer Frau.“
Damit gab sie ihrer Stute die Fersen und trabte zurück nach Burg
Rhense. Waldenburg begegnete ihr noch auf dem Hof: „Eure Schützen
sind Gold wert! Wenn wir das Zusammenspiel noch ein wenig üben,
schlagen wir die Engländer und unsere Pferde gewöhnen sich schon
langsam an das Krachen der Schüsse!“ Lachend ging er in die Halle.
Salwa übergab ihr Pferd einem Stallknecht und trat ebenfalls ein.
Montaillou, Spätsommer 1346
Der Weg war endlos gewesen. Cuno hatte sich mit Friedrich, Bernhard
von Waldenburg, den hundert berittenen Soldaten Friedrichs und den
vierundzwanzig Schützen aus Steigerthal durch die Hitze Frankreichs gequält, nur um dem Wahn eines Sterbenden und der Zusage eines Mannes, der Kaiser werden wollte, Folge zu leisten. In Straßburg, bis wohin
die Reise angenehm gewesen war, gesellte sich ein Benediktinermönch
zu ihnen, von Karl von Böhmen beauftragt, den Kriegern klar zu ma-
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chen, gegen wen sie zu kämpfen hätten, falls es zu einer Auseinandersetzung mit den Katharern käme und der sie nach Avignon begleiten
sollte.
Vor dem Abschied hatte Cuno Salwa daran erinnert, dass sie ihn nie
mehr weiter weg als ihre Armeslänge haben wollte, sie könne doch mitkommen. Aber sie hatte seltsam reagiert, als er versuchte, ihre Hand an
seine Männlichkeit zu legen, um den Abstand deutlich zu machen. „Geh
schon, und komm bald ohne weitere Verletzungen zurück! Ich kenne
den Weg nach Hause und dein Knappe Sigbert begleitet mich ja.“ Damit
trennten sich ihre Wege länger, als sie gedacht hatten. Salwa nahm den
gleichen Weg zurück, den sie gekommen waren. Die drei thüringischen
Adligen und ihre Männer zogen rheinaufwärts, erst bis Straßburg, dann
weiter am Rhein entlang, bis sie unterhalb des Gebirges, das sich nach
Sonnenuntergang auftat, mit vielen kleinen Auf- und Abstiegen auf einem anderen Fluss, die Doubs, stießen, und der sie bis zu ihrer Mündung in die Saône folgen konnten. Im Kloster St. Rémy, nahe der Mündung machten sie Rast, um Mensch und Tier nach zehn Tagen dauernden Reitens wieder zu Kräften kommen zu lassen. Cuno war froh, dass
Salwa es abgelehnt hatte, ihn zu begleiten: Der Mönch betete unablässig, jeden Morgen und jeden Abend versuchte er, das Wesen der Ketzerei zu erklären, die Tagesritte waren lang, das Essen zwar gut, aber ungewohnt, was sich in ständigem Durchfall und Bauchgrimmen äußerte,
Körperpflege war nicht möglich, und so manche Gruppe Neugieriger
nahm mit zugehaltenen Nasen Reißaus, wenn die Truppe näher kam.
Und auf den Mönch als Dolmetscher gegenüber den Menschen dort angewiesen zu sein, machte das Leben nicht einfacher. Nach zwei ruhigen
Tagen ging es weiter, die Saône abwärts bis zur Mündung in den großen
Strom Rhône bei Lyon. Um schneller zu Reisen mietete der Mönch dort
eine Flotte von fünf Schiffen, die die Truppe samt Pferden und Gepäck
in weniger als einer Woche bis Avignon brachten.
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Schon von weitem war der Fels mit der Kathedrale und dem Papstpalast
an der Einmündung der Durance in die Rhône zu sehen. „Noch heute
werdet ihr das Angesicht des Stellvertreter Gottes erblicken“, frohlockte der sonst ewig betende und nörgelnde Begleiter. „Und seht ihr,
wie neben dem Palast ein neuer erbaut wird? Und damit niemand den
Herrn der Christenheit anzugreifen wagt, werden Mauern um die ganze
Stadt gebaut – dort, das Stück ist schon vollendet!“ Das Mauerstück, auf
das er zeigte, war einschüchternd. Große Kalksteinblöcke waren behauen und aufeinander getürmt, alle paar hundert Fuß stand ein breiter
Turm, noch höher als die Mauer und oben verbreitert, so dass man nach
allen Seiten schießen konnte, und jeder Turm bewachte ein Stadttor.
„Ich hätte gedacht, dass Gott der Herr seinen Stellvertreter auch ohne
so viele Steine schützen könnte“, brummelte Bernhard von Waldenburg
in seinen Bart. Cuno, der neben ihm am Bug des ersten Kahns stand,
grinste: „ Lass das den Mönch nicht hören! Aber es ist doch schön, zu
sehen, wo der Kirchenzehnt, den alle Christen entrichten müssen, verbaut wird! Mit dem Kalkstein könnte mein Kleiner unzählige Gläser machen.“ „Und so beschützt er unzählige Schmarotzer, die sich vor ehrlicher Arbeit drücken und ihm dienen!“ Die Fährknechte steuerten auf
die Brücke zu, die mit zweiundzwanzig gemauerten Bögen einen Seitenarm der Rhône, eine kleine Insel und einen anderen Arm des Flusses
überspannte und über die Menschen und Fuhrwerke hinein in die Stadt
und hinaus aus ihr strömten. Unter dem zweiten Bogen hindurch ging
es um einen Teil der Stadt herum und dann legten die Kähne an einer
flachen Stelle an, so dass Männer, Pferde und Gepäck ohne große Mühe
ausgeschifft werden konnten. Der Mönch führte sie auf dem Weg an
der Mauer entlang, die hier erst im Bau war, und geleitete sie in das
außerhalb der Mauern gelegene frühere Dominikanerkloster. „Hier haben die Päpste gewohnt, bevor der alte Palast vor vier Jahren fertig
wurde. Es ist eine Ehre für euch, auch hier wohnen zu dürfen.“
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Während die Mannschaften in den großen Hallen untergebracht wurden und sich um Pferde und Gepäck kümmerten, hatten die Knappen
der drei Herren deren Gemächer, die früher Zellen gewesen waren,
schnell bewohnbar gemacht. Der Mönch, auf dem Weg zum Palast, um
die Ankunft der Thüringer Truppen und seine große Leistung dabei zu
verkünden, zeigte ihnen den Weg und verschwand. „Auf Nimmerwiedersehen, hoffe ich!“ grummelte Cuno hinter ihm her.
Friedrich, Bernhard und Cuno erkundeten ohne ihre Knappen und ohne
Waffen die päpstliche Stadt, in der öffentliches Waffentragen verboten
war. Es war früher Nachmittag und die Stadt war voller Menschen: Pilger, Händler, Bittsteller, Geistliche, Weltliche und viele Juden. Der Palast und die Kathedrale waren so riesig, dass sie niemand nach dem Weg
fragen mussten, man konnte sie von jeder Stelle der Stadt aus sehen.
Fragen wäre allerdings ein Leichtes gewesen, da sie alle nur denkbaren
Sprachen neben dem Französischen hörten. „Das ist kein Palast, das ist
eine Festung!“ rief Cuno aus, als sie auf dem Platz vor dem alten Palast
standen. „Die Schießscharten sind für Handrohre oder Gewehre gemacht, nicht für Armbrüste oder Bogen. Schaut mal, die Kreuzform der
Öffnungen erlaubt ein Zielen auf Nahes und Fernes und gleichzeitig auf
Ziele in einem weiten Bogen von Rechts nach Links. Und selbst Pechnasen gibt es über den Toren – meint ihr, wir können hinein? Und wenn
es nur ist, um die Befestigungen zu bestaunen?“ „Versuchen wir’s.“ Sie
hatten Glück, denn eine der Wachen am Tor war ein Bayer, der früher
mit Gernot von Steigerthal im Dienste des Kaisers viel herumgekommen
war. Er kannte Cuno und auch den Landgrafen, und nach einer Rückfrage beim Wachhabenden erbot er sich, die drei deutschen Adeligen
ein wenig herumzuführen. „Hier ist der Palast direkt an den Kreuzgang
der Kathedrale Notre-Dame des Domes angebaut, damit die Herren
staubfrei und trockenen Fußes zur Messe können,“ dann öffnete er ein
Portal und ließ die Thüringer eintreten. Eine riesige Halle, vielleicht
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zweihundert Fuß lang und sechzig Fuß breit, öffnete sich unter einem
Kreuzgewölbe. „Das ist der Speisesaal, der wöchentlich mit Gästen gefüllt ist. Und das hier, das mit Jagdszenen bemalte Gemach ist das Speisezimmer des Pontifex maximus, wenn er in kleiner Gesellschaft speist.
Die Küchen sind hinter dieser Wand, da darf ich aber nicht hinein. Dort,
die breite Treppe hinauf sind die Privatgemächer Seiner Heiligkeit, Arbeitszimmer, Bibliothek, Audienzhalle, Schlafräume, Gästezimmer, Bäder….“ „Auch Bäder?“ Das kam von Friedrich und Cuno fast gleichzeitig.
„Ja. Ihr habt ja schon erfahren, wie heiß es hier sein kann, und da zieht
sich der Papst oft in ein Bad zurück.“ Er geleitete sie zu einem säulenund bogengeschmückten Fenster: „Und das ist der Garten, durch die
Bäume schattig; die Gebäude um den Garten herum sind so angelegt,
dass der Wind, der meist die Rhône abwärts weht, hier durchgeleitet
wird und für Frische sorgt.“ Der Wachmann war offensichtlich stolz auf
das, was er zeigen konnte, und auf sein Tun. „Können wir die Befestigungen von der Innenseite sehen?“ fragte Bernhard von Waldenburg.
„Nein“, lachte der Bayer, „da ist nichts zu sehen, das sieht nur von außen noch aus wie Schießscharten und so, aber schon Papst Benedikt
hatte so viel Platz gebraucht, dass er das ganze Innere des Palastes, das
an die Außenmauer stößt, zu Gemächern umbauen ließ. Avignon ist
eine große Stadt, aber der Palast ist eine kleine Stadt für sich, mit vielen
Hundert Einwohnern, und deshalb brauchen wir auch den neuen Palast,
der dort drüben angebaut wird. Wenn der einmal fertig ist, können hier
Tausende leben.“ Er schaute auf die Uhr am Turm der Kathedrale: „ In
wenigen Minuten wird der Papst die Vesper lesen, die Abendmesse.
Wenn ihr wollt, können wir versuchen, dort im Kreuzgang, an dessen
Tor wir eben waren, einen Blick auf ihn zu erhaschen!“ Sie stimmten zu
und folgten der Wache in den Kreuzgang, wo schon viele kniend Seine
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Heiligkeit erwarteten. „Ich muss zurück zur Wache. Kommt bitte nachher wieder ans Tor, ich soll Euch zum Generalpräfekt führen, der Euch
sagt, was Ihr im Pay d’Aillou genau tun sollt.“
Ein Posaunenstoß, dann öffnete sich ein weiteres Portal, und heraus
trat Seine Heiligkeit, Papst Clemens VI., Stellvertreter Gottes und Retter
des Glaubens. „Ist es der kleine Fette, oder der mit der großen Nase?
Beide sind ja über und über mit Edelsteinen, Gold und Hermelin behängt!“ „Cuno, still und mehr Ehrfurcht! Wenn ich es richtig verstanden
habe, ist der kleine Fette sein ‚Neffe‘, Bischof von Ichweißnichtwas, also
sein Lieblingssohn von einer seiner Mätressen, die natürlich nicht zur
Messe kommt. Der Papst muss der mit der großen Nase sein, denn er
trägt über all der Seide und dem Geschmeide die Gürtelschnur der Benediktiner! Und Bernhard, sei still, das ist wirklich die Person, die Karl
von Böhmen das Versprechen abgenommen hat, weswegen wir hier
schwitzen.“ „Psst!“ war der Beitrag Bernhards.
Der Papst und seine Entourage verschwanden in der Kathedrale und
fast alle, die kniend die wenigen Schritte miterlebt hatten, erhoben sich,
die meisten getröstet, weil sie den Stellvertreter Gottes selbst gesehen
und im Vorbeilaufen seinen Segen erhalten hatten. Nur wenige sahen
sich fragend an und gingen kopfschüttelnd wieder zurück in den alten
Palast. Zu denen gehörten auch die Thüringer. Sie gingen zurück zur Wache und erfuhren, dass sie erst am nächsten Morgen empfangen werden sollten und schlenderten durch die Stadt, eigentlich zurück zum Dominikanerkloster außerhalb der Mauern, aber sie machten viele Umwege. „Schaut mal, wenn das kein Badehaus mit Hübschlerinnen ist,
heiße ich nicht länger Bernhard!“ „Dort drüben, unter dem Bogen des
Portals kann man ganz offensichtlich alle Arten von Reliquien kaufen!“
„Habt ihr schon einmal eine solche Vielfalt von Früchten gesehen?“
„Der Laden hier hat mehr Gold und Edelsteine anzubieten, als alle Goldschmiede Erfurts zusammen, nicht nur die auf der Krämerbrücke.“
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Um den Nachmittag zu beschließen, suchten sie eine Schänke, in der sie
ihren Durst stillen und etwas anderes als den mitgeführten Proviant zu
sich nehmen könnten. „Hereinspaziert, Ihr Herren!“ Dieser Ruf auf
Deutsch machte sie auf einen Recken mit roter Mähne und rotem Vollbart aufmerksam, der vor der Tür eines Gasthauses stand und mit dem
rechten Arm einladende Bewegungen machte. Die drei schauten sich
an, nickten und traten ein. Im Halbdunkel des Schankraumes erkannten
sie ein paar grob zugehauene Tische mit ebenso grob gezimmerten Bänken. Die meisten Tische waren besetzt, nur einer direkt an der Tür war
noch frei. Als sie sich setzten, trat der Recke herein, der sie vorhin in die
Schänke gelotst hatte. „Ihr seid aus dem Reich, habe ich Recht?“ Sein
Deutsch war etwas holperig. „Nachdem alle Tische besetzt sind, brauche ich auch keine neuen Gäste hereinlocken. Ach, ich vergaß mich vorzustellen: ich bin Peter Banff, Schotte aus den Lowlands, aus der englischen Armee, in die man mich gepresst hatte, geflohen, als vor zwei
Wochen die Blüte der französischen und böhmischen Ritter von den
Engländern vernichtend geschlagen wurden.“ Die Thüringer schauten
den Mann entgeistert an. „Weißt du mehr?“ „Also, ich arbeite hier, weil
ich von irgendetwas leben muss; das Bier ist trinkbar und der Lammbraten vorzüglich.“ „Ich habe schon verstanden“, erwiderte Friedrich. „Solange alle Tische besetzt sind, bleibst du hier mit uns sitzen, und ich bezahle hinterher die Zeche für uns vier. Aber berichte, was du weißt!“
Der Schotte setzte sich schwer auf die Bank, bestellte bei der Magd, die
an den Tisch getreten war, etwas auf Provençalisch und fing mit einer
Warnung an: „Ihr sitzt nahe an der Tür, Herr. Deshalb habt gut Acht auf
euren Beutel, denn es gibt hier immer den Versuch, von draußen in die
Gaststube hineinzugreifen, die Beutel abzureißen und zu verschwinden.“ Friedrich befolgte den Rat und legte seine Hand auf den Beutel.
„Ich bin abgehauen, als ein paar Ritter den König von Böhmen, der, wie
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ich später gehört habe, schon lange erblindet war, mitten in das Getümmel führten; er fing an zu schreien und jagte sein Pferd im Galopp gegen
die angreifenden Engländer, aber schon nach wenigen sinnlosen Hieben
seines Schwertes traf ihn, wie so viele seiner Rittersleute, ein englischer
Pfeil, er stürzte vom Pferd – mehr konnte ich nicht sehen, außer dass
die böhmischen Ritter das Banner schnappten und davonstoben. Das
Durcheinander war so groß, dass ich mich hinter einem Gebüsch verkriechen konnte, wo ich still lag, bis die Schlacht entschieden war. Die
französischen Ritter kämpften tapfer, aber gegen die Langbogen der
Engländer hatten sie keine Chance – bevor sie wirklich auf Gegner trafen, waren die meisten schon durchbohrt wie Siebe. Wäre ich wieder
aufgestanden, hätte ich mit den Engländern den Sieg feiern können,
aber dann wäre ich wieder englischer Soldat gewesen. Ich liebe meine
Freiheit, auch wenn mich das irgendwann das Leben kostet! Zum Wohl,
die Herren“, und hob einen der Holzkrüge mit schäumendem Bier, die
die Magd unterdessen vor die Männer hingestellt hatte. „Die Franzosen
sind also geschlagen?“ „Absolut. Und all die hehren Ritterideale mit sauberem Kampf und Ehre, sind auch vorbei, wenn ein paar gute Bogenschützen ein ganzes Ritterheer ausschalten können.“ „Wie weit können
die Bogen denn treffen?“ fragte Cuno. „Na, so um die hundert Schritt
ist das schon.“ „Und meine Handrohre schaffen problemlos zweihundert…“ sinnierte Cuno. „Warum sprichst du Deutsch?“ wollte Bernhard
wissen. „Der Recke lachte: „Es gibt nicht viele Schlachtfelder, auf denen
ich nicht dabei war! Ich habe beim Italienfeldzug des Kaisers mitgemacht, in Tirol und in Brandenburg. Nur als ich so blöd war, nach meinen alten Eltern sehen zu wollen, haben englische Gauner das Schiff gekapert und jeden einzelnen Reisenden beraubt und dann verschachert.
Da für mich niemand zahlen wollte, haben sie mich der Armee übergeben!“ „Und was hat dich nach Avignon gebracht? Crecy ist weit weg!“
„Stimmt, das habe ich dann auch gemerkt, aber überall hieß es, dass
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der Papst das Geld mit vollen Händen herauswirft und dass in seinem
Umfeld ein jeder sein Auskommen findet – und so ist es!“ In dem Moment brachte die Magd eine kleine, auf dem Feuer gebratene Lammkeule, und alle vier nahmen ihre Messer und schnitten sich auf der hölzernen Platte ein ordentliches Stück heraus. Peter Banff kaute mit vollen Backen und fing dabei wieder an zu erzählen, wobei er die kaum
gekauten Bissen mit Bier herunterspülte: „Das ist die einzige Schänke,
in der das Bier trinkbar ist, der Wirt ist aus Böhmen, kam irgendwann
mit König Johann her, verliebte sich und blieb. Er braut das Bier selbst,
deswegen ist es gut, obwohl es hier eigentlich viel zu heiß ist zum Biermachen. Als ich ihm das mit dem Böhmenkönig erzählt habe, bot er mir
sofort die Stelle als Türsteher an, und ich denke, das hat er richtig gemacht, denn wenn ich mich vor ein paar Betrunkenen an einem Tisch
aufbaue und dem ersten die Faust auf die Schulter schlage, sind die anderen schon am Bezahlen, damit sie hier herauskommen, bevor ich
wirklich wütend werde! Vom Wirt weiß ich auch vieles über Avignon –
wenn ihr etwas wissen wollt – fragt!“ „Seine Heiligkeit…“ Banff fing an
zu lachen, bevor Friedrich die Frage auch nur formuliert hatte. „Dieser
Pierre Roger, wie er richtig heißt, soll der zweite Sohn eines Adeligen
hier aus der Gegend sein. Da er nichts erben würde, aber auch keine
Lust hatte zu arbeiten, wurde er Mönch, bald Abt, dann Bischof, Erzbischof und bevor er Papst wurde, war er Minister des französischen Königs und der Erzieher des jungen Karl von Böhmen. Man sagt, dass, wo
immer er auftauchte, seine Mätressen und Kinder um ihn herum waren,
und wenn er wegging, die Truhen und Beutel leer waren. Der ist so heilig wie…“ Er hielt sich die Hand vor den Mund und musterte die mit ihm
am Tisch Sitzenden, die er ja eigentlich gar nicht kannte. Hätte er den
Satz zu Ende gesprochen, hätte er sich ihnen als Ketzer ausgeliefert. „Ist
schon gut, wir haben verstanden und du hast nichts gesagt“, beruhigte
ihn der Landgraf. Aber der Schotte war nicht mehr in Laune für weitere
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Gespräche, dankte für die Einladung und nahm wieder seinen Platz vor
der Tür der Schänke ein, von wo aus er die Leute in den unterschiedlichsten Sprachen anrief, damit wenigstens der Platz, den er geräumt
hatte, wieder besetzt würde.
Friedrich händigte Cuno seinen Beutel aus und der ging hinüber zu dem
Wirt, der hinter der Theke alles mit mürrischem Ausdruck beobachtete.
Auf tschechisch angesprochen, wurde er sofort freundlich und mitteilsam, bestätigte im Großen und Ganzen das, was Peter Banff gesagt
hatte und machte eine wohlwollende Rechnung auf, die Cuno sogleich
bezahlte, nicht ohne mitzuteilen, dass sie beim nächsten Ausflug in die
Stadt wüssten, wo sie gut bedient und nicht betrogen würden. Der Wirt
neigte den Kopf und wünschte gutes Verrichten.
Als sie ins Dominikaner-Kloster zurückkamen, wartete schon ein Benediktinermönch in seiner schwarzen Kutte mit dem weißen Strick um die
Mitte auf sie. „Ich bin Bruder Michael, vom Inquisitor beauftragt, Euch
zu den letzten Nestern der Ketzer zu führen, auf dass Ihr sie gemäß den
Zusagen an seine Heiligkeit vernichtet und damit Euer Seelenheil befördert. Wenn es Euch Recht ist, brechen wir morgen bei Sonnenaufgang
auf.“
Die Thüringer waren bereit. Bruder Michael ritt auf einem arabischen
Hengst vorne weg, neben ihm die drei Heerführer, die Mannschaften
folgten mit den Vorräten, die Nachhut bildeten die Schützen. „Wisst Ihr,
was man diesen Ketzern vorwirft?“ Friedrich schüttelte den Kopf: „Der
größte Ketzer bei uns ist der vom Papst gebannte Kaiser Ludwig, der so
einiges auf dem Kerbholz hat. Aber was man diesen Leuten vorwirft,
wissen wir nicht.“ „Nun denn. Ich bin hier aufgewachsen und habe den
letzten Feldzug der Heiligen Inquisition miterlebt und kann aus eigener
Anschauung berichten: Sie nennen sich ‚katharós‘, das ist Griechisch
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und heißt die Reinen; von katharós habt Ihr den Begriff ‚Ketzer‘ abgeleitet. Sie sind Satans Auserwählte, gerade weil sie so rein scheinen:
Arme und Bauern dürfen Kinder haben, aber wer sich zu den Reinen
zählt, lebt keusch, in Armut und isst nichts, was durch Zeugung entstanden ist. So weit so gut. So ähnlich leben auch manche Orden. Um jedoch
Ordensbruder oder Ordensschwester zu werden, muss ein wahrer
Christ das Noviziat durchlaufen, beten, arbeiten, leiden und gehorchen.
Und wenn man dann in den Orden aufgenommen worden ist, bleibt es
bei Keuschheit und Gehorsam. Wenn ich gehorche, dann dem Oberen,
der durch Gottes Wahl mir vorgesetzt ist; der hat wieder Vorgesetzte,
und so geht die Gehorsamskette bis zu seiner Heiligkeit als Stellvertreter Gottes. Was aber machen diese Teufelskinder? Wer einmal in die
Sekte aufgenommen war, machte durch Handauflegen weitere Sektenmitglieder, völlig gleich, ob Männer oder Frauen die Handaufleger waren. Stellt Euch vor, Frauen, auch wenn sie unrein sind, sollen das Heil
weitergeben können! Und was zu geschehen hat, bestimmt nicht ein
Vorgesetzter, sondern alle hocken beisammen, reden, reden und reden, statt zu arbeiten, und dann bestimmen sie etwas! Und damit das
Volk ihnen glaubt, predigen und beten sie in der Landessprache! Auch
Frauen predigen! Wie soll denn ein dummer Bauer das Geheimnis des
Glaubens verstehen? Ein dummer Fischer die Wandlung des Leibes
Christi in die Hostie? Und natürlich entrichten sie keinen Zehnten und
lehnen die göttlich gesetzte Herrschaft von König und Papst ab! Tausende, die sich nicht zu ihrem Glauben bekehren wollten sind von ihnen
hingemeuchelt worden. All diese Tausenden sind ohne Sterbesakramente jämmerlich gestorben und zum Höllenfeuer verdammt, weil man
sie ohne die Segnung der Mutter Kirche in die Erde gelegt hat. Deshalb
hat unser seliger Papst diese Ketzernester zerstört, und das letzte Aufbäumen der Satanskinder werdet Ihr zunichte machen!“
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Ihr Weg, geführt von Bruder Michael, war die alte Handelsstraße, die
von Avignon fast immer in Sichtweite des Meeres nach Mittag führte;
nach vier Tagen bogen sie nach Sonnenuntergang ab. Das erste Ziel war
Carcassonne, einst die Hochburg der Katharer, das sie nach zwei weiteren Tagen erreichten. Sie ritten über die Brücke, die hier die Aude überspannte und der Benediktiner reichte der Torwache ein Schreiben des
Papstes, das ihnen Einlass gewähren sollte. Seit die Ketzer aus der Stadt
vertrieben worden waren, galt Carcassonne als die wichtigste Festung
des französischen Königreichs, die das Land gegen das Königreich Aragonien schützte, das auf der anderen Seite des großen, unwegsamen,
kaum bewohnten Gebirges lag.
Die Torwache kam zurück und öffnete den Durchgang in die durch einen
doppelten Mauerring geschützte Stadt, die eigentlich nur noch eine Festung war. In ihrer Mitte lag eine von einer weiteren Mauer und fünf
Türmen geschützte Burg, auf die sich die Truppe zubewegte. „Wir nennen die Burg Grafenschloss, weil seit der Vernichtung des Natterngezüchts hier ein vom König eingesetzter Graf die Grenze und den Glauben schützt. Alle Truppen werden darin untergebracht, also auch wir.
Seht, wir werden schon erwartet!“ Ein behelmter Reiter hielt unter dem
Fallgitter am Ende der Zugbrücke über den Burggraben und entbot
ihnen in der Landessprache ein Willkommen, wendete sein Pferd und
führte die Männer in ihre Quartiere, den Mönch und die drei Herren
zum Palas. „Willkommen“, hörten sie, als sie die Halle betraten. Ein
drahtiger, aber schon älterer Mann saß an der Hohen Tafel und schaute
ihnen neugierig entgegen. „Bruder Michael, deine Mitbrüder erwarten
dich sicher schon! Da ich ein wenig Deutsch kann, brauche ich dich auch
nicht als Übersetzer – wir sprechen uns morgen.“ Der Benediktiner
neigte den Kopf, unterdrückte eine Bemerkung, und verließ die Halle.
„Der hat Euch sicher haarklein erzählt, wie schlimm die Ketzer sind, o-
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der? Sie waren gefährlich, früher, als Jacques Fournier, der für Euch Benedikt XII. ist, sie hier zum letzten Mal zum Schweigen gebracht hat.
Bruder Michael ist das Kind einer katharischen Mutter, der zum glühenden Katholiken wurde – das erklärt vielleicht Einiges und vor allem, warum er jeden Weg und Steg dort oben kennt. Verzeiht, ich vergaß, mich
vorzustellen: Gottfried von Ablis, Großneffe des ersten Inquisitors, der
hier wütete. Ich bin in Lothringen aufgewachsen, deshalb verstehe ich
auch Eure Sprache. Ich weiß, dass der Auftrag, den Ihr im Namen Karls
IV, der ihn wiederum von Clemens VI. bekommen hat, ausführt, völlig
unnötig ist – die Katharer hier sind, wenn überhaupt, noch eine Handvoll Vereinsamte. Aber die große Politik braucht wohl große Gesten,
und wenn Euer zukünftiger Kaiser sagen kann, dass er die Ketzerei
schon mit Waffengewalt bekämpft hat, finden das alle Kirchenleute natürlich erbaulich und gut, und damit auch den, der Kaiser werden will!“
„Ihr meint also, dass wir den ganzen weiten Weg gegangen sind, nur um
die Stimmung im Reich zugunsten des Luxemburgers zu fördern?“
„Wohl schon! Aber deswegen gilt es auch für Euch, das Beste daraus zu
machen: die Kosten des Feldzuges trägt – nehme ich an – Karl von Böhmen?“ Friedrich nickte. „Nun, so genießt das Leben unterwegs, so gut
Ihr könnt. Ihr werdet in den Bergen höchstens ein paar Verrückte finden, aber Bruder Michael wird daraus eine große Schlacht machen und
Ihr kehrt als Helden nach Thüringen zurück!“ Er schaute die drei an: „
Ihr seid Cuno von Steigerthal, nicht wahr? Wir haben, glaube ich, gemeinsame Verwandte in Lothringen; vielleicht haben wir heute Abend
Gelegenheit, darüber zu sprechen, aber jetzt würde ich sagen, dass Ihr
Euch die Festung anschaut und dann speisen wir später oben auf der
Plattform des fünften Turms, einverstanden? Ich sage Euren Leuten, wo
sie Euer Gepäck hinbringen sollen und wir sehen uns, wenn die Sonne
hinter der Montagne du Plantaurel versinkt!“
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Die drei verließen die Halle, gingen über die Zugbrücke und versuchten
sich klarzumachen, was in der Festung zu sehen sei. Die Häuser waren
meist in schlechtem Zustand, die Straßen voller Schmutz, der in der
Sommersglut vor sich hin stank, Kaufmannsstände waren keine zu sehen, aber es gab auch keinen Baum und keinen Schatten. „Lasst uns
hinüber in die Kirche dort gehen, da drin scheint wenigstens die Sonne
nicht!“ Friedrich und Cuno stimmten zu. Sie gingen hinab zur Kirche und
als sie auf dem Weg dorthin einen ihnen entgegenkommenden Mann
mit Händen und Füßen nach dem Namen der Kirche fragten, sagte der:„
Cathédral du Saint Nazaire et du Saint Celse“. Sie öffneten das schwere
Westportal und standen nach dem Eintreten erst einmal still:
Ein dreischiffiges Langhaus im Stil der Römer mit gerader Decke und
Rundbögen als Fenster ließ den Raum ungeheuer groß erscheinen, die
mächtigen, kaum verzierten Stützsäulen wirkten wie die Stämme in einem Wald, und am Ende des Langhauses war – noch nicht fertiggestellt,
aber deutlich erkennbar – ein Querschiff im Stil der Zeit errichtet worden, mit spitzen Fenstern und einem Spitzbogengewölbe, das in einer
Apsis endete, deren bunte Glasfenster das Leben und die Taten der Heiligen, denen diese Kirche geweiht war, darstellten. Bernhards Hoffnung,
dass es in der Kirche kühl wäre, erfüllte sich, und als er und Friedrich
sich am Ende des völlig leeren Langhauses niederknieten, bevor sie sich
an den Rand auf den Boden setzten, lief Cuno noch weiter nach Osten
und bestaunte die Glasfenster. „Da auf der Seite sind die Wunder des
Heiligen Nazaire dargestellt, auf der anderen Seite die des Heiligen
Celse“, sagte eine helle Stimme neben ihm. Er schaute sich um und sah,
dass eine junge Frau mit kurzen blonden Haaren neben ihn getreten
war, die das Gewand einer Novizin trug und sich im Gebet wohl von ihm
gestört gefühlt hatte. „Verzeiht, wenn ich Euch gestört habe“, gab Cuno
sofort zurück. „Nein, nein, Ihr habt mich nicht gestört. Ich bin oft hier
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und versenke mich in die Glasbilder, da hat es mich gefreut, dass jemand anderes sie auch so bemerkenswert findet! Ihr seht ja, dass das
mittlere Fenster noch fehlt, das wird erst noch verbleit – gelegt ist es
schon im Haus des Glasmachers. Da wird die Auferstehung dargestellt
sein, mit genauso prächtigen Farben, und dann werde ich stundenlang
hier knien und mich in die Bilder vertiefen“, die erwartungsvolle Freude
klang in ihrer Stimme mit, „sofern es meine Aufgaben im Kloster zulassen.“ Cuno wusste nicht, wie er seine Fragen loswerden konnte, ohne
die junge Frau zu verletzen, denn es waren ja nicht die Darstellungen
gewesen, die ihn so staunen ließen, sondern die Farben. Wenn der
kleine Cuno zuhause das hinbekommen würde, hätte Steigerthal wieder ausgesorgt! Aber er musste die Lage ausnutzen, die Novizin kannte
offensichtlich den Handwerker und sie sprach Deutsch. „Meint Ihr, der
Glasmacher würde mich das Fenster einmal anschauen lassen?“ „Da bin
ich sicher, er ist der Vater meiner Freundin aus Kindertagen, ich war erst
neulich bei ihm – soll ich Euch hinführen? Es ist nicht weit!“ „Ich weiß
gar nicht, wie ich Euch danken soll – ich laufe schnell zu meinen Begleitern und gebe Bescheid – treffen wir uns an der Pforte?“ Als sie nickte,
rannte Cuno los, sagte Friedrich und Bernhard, was er vorhatte und traf
die junge Frau vor dem Tor der Kathedrale. „Wie kommt es, dass Ihr
meine Sprache sprecht, wenn ich das fragen darf?“ „Ich komme aus
Trier und bin mit meinem Vater, der der Kurie diente, hierhergekommen, und da Carcassonne wie Avignon für alleinstehende Frauen, und
schon gar für Priestertöchter, nicht gut ist, habe ich beschlossen, den
Franziskanerinnen beizutreten. Seht Ihr dort drüben das Haus mit dem
bunten Fenster? Das ist es.“ Sie betätigte die Messinghand, die als Türklopfer am Holz befestigt war, Gleich öffnete eine andere junge Frau die
Tür und nahm Cunos Begleiterin in die Arme und überschüttete sie mit
einem Schwall freundlicher Worte, das konnte Cuno heraushören. Endlich bemerkte sie den Begleiter ihrer Freundin und zog fragend die
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rechte Augenbraue hoch. Das gab der Novizin die Chance, auch etwas
zu sagen, und offensichtlich mit dem gewünschten Ziel, denn die Tochter des Hauses verschwand kurz und kam mit einer einladenden Geste
wieder. Die Frauen gingen voraus in einen großen Innenhof, auf dessen
Boden das Mittelfenster ausgebreitet lag. Der Glaser fügte gerade ein
weiteres Glasstück ein, stand dann auf und reichte Cuno die Hand. Die
Novizin wollte diesen vorstellen, merkte aber, dass auch sie noch nicht
einmal Cunos Namen wusste. Deshalb stellte er sich selbst vor, wie es
in den letzten Wochen so oft nötig gewesen war: „Cuno de Steigerthal,
chevallier en service du pape.“ Die Novizin wies auf den Glaser: „Maître
Gérard, sa fille Nicole et je suis Bernadette.“ Dann erklärte sie Meister
Gérard, warum sie Cuno mitgebracht hatte; der war offensichtlich erfreut, das jemand seine Kunst so hoch schätzte und erzählte, mit Bernadette als Übersetzerin, dass ein berühmter Maler den Entwurf für die
Glasfenster mache und in Orginalgröße auf den Boden des Hofes male;
wenn das Bild dann ausgemalt sei, beginne die Arbeit des Glasers: alle
Stellen mit der gleichen Farbe würden in einem Schmelzvorgang hergestellt, also alles, was zum Beispiel hellbraun werden soll, würde nach
dem Entnehmen aus dem Schmelztopf mit der Glasbläserpfeife mit Zangen und langstieligen Löffeln direkt auf dem Bild in die jeweils benötigte
Form gebracht. Besonders schwierig sei das am Anfang, wenn alles
leicht verrutschen könnte, deshalb würde Gérard immer mit der am
häufigsten vorkommenden Farbe anfangen. Das war das Stichwort für
Cuno: „Fragt ihn doch bitte, wie er das Glas färbt, denn Pflanzenfarben,
die wir so für Stoffe verwenden, geben bei der nötigen Glut keine Farbe
mehr ab.“ Bernadette stellte die Frage und der Glasbläser schaute kurz
prüfend zu Cuno, der ihn freundlich anlächelte, dann gab er sein Geheimnis preis, wohl wissend das ein deutscher Ritter kein Konkurrent
für ihn in Carcassonne sein würde „ Um das Glas braun zu färben, fügt
er der Schmelzmasse etwas Eisen zu; je mehr Eisen, desto dunkler das
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Braun; gelb wird das Glas durch die Zugabe von Silber; durch die Zugabe
von Gold ergibt sich die wichtigste Farbe, nämlich rot; grün ist schwierig, da braucht Gérard etwas, das er ‚rotes Bleierz‘ nennt, das er bei jüdischen Kaufleuten erwirbt, die es ihm aus dem fernen Russland bringen; und blau wird das Glas durch die Zugabe von Kobald – ich weiß
aber nicht, was das ist!“ „Könnt Ihr ihn danach fragen?“ Der Glasbläser
musste grinsen, bevor er antwortete: „Kobold nennen es die Bergleute,
weil sie glauben, dass die Berggeister ihr Spiel mit den Steigern treiben:
Es sieht aus wie Silber, und wenn man es einschmilzt, stinkt es ganz
fürchterlich; es ist aber kein Silber, denn Silber kann man verarbeiten,
Kobald nicht. Aber es gibt ein wunderbares Blau!“ Cuno war höflich genug um sich das mittlere Fenster erklären zu lassen, dankte dann Gérard
und Nicole und besonders Bernadette und verabschiedete sich.
Als er in die Grafenburg zurückkam, erwarteten ihn Gottfried von Ablis
und seine beiden Mitstreiter bereits auf der Plattform des Bergfrieds,
Noch ganz außer Atem vom Erklimmen der vielen Treppenstufen stieß
Cuno einen Ruf der Bewunderung aus: „ Was für ein Anblick! Die Festung unter uns, die Schwarzen Berge hinter uns und vor uns die Berge
von Plantaurel – das da drüben, wo die Sonne gerade untergeht, sind
sie doch, oder?“ Gottfried nickte: „Und da, wo nichts zu sehen ist, dort
in Richtung des ganz hohen Gebirges, waren die Ketzer zu Hause, und
da werdet Ihr morgen hinreiten. Aber lasst uns heute noch den Abend
genießen!“ Über die Plattform des Turmes war ein Segeltuch gespannt,
so dass die Sonne tagsüber die Kalksteine, aus denen der Turm gebaut
war, nicht aufheizte, und jetzt gegen Abend blies ein lauer Wind von
den Bergen herab und brachte Kühlung. Der Graf hob seinen Pokal und
trank seinen Gästen zu. Dann beugte er sich über die Brüstung und stieß
einen schrillen Pfiff aus, der scheinbar nicht zur Kenntnis genommen
wurde, denn es geschah nichts. Doch dann hörten die Herren, wie
Schritte die Treppe hinauf stürmten und zwei Knappen brachten Körbe
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mit Tellern, Wasserkannen, frischem Brot und eine Schale mit Äpfeln;
während der eine das Mitgebrachte auf dem Tisch verteilte, beugte sich
der andere ebenfalls über die Brüstung, wie vorher der Graf und zog
dann mit einem Seil einen weiteren Korb nach oben, in dem dampfender Braten und gedünstete Wurzeln lagen und ein Weinschlauch für
den Nachschub.
„Setzen wir uns, damit die Burschen servieren können!“
Als sie gesättigt waren, lenkte Gottfried nochmal das Gespräch auf die
Katharer: „Wie Ihr aus meinen Bemerkungen heute Nachmittag sicherlich herausgelesen habt, halte ich die sogenannten Ketzer für nicht so
schlimm wie viele andere, vor allem mein Großvater. Aber ich bin ja hier
auch nicht als Inquisitor, sondern um die Grenze Frankreichs zu sichern.
Was haben sie denn getan, außer die Mutter Kirche und den sogenannten Stellvertreter Gottes auf Erden zu ärgern? Wie die ZisterzienserMönche haben sie dem kargen Boden die Nahrung abgerungen; das
fünfmalige Gebet an jedem Tag war ihnen Dienst Gottes, mit dem man
in der Sprache spricht, mit der man aufgewachsen ist – schließlich hat
Gott beim Turmbau zu Babel alle Sprachen selbst erschaffen! Unkeuschheit, Faulheit, Lüge und Ungerechtigkeit waren ihnen ein Gräuel, vom
Teufel schon bei Adam und Eva in den fleischlichen Leib gepflanzt. Ich
sage Euch, solange die Katharer hier das Sagen hatten, gab es keine Seuche, keine Bettelei, keine wilden, in Schlägereien oder gar Fehden endende Feste, aber es gab genügend Nahrung für alle, ein Dach über dem
Kopf und durch die Neuerungen, die sie in der Glasherstellung, der Metallverarbeitung oder auch beim Ackerbau einführten, gab es einen gewissen Wohlstand. Ich erinnere mich noch gut, dass ich als Knappe in
Montaillou dabei war, als Jacques Fournier es das letzte Mal zerstörte,
und ich habe mich da schon gefragt, was so schlimm daran ist, wenn
Menschen in einer Gemeinschaft friedlich miteinander leben, Streitig-
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keiten ohne Gewalt lösen und zum Beispiel Schalen und Kelche herstellen können, wie sie unsere Schmiede nie hinbekommen. Die Pokale, aus
denen Ihr trinkt, sind aus katharischem Besitz – ich habe sie gekauft,
nicht erbeutet!“ Er prostete ihnen zu und erläuterte das kunstvolle
Muster, unter anderem ein Radkreuz. „Der letzte Perfectus, so nannten
sich ihre Gemeindevorsteher, Gulliaume Belibaste, ein Perfectus, der
wirklich dem Begriff entsprach, wurde vor fünfundzwanzig Jahren auf
dem Scheiterhaufen hier in der Nähe verbrannt. Was dem Papst aber
wohl zu schaffen macht, ist, dass in Aragonien, Florenz und Umbrien
immer noch Prediger auftauchen, die das Gleiche lehren wie Belibaste.
Und alle haben, wenn sie denn festgenommen werden, ein Zeichen in
der linken Achselhöhle, ein mit Tinte eingestochenes Radkreuz, das,
was Ihr hier auf den Pokalen seht, wie ein Kreis mit vier Speichen aussieht, vielleicht als Symbol dafür, dass Jesus Christus in allen Himmelsrichtungen herrscht. Genug davon - erzählt, wie es Euch auf dem Weg
hierher ergangen ist: Ich habe nicht oft Gäste, die etwas berichten können!“ Friedrich berichtete von Rhense, der Königswahl, dem vermutlichen Ausgang der Schlacht um Crecy und endete mit fast dem gleichen
Satz, der Cuno in Avignon durch den Kopf gegangen war: „Englische Bogenschützen haben auf hundert Fuß Entfernung ein französisches Ritterheer abgeschossen, und wir haben hier Handrohre, mit denen unsere Schützen hundertfünfzig oder zweihundert Fuß entfernte Ziele
treffen – aber König Philipp wollte einen Ritterkampf um zu beweisen,
dass die französischen Ritter die Krone der Krieger sind!“ „Nun, darum
wird es die nächsten Tage nicht gehen!“ Gottfried von Ablis erhob sich:
„Bruder Michael wird Euch am Morgen sehr früh abholen; das ist nicht
nur Kasteiung, sondern bei der Hitze notwendig! Lebt wohl, verrichtet
Euren Auftrag, und wenn Ihr aus den Bergen dann direkt nach Avignon
zurückkehrt, lasst König Philipp berichten, dass die Grenze zu Aragonien
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gesichert ist!“ Damit reichte er ihnen die Rechte und alle zogen sich in
ihre Quartiere zurück.
Die Sonne war noch nicht ganz aufgegangen, aber es war schon hell genug, um den Weg zu erkennen: Ein schmaler Pfad führte zwischen Hügeln, die so hoch waren wie die Berge in Thüringen, ins Gebirge. Selbst
jetzt, im Sommer, waren einige der Gipfel ganz weit oben noch weiß
von Schnee und Eis, und so manches Mal wünschten sie sich die Hitze
Carcassonnes zurück. Die fast hundertdreißig Reiter brauchten lange,
um voranzukommen, denn der Weg war wirklich so schmal, dass keine
zwei Pferde nebeneinander traben konnten.
Nach zwei ereignislosen Tagen überquerten sie an einer Furt die Aude,
an deren Ufer sie seit Carcassonne entlang geritten waren und dann
kam endlich gegen Abend der Ruf Bruder Michaels, auf den sie so lange
warten mussten: „Da drüben auf dem kleinen Höhenzug, das ist Montaillou, das letzte Heim der Ketzer, wie unser seliger Papst zu sagen
pflegte. Die zwei Mauern dahinter auf dem Hügel sind alles, was von
der Burg übriggeblieben ist, die mein Vorgänger Jacques Fournier damals stürmen und schleifen ließ. Und doch hat der Ungeist überlebt!“
Und damit wies er auf eine Hütte am Rand des schon fast völlig zerstörten Dorfes, aus der nun, da es gegen Abend ging, leichter Rauch aufstieg. „Es ist zwar lächerlich, mit einer solchen Streitmacht gegen eine
Hütte vorzugehen, aber wir haben es bis hier her geschafft, jetzt vollenden wir die Tat. Dann hat König Karl bewiesen, dass er ein wirklicher
Verteidiger des Glaubens und der Kirche ist, den man ruhig zum Kaiser
machen kann, und ich habe Böhmen und die Luxemburger fest an meiner Seite! Bernhard, Cuno – gebt euren Leuten die notwendigen Befehle.“ Das geschah. Die Lanzenreiter bildeten einen Kreis um das Ende
des Dorfes mit der Hütte, das erste Dutzend Schützen zog sich mit allen
steigerthaler Pferden an den Fuß der zerstörten Burg zurück, das zweite
Dutzend bezog hinter dem Dorf an der steilsten Stelle des Höhenzuges
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Stellung, um mögliche Helfer der Dorfbewohner aus den umliegenden
Tälern abwehren zu können. Das vereinbarte Hornsignal erklang. Die
Reiter senkten die Spitzen ihrer Lanze etwa auf Brusthöhe eines möglichen Gegners und ritten langsam auf die Hütte zu, den Ring immer enger schließend. Die Schützen hatten ihre Waffen geladen und positioniert und bereiteten die Lunte vor.
Das Hornsignal hatte aber auch die Bewohner der Hütte alarmiert: die
Tür wurde aufgerissen, eine alte Frau und ein etwa sechzehnjähriger
Bursche stürmten hinaus und erstarrten beim Anblick der Angreifer.
Bruder Michael ritt auf sie zu und verhörte sie im Dialekt dieser Gegend.
Nach wenigen Minuten kehrte er zu den drei wartenden deutschen Adligen zurück: „Es ist wie erwartet. Natürlich sind sie treue Kinder der
Mutter Kirche und wüssten überhaupt nichts von den Dingen, von denen ich spräche! Gebt mir ein paar Leute mit, damit wir das Haus durchsuchen können; vielleicht finden sich Belege, dass das, was sie behaupten, nicht so ist, vielleicht haben sich noch mehr dort versteckt.“
Waldenburg befahl ein paar der Lanzenreiter abzusteigen und den
Mönch zu begleiten. Die zerrten die beiden Bewohner etwas unsanft
von der Tür weg und traten ein. Die Zeit verging, es war schon Nacht
geworden, als der Inquisitor mit einem Aufschrei einen Fund kundtat.
„Ich wusste es! Das Neue Testament auf Provençalisch, nur das Neue
Testament. Ketzer!“ Damit wandte er sich zu den beiden Bewohnern:
„Wo ist der Bursche?“ herrschte er mehr die Soldaten als die alte Frau
an, denn in der Tat war der Junge verschwunden und nur noch die Alte
stand zitternd neben der Tür, durch die jetzt die paar Lanzenreiter hinausdrängten, um sich selbst davon zu überzeugen, dass einer der beiden Gefangenen es geschafft hatte, den Ring der Bewaffneten zu verlassen ohne gesehen zu werden. „Tja, scheinbar hat er sich Eure Aufregung und die Nacht zu Nutze gemacht und ist geflüchtet. Tut mir leid.
Lasst uns hier das Lager aufschlagen, wir suchen den Kerl morgen. Und
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wenn er noch in der Nähe ist, sehen wir ihn vielleicht jetzt – Augen offenhalten!“ Mit diesen Worten nahm Bernhard von Waldenburg dem
Mönch den brennenden Holzscheit, der als Fackel diente, weg und warf
ihn durch die offene Tür in die Hütte. In kürzester Zeit stand das hölzerne Gebäude in Flammen, die alles vernichteten, was sich darin befunden hatte. Aber auch im Licht des Feuers konnten sie den Burschen
nicht entdecken. Also machten sie sich an die Arbeit, versorgten die
Pferde, bereiteten Schlafgelegenheiten vor und erwärmten das mitgebrachte geräucherte Fleisch und das Brot. Wie im Feldlager üblich, hatten auch die drei Anführer die gleiche Verpflegung, die sie mit ein paar
Bechern kalten Wassers aus einem nahen Bächlein herunterspülten.
Bruder Michael hockte brütend neben dem gefundenen Neuen Testament und bewachte die unterdessen gefesselte Alte höchst selbst. „So
etwas darf nicht geschehen, das hat Gott nicht gewollt, das ist Verrat,
Unfähigkeit, selbst Ketzerei – diese verfluchten Deutschen…“ Das war
von seinem Gebrummel zu hören. Waldenburg wischte das Ganze mit
einer Handbewegung weg und legte sich, in seine Decke gewickelt nieder. Eine kühle Nacht mit einem sternenübersäten Himmel deckte sich
über das Geschehene.
Früh am nächsten Morgen gingen die Suchtrupps los, aber von dem entwichenen Burschen fand sich keine Spur. Bruder Michael streifte noch
einmal durch das ganze, nun völlig zerstörte Dorf und suchte nach Spuren oder Belegen, aber ohne Erfolg. Gegen Mittag beschlossen die Anführer, den Rückweg anzutreten. Mit Gottfried von Ablis war in Carcassonne ja schon verabredet worden, dass sie direkt zum Meer reiten
würden, um die Strecke zu verkürzen.
Der Inquisitor sollte ihnen den Weg weisen, zurück durch die Schlucht
der Aude bis zur Burg von Puilaurens und dann immer bergabwärts bis
in Sichtweite des Meeres. In seinem Ärger ritt der Mönch voraus, hinein
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in die Schlucht, durch die sie gestern nach oben geritten waren. Er haderte weiter mit dem Schicksal und verwünschte die Thüringer.
Es schien wie ein Zeichen des Himmels, dass just in dem Moment, in
dem Bruder Michael als erster um eine der Felsnasen bog, sich ein Gesteinsbrocken löste und Mann und Pferd beinahe erschlug. Alle schauten sofort nach oben, ob sich Feinde dort verborgen hätten, aber der
Fels hatte sich mitten am Hang gelöst, ohne dass sichtbar nachgeholfen
worden wäre. „Zur Sicherheit eine Salve rechts, eine Salve links an den
Felsrand“, rief Cuno seinen Schützen zu. Die benötigten etwas Zeit, um
zu laden und zu zünden, aber dann krachten die beiden Salven mit ungeheurem Getöse an die Kanten der Schlucht. Felsbrocken, Steine, abgerissene Büsche polterten in die enge Schlucht, und plötzlich ertönte
ein Schrei. Einige sahen, wie ein Mensch, der sich an ein Gebüsch geklammert hatte, mitsamt diesem Gebüsch vom Felsrand hinunter in die
Tiefe stürzte und unten auf dem herabgestürzten Gestein aufschlug.
Der Mönch bemerkte, dass die auf ein Pferd hinter ihm gebundene Alte
versuchte, den Kopf wegzudrehen, und ein Verdacht machte sich in ihm
breit: „Ich bin sicher, das ist der geflüchtete Kerl, lasst uns hin gehen
und nachschauen. Und du“, damit deutete er auf den nächsten Lanzenreiter, „bist dafür verantwortlich, dass diese Hexe auch nachher noch
hier und am Leben ist!“ Er kletterte über das Geröll und gelangte, gefolgt von den drei Adligen, zu dem Gefallenen, der von Brocken zerquetscht auf dem Geröll lag. Cuno fühlte sofort wieder die Schmerzen,
die er durchlitten hatte, als er damals im Schacht verschüttet worden
war. Er kniete neben dem Mann nieder, aber es gab kein Leben mehr.
Aus dem wenigen, was noch zu erkennen war, schlossen sie, dass es
tatsächlich der Geflüchtete war. „Wir werfen ihn an den Rand der Aude,
dort sollen die Teufel nach seiner Seele auch seinen Körper holen!“ Die
Soldaten versuchten, den Weg so gut wie möglich frei zu räumen, damit
der ganze Zug durch die Schlucht käme, und als einer, der den Toten am
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Arm ein wenig weiter zog, wie es Cuno ihm geheißen hatte, um einen
großen Brocken wegrollen zu können, riss dessen Kittel auf und gab das
in die Achsel eingestochene Ringkreuz preis. Cuno rief Friedrich und
Bernhard und alle drei mussten dem Mönch Recht geben: Gottfried
hatte ihnen erst vor drei Tagen von diesem Geheimzeichen der Katharer
berichtet, und nun sahen sie es vor sich! Der Mönch schäumte vor Wut
und ließ sie an der alten Frau aus. Auch ohne ein Wort zu verstehen war
jedem klar, worum es Bruder Michael ging. Nach endlos scheinender
Zeit antwortete die Alte leise, und der Inquisitor berichtete den anderen: „Der Bursche war ihr Enkel; die Mutter gestorben beim letzten Einäschern des Dorfes. Sie hat ihn großgezogen. Als er vor wenigen Wochen eine Ladung Kräuter nach Aragonien brachte, habe er einen ehemaligen Bewohner von Montaillou getroffen, der ihn in die Irrlehre eingeführt und ihm das Buch geschenkt habe. Der Junge habe sie gezwungen, ihm das Radkreuz zu stechen und dann von ihr verlangt, dass sie,
die sich nur von Wurzeln und Kräutern ernähre, Brot backe, damit er
drüben auf der anderen Seite des Gebirges an der Brotsegnung teilnehmen könne, dieser ketzerischen Zeremonie. Deshalb habe sie Feuer gemacht und deshalb hätten wir sie gefunden – ob es wahr ist oder nicht,
was sie erzählt, das wird der heilige Folterkeller in Narbonne aus ihr
herausquetschen!“
Steigerthal, Sommer 1347
Der ‚kleine‘ Cuno stand mit dem Glasbläser Františec und seinem Vater
gespannt am Schmelzofen und wartete, bis der Böhme die Fritte für
heiß genug hielt. Mit der Pfeife nahm er ein Stück der geschmolzenen
Masse auf und blies sie zu einer Kugel. „Das ist nicht zu glauben,“ rief
der ‚kleine‘ Cuno, der immer noch so oder einfach ‚der Kleine‘ genannt
wurde, obwohl er mit seinen sechzehn Jahren seinen doch schon leicht
gebeugten Vater fast um Haupteslänge überragte. Dieser lächelte in
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sich hinein und freute sich, dass auch das rote Bleierz, das ihm Maître
Gérard als Färbemittel genannt hatte, eine solche Farbkraft entwickelte. „Jetzt haben wir Weiß, Gelb, Braun, Grün schon in verschiedenen Stärken probiert; und nun Rot! Jetzt können wir alles machen, was
die Leute wollen!“ Auch Františec war begeistert, weil er ein solches
Glas noch nie gesehen hatte. „Es hat lange gedauert, bis wir das Bleierz
bekommen haben, das stimmt. Aber Landgraf Friedrich war mir nach
dem verrückten Zug zu den Ketzern noch einiges schuldig, und einer der
jüdischen Händler in Erfurt konnte es dann ja auch herbeischaffen. Hast
du viel für das leuchtende Rot gebraucht?“ Der Böhme schüttelte den
Kopf: „In dem Beutel war ein Pfund, Ihr habt es mit einem Pfund Silber
bezahlt, und ich habe so viel davon genommen, dass es auf der Wage
einer halben Mark entsprach – da ist noch viel übrig! Ich werde lauter
rote Gläser machen und das schönste bekommt natürlich Herrin Salwa,
aber das zweitschönste schenke ich der Gertrude, der Tochter vom Eisenzieher!“ „Pff, das bringe ich ihr!“ Jetzt musste der alte Cuno wirklich
grinsen: „ Die Gertrude ist doch viel zu alt für dich, Cuno, die passt besser zu Františec.“ „Aber sie ist das schönste Mädchen im Dorf!“ „Das
stimmt allerdings“, bestätigten ihm die beiden anderen, und Cuno, der
Vater, dachte, dass das rote Glas sicher gut zu den vollen roten Lippen
und tiefblauen Augen des Mädchens passen würde. Der ‚kleine‘ Cuno
war mit seinen nun sechzehn Jahren ein hochgeschossener, durch die
Arbeit kräftiger junger Mann geworden, mit den schwarzen Augen seiner Familie und dem kastanienfarbenen Haar und den hochliegenden
Wangenknochen seiner Mutter; und er war, wie Vater und sein Bruder,
schon sehr früh schon sehr am weiblichen Geschlecht interessiert. Er
hatte sich geweigert, als Knappe auf irgendeine Burg zu gehen, wo er
lauter unnützes Zeugs lernen würde wie Tjosten oder Turnieren; ein
Schuss aus einem Hand-rohr und der Sieger wäre gefunden. Deshalb
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war er in Steigerthal geblieben und hatte lieber mit Františec, dem Eisenzieher Gabriel und dem Zimmermann Franz an der Verbesserung
von Silbergewinnung, Waffenherstellung und Glasbläserei gearbeitet;
deswegen freute ihn die neue Farbe besonders.
Mehr als ein halbes Jahr waren vergangen, seit die unter dem Kommando des Landgrafen stehende Truppe vom Meer zurück gekommen
waren, unversehrt, zumindest die fünfundzwanzig aus Steigerthal, etwas reicher als vorher – König Karl bezahlte gut - aber froh, wieder zu
Hause zu sein. Und ohne die Pest mitgebracht zu haben:
Sie hatten das Meer auf dem Rückweg von Montaillou an zahllosen zerstörten Dörfern und Burgen der vernichteten Katharer vorbei erreicht
und sich gerade auf drei leeren Frachtseglern eingeschifft, als ihnen von
einem vorbeijagenden Zweimaster die Nachricht zugerufen wurde, dass
die Pest in Avignon ausgebrochen sei. Die drei deutschen Edlen gaben
den Kapitänen den Befehl längsseits zu gehen und berieten sich auf dem
Boot, das unter dem Befehl des Landgrafen stand. „Wenn wir uns wie
verabredet in Narbonne absetzen lassen, um den gleichen Weg zu nehmen wie auf dem Herweg, kommt vielleicht keiner mehr zurück nach
Hause.“ Man konnte Bernhard von Waldenburg die Sorge ansehen.
„Wie viel Silber hast du noch?“ „Einen ganzen Kasten – du meinst, wir
sollten die Kapitäne dazu bringen uns woanders hin zu bringen?“ „Das
wäre sicher ein Ausweg. Wir sollten uns aber einig sein, wohin wir wollen, damit wir mit ihnen verhandeln können.“ „Ihr wisst doch, dass dein
und mein Vorfahre den Rückweg aus Zypern über Italien genommen
hat, der eine etwas früher, der andere etwas später. Aber beide haben
gesagt, so habe ich zumindest gehört, dass der Weg gut zu machen sei.
Ideal wäre Livorno, aber Genua ginge auch schon.“ „Bist du einverstanden, Bernhard?“ Der nickte, und Friedrich von Thüringen begann mit
den Kapitänen, die nun auch alle auf dem gleichen Boot waren, zu verhandeln. „Wenn in Avignon die Pest herrscht, dann wird euch niemand
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Waren abkaufen, die vielleicht den Pesthauch an sich haben. Also wäre
es für euch wie für uns besser, nicht schon bei Nîmes an Land zu gehen,
sondern viel weiter weg von dem Pestnest Avignon – wie lange bräuchten die Boote bis Livorno?“ Die Schiffsführer verhandelten in ihrem Dialekt untereinander und schließlich teilte der eine, der etwas Deutsch
sprach, mit, worauf sie sich einlassen könnten: „ Livorno ist viel zu weit.
Wir segeln zurück an Land, kaufen Vorräte für zwei Wochen, die Ihr bezahlt. Dann versuchen wir, bis Genua zu segeln – nicht weiter. Und dafür
bekommen wir das Zehnfache an Lohn, den Ihr bis Nîmes bezahlt habt!“
„Das Fünffache.“ „Das Zehnfache!“ Die Stimmen wurden lauter, aber es
dauerte eine ganze Weile, bis beide sich bei ihren Forderungen bewegten. Schließlich bot Friedrich das Achtfache, der Kapitän sprach noch
einmal mit den beiden anderen und per Handschlag wurde das Geschäft
besiegelt. „Bin ich froh, dass wir so viele Männer dabei haben, die würden uns sonst ganz einfach im Meer versenken!“ flüsterte Bernhard
Cuno zu. „Aber Hauptsache, sie tun erst einmal das, was wir von ihnen
verlangen.“
Zwei Tage später stachen sie wieder in See. Die Männer hatten die
Hälfte der Pferde verkauft, um genug Platz für das Futter und das Wasser für die restlichen Tiere zu haben, für die Leute war Brot, Speck, gepökelte Fische, Bier und Wasser besorgt worden und alle richteten sich
auf eine ruhige, lange Seefahrt ein; es war noch zu früh für die Herbststürme. Außerdem hielten sich die Frachtsegler immer in Sichtweite der
Küste, weil sie mit ihren flachen Rümpfen für höheren Seegang und
Wellen nicht geeignet waren. Als sie am dritten Tag in das Gebiet der
Rhone-Mündung kamen, färbte sich das Wasser des Meeres bräunlich
von dem Dreck, den die Rhone mit sich trug. Wenn sie diese Strecke
während der Nacht passiert hätten, hätten höchstens der Ausguck und
die Steuermänner das bemerkt, was bei Tageslicht für alle sichtbar war.
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Und alle sahen auch, was auf sie zutrieb: ein Frachtensegler, etwas kleiner als ihre Boote, mit einem zerrissenen schwarzen Segel trieb auf sie
zu; es bewegte sich nichts an Bord; doch als das Boot näher kam, schauderten die meisten: es war über und über voller Pestleichen. „Könnt ihr
dem Leichenschiff ausweichen?“ „Schon“, kam die Antwort des einen
Kapitäns, „aber der Abstand wird recht gering sein!“ „Cuno“, brüllte
Friedrich, „deine Schützen müssen das Boot versenken, bevor es uns zu
nahe kommt – hundert Fuß ist doch eure Entfernung für einen sicheren
Schuss, oder?“ Cuno nickte nur und gab seinen Leuten die notwendigen
Befehle. Wieder dauerte es eine Zeit lang, bis die Waffen aus ihren wasserdichten Verpackungen geholt, Pulver, Kugel und Stopfen eingebracht waren und der Zündschwamm glühte. „Schießt, sobald ihr bereit
seid, immer auf die Planken, die gerade so unter Wasser sind. Und
schießt, bis das vermaledeite Schiff abgesoffen ist!“ Die ersten Kugeln
schlugen ins Wasser, dann hatten die Schützen ihre Rohre richtig eingestellt, warteten, bis die Bordwand eine bestimmte Höhe erreicht hatte
und drückten dann erst ab. Die Bleikugeln rissen große Löcher in den
wohl schon morschen Rumpf des Leichenbootes. Es bekam Schlagseite,
aber bevor es sank entleerte sich ein großer Teil der Ladung ins Wasser.
„Bindet euch Tücher vor Mund und Nase, bewegt euch so wenig wie
möglich, und ihr, Seeleute, bringt die Schiffe so schnell wie möglich von
hier fort!“ Friedrich unterstützte das Gesagte mit Gesten und Handbewegungen, so dass alle verstanden, was er meinte. Bald liefen die
schwerfälligen Frachter vor dem Wind und entfernten sich schnell von
der Stelle, an der das Leichenboot gesunken war. Dabei entfernten sie
sich immer mehr von der Küste, aber in diesem Fall schien Flucht besser
als sicheres Navigieren. Als die Sonne sich dem Horizont näherte, steuerten sie nach Norden und kamen gerade noch in Landsicht, bevor die
Nacht einbrach. Wo genau sie waren, wusste allerdings niemand. Am
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Morgen stellten die Seeleute fest, dass sie schon an Marsilia vorbei waren, wo sie eigentlich die Wasservorräte auffüllen wollten, aber sie liefen den nächsten Hafen an und versorgten sich für den nächsten Teil
der Fahrt. Noch zwei Mal geschah das, dann setzten die Frachter die
Thüringer wohlbehalten nach einer in der Folge ereignislosen Fahrt in
der Nähe von Genua an Land. Friedrich bezahlte die vereinbarte Summe
und die drei Schiffe kehrten sofort zurück, um aus dem Herrschaftsbereich der Genueser, die sie fürchteten, zu entkommen. Soldaten und
Schützen mussten sich erst einmal wieder an festen Boden gewöhnen;
sie suchten einen Lagerplatz und bewegten die Pferde, die auf den
Frachtern völlig steif geworden waren. „Cuno, du gehst in die Stadt und
versuchst, Pferde zu kaufen; hier sind zwei Beutel Silber – schau, wieviel
du dafür bekommst. Bernhard, wir begleiten Cuno ein Stück und gehen
dann zur Signoria, damit wir einen Passierschein für unsere Truppe bekommen.“
Sie ließen die Männer am Ufer zurück, vielleicht eine halbe Stunde Richtung Sonnenuntergang von Genua und machten sich auf in die wichtigste Stadt am Mittelmeer. Als sie näher kamen, sahen sie als erstes
das Meer vor dem Hafen. „Was ist denn hier los? Da liegen doch mindestens fünfzig Schiffe – und die Hafeneinfahrt ist mit einer Kette verschlossen. Das sind doch keine Kriegsschiffe, oder?“ „Nein, das sind
Kauffahrer. Aber warum müssen die außerhalb des Hafens bleiben? Genuas Macht und Reichtum kommt doch aus dem Seehandel…“ Und
dann sahen sie es: ein Frachtkahn, mit gebrochenem Mast und zerfetztem Segel; er war wie der Kahn an der Rhone bis zum Rand mit Leichen
gefüllt, trieb auf die Sperrkette des Hafens zu, glitt darunter durch, nicht
ohne ein paar Leichen zu verlieren und jagte die vor dem Hafen liegenden Boote auseinander, auf denen jetzt überall stark qualmende Feuer
entzündet wurden. „Verdammt. Die Pest war schneller als wir. Lasst uns
so schnell es geht unsere Leute aufsammeln, und dann schlagen wir uns
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dort durch“. Friedrich deutete auf den Einschnitt zwischen zwei Bergmassiven an der Küste, nicht weit von ihrem Lagerplatz. „Ich weiß ja
nicht, ob diese Halunken von Seeleuten etwas gewusst haben, aber
jetzt kommt es mir schon verdächtig vor, dass sie uns vor Genua an Land
gebracht haben und so schnell verschwunden sind!“ „Das ist jetzt einerlei, Cuno, wir müssen hier weg.“ Sie berichteten ihren Leuten, was sie
gesehen hatten. So schnell war noch kein gerade errichtetes Lager abgebaut! Alles wurde auf die Pferde verladen und die Männer liefen, so
schnell sie konnten, weg von der Küste, hinein ins Gebirge. Als sie eine
gewisse Entfernung zwischen sich und die verseuchte Stadt gebracht
hatten, fragte Cuno: „Warum haben die auf den Schiffen Feuer entzündet – die wollten sich doch nicht selbst versenken?“ „Nein. Ich habe
mich damals, als wir in Weißenfels den Vertrag mit Günther von
Schwarzburg geschlossen haben und das Judenkind erkrankte, bei den
Heilkundigen und anderen durchgefragt: Die einfachen Priester predigen dem Volk, dass die Pest die Strafe Gottes für unsere Sünden ist.
Manche, die daran glauben, ziehen durch die Lande und peitschen sich
selbst; sie hoffen, dass Gott ihre Schmerzen wohlgefällig sind. Papst Clemens hat diese Geißler, wie sie sich nennen, als Ketzer bezeichnet, denn
Gott ließe sich nichts abhandeln. Die Ärzte und Bader sagen, die Pest
werde von einem schlechten Lufthauch verbreitet. Deshalb die Feuer,
die den Hauch abhalten sollen. Und dann gibt es diejenigen, wie wir ja
in Weißenfels auch schon gesehen haben, die die Juden beschuldigen,
das Brunnenwasser zu vergiften, um all unseren Besitz an sich zu bringen. Das halte ich für ganz unsinnig, denn wenn die Pest auftaucht, sterben Christen, Juden und Moslems gleichermaßen. Das sicherste Mittel
gegen die Krankheit scheint es zu sein, so schnell wie möglich den Ort
zu verlassen, an dem die Pest auftritt!“
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Der Weg war beschwerlich und, zugewachsen wie er war, wohl schon
lange nicht mehr benutzt worden, aber wenigstens trafen sie keine Leichen an und der Wind aus dem Gebirge brachte kühle, reine Luft. Wieder lagerten sie bei Sonnenuntergang, und diesmal entzündeten sie
große Feuer, auf die Moos und Zweige geworfen wurden, nachdem das
Essen gewärmt worden war. Die Pferde wurden an einem Bächlein getränkt und mit langen Zügeln am Gebüsch und den kleinen Bäumen
festgebunden, so dass sie sich bewegen, lagern und fressen konnten,
wie sie wollten. Die Männer würden sie noch sehr benötigen, hatten sie
doch einen Gutteil der Tiere schon verkauft, und jedes weitere Pferd,
das ausfiel, bedeutete einen Fußsoldaten mit seiner Ausrüstung und
seiner Verpflegung mehr. Sie waren so schon langsam genug!
Sie quälten sich, es war immer noch heiß, über das Gebirge und dann
fast genau nach Norden. Hier fanden sie einen Fluss, den die Einheimischen ‚Erro’ nannten, dem sie bis zu seiner Mündung folgten und dann
dem Fluss, in den der Erro mündet, bis sie an den Oberlauf des großen
Flusses kamen, der Italien durchquert. Eine Furt erlaubte das Überwinden des Wassers. Nun waren es noch wenige Tage bis Mailand, der großen Stadt im Norden.
„Ich habe Luchino Visconti, den Stadtherren, einmal bei meinem
Schwiegervater getroffen, ein hervorragender Heerführer, der uns sicherlich einen Geleitbrief mitgibt, der bis zu dem Gebirge gilt, das Italien
vom Norden trennt. Und vielleicht können wir bei ihm ein paar Pferde
kaufen!“
Das Land wurde immer flacher; überall waren die Menschen bei der
Ernte, bei der jede Hand gebraucht wurde, sodass sich mancher Lanzenreiter ein Zubrot verdiente, indem er einem Fuhrwerk aus dem Graben
half, in das es gestürzt war oder indem er sein Pferd kurz ebenfalls an
einen Karren schirrte, um diesem weiter zu helfen. So fanden sie nahe
bei der Stadt auch einen guten Lagerplatz, der den Pferden reichlich
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Stroh bot, nachdem die Männer beim Abtransport des Getreides geholfen hatten. Friedrich ließ in gewohnter Weise das Lager errichten, Wachen einteilen und erlaubte jeweils einer kleinen Gruppe von Soldaten,
die Stadt zu besuchen. „So, und wir machen uns auf zum Palazzo del
Broletto Vecchio, dort residiert Luchino, wie er selbst erzählt hat!“ Der
Landgraf suchte sich ein etwas stattlicheres Pferd als das, das er tagsüber geritten hatte, Waldenburg bestieg seinen alten Hengst und Cuno
hätte seinen Berno gegen kein anderes Pferd eingetauscht. Nebeneinander ritten sie auf der breiten Straße auf das Stadttor zu, wo Friedrich
seinen Mantel über dem Wappen öffnete und sein Begehr vortrug. Einer der Stadtknechte nahm Bernos Zügel und führte die drei über eine
Brücke über die Olono, wie er den Fluss nannte, zum Palast. Luchino
Visconti war, wie sich herausstellte, gar nicht in Mailand, aber seine
Gattin Isabella aus der berühmten Familie der Fieschi empfing die Thüringer, ließ sich ihr Begehr vortragen und fragte nach dem ‚Woher‘. Als
sie ‚Avignon‘ hörte, erhob sie sich unter den hin- und hergehenden Blicken der Thüringer sofort, einen Schreiber, den deutschen Truppen einen Geleitbrief auszustellen, der ihnen bis ins Herz des Herrschaftsgebietes Ludwigs des Bayern Schutz und Hilfe gewähren sollte. Dann entschuldigte sie sich, dass sie die Edlen nicht zum Mahl einladen könne,
da ihr Schwager, Erzbischof Giovanni, die anstehenden Regierungsgeschäfte mit ihr zu besprechen habe. „Doch ich gebe Euch gern einen
Landsmann von Euch mit, der die Stadt kennt und weiß, wo Ihr vielleicht
Pferde erwerben könnt!“ Damit eilte sie zum Saal hinaus, nicht ohne
einen buntgekleideten Gesellen mit einer Geste herbei zu winken.
„Ich bin Sigismund von Stetten, Reichsritter und zweiter Sohn ohne Erbe
und versuche deshalb hier mein Glück! Wenn ich die Geste der Herrin
Isabella richtig deute, soll ich Euch in der Stadt herumführen und vielleicht das eine oder andere galante Abenteuer einfädeln, nicht wahr?“
Friedrich lachte: „Das mit dem Stadtführer stimmt, den Rest habe ich
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nicht so gedeutet, könnte aber durchaus seinen Reiz haben. Doch im
Ernst: Was wir brauchen, sind Pferde, und zwar viele. Oh, ich vergaß:
Wir, das sind Cuno von Steigertahl, unser Kanonier“ er deutete auf ihn,
dann auf Bernhard: „Mein Heerführer Bernhard von Waldenburg und
ich bin Landgraf Friedrich von Thüringen. Wir sind auf dem Rückweg von
Avignon, wo wir im Auftrag des Papstes die letzten Ketzer verjagt haben. Unserer Truppe sind Pferde verloren gegangen, die wir gern ersetzen würden, um schneller nach Thüringen zurückzukommen. „Thüringer seid Ihr? Ein weiter weg bis zu den Katharern – aber das geht mich
ja nichts an! Das mit den Pferden ist schwieriger als Ihr denkt. Was
braucht Ihr? Schlachtrösser, Zugpferde, Arbeitstiere?“ „Kommt mit hinaus, dort stehen unsere Pferde – und solche brauchen wir!“ Sigismund
kam mit in die Galerie vor dem Palast, in der ein Junge auf die drei
Pferde aufpasste und erfreut eine Silbermünze auffing, die ihm Cuno
zuwarf. „Solche Pferde? Leicht, wahrscheinlich schnell, sicher zäh – den
ritterlichen Kampf pflegt Ihr wohl nicht?“ „Nicht mehr“, antwortete
Bernhard. „Wenn die Blüte des französischen Rittertums von englischen
Fußtruppen und Lanzenreitern niedergemacht wird, nützen Schlachtrösser und noch so dicke Rüstungen nichts. Da machen wir es lieber wie
die Engländer – auf dass wir immer siegen mögen!“ Sigismund schaute
etwas seltsam: „So sei es. Aber damit ich Euch zu solchen Pferden verhelfen kann, müssen wir auf den Geleitbrief warten, dann gehen wir
direkt zum fürstlichen Marstall. Den Stallmeister kenne ich und wenn
Ihr ihn zu so einem vorhin genannten Abenteuer einladet, macht er
Euch sicher auch einen guten Preis!“ Während sie warteten, dass ein
Diener das Schreiben brächte, ging er mit ihnen hinüber zum Marktplatz, der Piazza die Mercantini. „Das große Gebäude dahinten ist der
‚Palazzo della Ragione‘, Gerichtssaal, Rathaus, Markthalle, was auch immer. Deshalb findet man hier auf dem Markt neben Händlern und
Handwerkern, Bäckern, Fleischer, Webern, Badern auch immer ein paar
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Advokaten – das sind die wie der dort, mit dem schwarzen Hut und
ohne Marktstand. Wer sein Recht will, bedient sich besser eines Anwalts, weil die Lage im Herrschaftsgebiet unseres Fürstenhauses“, er
schaute sich vorsichtig um und sprach leise weiter, „nicht immer ganz
einfach und geradeaus ist, vor allem, wenn ein Visconti mit im Spiel ist.
Ah, da ist ja das Schreiben“, ging es wieder laut weiter und er nahm das
Pergament entgegen, das der Diener gebracht hatte. Auch der fing
Cunos Silbermünze geschickt auf. Über den Platz ging es am ‚Stein der
Gescheiterten‘ vorbei: statt eines Schandpfahls gab es hier einen
Schandstein, auf den sich, wie Sigmund erzählte, betrügerische Händler
mit nacktem Hinterteil setzen mussten und von den Marktbesuchern
geschmäht und mit faulen Früchten beworfen wurden, bevor sie zum
Justizpalast gebracht und verurteilt wurden. Das Treiben war so ähnlich,
wie sie es in allen großen Städten auf ihrer Reise gesehen hatten, und
als der Ritter sie über die Brücke des Flusses führte, die auf der Sonnenaufgangsseite Mailand umfloss, sahen sie am stadtentfernten Ufer die
armseligen Hütten der Taglöhner, einige Gerbereien und mittendrin
zahllose halbnackte Kinder, die in Schlamm und Dreck spielten oder
auch nach Verwertbarem suchten. Schon von weitem sahen, vor allem
aber rochen sie den Marstall, und Sigismund ließ die Thüringer vor dem
Tor zurück und machte sich auf die Suche nach dem Stallmeister. Schon
nach kurzer Zeit kam er mit einem gedrungenen Mann zurück, der die
drei abschätzig
Und missmutig musterte. Der Ritter sagte etwas auf Italienisch zu ihm,
der Mann besah sich die Pferde, fragte nochmals nach und als Sigismund bejahte, mit Worten wie mit Gesten, drehte er sich um und
winkte ihnen, zu folgen. Die Stallungen waren riesig. Sie gelangten auf
eine Koppel mit vielen Dutzenden von Pferden, die etwa so aussahen
wie die der Deutschen. „Solche Pferde werden hier benutzt, um das Ge-
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päck und die Waffen der Berittenen zu tragen. Er sagt, dass Ihr vier Dutzend haben könnt, wenn Ihr für jedes zwei Mark Silber bezahlt.“ „Dafür
bekomme ich in Thüringen ein Dutzend Pferde! Cuno, schau dir die
Gäule einmal an: Lohnt sich Feilschen überhaupt?“ Der Steigerthaler
machte ein fragendes Gesicht in die Richtung des Stallmeisters und deutete auf die Koppel. Der nickte. Cuno sah sich die Beine einiger Pferde
an, schauten vielen unter die Hufe und ins Maul und kehrte mit enttäuschter Miene zu Friedrich und Bernhard zurück. „Die Gäule sind in
Ordnung, aber wenn ich ein zu fröhliches Gesicht mache, kriegen wir
nie einen anständigen Preis“, sagte er leise zu den beiden. Dann laut zu
Sigismund: „Ich verstehe gut, dass der Stallmeister diese Schindmähren
los werden will, und wir sind etwas in Not. Aber der Preis ist völlig überzogen. Was würde der Abdecker, der hier Pferde und Esel zu Wurst verarbeitet für dies Gäule bezahlen?“ Sigismund zog die Schultern hoch
und wandte sich wieder an den gedrungenen Mann, der heftigst antwortete. Ein Wort gab das andere, ein Satz den anderen, die Verhandelnden wurden lauter, bis schließlich Sigismund den Stallmeister beiseite nahm und ihm etwas zuflüsterte. Dessen Miene hellte sich auf und
er machte ein offensichtlich letztes Angebot. „Wenn Ihr ihn zu den feinen Damen einladet, dann ist er bereit Euch vier Dutzend Pferde, die Ihr
selber aussucht, zum Preis von fünfzig Mark Silber zu überlassen.“ „Das
ist immer noch Wucher, aber wir brauchen die Gäule.“ Friedrich stieg
ab und reichte dem Stallmeister die Hand. „Einverstanden“, sagte er auf
Deutsch. Dann wandte er sich an seine Gefährten: „Am besten sucht
sich jeder Reiter das Tier aus, zu dem er Vertrauen hat. Cuno, könntest
du das überwachen?“ Der nickte, während Bernhard schon davon stob,
um die pferdelosen Lanzenreiter zu holen, dass sie sich ihr Reittier aussuchten. Unterdessen hatte Sigismund einen Burschen herbei gewunken, der mit einem Karren voller Weinschläuche über die Brücke gerattert war. Er suchte sich einen Schlauch aus, indem er viele öffnete und
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daran roch, dann gab er dem Burschen ein Geldstück und wandte sich
den anderen drei Männern zu. Er reichte Friedrich als Ranghöchstem
den Schlauch, und als der ansetzte, um daraus zu trinken, hielt der Stallmeister seinen Arm fest und ließ von einem seiner Knechte vier Becher
bringen, die Friedrich nun füllte.
Bis Bernhard mit den laufenden Lanzenreitern zurückkam, war der
Schlauch so gut wie leer. Cuno gab ihm seinen Becher und begleitete
die Männer auf die Koppel: „Jeder sucht sich ein Pferd aus, zu dem er
Zutrauen hat; wer eines gefunden hat, kommt bei mir vorbei, ich schaue
mir den Gaul auch an und wenn ich einverstanden bin, könnt ihr wieder
hinüber ins Lager reiten!“ Es dauerte eine Weile, bis die ersten zu Cuno
kamen, ab er dann ging es schnell. Der Ritter machte für jedes abgeholte Pferd einen Strich mit seinem Kurzschwert in den Sand, und als
auch der letzte sein Reittier bestiegen hatte, zählte Cuno nach: es waren
achtundvierzig Pferde geholt worden. Friedrich reichte dem Stallmeister einen großen Beutel, der ihn sofort öffnete und nachzählte. Es
stimmte. Er sagte etwas zu Sigismund und verschwand. „Er bringt das
Geld in Sicherheit, zieht sich um und begleitet uns dann ins Kloster
Sancta Magdalena. Ihr wisst sicher, dass die Heilige Magdalena sich ihren Lebensunterhalt liegend und mit gespreizten Beinen verdient hat,
bevor unser Herr Jesus sie bekehrt hat, oder? Nun, hier in Mailand gibt
es natürlich Hübschlerinnen aller Art, aber die Magdalenen, wie sie genannt werden, sind etwas anderes: meistens die vernachlässigten Gemahlinnen einiger Herren von Stand, oder Witwen, die diese Art von
Kloster vorziehen, vor allem wenn sie noch jung sind; es gibt auch ‚missratene‘ Töchter edler Familien – die sind am teuersten!“ „Hm, so ein
missratenes Töchterchen wäre nicht schlecht.“ Bernhard leckte sich die
Lippen. „Sucht euch aus, was euch gefällt – Ihr auch, Ritter Sigismund,
als Dank für die Vermittlung. Einen Beutel habe ich noch, das wird reichen!“ Kichernd wandte er sich um zu Cuno. „Nach welcher Sorte steht
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dir der Sinn?“ „Nach gar keiner! Ich träume seit Wochen davon, wieder
zu Hause zu sein und diesen ganzen sogenannten Kriegszug endlich hinter mir zu haben. Ich reite ins Lager und schaue, wie die Männer mit
den neuen Pferden zurechtkommen, dann geht es ab morgen wieder
schneller zurück!“ Friedrich ließ ihn widerspruchslos ziehen, denn der
Ausritt mit Salwa lag ihm immer noch auf dem Gewissen. Wenigstens
schien Cuno wirklich keine Ahnung davon zu haben, dass er, Landgraf
Friedrich von Thüringen, Markgraf von Meißen, beinahe Cunos Frau Gewalt angetan hätte.
Als die beiden Thüringer ‚Klosterbesucher‘ spät in der Nacht zurückkehrten, erleichtert, auch um einen Beutel Silber, lag bereits tiefe Ruhe
über dem Rastplatz. Die Wachen machten ihre Runden, die neuen
Pferde mussten sich erst an ein Nachtlager im Freien gewöhnen und
waren unruhiger als die Mitgebrachten, und Cuno schien fest zu schlafen.
„Na, wie missraten waren den die Töchterchen?“ Damit weckte er bei
Sonnenaufgang die Beiden. „Hm, meine war ganz schön missraten –
was die alles kannte und konnte!“ Bernhard leckte sich genießerisch
über die Lippen, Friedrich gab keine Antwort, sondern nach wenigen
Augenblicken den Befehl zum Abmarsch. Sie zogen auf gut ausgebauten
Wegen an der Olona entlang nach Norden, und es dauerte zwei Tage,
bis die ihnen entgegenkommenden Wagen, Reiter, Soldaten, Fußgänger weniger wurden. Der Fluss wurde zum Bach; es ging stetig, aber
nicht steil, aufwärts. Die Berge rechts und links wurden immer höher.
Schließlich erreichten sie einen langgezogenen, schmalen See, dessen
Überquerung mit einer Fähre für die über hundert Männer und Pferde
einen ganzen Tag in Anspruch nahm. Ein kurzer Anstieg, und Dann ging
es langsam wieder bergab; links von ihnen lag ein weiterer See und vor
ihnen türmte sich ein Gebirge auf, wie sie es sich auch nach den Erfahrungen der letzten Monate nicht vorstellen konnten: Schneebedeckte
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Bergriesen schienen den Weg in alle Richtungen außer zurück zu versperren. Friedrich war froh, dass er sich noch in Mailand auf Anraten
des Stallmeisters ein Schreiben eines Benediktiner-Mönches besorgt
hatte, der die Thüringer an die Ordensbrüder verwies, die mitten in diesen Bergriesen ein Kloster unterhielten und als Wegführer Reisende
durch Geröll, Schnee, Eis und Sturm auf die andere Seite des Gebirges
brachten, denn schon im Kloster Santa Maria, noch bevor der erneute
Anstieg begann, trafen sie eine Gruppe Benediktiner, die auf dem Weg
in ihr hohes Kloster waren. Der Brief des Mailänder Ordensbruders bewegte sie dazu, die Truppe über den Pass zu führen und erst dann zurückzulassen, wenn der Weg hinaus in das flachere Land deutlich war.
Wie sehnten sie die Hitze Avignons zurück und lachten im Nachhinein
über den Aufstieg zum Dorf der Ketzer! Nur die ersten paar Stunden
konnten sie den Pfad hinauf reiten, dann hieß es absitzen und die sich
im Sturm sträubenden Pferde am Zügel weiterzuführen. Die Mönche
saßen auf Maultieren, denen weder der schlechte Pfad noch das Wetter
etwas auszumachen schienen und lächelten immer wieder nachsichtig,
wenn einer der deutschen Tölpel wegrutschte oder sein Pferd nicht
richtig führte. Der Regen wandelte sich in Schnee und der Wind wurde
immer heftiger. Steinbrocken fielen auf den Pfad, man sah kaum noch
den Vordermann oder dessen Pferd.
Die erste Nacht verbrachten die Männer im Windschatten der Burg von
Mesocco; die drei Anführer und die Mönche waren Gäste des Burgherren, Giacomo d‘ Este, der im Dienste von Luchino Visconti, des Stadtherren von Mailand, an dieser Stelle den Zugang zur Stadt überwachte.
Das Pergament Isabellas hatte ihnen den Lagerplatz der Männer und
das Burgtor geöffnet; es war angenehm, sich mit einem Ortskundigen
wieder einmal in der eigenen Sprache auszutauschen: „Ihr werdet noch
gut einen Tag benötigen, bis Ihr den Paso del San Bernardino überschritten habt, und die nächste sichere Unterkunft ist dann erst wieder auf
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der Bärenburg bei Andeer, also frühestens übermorgen. Noch ist das
Wetter gut“, fuhr er trotz der erstaunten Mienen der Zuhörer fort,
„aber Ihr solltet schon versuchen, so schnell wie möglich hinüber zu
kommen – so manches Mal sind wir hier im Frühherbst schon eingeschneit gewesen!“
Sie folgten seinem Rat und brachen früh am Morgen auf, vorne die
Mönche auf ihren Maultieren, dann die Lanzenreiter und als Nachhut
die Schützen. Der Weg war noch so breit, dass sie zu zweit nebeneinander reiten konnten, außer, wenn ihnen jemand entgegen kam, aber das
geschah selten. Stunde um Stunde trabten sie aufwärts, bis sie zu einer
kleinen Wallfahrtskapelle kamen, die dem Heiligen Jakob geweiht war.
Hier rasteten sie. Als die letzten die freie Fläche vor der Kapelle erreicht
hatten, ritten die Mönche mit den ersten schon weiter, denn ab jetzt
war der Weg ein Saumpfad, so schmal, dass die Tiere sehen mussten,
wo sie hintraten. Der Wind nahm zu und blies die letzten Blätter von
den wenigen Laubbäumen, die hier noch wuchsen, dann gab es nur
noch Kieferngebüsche und Ginster. Wieder ging es Stunden um Stunden; der Pfad schlängelte sich nach oben, scheinbar ohne als Ziel irgendwo zwischen diesen riesigen Bergwänden hindurch zu kommen;
aber die Mönche schnatterten fröhlich drauf los und schienen sehr sicher, dass sie noch vor Anbruch der Nacht die schützenden Mauern des
Klosters oben auf dem Pass erreichen würden. Und so war es. Das Kloster, kaum größer als ein Bauernhaus, bot den mitgereisten Mönchen
Platz, aber schon die thüringischen Edlen mussten sich ihren Schlafplatz
draußen suchen. Einer der Benediktiner stand am Weg und wies den
Ankommenden Plätze zu, an denen sie wenigstens etwas vor dem Wind
geschützt waren, der langsam aber sicher zum Sturm wurde. Die Pferde
konnten auf einer der spärlich bewachsenen Almwiesen grasen, die
Menschen nahmen von ihrem mitgebrachten Proviant und spülten ihn
mit eiskaltem Wasser aus einer der zahllosen Quellen hinunter, bevor
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sie sich im Windschatten der Felsen in ihre Decken rollten und zu schlafen versuchten. Die aufgehende Sonne ein paar Stunden später beleuchtete eine zitternde Truppe; die Menschen versuchten, sich durch
festes Auftreten aufzuwärmen, keiner wollte etwas zu nmsich nehmen,
alle wollten so schnell es ging weg von diesem unwirtlichen Ort. Die
Pferde standen eng aneinandergedrängt, um sich zu wärmen, und es
war schwierig, sie wieder in Reihe zu bringenEiner der Mönche sollten
die Truppe auf einem Maulesel, der sich seit Tagen im Kloster ausgeruht
hatte und deshalb voller Tatendrang war, bis zur von Giacomo d’Este
genannten Bärenburg führen. Noch am Morgen erreichten sie ein Rinnsal, das zum Bächlein wurde, zum Fluss, der im Laufe der Jahre das Gestein soweit ausgewaschen hatte, dass der Weg wieder besser zu nutzen war und sie schneller vorankamen. Aber sie hatten sich zu früh gefreut. Der als Führer dienende Mönch zeigte auf einen tiefen Einschnitt
in die Felsen: „Das ist die Rofla-Schlucht, die der Fluss, aus dem weiter
unten der Rhein wird, gegraben hat; nicht sehr lang, aber tief und
schmal. Wenn Ihr die hinter Euch habt, seht Ihr schon fast die Bärenburg
oberhalb von Andeer!“ „Verdammte Berge! Ich wünsche mir meine grünen thüringer Hügel zurück“ brummelte der erste der Lanzenreiter in
sich hinein. Bernhard, der neben ihm ritt, klopfte ihm auf die Schulter:
„Da stehst du nicht allein! Ich hoffe, dass wir es sehr bald geschafft haben und uns unten, wo ein See sein soll, wieder etwas ausruhen und
stärken können, ohne weggeblasen oder eingefroren zu werden!“ Dann
setzte er sich vor den Lanzenreiter, denn der Weg war wieder zu schmal
für zwei Reiter. Das Wasser mäanderte durch das Geröll, so dass sich
die Tiere wieder ihren Weg suchen mussten. „Seid froh, dass es seit Tagen nicht geregnet hat, sonst wäre hier kein Durchkommen.“ Damit
deutete der Mönch auf den strahlend blauen Himmel, von dem man
noch einen kleinen Streifen zwischen den steilen Felswänden der
Schlucht erkennen konnte. „Und wenn es, so Gott will. trocken bleibt,
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dann schafft Ihr auch die nächste Schlucht, die einen halben Tag hinter
Andeer liegt!“ Die Schlucht öffnete sich ein wenig, der Rhein floss in seinem Bett und bald konnte man das breiter gewordene Tal überblicken,
in das der Fluss hinabstürzte. Auf der rechten Seite lag ein kleiner Weiler, der sich der vom Wasser geschaffenen Fläche bediente, zumindest
waren Bauern zu sehen, die Getreide ernteten und das Stroh schichteten. Auf der linken Seite, viele Fuß über dem Fluss, stand eine feste
Burg, wie die Thüringer sie lange nicht mehr gesehen hatten: starke
Mauern stützen die Seiten, die zum Wasser abfielen ab, sicher einen
Schritt dick; nach Sonnenaufgang schützte ein Graben mit Mauer, Zugbrücke und Torturm und ein Zwinger vor einem zweiten Tor den Zugang. Dahinter erstreckte sich ein großer, flacher Platz, begrenzt von
einer Ringmauer, einem mächtigen Bergfried, einer sehr großen Halle,
einem Pallas und kleineren Gebäuden, wohl für Vorrate und das Gesinde. Friedrich ritt an die Spitze des Zuges, legte den Wappenharnisch
an, ließ seinen Knappen den Wimpel zeigen und stoppte sein Ross erst,
als die Vorderhufe bereits die hölzerne Zugbrücke berührten. „Was ist
Euer Begehr?“ „Ich bin Landgraf Friedrich von Thüringen und bitte im
Namen des Kaisers und der Herren von Mailand um Quartier für meine
Leute und mich. Meldet uns Herrn Bertram von Bärenburg!“ „Nicht nötig“, sagte eine Stimme hinter dem verschlossenen Tor, das sich zugleich öffnete. Ein strammer Ritter schritt ihnen entgegen, ungerüstet
und nur das Kurzschwert umgegeürtet. „Ich bin Bertram von Bärenburg.
Lasst Eure Geleitschreiben sehen, dann seid Ihr willkommen!“ Friedrich
überreichte das Dokument von Isabella de Fieschi, Bertram überflog es
und trat beiseite, um die Truppe eintreten zu lassen. „Sagt Euren Männern, dass sie für sich und die Tiere ihr Nachtquartier auf dem großen
Hof bereiten sollen, ich lasse sogleich Stroh und Heu herbeibringen,
Wasser findet Ihr ausreichen im Brunnen. Euch, Ihr Herren, möchte ich
in einigen Räumlichkeiten nahe der Halle unterbringen. Folgt mir dann.
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Und da es Erntezeit ist und die Ernte gut und Ihr offenbar schon lange
unterwegs seid, werden wir heute Abend ein ordentliches Mahl auftischen; Eure Männer können sich ihre Braten an den Feuern zubereiten,
die meine Leute bald entzünden werden, essen tun wir dann gemeinsam in der Halle – so ist es bei uns Brauch!“ Friedrich gab es an die Thüringer weiter, deren Stimmung sich sofort hob; eifriges Tun entwickelte
sich.
Es war angenehm, wieder ein Quartier ohne Sturm und Kälte zu beziehen! Die Männer breiteten ihre Decken im herangeschafften Stroh aus,
um sie in den letzten Strahlen der Sonne trocknen zu lassen und bereiteten die Lämmer, die ihnen Ritter Bertram geschickt hatte, zum Braten
vor. Cuno und Friedrich nutzten mit Vergnügen den einfachen Baderaum – selbst kaltes Wasser lies sie sich wieder sauber fühlen. Und dann
klang auch schon die Glocke über dem inneren Tor und rief zum Abendmahl. Lammbraten, frisches Brot und zur Freude der Männer frisches
Bier aus dem Nachbardorf – ein Festmahl! Als die vier Edlen ihren Hunger und Durst gestillt hatten, kredenzte Bertram einen großen Krug mit
rotem Wein und hub an zu fragen: „Was hat Euch nach Mailand verschlagen? Ich weiß, dass Ihr, Herr Landgraf, der Eidam des Kaisers seid,
aber im Augenblick kämpft der doch nicht in Italien, oder?“ Die drei
Thüringer lachten und Cuno antwortete für sie: „Wenn es doch nur Mailand gewesen wäre! Wir haben eine ganz schön lange Rundreise gemacht: Herr Friedrich, der sich mit seinem Schwiegervater überworfen
hat, seit der gegen alle Sitte und Recht die bereits verheiratete Erbin
von Tirol mit Kaiser Ludwigs eigenem Sohn verheiratet hat, hat mit unserer Truppe die Königswahl in Rhense im Sommer geschützt und dann
sind wir auf Bitten des Papstes nach Avignon und ins Gebirge gezogen,
um die letzten Ketzer zu fangen. Den Rückweg mussten wir anders machen als den Hinweg, denn sowohl in Avignon als auch in Genua wütet
die Pest und deshalb sind wir über Mailand hierher gezogen und wollen
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schnellst möglichst zurück nach Hause!“ „Die Pest – seid Ihr sicher?“ „So
sicher wie man sein kann, wenn man die Leichen mit ihren dicken Beulen und dem stinkenden, daraus hervorquellenden Körperflüssigkeiten
zu Hauf gesehen und gerochen hat.“ „Und Ihr – seid verschont geblieben?“ Das Erschrecken und die Furcht Bertrams klangen durch die
Frage. „Die Genuesen lassen alle ankommenden Schiffe vierzig Tage vor
dem Hafen in offenem Wasser warten, weil sich herausgestellt hat, dass
Pesthauch, wenn ihn ein Schiff mitbringt, spätestens nach zwei Wochen
seine Opfer findet, und nach weiteren zwei Wochen sind alle an Bord
tot; das heißt, wenn ein Schiff mit voller Mannschaft nach vierzig Tagen
in den Hafen segelt, bringt das keine Gefahr mehr, Weil es vierzig Tage
sind, nennen die Genuesen dieses Warten eines Schiffes ‚Quarantäne‘
von vierzig auf Italienisch, das haben mir unsere Kapitäne erzählt. Wir
sind nun seit zwei Wochen unterwegs und haben keinen Kranken unter
uns. Wir sind also keine Gefahr. Aber es wird furchtbar werden, wenn
die Plage über die Berge kommt und das fruchtbare Land mit den vielen
Menschen leerfegen wird…“ Bertram grübelte laut vor sich hin: „Das
kann nur im Sommer geschehen, die wenigen Menschen, die im Winter
unseren Pass überwinden, kennen wir und wissen alles über sie. Ich
muss also mit Giovanni d’Este und den Mönchen eine Vereinbarung
schließen, dass alle, die außerhalb des Winters hier durch wollen, vor
Mesocco wenigstens zwei Wochen lagern müssen, bevor wir sie durchlassen; und in die andere Richtung müssten sie außerhalb des Bischofssitzes lagern – wir müssen also auch meinen Lehnsherren, den Bischof
von Chur mit einbeziehen.“ Er schwieg eine lange Weile. „Doch lasst uns
den Gesprächsgegenstand wechseln: Ihr habt einen Geleitbrief zu Kaiser Ludwig, aber wart bei der Wahl des Gegenkönigs – wer ist es denn?
Und wie wird Euch der Kaiser empfangen?“ „Gewählt wurde nach dem
neuen Wahlrecht, also rechtmäßig mit Mehrheit, Karl von Böhmen, seit
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dem Tod seines Vaters im Krieg gegen die Engländer nun König von Böhmen und Römischer König, denn so nennen wir ja de Gewählten, bevor
er Kaiser wird. Mein Schwiegervater wird schäumen, wenn er mich
sieht, aber meine Begründung für den Bruch mit ihm kann er nicht hinweg fegen, Recht ist Recht und Gesetz ist Gesetz, so regieren wir in Thüringen und so sollte es überall sein. Selbst meine Frau, die Kaisertochter, hat sich von Ludwig angewandt, weil er einfach zu viele Ketzereien
begangen hat. Und wir waren auf Bitten des Papstes ja schon Ketzer
jagen…“ Dieser Gedanke war ihm plötzlich gekommen. „Ich nehme aber
an, Bernhard und Cuno, dass ihr in bayrischen Landen nicht weiter Ketzer jagen wollt, oder täusche ich mich?“ Die beiden grinsten und schüttelten die Köpfe. „Nein, danke, oder höchsten nur dann, wenn wir Ketzer mit Radkreuzen in den Achseln finden.“ Das war Bernhards Idee.
Jetzt wollte Bertram natürlich alles wissen: wer Karl gewählt hätte, wie
König Johann von Böhmen gestorben wäre, was dieses Radkreuz sei,
wie sie den Papst erlebt hätten, was sie sonst noch erlebt hätten, ob
Karl wenigstens gut bezahlen würde – wenn der Wein noch gereicht
hätte, wären sie wohl überhaupt nicht zum Schlafen gekommen. Doch
der Krug war Bertrams letzter, bevor die neue Ernte eintreffen würde,
und schließlich sah er ein, dass die drei sich noch ausruhen müssten,
bevor es am Morgen durch die Via Mala nach Chur ginge, auch wenn er
schon lange nicht mehr so viel Unterhaltung gehabt hatte. Und der Weg
am nächsten Tag war anstrengend! Erst ging es noch ganz gemächlich
am Ufer des Rheins entlang, aber dann begann die Via Mala; der Fluss
hatte sich durch einen Berg hindurch gegraben, der dem Wasser nur
eine schmale Lücke ließ. Cuno sah sofort, dass es grauweißgesprenkelte
Granit war, wie er auch in Steigerthal vorkam. Aber der Weg, wenn man
das so nennen konnte, ließ ihm keine Gelegenheit, nach Silberadern zu
schauen. Dadurch, dass das Wasser in einen schmalen Kanal gezwängt
worden war, hatte es sich tief eingegraben. Die Menschen, die diesen
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Weg benutzten, und die Herren, die dafür Zölle nahmen, hatten Pfade
in die Felswände geschlagen, auf denen sich immer ein Pferd oder
Maulesel vorwärts bewegen konnte; an vielen Stellen waren zusammengebundene Baumstämme als Brücken gelegt, auf denen sich Gegenverkehr bewegen konnte und die zur günstigeren Seite der Schlucht
führten; aber es war ein schwieriges Unterfangen. Ein Führer war nicht
mehr nötig, denn es gab nur diesen einen Pfad, deshalb auch war der
Mönch schon am vorherigen Abend in sein Kloster zurückgekehrt, und
als Bernhard, der vorweg ritt, den Ausgang der Schlucht erreicht hatte,
oberhalb des Weilers Thusis, hielt er alle bergauf gehende Reisende auf,
bis der ganze Trupp hindurch war, ohne Schaden, aber erschöpft. Der
Rest war leicht. Das Rheintal wurde immer weiter, und als sie den Bischofssitz am Nachmittag erreicht hatten, hatten sie das Gefühl, dass
die Bergriesen sie nicht mehr bedrohten, sondern schützten. Sie lagerten auf einer großen Wiese, die ihnen Bertram von Bärenburg noch als
möglichen Ort für eine Quarantäne genannt hatten. Alle waren so
müde, dass keiner den Weg in das Städtchen Chur suchte. Die Sonne
war kaum untergegangen, als man nur noch das Schnarchen der Männer, das Kauen der Pferde und die Schritte der Wachen hörte. Noch vor
Tagesgrauen wurde sie von einem heftigen Gewitter mit krachenden
Donnern, in alle Richtungen zuckernden Blitzen und heftigem Regen geweckt. Sie rafften ihre Sachen zusammen und ritten triefend weiter
nach Norden. Bald wurden sie für den Morgen entschädigt: Die Gewitterwolken verzogen sich, der Weg entlang des Rheines wurde immer
besser und die Sonne trocknete Mensch und Tier; die Berge traten weiter zurück. Am nächsten Tag verließen sie das Ufer des Flusses und trabten gemächlich am Ufer des Bodman-See entlang, die Weite der Sicht,
das gute Wetter und die Gastfreundschaft der Menschen in den Weilern und Gehöften genießend. Aber sie reisten wohl zu langsam, denn
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als sie einige Tage vor der Reichsstadt Lindau gelagert hatten, um wieder zu Kräften zu kommen und die Vorräte zu ergänzen, erreichte sie
ein Bote Kaiser Ludwigs mit einem Schreiben, in dem der seinem Eidam
und seiner Truppe befahl, schnellst möglichst mit ihm auf dem Lechfeld
zusammen zu kommen. Friedrich schwante nichts Gutes, aber einem
Befehl des Kaisers wagte er sich nicht offen zu widersetzen und trieb
deshalb die Truppe zu gewaltigen Tagesritten an. Am Vormittag des
Festes des Heiligen Bruno trafen sie vor Augsburg ein. Wieder suchten
sie sich einen Lagerplatz für die Truppe, Bernhard blieb vorerst mit den
Männern zurück, so war es abgemacht, und dann betraten Cuno und
Friedrich durch eines der lechseitigen Tor die Stadt. „Augsburg ist eine
der wichtigsten Städte des Reiches – so hat man mir erzählt, als ich mit
Mechthild das letzte Mal hier war! Wir steuern direkt auf den Turm dort
zu, Perlachturm heißt der, und am Platz davor ist rechts Sankt Moritz
und links das Rathaus, und in dem Schloss , das der Turm krönt, wohnt
der Kaiser, wenn er hier ist. Die Basilika Sankt Ulrich und Afra ist wirklich
schön und sehenswert, aber ich fürchte, wir sollten erst einmal zu meinem Schwiegervater.“
Kaiser Ludwig sah erschreckend aus: das lange ungepflegte graue Haar
umrahmte ein aufgequollenes Gesicht, in dessen Mitte die rot angelaufene Nase den Zustand des Bayern signalisierte. Er war noch dicker geworden als das letzte Mal und passte gut zum Heiligen des Tages, der
von den Künstlern immer als Bruno, der Bär, dargestellt wurde. Er erhob
sich und überschüttete Friedrich mit Vorwürfen, ohne die anderen Anwesenden zu beachten. Friedrich versuchte zuerst, den Wortschwall zu
unterbrechen, um sich zu verteidigen, aber als ihm das nicht gelang,
sagte er nur einen kurzen Satz: „Der Vater meiner Frau ist ein Ketzer!“
Der Knall eines Kanonenschusses hätte nicht mehr Wirkung hervorgebracht. Der Kaiser verstummte, stützte sich schwer auf den Tisch und
wollte den Befehl geben, den unbotmäßige Thüringer in Gewahrsam zu
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nehmen, als leise die steigerthaler Schützen in die Halle kamen und sich
an der Wand entlang aufstellten, wider alles Recht bewaffnet und den
nun zu Fuß eintretenden und von Bernhard geführten Lanzenreitern
den Weg freimachend. Das gab Landgraf Friedrich die Möglichkeit, ausführlicher zu sprechen: „Eure Tochter und ich sind fest davon überzeugt, dass die Ehe Eures Sohnes Ludwig mit Margarete Maultasch von
Tirol eine schwere Sünde ist, die Ihr herbeigeführt habt und durch den
Besitz Tirols für das Haus Wittelsbach nicht gerechtfertigt ist. Des weiteren sind durch den päpstlichen Bann unzählige Fehden und Kriege
ausgebrochen, die dem Reich schwer geschadet haben. Deshalb hat
sich Thüringen gegen Euch gestellt.“ Friedrich verbeugte sich und verließ die Halle, gefolgt von den Lanzenträgern und den Schützen, die als
Letzte als Schutz vor Gewalt gewährleisten sollten.
Ludwig fiel schwer auf den gepolsterten Thron, er war noch röter im
Gesicht als sonst und befahl, sein Jagdpferd zu satteln und Treiber zu
holen: er wollte bei einer Wildschwein – Hatz die Beschämung durch
seinen Schwiegersohn zumindest für sich vergessen machen.
Die Thüringer hatten den Lagerplatz wieder erreicht und stritten über
das weitere Vorgehen. Die Männer bereiteten sich eine Mahlzeit zu;
Friedrich war zu unruhig, um sich zu ihnen zu setzen. „Lasst uns ein
Wirtshaus aufsuchen, ich muss mich innen erst einmal abkühlen!“ Die
drei wandten sich zu Fuß zurück in die Stadt und nahmen in der ersten
Schenke, die ihnen anständig erschien, Platz und bestellten drei Krüge
Bier. Dann nochmal drei Krüge, dann kalten Schweinebraten und drei
Krüge. Gerade als Friedrich wieder drei Krüge bestellen wollte, erklang
in der Gasse vor der Schänke der Schrei: „Der Kaiser ist bei der Sauhatz
zu Tode gekommen!“
„Das war vor fast zwei Wochen. Friedrich ließ uns reiten wie verrückt,
damit wir von Augsburg wegkommen und in Thüringen sind, bevor Gün-
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ther von Schwarzburg oder sonst jemand den Adel wieder zum Aufstand führt, denn der Kaiser war ja der Garant des Abkommens von
Weißenfels!“ Cuno legte sich zurück und zog Salwa wieder an sich. Sie
hatten ausführlich gebadet und sich erkundet; als sie mit seinem Glied
spielte, verblasste das Bild der Wiese bei Rhense, das sie bisher immer
noch verfolgt und geängstigt hatte. Dann wollte Salwa alles über den
Ketzerkriegszug hören.
Thüringen, Sommer 1348
Das rhythmische Dröhnen der großen Trommeln und das Geschrei der
Geißler, die sich vor den Toren der Reichsstadt Nordhausen sammelten,
erschreckten die Bürger und ließen die Stadt verstummen. Die städtischen Soldaten, schon immer nicht ausreichend, um die Stadt zu verteidigen, hatten sich am Frauenberg versammelt, der Anhöhe am westlichen Rand der Stadt, die zur Zarge leicht abfiel. Von dort konnten sie
die Geißler beobachten und dann, wenn sie Glück hatten, nach Bedarf
Kontingente an möglicherweise bedrohten Stellen schicken und vor allem die Bürgerwehr einsetzen. Die Ratsherren waren bei ihnen und versuchten, sich ein Bild von der Bedrohung zu machen, denn alle Männer
vor den Toren waren unbewaffnet, die Nordhäuser trugen jedoch Waffen. Im Kirchturm von Sankt Blasius und dem des danebenliegenden
Barfüßerklosters hatten sich zusätzlich norddhäuser Schützen verborgen, die ursprünglich in Steigerthal gedient und von dort die neuesten
und genauesten Feuerwaffen mitgebracht hatten, um im Notfall mit
Schwarzpulver und Getöse eingreifen zu können.
Immer mehr der Männer kamen vor dem Siechentor an, so dass die
Menge sich schon fast bis vor das Grimseltor ausbreitete. Es mussten
also mehrere Züge oder Gruppen sein, denn normalerweise waren
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höchstens fünfzig bis sechzig Männer in einem Flagellantenzug. Verdreckte, langhaarige Gestalten waren es, in langen, ehemals schwarzen
Kutten, bei denen wie einst bei den Kreuzfahrern rote Kreuze auf den
Rücken genäht waren. Als die Trommeln dann schwiegen, verlass einer
von ihnen ein Dokument. Die Beobachter konnten den Wortlaut nicht
verstehen, aber sie konnten sehen, wie an bestimmten Stellen das wohl
sehr bekannten Textes die Männer sich böse lächelnd anstießen, und
dann wie auf ein Zeichen ihre Kutten ablegten und sich in einem großen
Kreis mit nackten Oberkörpern bäuchlings auf den Boden legten. Der,
der den Text verlesen hatte, wohl ihr Meister, stellte sich mit gespreizten Beinen über einen der Männer, berührte ihn mit seiner Peitsche,
sprach eine Formel und stellte sich über den Nächsten. Der, zu dem er
zuerst gesprochen hatte, erhob sich und stellte sich über den Nachbarn,
als der Meister einen Mann weiter gezogen war. Schließlich standen
alle und der Meister trat hinter den, den er zuerst mit der Geißel berührt hatte und schlug ihm mit der Peitsche auf den Rücken, dann den
nächsten und so fort. Drei Umgänge machten sie, Blut floss bei allen,
und wieder warfen sie sich zu Boden und beteten, ohne dass die Nordhäuser den Wortlaut dieser Gebete verstehen konnten.
„Sie haben Keuschheit für die Zeit des Geißelzugs gelobt, versprechen,
nicht zu betteln, zu saufen und weder Kranke noch Tote zurückzulassen
– können wir ihnen trauen?“ Gerald, der Fernhändler, sprach als ältester der Ratsherren. „Ich werde diesen Fanatikern nie trauen, denn sie
sind des Teufels.“ Das war Abt Ono vom Kloster Himmelgarten nahe der
Stadt, den Gerald um Hilfe gebeten hatte, als die Nachrichten über die
anrückenden Flagellanten dichter wurden. „Sie mögen Fanatiker sein,
aber sie spielen doch nur die Erniedrigung Christi vor der Kreuzigung
nach, genauso wie sie nach dreiunddreißigeinhalb Tagen wieder in ihre
Heimatgemeinden zurückkehren, da auch Jesu Leiden nach dreiund-
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dreißigeinhalb Jahren beendet war. Einige Züge sind in den letzten Tagen schon an Steigerthal und Stempeda vorbei nach Norden gezogen,
ohne irgendeinen Schaden anzurichten. Ich denke, sie sind wohl genau
so harmlos wie die Katharer, die ich letztes Jahr bei Avignon vertreiben
sollte.“ Auch Cuno war um Hilfe und Rat gebeten worden und war, zum
Entsetzen der Ratsherren, ohne seine Schützen gekommen. „Was wollen sie wirklich?“ Das kam vom Schultheiß des Städtchens. „Sie kommen, erhalten vielleicht Almosen, einen Trunk Wasser und gehen wieder – das ist doch alles, was uns betrifft“, ließ sich der Priester der Stiftskirche zum Heiligen Kreuz vernehmen. „Nein! Ich bin hier doch nicht der
einzige, der die Lehren der Kirche kennt, aber diese Menschen sind
schlimmste Ketzer: Sie leugnen, dass die Mutter Kirche den Menschen
zu Gott führt, wenn der Mensch die Regeln einhält und die Sakramente
heiligt. Sie glauben völlig ohne Belege aus der Schrift, dass Gott schon
seit der Ursünde die Geißelung einfordert; nur so, nicht durch die
Gnade Gottes und die Aufopferung Jesu Christi, würden Sünden vergeben und der Mensch das ewige Leben erhalten. Da sie die gnadenreiche
Intervention Christi verleugnen, sind sie auch keine Christen, und wenn
ihr ihnen die Gelegenheit gebt, in der Stadt zu predigen, dann gehen
Gott einige oder viele Seelen verloren!“ „Also in Steigerthal und Stempeda habe sie gepredigt. Das Volk stand dabei und wandte sich kopfschüttelnd ab. Und ich habe von keiner Gemeinde gehört, dass sich jemand den Geißlern angeschlossen hat.“ „Ja, ja, die alte steigerthalsche
Leier! Ihr wisst doch selber, Ritter Cuno, dass es den Menschen in euren
Lehen besser geht als den unsrigen hier in meiner Stadt Nordhausen.
Wenn wir unter den Unbilden des Wetters leiden, weil mal wieder mitten im Sommer wochenlanger Regen die Ernte verringert und im Winter
dann das unreife geerntete Getreide die Leute vergiftet, dann gehen die
Herren und Damen aus Steigerthal und Stempeda nach Böhmen oder
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sonst wo hin, verkaufen Pferde, Glas, Waffen oder gleich Geld und holen sich, was sie brauchen! Und dass Fehden zwischen Adelsgeschlechtern oder Krieg um den wahren König euer Land verwüstet, ist auch seit
Generationen nicht mehr passiert, weil ihr hochgerüstet seid. Wir aber
leiden, und die Menschen suchen einen Ausweg, wenn die Kirche ihnen
keine Antworten geben kann oder will!“ „Was ist das für ein häretisches
Geschwätz! Die Kirche gibt immer Antwort – ob sie dem Einzelnen gefällt oder nicht. Macht euch doch klar, was das bedeutet: natürlich weiß
jeder, dass er in absehbarer Zeit sterben wird; wenn ich nur durch mein
von mir vergossenes Blut von allen Sünden befreit werde, was tue ich
denn dann? Ich lebe von Geißelung zu Geißelung, jeden Tag dem Paradies näher, völlig egal, was sonst mit den Menschen geschieht, meinen
Kindern, meiner Frau, meinen Knechten und Mägden! Stellt euch mal
Cuno als Geißler vor, dem es völlig egal ist, was den Leuten im Lehen
und auch seiner Familie geschieht: die ganze Region ginge vor die
Hunde! Und diese Leute wollt ihr in die Stadt aufnehmen?“ Er hatte sich
so in Rage geredet, dass er gar nicht mehr der nüchterne Servitenabt zu
sein schien, als den ihn alle kannten. „Und jetzt sammeln sich das ganze
Geißlergesindel irgendwo am Oberlauf der Thyre, weil sie dort ihrem
‚Propheten‘ lauschen wollen, der nennt sich Conradus Smeti, eigentlich
heißt er Konrad Schmid und der behauptet, dass bald die Welt unterginge, weil die Menschen so sündig und die Kirche so verderbt sei. Und
nur der wahre Flagellant würde das Weltende im Paradies überleben.
Wenn ich dieser Irrlehre anhänge, dann tue ich doch die nächsten Jahre
nichts mehr, als mich täglich geißeln, bis ich so schwach bin, dass ich
sterbe, bevor die Welt untergeht.“ „Dann könnte doch stimmen, was
mein Zimmermann Franz neulich berichtet hat: er war ein bisschen außerhalb des Lehens unterwegs, um nach gutem Eichenholz zu suchen –
unsere Gesteinsmühlen müssen ersetzt werden, auch wenn es sich eigentlich nicht mehr lohnt - so etwa in der Gegend von Herrmannsacker,
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als er einen Geißlerzug sah, der sich am Krebsbach entlang auf die
Ebersburg am Westende des Wetzelstals zubewegte. Ihr wisst schon,
die alte Burg der Landgrafen von Thüringen, immer mit einem Vogt besetzt, zur Sicherung des Weges von Stolberg zum Kyffhäuser, schon von
den Welfen erbaut, vor Generationen aufgelassen. Ist das jetzt der Sitz
Konrad Schmids?“ „Das könnte gut sein – das Burggelände ist groß, der
Bergfried steht noch, unsere nordhausener Truppen haben dort oft den
Angriff auf eine Festung geübt!“ „Sehr gut, dann macht das noch einmal, wenn all die Ketzer in der Burg versammelt sind!“ „Ono – das ist
nicht christlich gedacht! Aber man sollte schon einmal schauen, was die
dort drüben ausbrüten – die Ebersburg ist keine Stunde von meinen
Lehen entfernt, da könnte ein Funke schnell überspringen!“ „Dann sei
das der Beschluss für die nächsten Tage. Doch was tun wir heute und
hier in Nordhausen?“ Gerald der Fernhändler schien sehr im Zweifel.
„Lasst euch vom Abt eures Klosters einen Rat geben: Öffnet die Tore
nicht; lasst Wasser, Brot und Speck hinaus bringen; die Menschen hier
in der Stadt, die kein Bürgerrecht haben und deren Lage wirklich immer
schlechter wird, sollten durch ketzerische Reden weder gegen die Kirche noch gegen die weltliche Obrigkeit aufgehetzt werden, denn sonst
fehlen euch die billigen Arbeiter und der Kirche die Schäflein.“ Der versammelte Rat schaute sich an, ein jeder nickte mit dem Kopf; der Schultheiß gab den Beschluss an die Fähnleinführer der städtischen Truppen
weiter, gemeinsam mit dem Auftrag, wachsam zu bleiben, und die Herren zogen sich zurück.
Cuno berichtete abends den einen, was er gesehen und was die Männer
beschlossen hatten. Gernot, der wirklich kaum aus Steigerthal herauskam - Salwa behauptete manchmal scherzhaft, dass er kaum aus Maris
Bett kam – fragte: „Ist die Lage der einfachen Leute tatsächlich so
schlecht?“
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Franz, der wie üblich am Abend auf der Burg vorbeigekommen war um
zu schwätzen und ein Bier zu trinken, bis seine Berta alle Kinder im Bett
hatte, antwortete als Erster. „Ich kann, glaube ich, mit Fug und Recht
dazu Einiges sagen, denn zum einen bin ich ja selber nicht von Stand,
zum Anderen bin ich doch viel unterwegs, sei es, um Aufträge auszuführen, sei es, um Dinge zu besorgen, die hier fehlen. Und so manches Mal
bin ich ja auch mit einer Ladung Feuerwaffen mit dir, Urban, unterwegs,
weil du mich brauchst, um die Käufer in die hölzernen Gestelle einzuweisen. Ja, Gernot, den einfachen Leuten geht es sogar zunehmend
schlechter. Cuno hat erzählt, dass letzten Herbst die Ernte am Fuß des
großen Gebirges gut war, aber hier in Thüringen war sie schlecht: zu viel
Trockenheit im Frühjahr, zu viel Regen im Sommer, und dann, bevor das
Getreide eingebracht werden konnte, ständige Gewitter, die das Korn
wieder feucht gemacht haben. Ihr erinnert euch doch sicher, dass letzten Herbst zu unserem Martinimarkt zwar die Händler aus Erfurt und
sogar wieder zwei Wagen von Rebecca aus Wismar mit Bernstein und
eingelegten Heringen kamen, aber das Angebot hier aus der Gegend
war schlecht und dünn. Seitdem haben sich die Menschen meist von
dem schlechten Getreide ernährt; vor allem Kinder, Kranke und Alte
sterben häufig davon. Und nicht nur in Steigerthal leben heute viel
mehr Menschen als früher, wenn dann Nahrung fehlt, geht es vielen
schlecht. Weil zu viele Hände da sind, die sich rühren möchten, wird der
Lohn der Taglöhner immer geringer und die Abgaben, die die Leibeigenen anderswo entrichten müssen, werden immer höher, da die Herren
nicht auf das gewohnte Leben verzichten wollen.“ „Das ist es, was den
einfachen Leuten zu schaffen macht – und es macht ihnen Angst vor
dem was kommt, diesseits oder jenseits. Da gibt es dann noch Einiges,
was auch Angst macht, das ist weiter weg oder kommt von weiter her,
doch ihr wisst ja selbst, wie weit heutzutage Steigerthaler herumkommen“, Cuno grinste, „und da fürchten sich die Menschen vor neuen
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Kriegen, wie denen zwischen Landgraf Friedrich und den Schwarzburgern: Die Menschen, die sterben, sind meist einfache Leute, nicht die
schwergerüsteten Ritter – na ja“ das mit einem erneuten schiefen Grinsen zum kleinen Cuno und zu Urban, das ändert sich auch. Aber die zerstörten Städte und Burgen wiederaufbauen und den Aufbau sich vom
Mund absparen, das müssen die Leute. Und wer das nicht will oder
kann, geht als Marodeur in die Wälder und lebt von Raub und Mord,
indem er vor allem wieder die kleinen Leute, die sich nicht wehren können, auspresst. Urban sagt mir fast täglich, dass zerlumpte Gestalten an
das Burgtor klopfen und Schützen werden wollen, ohne Anspruch auf
unser Versorgungsversprechen zu erheben.“ „ Und wenn ich unseren
Pfarrer höre“, ergänzte Salwa, „ dann leiden die Menschen auch unter
dem Streit in der Kirche: wenn der Papst den Kaiser als Ketzer verflucht,
ist das gut und richtig, weil der etwas getan hat, was gegen die Gebote
Gottes ist? Oder ist das nur ein Versuch, die Macht des französischen
Königs, in dessen Herrschaftsbereich die Päpste in Avignon ja leben, zu
vergrößern und das Reich zu schwächen?“ „Und von vielen hört man,
dass der Schwarze Tod, die Pest schon überall um unser Land herum
ausgebrochen ist und uns bald erreicht!“ Mit dieser letzten Bemerkung
Franks war Gernot in jeder Weise bedient: „Ich glaube es ja – aber was
wollen die Geißler dagegen tun?“ „Genau um das heraus zu finden,
gehe ich morgen auf die Ebersburg, nicht alleine: ein paar Schützen werden uns im Hintergrund begleiten, und Frank hat sich bereit erklärt, mitzukommen.“
Abends hatte Salwa noch viele Fragen und Cuno wenig Antworten, aber
sie versicherten sich auf jeden Fall, dass es nur die Abwesenheit für einen Tag werden würde und dass Gernot solange übernehmen könne.
Am nächsten Morgen ritten sie bis hinter Herrmannsacker, den Leuten
am Weg freundlich zuwinkend und mit dem einen oder anderen ein
Wort wechselnd; dann ließen sie die Pferde unter der Obhut einiger
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Schützen zurück. Cuno und Frank, beide gekleidet wie einfache Leute,
gingen den alten Handelsweg entlang, die Schützen hatten die schwierigere Aufgabe und schlugen sich rechts und links parallel zum Weg
durch den Wald. Als der Bergfried der Burg in Sicht kam, zweigten die
beiden Männer vom Handelsweg ab und stiegen den recht steilen Weg
zur Burg hinauf, während sich die Männer rund um die Mauer verteilten. Noch bevor sie das zerfallene Tor erreichten, hörten sie ein Lied,
das die Versammelten mit Inbrunst sangen, nach einer Melodie, die beiden bekannt vor kam, die sie dennoch nicht zuordnen konnten. Der Text
war kaum verständlich, aber den Refrain, den sie oft genug hörten,
konnten sie verstehen:
„Laie, tritt nun herzu,
gib deiner armen Seele Ruh.
Wir sind die wahren Christen,
und nicht die Kirche voller Listen.
Den Leib des Herrn, den reichen sie,
das Blut des Herrn ist nur für sie.
drum: wollen auch wir erlöset sein,
muss unser Blut uns waschen rein.“
In der Burg angekommen, betraten sie den großen Innenhof, und als
die Männer ihr Lied beendet hatten, saßen beide schon neben dem Tor
auf dem Boden an der Innenseite der Mauer.
„Ich sehe, dass wir Neuankömmlinge haben!“ Das war das erste, was
der Mann, der auf den Treppenstufen zum verfallenen Pallas stand,
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sagte; dabei wies er mit der Hand auf Cuno und Franz. „Ihr waret eingeladen, drum seid willkommen und höret mit unseren Brüdern das
wahre Evangelium:
Am Tag, bevor unser Herr Christus gekreuzigt wurde, saß er mit seinen
Jüngern beim Abendmahl. Er brach das frische Brot, nicht irgendwelche
extra gebackenen Bröckelchen“, die Männer lachten und Franz stieß
Cuno an: „Ich merke jetzt erst, dass er auf Deutsch spricht!“ „Er verteilte
das Brot unter ihnen und sprach: ‚Dies ist mein Leib, der für euch hingegeben wird.‘ So steht es in den Evangelien des Lukas, des Matthias
und des Markus, und so scheint es in der Kirche ja auch zu gehen. Doch
dann kommt der entscheidende Satz an jenem Abend, nachdem er den
Kelch mit Wein gefüllt hatte, sprach er: ‚Dies ist mein Blut, trinket davon
zu meinem Gedächtnis‘ Und dann sagte der Herr, dass er keinen Rebensaft mehr trinken würde, bis er mit den Jüngern vereint im Paradies sitzen werde. Nun frage ich euch, Brüder: wie haben wir diese Satz Christi
allsonntäglich in den Kirchen erlebt? Der Priester wiederholt auf Latein,
damit wir es nicht verstehen, die Worte des Herren und fügt einen Satz
hinzu, natürlich auch auf Latein: ‚das für VIELE vergossen wurde!‘ Und
wer trinkt? Er! Wie legt die Kirche also die Worte unseres Herrn aus?
Das Blut Christi wurde für die meist sündigen Priester, wir kennen sie
alle, vergossen! Und wirklich, im Evangelium von Markus und Matthäus
steht, dass Christi Blut für viele vergossen wurde. Warum bin ich nicht
damit einverstanden? In dem Evangelium, das uns auch die Ankunft
Christi in aller Herrlichkeit beschreibt, nämlich im Evangelium des Lukas, wird nicht nur die Geburt aus der Jungfrau Maria in allen Farben
beschrieben, er sagt auch für diesen Tag in Jerusalem: ‚Dies ist mein
Blut, das für ALLE vergossen wurde‘. Die Kirche, ihre Priester, lassen also
die wahre Vergebung unserer Sünden durch den barmherzigen Gott gar
nicht zu, sondern brauchen den ganzen Gnadenschatz unseres Herrn
Jesus Christus selbst auf. Seit Jahrhunderten ist das so. Es waren immer
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nur wenige Auserwählte, die das erkannten und, auf sich selbst gestellt,
erkannten, dass diese Institution uns einfache Laien nicht rettet, sondern dass wir selber etwas dazu tun müssen. ‚Aber Gott, der Herr, ist
doch barmherzig‘, das sagen uns die Leute immer wieder, ‚er wird uns
doch vor der Hölle bewahren!‘. Ich frage euch, meine Brüder, und auch
euch, die ihr euch erst kurz zu uns gesellt habt: Ist der Tod eines Unschuldigen barmherzig? Ist der Tod eines Einzelnen, der sich für andere
opfert barmherzig? Ehrenhaft ist er, das ist keine Frage, aber wird ein
barmherziger Gott Unschuldige töten lassen? War Jesus Christus schuldig?“
Ein lautes „Nein!“ schallte durch den Hof und Cuno ertappte sich, dass
er selber mitgerufen hatte. „Eine Kirche also, die uns das Seelenheil verspricht, aber nur sich selber meint und uns trotzdem bezahlen lässt, mit
Kirchenzehnt, Sakramentszehnt, Fronarbeit – eine solche Kirche kümmert es nicht, ob wir vor die Hunde gehen, verrecken und in der Hölle
schmoren. Und deshalb darf uns diese Kirche nicht kümmern. Diese
Welt wird bald untergehen, und dann kommt das Jüngste Gericht über
uns. Ich habe noch einmal in den Schriften gelesen und im Gebet um
Antwort gefleht, und ich sage euch: In einundzwanzig Jahren wird diese
unsere Welt zu Ende gehen und Gott, der Herr, wird richten, zu seiner
Rechten unser Herr Jesus Christ. Wer, wie die Priester, auch von Christi
Blut getrunken hat, wird nach den Prophezeiungen aller Evangelien gerettet sein; wir aber, wir können uns und die Unseren nur retten, wenn
wir unser eigen Blut dem Herrn opfern!“ Damit warf er seine Kutte von
sich, nahm die neben ihm liegende, mit Knoten und Nägeln durchsetzte
Peitsche und schlug sie sich auf den eigenen Rücken.
Die Männer im Hof erhoben sich, begannen erneut zu singen und formierten sich in die ihnen wohlbekannten Kreise und schritten zum Ritus
der Geißelung.
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Die beiden Steigerthaler nutzten das kurze Durcheinander, um sich aus
dem Burghof zu schleichen und, hörbar von den Schützen gefolgt, wieder zum alten Handelsweg hinunterstiegen. „Ich bin ja schon ein guter
Sohn der Kirche, und ich bin Bayer, aber da ist es mir schon kalt den
Rücken heruntergelaufen, als der Prediger das mit dem Blut Christi gesagt hat!“ „Ja! Es klingt so richtig, und ich musste ein paar Mal daran
denken, was uns der Mönch Michael vor zwei Jahren über die Katharer
erzählt hat. Ich denke, Franz, wir sind nicht nur wegen unseren guten
Lebens, sondern auch wegen Abt Ono und seinen Brüdern in einer guten Lage, die uns das Regiment der Kirche als gerecht erscheinen lässt.
Ich wage kaum noch an den Papst zu denken, der mit seinen Söhnen als
Kardinälen durch die Kathedrale von Avignon stolziert ist…“
Schweigend ritten sie nach Steigerthal zurück und fanden die Burg in
heller Aufregung. Wenzel und Anna galoppierten kurz vor ihnen über
die Zugbrücke, und als Cuno durch den Zwinger in den Hof geritten war,
sah er seine Schwiegertochter Maria in Tränen aufgelöst ihre Mutter
umklammern; Anna gesellte sich sofort dazu. Ramon stand unterdes neben den Frauen, sich unwohl windend, und wusste nicht wie er sagen
sollte, was vorzubringen war. Cuno erkannte die Lage , und kannte eine
solche Situation aus eigener Erfahrung, und bat deshalb alle erst einmal
in die Halle und gab den Mägden durch Blicke zu verstehen, dass sie
Salwa holen und dann Gläser und viel Wein bringen sollen, vielleicht
später auch Handfesteres.
Das erste Glas für jeden wurde ohne weitere Erklärungen hinuntergestürzt, teils wegen trockener Kehlen, teils als Weg zum Sprechen. Unterdessen waren auch Anja und Egbert angekommen, Frank war gleich
dageblieben und hatte Urban holen lassen.
Schließlich brach es aus Ramon heraus: „ Die ganzen Jahre war ich in
Erfurt glücklich. Ich konnte meine Musik machen, hatte sogar Schüler,
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die von mir Gitarre spielen lernen wollten, laute nette thüringische Burschen; der Landgraf holte mich ein paar Mal in der Woche, wenn er in
der Stadt war, um ihm und vielleicht Gästen vorzuspielen, der Lohn war
anständig und selbst Rahel hatte Freundinnen gefunden und war gerngesehene Besucherin in den Stallungen Friedrichs. Bis gestern! Da
strömte eine Masse Menschen, von denen ich keinen kannte, durch die
Stadt und sammelten sich schließlich auf dem Platz vor dem Rathaus
und schrien immer wieder, dass fremde Teufel und Hexen an der
schlimmen Lage der Menschen in Erfurt schuld seien. Und die schlimmsten Teufel seien die Juden, die hätten ja schon Jesus Christus umgebracht. Und dann kam eine große Gruppe auf den Petersberg, schrien
die Anschuldigungen vor dem Refektorium, in dem normalerweise der
Landgraf sein Quartier hat, heraus und forderte die Bedienten des Landgrafen auf, uns auszuliefern; wir seien fremde Teufel und sowieso Juden, die alle Menschen täuschen wollten, das sehe man doch daran,
dass wir so täten als wären wir Christen“ . Leonor unterdrückte ihr
Schluchzen und ergänzte: „Es war furchtbar, was sie uns alles vorgeworfen haben: ‚Meine Kinder sind tot, weil sie faules Getreide essen mussten – ihr habt das gute gefressen!‘ ‚Unsere Männer verdienen täglich
weniger und ihr lebt in Saus und Braus, ohne zu arbeiten!‘ ‚Wir sterben
im Krieg der Herren und müssen ihn auch noch bezahlen und ihr geht
dahin, wo ihr besser bezahlt werdet!‘
Endlich kamen Soldaten des Landgrafen und trieben die aufgebrachte
Menge aus dem Kloster, aber ich habe gesehen, dass sie sich sofort zum
Judenviertel wendeten, und als wir aus dem Stadttor flohen, in schwarzen Kutten mit Kapuzen und ich im Herrensitz, hörte ich noch, wie sie
gegen das Tor in der Synagoge anrannten!“
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Steigerthal, Frühsommer 1349
Das wenige Vieh, das noch übriggeblieben war, konnte endlich auf die
Weiden gebracht werden, ohne dass die Hufe das bisschen Grün, das
bisher gesprießt war, zermalmen würde. Eleonor war auf dem Gestüt
geblieben, wo sie Anja gut brauchen konnte. Ramon allerdings war nach
Erfurt zurückgekehrt, wohin ihn der Landgraf gerufen hatte. Der Winter,
der hart und kalt gewesen war, hatte nicht enden wollen. Als die Steigerthals zu Barbaras Geburts- und Namenstag nach Hohnstein ritten,
zum ersten Mal in diesem Winter länger draußen, hatten sie das Gefühl,
dass Thüringen unter Eis und Schnee verschwunden war. Und in der Tat,
die Mönche in Himmelgarten, die Tagebuch über das Wetter führten,
sagten, dass es seit vier Jahren jedes Jahr, auch Sommer im Sommer,
immer kälter würde.
Die junge Familie in Hohnstein war gesund, guten Mutes und fürchtete
sich noch nicht vor der entsagungsreichen Zeit des Winters, sondern
tischten den Gästen – es waren viele gekommen, Nachbarn, befreundete Ritter, Odo von Himmelgarten, als Knappenbruder Ulrichs auch
Friedrich, der Sohn des Landgrafen – auf, was Küche und Keller hergaben. Aber sie hatten auch beschlossen, dass zum Fest der Geburt des
Herren jeder auf seiner Burg bliebe und versuchte, nicht zu erfrieren.
Wem die Kälte im neuen Jahr am wenigsten zu schaffen machte, war
der kleine Cuno: die Köhler lieferten, so viel sie konnten, um wenigstens
etwas Nahrung für ihre Familien zu erwerben, und deshalb liefen die
Öfen im Dorf. Der Flachschmied stellte Vorräte an Eisenbändern her,
aus denen er, wenn kein Nachschub mehr käme, Gewehrläufe drehen
wollte, Františec berauschte sich immer noch an den Farben, die sie nun
dem Glas geben konnten und arbeitete an Trinkgläsern, Fenstern und
Schalen. Die verbliebenen Steiger hatten mit dem alten Cuno einen
neuen Schacht abgeteuft, der etwas ertragreicher war als die zuletzt
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ausgebeuteten; im Berg war es nicht ganz so kalt, so dass sie auch jetzt
hauen konnten. Der Abbau hätte sich trotzdem nicht gelohnt, wenn
nicht der Landgraf auf einen großen Teil des ihm zustehenden Silbers
verzichtet hätte; so bekam er doch immer noch Silber aus Steigerthal,
das für ihn wichtig war, denn er wollte ganz von Naturalabgaben ganz
auf Geldabgaben umstellen, und viele Männer hatten Arbeit. Auch hier
also glühten die Schmelzöfen. Das Frühjahr brachte Regen statt Schnee
und Eis, aber nur die Männer an den Schmelzöfen konnten die in den
Knochen steckende kalte Feuchtigkeit vertreiben, bevor die Sonne nicht
endlich das Land wärmte. Am wenigsten fühlte der ‚kleine‘ Cuno die
Kälte: Der Eisenzieher Gabriel, also der Flachschmied, hatte seinen Helfer verloren, der auf dem vereisten Weg gestürzt war und den die weise
Frau, Adelheid, zu heilen suchte. Da der Schmied aber allein nicht feuern und schmieden konnte, hatte er seine Tochter, die schöne Gertrude, geholt, ihm zu helfen. Und es war sehr warm in der Schmiede,
und die junge Frau trug nur das Nötigste, eigentlich nur lederne Handschuhe und eine alte Lederschürze ihres Vaters über einem dünnen,
löchrigen Kittel, um sich vor den fliegenden Funken zu schützen. Cuno
war mit seinen gerade mal achtzehn Jahren der Herr in den Betrieben,
und so stand es ihm schon zu, ständig beim Schmied hinein zu schauen.
Und er hatte den Eindruck, dass es die Schöne nicht stören würde, im
Gegenteil. „Sooo viel älter ist sie auch nicht“ murmelte er zu sich selber,
als er wieder einmal doppelt erhitzt hinüber rannte zum Glasofen, an
dem Františec wieder etwas Neues ausprobierte. Und Anja war viel
mehr Jahre älter gewesen, als sie sich seinen Vater geangelt hatte, das
wusste er sicher. Und so schön wie Gertrude konnte sie gar nicht gewesen sein. Nur dem böhmischen Glasbläser gegenüber durfte er keine
Silbe über die Schmiedstochter verlieren. Der hatte doch selbst Absichten! „Was ist dabei rausgekommen?“ „Schau doch mal: eine Farbe wie
ein Sonnenuntergang im Sommer!“ Voller Stolz hielt Františec seine
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Glasmacherpfeife mit einer aufgeblasen Glaskugel gegen das Fenster,
bevor er sie mit dem Hefteisen von der Pfeife trennte, erneut erhitzte
und die Kugel dann auf einer Tonkachel flach drückte, um eine Butzenscheibe daraus zu machen. Mit der Zange nahm er sie hoch und trat vor
das Haus: „Da sieht doch auch so ein trüber Tag wie der heutige wie der
schönste Sommer aus!“ „Stimmt“, musste Cuno zustimmen, „Kannst du
mir sagen, wieviel Rotes Bleierz und wieviel Silber du der Fritte beigemischt hast, damit ich es aufschreiben kann?“ „Ja. Vom Bleierz einen
deiner kleinen Löffel voll, vom Silber zwei.“
Sie hatten noch genügend Vorrat vom Roten Bleierz, denn der jüdische
Händler, von dem sie es das erste Mal bekommen hatte, war über Steigerthal gezogen, als er sich vor einigen Wochen mit all seinem Besitz
und seiner ganzen Sippe auf den Weg nach Norden gemacht hatte, um
aus dem Herrschaftsgebiet des Landgrafen zu entkommen: „Der hat uns
einfach an Grafen und Städte verkauft, weil er Geld brauchte. Eigentlich
waren wir ja des Kaisers Kammerknechte, aber der Bayer Ludwig hat
uns Juden hier im Land seinem Eidam Friedrich von Thüringen zur Hochzeit geschenkt. Da fast alle Erfurter Ratsherren bei uns verschuldet sind,
könnten die nur zu bald auf die Idee kommen, dass alles, was die Juden
besitzen, der Stadt zufällt, wenn wir sterben, und wenn es keine Gläubiger mehr gibt, gibt es auch keine Schuldner mehr!“ „Meinst du nicht,
dass du den Erfurtern Unrecht tust?“ Das hatte der alte Cuno gefragt,
bei dem sich der Händler das Geld für das Bleierz abholen musste. „Erinnert Ihr Euch an Rebecca, die vor Jahren schon nach Norden gezogen
ist?“ „Klar, sie schickt ja auch immer wieder Waren auf unseren Markt.“
„Nun, die hat in Wismar gar keine Probleme, da halten die Menschen
Juden für Menschen. Hier aber … “, er brach ab, „hier ist das ganz anders. Ich habe mich entschlossen, zu gehen. Es war schwierig genug, das
Meiste zu Geld zu machen, und viele Kredite habe ich für einen kleinen
Obolus an meine Glaubensbrüder abgetreten. Aber da wir Juden nur
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auf dieser Welt leben, möchte ich noch etwas länger leben, auch wenn
der Weg in dieser Kälte schlimm wird!“ Und er hatte Recht gehabt.
Kurz vor Pfingsten zog der alte Cuno mit einem Dutzend Schützen und
zwei schwer beladenen Fuhrwerken nach Erfurt, um dem Landgrafen
das noch ausstehende Silber zu überbringen, damit der es münzen lassen und seine Truppen bezahlen konnte. Der kleine Trupp war wie gewohnt der Gera entlang gezogen und hatte die Stadt durch das Andreastor betreten, um mit der wertvollen Ladung einen möglichst kurzen
Weg durch die brodelnde Stadt zu haben, in der Menschen aus der weiten Umgebung versuchten, Getreide oder Mehl zu kaufen und boten
dafür an, was sie hatten: Die Männer ihre Waffen und Pferde, Handwerkszeug und Ackergeräte; die Frauen Garn und Nadeln, Spindel und
Spinnrad, ja ganze Webstühle; und die die nichts hatten, boten ihre Körper feil.
„Gut, dass Ihr kommt“, sagte Ottmar, Ritter von Möbisburg, der neue
Münzmeister des Landgrafen. „Wenn die Leute Euch erkannt hätten oder geahnt hätten, was auf den Wagen liegt – ich weiß nicht ob wir Euch
mit den ganzen landgräflichen Truppen hätte heraushauen können.“
„Der Winter war aber auch gar zu schlimm nach der Missernte letztes
Jahr. Selbst wir haben gedarbt.“ „Ihr müsst ja auch eine Menge Mäuler
bei Euch da oben versorgen, fast so viele wie wir hier auf dem Petersberg. Und heute beim Abendmahl werdet Ihr sehen, dass Schmalhans
immer noch Küchenmeister ist! Was ist denn da für ein Getöse?“ Das
rief er laut einem Knecht zu, der am Tor Wache hielt. „Ich kann nicht
klar erkennen, was geschieht, aber es scheinen sich viele Menschen hinter der Krämerbrücke zu versammeln!“ gab der zurück. „Ihr, Ritter Steigerthal, bleibt besser hier auf dem Petersberg, die Gefahr, dass jemand
Euch erkennt und errät, warum Ihr hier seid, ist zu groß. Ich nehme ein
paar der Knechte und den Knappenmeister mit und schaue nach, was
geschieht – der Landgraf hat uns schließlich die ganze Verantwortung
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überlassen, bevor er nach Frankfurt ist!“ Cuno willigte ein, schickte
seine Männer in die Halle, um sich zu verköstigen und bestieg den linken Turm von Sankt Peter; vom Fenster vor dem Geläut konnte er die
ganze Stadt beobachten. Was er sah, erschreckte ihn zutiefst, ab er es
entsprach dem, was er von anderen Städten gehört hatte: eine große
Menge Erfurter stürmten die Synagoge an der Krämerbrücke und brachen die Türen auf. Rabbiner und andere Juden, die sich ihnen entgegenstellten wurden niedergeschlagen oder niedergestochen, und bald
sah Cuno einen Patrizier, einen der Stadträte der freien Reichsstadt Erfurt, wie er mit der Thora-Rolle auf den Platz vor der Synagoge stürmte,
die Rolle öffnete und das Ende entzündete; dann ergriff er den Anfang
der Rolle und zog ihn in das Gotteshaus, wo das Feuer offenbar bald
genug Nahrung fand – es war noch keine halbe Stunde vergangen, bis
die Flammen aus dem Dach schlugen. Die johlende Menge verstreute
sich nun in den Gässchen hinter der Synagoge und bald brannte das
ganze Viertel, in dem die Juden seit vielen Generationen mit ihren
christlichen Nachbarn Tür an Tür gewohnt hatten. „Es war furchtbar“,
berichtete Ottmar später. „Den Wahnsinnigen war es völlig egal, dass
auch die Häuser der Christen in Flammen aufgehen würden, selbst
wenn sie diese nicht vorher plünderten. Aber ich bin sicher, dass in den
Häusern der Juden nichts mehr von Wert war, bevor sie brannten! Ich
habe viele, Bettler, Handwerker, Bürger, aber auch Edelleute gesehen,
die schwer beladen das Feld räumten. Und dann trieben die Halunken
die Männer in das rituelle Bad, die Mikwa, neben der Brücke an der
Gera, warfen brennende Scheite auf sie und entehrten die Frauen und
Mädchen in der Hitze des Feuers. Hätte ich zwei Hundertschaften aufbringen können, wäre es vielleicht gelungen, dem teuflischen Treiben
ein Ende zu machen, aber mit meinen fünf Gewappneten waren wir
hilflos wie die Juden selbst.“ „Und dieser Patrizier – Ihr wisst, wer es
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ist?“ „Oh, ja, und der hatte dann auch noch die Frechheit, weitere Erfurter in das Treiben zu locken, indem er laut verkündete: ‚Wer bei den
Juden Schulden hat, kann sie jetzt schnell zurückzahlen! Jeder Hieb ein
Beutel Silber, jedes kreischende Judenweib ein Beutel Gold. Und was
ihr nicht mitnehmt, gehört rechtmäßig der Stadt Erfurt!‘. Ich werde ihn
vor Gericht bringen, wenn es noch so etwas wie Recht gibt!“ Einer der
Knechte, die mit Ottmar in der Stadt gewesen waren, berichtete, dass
gemunkelt wurde, die Angreifer seien wütend gewesen, weil sie viel weniger Gold, Silber und Edelsteine gefunden hätten als erhofft. Wahrscheinlich, so die Behauptung hätten die Sippen um die reichste Jüdin,
Jutta Kophelin, das Ganze irgendwo vergraben. Und die anderen Ratsherren, die ‚Stadtväter‘, hatten tatenlos und händereibend zugesehen.
Das alles hatte der kleine Cuno gehört, als sein Vater zurück nach Steigerthal gekommen war, er hatte es verstanden in der ganzen Grausamkeit des Geschehens, aber er wollte nur wahrnehmen, was in seiner
kleinen Welt stattfand, die doch so weit von der großen Welt da draußen weg war. Und das war zuallererst einmal Gerlinde und das, was in
ihm und mit ihm vorging. Und das dringende Bedürfnis zu wissen, was
in ihr vorging. Er besprach gerade mit Františec, welche Farben sie als
nächste ausprobieren sollten, solange sie noch mit den kleinen Fritten
arbeiteten, als die beiden einen Schrei aus der Schmiede hörten. „Bleib
du beim Glas, ich laufe schnell hinüber!“ Mit diesen Worten war Cuno
auch schon unterwegs. Als er die Tür zur Flachschmiede aufriss, sah er
den Schmied am Boden liegen, einen Streifen glühenden Eisens über
Bauch und Brust. „Was ist passiert?“ Schluchzend berichtete Gerlinde:
„ Vater hat das Eisen wohl auf die Kante des Ambosses statt auf die
Mitte gelegt, und als er dann mit dem schweren Hammer zuschlug,
kippte der Amboss und das Eisen sprang aus der Zange, mit der es der
Vater mit der Linken festhielt und warf ihn um.“ Cuno schaute sich suchend um, fand die Zange, nahm das immer noch glühende Eisen und
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warf es zurück in die Glut. „Lauf hinüber zu Adelheid, sie soll so schnell
wie möglich kommen, und sag ihr, dass der Vater Brandwunden hat!“
Sie nickte, und bevor sie aus der Tür schlüpfte, legte er ihr noch sein
warmes Wams um. „Es ist kalt draußen!“ Dann beugte er sich über den
Schmied, schnitt die Bänder der völlig versengten schweren Lederschürze auf, nahm sie dem schwer atmenden und wimmernden Mann
ab und stellte fest, dass die Kleidungsstücke darunter fast verkohlt waren. Weiter traute er sich nicht, dem Mann zu helfen, sondern blieb
wartend auf den Fersen sitzen. Dann endlich kamen Adelheid und Gerlinde zur Tür herein. „Lass sehen, was ich tun kann, Gabriel. Cuno, hole
alles Schmalz, was du in der Burgküche bekommen kannst, und du, Gerlinde holst ein Leintuch und reißt es in handbreite Streifen – schnell!“
Beide taten wie geheißen. Cuno wurde es sehr kalt bei dem Lauf zur
Burg, und schwor sich, den Rückweg wärmer gekleidet zu nehmen; deshalb bat er einen der Knechte, die in der Halle am Feuer saßen, ihm
seinen Mantel zu holen und war sehr froh, dass seine Mutter in der Küche war, der man solche Dinge wie „Ich brauche alles Schmalz, das da
ist!“ nicht lange zu erklären brauchte. „Der Schmied lag unter glühendem Eisen und Adelheid sagt, sie braucht es.“ Das war alles, was nötig
war und wenige Momente später stürmte er schon wieder hinunter zu
den Werkstätten. Der Mantel war warm!
Adelheid hatte unterdessen das Wams und das Hemd Gabriels aufgeschnitten und den breiten Streifen von verbranntem Fleisch freigelegt.
„Schau mal, ob hier oder bei Františec irgendwo der sprichwörtlichen
Krug mit Schnaps steht – und gib mir ein schmales Holzstück!“ Cuno
fand den Krug auf dem Fenstersims und reichte ihn dem Schmied, der
große Schlucke nahm, bevor er anfing zu husten. Gerlinde war auch zurück und begann, das Leintuch zu zerreißen, „Holz!“ war das Kommando der Heilerin und diese schob das Brett dem Schmied zwischen
die Zähne. „Ich weiß, dass es wehtut, aber du wirst es überleben.“ Und
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damit goss sie von dem Schnaps auf die Brandwunde des Mannes, der
sich aufbäumte und die Zähne zusammenbiss. Dann wischte sie den
Schnaps mit einem sauberen Tuch ab und schmierte Schmalz auf die
Wunde. Cuno hörte, wie das Brett im Mund Gabriels zu splittern begann
und dann sackte der Geplagte zusammen und verlor das Bewusstsein.
„Na, endlich. Ich wusste schon, dass er so stark ist wie ein Ochse, aber
auch so störrisch!“ Damit begann sie, Leinenstreifen auf die mit Schmalz
bedeckte Wunde zu legen und mit den Fetzen des angebrannten Hemdes fest zu binden. „ Ich gehe jetzt deiner Mutter Bescheid geben; sie
soll eine Decke herschicken, aber bei deinen Geschwistern bleiben.
Františec sage ich, dass er morgen früh Holz herbringt – so lange“, sie
schaute sich prüfend um, „müsste das hier reichen. Und ihr zwei rührt
euch nur dann von der Stelle, wenn der Vater aufwacht und der restliche Schnaps nicht gegen die Schmerzen ausreicht!“ Damit ging sie hinaus. Sie hörten sie mit dem Böhmen reden und nach einiger Zeit kam
Gerlindes kleinster Bruder, brachte die Decke für den Vater, schaute
entsetzt, wie dieser aussah und verschwand schnellstens.
Cuno breitete den Mantel auf den Boden, nachdem er alle Glut, die
herum lag, zur Seite gewischt hatte und setzte sich, Gerlinde mit sich
ziehend. Draußen heulte der Wind, in weiter Ferne waren auch Wölfe
zu hören, drinnen hörte man nur das schwere Atmen des Verletzten
und das Knistern der Glut. Es war warm. Das Mädchen sank auf den Boden, legte die Hände in den Schoß, der Kopf fiel ihr auf die Brust.
Das war das letzte, was Františec gesehen hatte, als er spät abends
durch das Fenster der Schmiede lugte, die Glut gab noch etwas Licht,
aber ohne Flammen war es doch recht finster. Er wusste seinen Nebenbuhler mit der Dirne allein, aber mehr konnte er nicht tun. Als er am
nächsten Morgen wieder nachschaute, lag Gertrude, halb in den Mantel
gehüllt, auf dem Boden, das Feuer prasselte und Gabriel der Schmied,
gab röchelnde Geräusche von sich. Als Františec eintrat, richtete sich
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Gerlinde auf: „Cuno ist schon vor einer Weile zu Adelheid gelaufen, weil
es Vater nicht gut geht – ich weiß gar nicht, wo er bleibt.“ Der Glasbläser
trat vor die Tür und schaute hinüber ins Dorf und sah zwei Gestalten,
die sich schnell dem Bereich der Werkstätten näherten. „Sie kommen“,
sagte er, als er die Tür wieder hinter sich geschlossen hatte. Da er am
Vorabend nicht in der Schmiede gewesen war, fiel ihm natürlich auch
nicht auf, dass Gerlinde zwar ihren Kittel und Cunos Wams trug, aber
nicht mehr die Lederschürze. Adelheid hieß Františec und Cuno, den
Schmied auf die Decke zu heben, und gemeinsam trugen sie ihn zu seinem Haus, Gerlinde mit dem Schnapskrug und Adelheid mit ihrem Kräuterkorb hinterher.
Dann schritt Cuno zur Burg hinauf, nicht mit den Schritten eines, der
Totenwache gehalten hatte, sondern voller Erfüllung und Freude. Trotzdem zog er unter den kritischen Blicken seiner Mutter den Kopf zwischen die Schultern. Und Salwa fragte das Gleiche, wie sie es Jahre zuvor Gernot gefragt hatte, als Maria ihn vor der Ritterweihe durch die
Nacht begleitet hatte: „War es schön?“ Cuno, verblüfft, dass er sich
nicht rechtfertigen oder verteidigen müsse, stammelte ein wenig
herum, schaute dann seine Mutter mit strahlenden Augen an und antwortete klar: „Ja! Es war zwar blöd, das Gabriel verletzt neben uns lag,
aber andererseits wäre er selbst ohne die Ohnmacht bei der Menge an
Schnaps durch nichts zu wecken gewesen, und Gerlinde hat erst Trost,
dann mehr gesucht – ich habe mich ihr nicht aufgedrängt, wirklich! Und
ich glaube nicht, dass es ihr erstes Mal war – sie war so viel geschickter
als ich“ „Das ist gut so, denn in Wirklichkeit sind wir Frauen es, die in
solchen Dingen handeln, es sei denn, die Männer wären schlecht, dann
können auch die anfangen, und dann gegen den Willen der Frauen.“
Nach einer Pause: „Wie stehst du zu ihr?“ „Du hast sie doch schon oft
gesehen!“ „Ich meine nicht, ob sie dir gefällt, das weiß ich ja, und das
ist auch kein Wunder, aber du musst schon noch überlegen, ob sie für
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dich eine Gespielin sein soll und wird, oder etwas anderes. Aber das zu
entscheiden ist es nach der ersten Nacht sicher zu früh!“ Cuno schaute
etwas bedrückt und sagte dann: „Es ist doch sicher in Ordnung und gegen keine Regeln, wenn ich in den nächsten Tagen immer malwieder
nach Meister Gabriel sehe, oder? Und dann kann ich ja auch feststellen,
was mit Gerlinde und mir ist!“ Damit verzog er sich aus dem Blickfeld
seiner Mutter. Die stieg die Stufen zur Kemenate hinauf, wo Cuno mit
den Abrechnungen für den landgräflichen Hof saß, und setzte sich auf
die eine Bank im Fenster. Als der Ritter seine Gemahlin da sitzen sah,
stand er vom Tisch auf, froh um die Abwechslung, setzte sich auf die
gegenüberliegende Bank im Fenster, schaute seine Frau an und fragte:
„Was gibt es, Liebes?“ „Unser Kleiner! Du hast ja gehört, dass er heute
Nacht bei Gabriel gewacht hat. Aber die schöne Gertrude war auch dabei – und er ist stolz auf das, was letzte Nacht passiert ist!“ Cuno grinste
seine Frau an: „Er ist ganz offensichtlich ein Steigerthal -und auch dein
Sohn. Denkst du, dass wir ein gutes Leben zusammen hatten?“ „Was
soll die Frage jetzt?“ „Also, ich denke für meinen Teil schon. Und haben
wir geheiratet, weil wir beide von Adel sind, du aus hohem, ich aus niederem? Oder weil wir uns wollten? Ich habe neulich bei den Mägden in
der Küche ein Liedchen gehört, und das fand ich schon bedenkenswert:
‚Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?‘ Wenn
der Kleine eine Frau gefunden hat, die ihn über Schmelz- und Drehprozesse hinaus begeistert, soll er es doch genießen! Und die Gertrude ist
hübsch…“ „Männer!“ „Lass‘ ihm einfach noch ein wenig Zeit, und wenn
er dann meint, sich entschieden zu haben, reden wir drüber, einverstanden?“ „Du hattest sicher eine schöne Zeit mit Anja, aber wenn du auch
nur auf die Idee gekommen wärest, sie zu heiraten, hätte es dein Vater
sicher auch erlaubt, wenn auch ungern, vor allem nachdem Gernot ganz
ohne Eheweib geblieben ist. Aber wo kämen dann ich und der kleine
Cuno ins Spiel?“ Cuno stand auf und nahm Salwas Gesicht in beide
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Hände: „Wenn ich dich loslasse, schaust du mal durch die wenigen weißen Butzenscheiben des Fensters hinaus, dann siehst du, dass es selbst
in diesem Jahr Frühling wird!“ Als sie etwas einwenden wollte, verschloss er ihren Mund mit einem Kuss, der jeden Gedanken an Anja verscheuchtem und eher Gedanken an Anderes weckte. Aber diese Gedanken auszuleben erlaubten ihnen die dumpfen Trommelschläge nicht,
die von dem Vorplatz der Zugbrücke zur Burg herüberdröhnten. Cuno
ließ Salwa los und spähte durch die weißen Butzen und sah, was er befürchtet hatte: etwa sechzig Männer liefen in einem großen Kreis
herum, schwarze Kutten mit dn aufgenähten roten Kreuzen verhüllten
sie, jedoch nicht die Peitsche mit Knoten und Nägeln in den Riemen, die
ein jeder in der Hand hielt. „Geißler, und das jetzt, wo durch die neue
Ernte die Not bald ein Ende haben wird!“ Er nahm Salwas Arm und
führte sie die Treppe hinunter, durch die Halle und den Hof zum Ausguck des Torwächters, der klugerweise die Zugbrücke hochgezogen
hatte, als er den seltsamen Haufen anrücken sah. Und dann beobachtete Herr und Gesinde vom sicheren Ort aus, was Cuno schon in Nordhausen und in der Ebersburg gesehen hatte: als die Trommeln schwiegen, las einer aus einem Dokument vor; was, das konnten sie nicht verstehen. Aber als der Vorleser aufgehört hatte, konnten sie sehen, wie,
wie auf ein Zeichen, alle ihre Kutten ablegten und sich in einem großen
Kreis mit nackten Oberkörpern bäuchlings auf den Boden legten. Der,
der den Text verlesen hatte, wohl ihr Meister, stellte sich mit gespreizten Beinen über einen der Männer, berührte ihn aber noch nicht mit
seiner Peitsche, sondern rief so laut, dass man es auch in der Burg verstehen konnte: „Ihr Sünder, der Herr unser Gott, hat uns eine neue
schwere Prüfung auferlegt. In Erfurt und Nordhausen sind schon Dutzende armer Menschen an der Seuche zugrunde gegangen, obwohl alle
Priester und Mönche beten und beten und beten. Und doch sind sie
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verloren. Was sagt uns das? Es sagt uns, dass der Allmächtige zum Zeichen unserer Reue und als Sühne für unsere Sünden nicht den Wein der
Priester will, die behaupten, das sei das Blut Christi. Nein! Er will unser
Blut!“ Und damit ließ er seine Geißel erst auf den Mann, über dem er
stand, niedersausen, dann rief er einen Befehl, alle erhoben sich und
schlugen sich mit den Peitschen auf die eigenen Rücken, und trottet
wieder im Kreis, laut ihre Geißlerlieder singend. Drei Umgänge machten
sie, Blut floss bei allen, und wieder warfen sie sich zu Boden und beteten.
Als sie sich wieder erhoben, beugte sich Cuno aus dem Fenster der Wache und rief dem Vorleser zu: „Stimmt das mit Nordhausen und Erfurt?“
„Ich lüge nicht und ich übertreibe nicht!“ schallte es zurück. „Woher
wisst ihr das?“ „Wir haben selbst die Toten mit ihren Beulen und ihrem
Gestank gesehen!“ „Seid ihr sicher, dass ihr die Krankheit nicht selbst in
euch tragt?“ „Das ist Gottes Wille!“ „Dann ist es auch Gottes Wille, dass
ihr weiterzieht, wohin auch immer. Wir geben euch keinen Einlass, und
ich schwöre, dass ich jeden niederschießen lasse, der sich dem Dorf oder einem der Häuser mehr als hundert Schritt nähert!“ Wache und
diensthabende Schützen hatten das Gespräch mitgehört und schoben
nun die geladenen Handrohre aus Fenster und Schießscharten. Die
Geißler beugten sich der Gewalt, der eine oder andere schüttelte seine
Faust in Richtung Burg, aber sie zogen davon in Richtung Hermannsacker.
Noch vor Einbruch der Nacht hatte Cuno das ganze Dorf an der Linde
beim Brunnen zusammengerufen und Gernot, den kleinen Cuno, Urban, Franz, Wenzel, Egbert mit der gleichen Botschaft in die anderen
Orte des Lehens geschickt.
„Leute! Ihr habt es sicher schon vernommen, dass die entsetzliche Seuche auch nach Thüringen gekommen ist. Ist es eine Plage wie zur Zeit
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der Israeliten in Ägypten? Wohl kaum, denn die Plagen hatte Gott geschickt und die Israeliten fielen ihnen nicht zum Opfer, sondern nur die
Ägypter. Bei dieser Seuche aber sterben die Guten wie die Bösen. Viele
werfen den Juden vor, dass sie die Brunnen vergiftet hätten, um sich
unseres Eigentums zu bemächtigen. Seltsamerweise sterben die Juden
genauso wie die Christen. Ich bin zwei Mal ganz nah an Städten gewesen, die die Pest heimgesucht hat und ich bin, obwohl doch Sünder,
nicht krank geworden, aber ich bin auch nicht hinein in die Städte. Bernhard von Waldenburg, ein Bruder im Kampf, der mit dabei war, hat sich
in engen Kontakt mit den Menschen in ihnen begeben – und er ist vor
wenigen Wochen zugrunde gegangen. Deshalb: Keine Fremden dürfen
ins Dorf oder gar ins Haus; wenn sie sich vier Wochen dort hinten in den
alten Schafweiden am Alten Stolberg aufgehalten haben und nicht
krank geworden sind, dann dürfen sie ins Dorf. Essen und Trinken könnt
ihr ihnen bringen, aber nicht geben: bleibt so weit wie möglich weg von
Fremden. Und nun lasst uns zur Messe gehen und beten, dass Gott uns
verschonen möge!“
Am Abend saßen sie mit besorgten Gesichtern in der Halle zusammen.
„Wie können wir uns schützen, wenn wir keine Vorräte mehr haben?
Wir müssen also zuerst versuchen, für uns selbst, aber auch für die
Schützen, das Gesinde, die Handwerker und die Bergleute Getreide aufzutreiben, und wenn ein paar Rinder oder Schweine dazu kämen, würden wir bis zur neuen Ernte durchkommen! Salwa, weißt du, wieviel Getreide die Küche in der Woche braucht?“ „Wenn nur wir da sind, keine
großen Feste anfallen und nichts verdirbt, brauchen wir fünf Sack Getreide oder drei Sack Mehl. Und wir sind etwa vierzig Leute. Nehmen
wir alle im Dorf dazu, brauchen wir allein für Steigerthal etwa fünfundzwanzig Sack Korn in der Woche– wo sollen wir das hernehmen?“ „Wieviel Silber haben wir denn noch, Vater?“ „Ich weiß es nicht, Gernot.
Nimm den Schlüsselbund hier und geh‘ nachzählen! Cuno, stell bitte
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fest, wieviel noch zu verarbeitendes Gestein da ist und wieviel Glas fertig ist. Ich weiß selber, dass Gabriel, der Schmied, nur Eisenbänder gemacht hat, bis er sich verbrannte – da können wir nichts gegen Getreide
oder Vieh eintauschen! Anja, wieviel Wagen und Pferde können wir von
dir leihen?“ „Ich denke sechs bis acht Wagen und die entsprechende
Anzahl Pferde können wir für ein, zwei Wochen entbehren, aber ihr
müsst auch Hopfen Gerste mitbringen, sonst geht das Rossknecht-Bier
zur Neige!“ „Vielleicht auch noch ein paar geräucherte Fasanenbrüstchen?“ „Hör auf zu spotten! Aber, ernsthaft, wo können wir so viel Getreide herbekommen?“ „König Karl ist vor drei Jahren zwar von vier Kurfürsten gewählt worden, aber er will einstimmig von allen sieben gewählt werden; deshalb hat er für nächsten Monat alle Kurfürsten noch
einmal einberufen, diesmal nach Frankfurt, um sich erneut wählen zu
lassen. Jetzt denkt mal nach: ihr hättet Getreide übrig; wo könntet ihr
es mit viel Gewinn verkaufen? Eben!“ Cuno nahm das Gemurmel ‚Frankfurt‘ auf. „Was wir machen werden, ist, uns an den Wegen nach Frankfurt aufzustellen und die Herren, Bauern, Händler davon überzeugen,
dass sie viel mehr verdienen, wenn sie uns das Getreide zu gutem Preis
gleich verkaufen, als wenn sie sich auf dem Markt in Frankfurt mit anderen herumschlagen müssen. Deshalb bitte ich dich, Anja, selbst mit
zu kommen, und Egbert, Wenzel und Anna mit zu schicken, denn die
können wirklich handeln!“ „Das werden wir mit Vergnügen tun, aber
irgendjemand muss hier im Gestüt dafür für Ordnung sorgen.“ „Das
werde ich selbst tun, wenn dir das reicht: mein Gesicht ist zu bekannt,
als dass ich mich in so einem Vorgehen, ohne uns zu schaden, zeigen
kann; wir schaden ja niemand, aber wir hoffen, zu überleben und kümmern uns nicht um die Anderen. Das ist nicht sehr christlich, aber es
könnte uns helfen.“ Cuno schaute im Kreis herum: „Ist das für euch vorstellbar?“ Gernot drückte Maria an sich und nickte, Salwa und der kleine
Cuno nickten ebenfalls und Anja stimmte für alle vom Gestüt zu; Urban
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war etwas unsicher, aber er wusste, wenn es nichts zu Essen gab, waren
auch seine Schützen bedeutungslos geworden; deshalb atmete er auf
und nickte ebenfalls, als der alte Cuno sagte: „Urban und die Schützen
müssen nicht nur die Lehen vor Fremden schützen, sondern auch das
Getreide bewachen, das mit aufkommendem Sommer immer wertvoller werden wird! Salwa, wäre es zu viel verlangt, wenn ich dich bitten
würde, morgen nach Hohnstein zu reiten und Walter und Barbara zu
sagen, was wir gehört und beschlossen haben? Und du Eleonor, musst
mir mit den Pferden helfen, genauso wie die Anderen!“ Damit hatten
alle das Gefühl, das Notwendige getan zu haben, und die Angst vor Hunger und Not konnte warten. Cuno ließ die Mägde auftischen und der
Abend endete fröhlich.
Steigerthal, Sommer 1349
Karl von Böhmen war in der Tat nun in Frankfurt von allen Kurfürsten
gewählt worden. Der Krönung in Aachen im Herbst stand nichts mehr
im Weg, ein weiterer Zug nach Avignon würde die Kaiserwürde mit sich
bringen. Der König war so von seinen Angelegenheiten in Beschlag genommen, dass er auf viele Hinweise seiner Getreuen, die sich darüber
wunderten, wie wenig Getreide und Schlachtvieh nach Frankfurt kamen
und warum das so war, nur mit dem Hinweis „Das ist wieder typisch
Cuno von Steigerthal, ein verrückter Hund, aber treu wie Gold!“ antwortete. Und in der Tat, die List hatte Früchte getragen: Scheunen und
Schuppen waren voll, viel neuerworbenes Vieh graste auf den jetzt
wirklich prallen Wiesen und selbst für das Rossknecht-Bier war genügend Hopfen und Gerste vorhanden. Der Silbervorrat Cunos war dahin
geschmolzen, aber die neue Ernte stand gut. Das Ziel, Fremde fern zu
halten, um sich vor der Pest zu schützen, konnte nun verwirklicht werden: Die Dörfler, die Bergleute und die Handwerker hatten untereinan-
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der aufgeteilt, wer wann und wo Wache stehen müsse, um zu beobachten, ob sich jemand näherte. Und es kamen viele! Und alle mussten entweder weiterziehen oder sich den Quarantäneregeln unterwerfen.
Die Hohnsteins verkrochen sich auf ihrer Burg, weil Ulrich, der ja von
den Abgaben seiner Leibeigenen und seiner Pächter lebte, nicht genügend Nahrungsmittel für alle hatte und es deshalb vorzog, mit Barbara
und dem kleinen Walter innerhalb der Mauern Schutz zu suchen, nachdem das Gesinde entsprechend unterrichtet worden war. Die anderen
Hohnsteins hatten – wie viele Nachbarn auch – das Vorgehen Cunos für
lächerlich gehalten, und es gab sogar eine ganze Reihe von Liedern, von
den reisenden Troubadouren verbreitet, die sich über Cuno lustig
machten.
Anja und Egbert hatten entgegen ihren Gepflogenheiten beim Verkauf
von Pferden außerhalb des Gestüts darauf verzichtet, ihr eigenes Futter, das die Tiere kräftig hielt, mitzunehmen. Lieber erzielten sie einen
geringeren Preis, als dass sie das unschädliche heimatliche Futter irgendwo anders vermischen ließen. Und Wenzel und Anna waren im
ganzen Reich unterwegs, um Pferde zu verkaufen und Fohlen einzukaufen; wenn sie dann jedes Mal drei Wochen ohne Kontakt mit den andern Menschen aus Lehen, Gestüt oder Dorf in der Schäferhütte verbringen mussten, um zu prüfen, dass sie keine Pest hatten, schien ihnen
das nicht einmal zu missfallen – zumindest war Anna zu ihrer großen
Freude schon beim ersten Mal schwanger geworden, nachdem sie bereits so lange mit Wenzel auf ein Kind gewartet hatte!
Wenige Wochen nach der Königswahl kehrte Wenzel von einem geplanten Geschäft zurück, fast alle Tiere, die er mitgenommen hatte, noch
unverkauft. „Ich sollte doch Pferde nach Frankfurt liefern“, brüllte er
von weitem seiner Mutter zu, um den größtmöglichen Abstand zu wahren. „Aber ich bin gar nicht erst in die Stadt hineingekommen: Rathaus
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und Judenviertel brannten lichterloh, und alle Menschen flohen aus den
Toren. Ich bringe die Tieren auf die obere Koppel und gehe dann selber
zur Schafweide - und ich habe Hunger!“
„Ich bringe ihm gleich Brot, Fleisch und Bier.“ Das war Anna, die dem
Gebrüll ihres Gemahls genauso gelauscht hatte wie alle anderen. „Du
bleibst hier! Denk doch an dein Kind.“ „Eben, deswegen gehe ich ja. Was
soll ich denn mit einem Kind, wenn Wenzel nicht da ist? Und wenn er
die Pest hätte – mein Platz ist bei ihm“, sprach‘s und rannte zur Vorratskammer. Anja konnte nur den Kopf schütteln, aufhalten konnte sie die
junge Frau nicht. Und verstehen konnte sie sehr wohl – war sie doch
selbst mit dem Vater ihres Kindes aus der Heimat nach Thüringen gezogen, damit das Kind auch einen Vater hätte.
Der alte Cuno war wütend, als er erfuhr, was geschehen war: Das Verhalten der Bürger in Frankfurt würde zum Vorbild für alle anderen
Städte mit jüdischen Gemeinden werden und zu schlimmeren Exzessen
führen, so wie in Erfurt; aber was schlimmer war: Anna hatte die strengen Regeln gebrochen, die sie alle gemeinsam aufgestellt hatten, um
der Pest zu entgehen, als sie zu Wenzel hinausgegangen war. Wie
konnte er als Herr über die Lehen die anderen Menschen zwingen, zum
Schutz aller sich den Regeln zu beugen, wenn die Frau seines Sohnes sie
einfach brach?
Als Cuno zwei Tage später von seiner Runde zu den Wachen zurückkam,
saß Ramon auf den Stufen zur Halle, fast wieder gekleidet wie damals
als Köhler. „Wie kommst du ins Dorf und in die Burg?“ Ramon verstand
nicht, was Cuno wollte: „Ich bin gelaufen, so schnell ich konnte
und…“Cuno unterbrach ihn: „Hat dich niemand hier aufgehalten und
gesagt, dass du dich erst drei Wochen drüben bei der Schafweide aufhalten musst, bis wir wissen, dass du die Pest nicht mitbringst?“ „Ich ich glaube nicht, dass ich die Krankheit habe, in Erfurt ist schon eine
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Weile keiner mehr an ihr gestorben. Aber was dort durch die Leute geschieht, ist unglaublich: Alle, die keine Bürger der Stadt Erfurt sind, wurden vertrieben, selbst die Mitglieder des landgräflichen Hofes; Friedrich
war seid Wochen nicht mehr in der Stadt, und so sind alle vom Petersberg nach Weimar gezogen, nur ein paar Soldaten sind in der Cyriaksburg außerhalb der Mauern geblieben. Ich wollte nicht so weit weg von
meinen drei Frauen, deshalb bin ich hierher gekommen. Stell dir vor,
alle Arbeitsleute dürfen nur noch tagsüber in der Stadt sein – wer nach
Torschluss erwischt wird, kommt in den Kerker zur Zwangsarbeit. Und
alle Häuser der Juden sind an den Rat gefallen, deshalb haben sie auch
die Christen, die zwischen den Juden lebten, hinausgeworfen, dass sich
die Grundstücke besser verkaufen lassen; und wenn einer einen Kredit
braucht – die Augustinermönche fordern satte Zinsen …“ Atemlos hörte
Ramon auf zu berichten. Cuno war nicht beruhigt, aber was sollte er
tun? „Jetzt bist du schon mal hier, gegen unsere Regeln, jetzt ist es zu
spät, dich auf die Schafweide zu schicken. Beobachte dich genau, und
wenn du nicht sicher bist, ob du gesund oder krank bist, dann geh‘ zu
Adelheid, die weiß um die Pest. Und jetzt willst du sicher zu Eleonor,
oder?“ Der Musiker nickte. „Ja, ich muss sie sehen. Außerdem hat sie
noch eine Gitarre von mir, alle anderen sind zerstört.“ Damit erhob er
sich schwerfällig, ging durch das Burgtor, über die Zugbrücke und
stapfte zum Gestüt hinauf.
„Was sollen wir mit Ramon und Anna machen?“ fragte Cuno Salwa am
Abend. Sie hatten den ganzen Tag über schwer gearbeitet und genossen
jetzt das warme Bad. „Sie haben deine Autorität untergraben, das ist
klar, aber sie gehören zur Familie und ich weiß nicht, wie ich sie betrafen könnte.“ „Anna hält sich wenigstens so weit an die Regeln, dass sie
bei Wenzel draußen auf der Schafweide ist, aber Ramon macht mal wieder was er für sich für richtig hält. Wenn er die Pest mitgebracht hat, ist
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es für alle zu spät, wenn nicht, dann vielleicht in ein paar Wochen trotzdem. Aber wenigstens kann er dazu Gitarre spielen!“ Cuno zog Salwa in
seine Arme: „Irgendwie haben die Geissler ja schon recht – wir überleben oder wir sterben, die Entscheidung ist Gottes Wille, aber wenn einer von uns beiden stirbt, möchte ich das sein!“ „Du Feigling! Mich würdest du in dem Elend zurücklassen – Hauptsache, du bist fein raus!“
„Jetzt wäre ich aber gerne fein drin!“ Und damit schloss Cuno Salwa den
Mund mit einem Kuss, der ähnlich wie neulich abends die Gedanken auf
Anderes brachte und glitt in sie hinein, freudig aufgenommen.
Einen Monat später war klar, dass weder Wenzel noch Ramon die Pest
mitgebracht hatten. Zufrieden war die ganze Familie wieder beisammen und feierte den Beginn der Ernte des Wintergetreides auf den wenigen Ackerflächen Steigerthals und den großen Flächen Stampedas.
Das Getreide war reif, die Sonne hatte es getrocknet und die reifen Ähren wurden von den Fuhrwerken der freien Bauern in die Scheunen der
Dörfer zum Dreschen gebracht. Niemandem fiel auf, dass erst auf den
abgeernteten Feldern, dann auf den Wegen zu den Scheunen viele abgemagerte Ratten den Menschen folgten und verlorengegangene Körner fraßen.
Der erste Tote, den der kleine Cuno sah, und der erste seit der Quarantäne für alle anderen, war Gabriel, der Vater Gerlindes , der Flachschmied, der die Handrohre aus Steigerthal so verbessert hatte, dass sie
im ganzen Reich begehrt waren. Er war von den Brandwunden gezeichnet und die gute Adelheid konnte selbst mit in Wein gedünsteten Gänseblümchen das aufkommende Fieber nicht mehr senken und mit starker Hühnerbrühe die Schwäche nicht auffangen. Als am Vorabend seines Sterbens unter der Achsel eine Eiterbeule aufbrach, wagte sie nicht,
den aufkommenden Gedanken zu Ende zu denken.
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Gabriel wurde in allen Ehren begraben, und Salwa nahm Gerlinde und
ihre Geschwister, die als Halbwaisen aufgewachsen waren, in den Haushalt der Burg auf – sehr zur Enttäuschung Františecs, der das Mädchen
nur zu gern in seine Hütte gezogen hätte, nicht aber ihre Geschwister.
Schon kurz nach der Beerdigung zeigte sich, dass die Versuche der Steigerthaler, sich gegen den Rest der Welt abzuschotten, erfolglos waren:
Es waren die Alten und die kleinen Kinder, die die Krankheit auf sich
zogen, wohl, weil die einen schon zu schwach, die anderen noch zu
schwach waren. Ein alter Hauer, der seit Jahren das Dorf nicht verlassen
hatte, bekam am Abend des Begräbnisses hohes Fieber; die Witwe eines Schützen, die ihm eines der beiden Gemächer ihres Häuschens
überlassen hatte, rannte zu Adelheid, aber die konnte auch hier nichts
tun; er bekam die nun schon sattsam bekannten Eiterbeulen und war
zwei Tage später tot. Mit ihm begraben wurde das Enkelkind Franzens,
des Zimmermanns, dem Adelheid erst vor wenigen Wochen ins Leben
geholfen hatte.
„Es hat alles nichts genützt. Wenn wir alle Erkrankten irgendwohin
schaffen könnten, am besten so weit weg wie die Ebersburg…“ „Cuno,
gib den Gedanken an Quarantäne auf. Wir haben sie eingehalten, bis
auf Ramon, aber der ist kerngesund für sein Alter. Und trotzdem ist die
Pest da.“
„Wahrscheinlich hast du Recht, mein Herz, aber ich mag nicht alles verlieren, was Vater und ich angefangen und Gernot und Cuno weitergeführt haben! Ich will nicht, dass wir sterben, jetzt noch nicht, und ich
will dich nicht verlieren!“ Er drückte sie an sich. Sie standen oben auf
dem Söller des Bergfrieds und schauten auf ihr Land. Drunten im Dorf
war alles ruhig, aus keiner der Werkstätten stieg Rauch, die Ziegen grasten in den Gärtchen der Häuser, Wiesen und Felder waren, bis auf die
mit dem bereits abgeernteten Wintergetreide, saftig grün, der Leim-
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bach gurgelte leise bis zu ihnen hinauf, und nur das Mühlrad der Sägemühle drehte sich. „Es ist schön, dass der eine oder andere der Steiger,
Hauer und Schützen wieder in den Bauernstand zurückgekehrt ist, aus
dem sie ja alle kamen, als wir sie nicht mehr halten konnten – es sieht
mehr wie ein Dorf aus, fast so wie früher. Das hat mir in Pisek damals
bei meinen Paten immer gefehlt – die Weite und das Grün.“ „Kannst du
erkennen, was sich dort hinten vom Tal der Thyre am Alten Stolberg
vorbei hierher bewegt?“ Er deutete mit der Hand nach Norden. „Nein,
aber es sieht aus wie sehr viele Menschen oder Tiere.“ An der Grenze
zum Lehen blieb die Menge kurz stehen. „Da wacht einer unserer
Leute!“ Aber das Verbot, das Lehen ohne vorherige Quarantäne zu betreten, das die Wache immer aussprechen sollte, schien keine Wirkung
zu haben, denn der Zug bewegte sich weiter, auf Burg und Dorf zu. „Das
ist kein freundlich Verhalten“, murmelte Salwa. „Nein. Ich fürchte, es
droht uns Unheil, aber zumindest Unbill!“ Cuno stürmte die Treppe des
Turms hinunter, so schnell er konnte. Im Hof stieg er die ersten Stufen
zur Halle hinauf und ließ einen schrillen Pfiff ertönen, der nicht nur alle
Hunde der Burg herbei rief, sondern auch das Gesinde und die Männer,
die in der Halle gesessen hatten.
„Wir scheinen ungewollten Besuch zu bekommen, vom Alten Stollberg
her. Ihr Mägde holt Vorräte für einige Tage in die Burg, soweit ihr was
bekommen könnt. Ihr Kinder füllt alle verfügbaren Eimer mit Wasser.
Ihr Knechte, lauft ins Dorf, warnt die Menschen und bringt Werkzeug,
Glas und Silber hier ins Arsenal. Und ihr Schützen – das erste Dutzend
ins Dorf und auf die Gehöfte, um die anderen zu alarmieren, das zweite
Dutzend schafft Munition und Pulver herbei, der Rest geht auf seinen
Posten auf Turm und Mauer; vergesst die Kanonen nicht zu bemannen.
Und sagt den Leuten, wer lieber innerhalb der Mauern Schutz sucht, soll
Vorräte mitbringen und ist willkommen!“
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Als Cuno wieder oben auf dem Söller war, konnte er sehen, dass es mit
der Ruhe im Dorf vorbei war: überall hasteten Menschen, Tiere wurden
weggetrieben, selbst Wenzel und Anna konnten sie von der Schafweide
dem Dorf zustreben sehen, und nun war auch deutlich, was auf Steigertahl zukam: etwa zweihundert Menschen, darunter viele Frauen, angeführt von ein paar Berittenen zogen auf das Dorf zu. Cuno stürmte
wieder hinab, ließ sich in seine Rüstung kleiden, Wappenmantel und
Lanze, Kurz- und Langschwert, als Begleiter nahm er Urban und zwei
Dutzend der Schützen; Gernot musste in der Burg bleiben, falls ihnen
etwas zustoßen würde; Cuno sollte mit einigen Knechten schauen, dass
die Werkstätten nicht zerstört würden; dann sattelten sie und ritten
dem Haufen entgegen. „Halt! Das hier ist mein Land, hier gebiete ich.
Was ist euer Begehr?“ Ein struppiger Mann mittleren Alters, der an der
Spitze der Eindringlinge ritt, antwortete ihm: „Ich bin Ottfried, einst
Gerbergeselle in Erfurt, und das sind meine Leidensgenossen. Seit all
die Städte Erfurt, Nordhausen, Sangerhausen, Frankenhausen, Sondershausen die Nichtbürger aus ihren Mauern vertrieben haben, sind
wir ohne Arbeit, ohne Lohn und ohne Brot. Und hier, das hat man uns
wohl zu recht erzählt, gibt es Arbeit und damit Brot. Was sollen wir
tun?“ „Wir haben keine Arbeit für euch. Alle, die wir brauchen können,
haben wir schon, deshalb zieht weiter!“ „Ihr wollt uns nicht?“ Auf ein
Zeichen des Struppigen ging ein Regen von Armbrustpfeilen über die
Steigerthaler nieder. „Dann werden wir eben ohne Arbeit unseren Lohn
holen!“ Und damit gab er seinem Pferd die Sporen und ritt auf Cuno
und Urban, die die ersten waren, zu. Nun war es an Cuno, ein Zeichen
zu geben. „Bleibt wo ihr seid, wendet euch um und verlasst mein Land,
sonst muss ich euch dazu zwingen!“ „Glaubst du, du hast Kinder vor dir?
Vorwärts Freunde!“ Und als er wieder seinem Pferd die Sporen gab,
krachte die erste Salve der Schützen, die hinter Cuno und Urban Position bezogen hatten. Der Struppige wälzte sich in seinem Blut, auch sein
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Gaul und die anderen Pferde waren entweder getroffen oder warfen
ihre Reiter ab und galoppierten davon. „Nieder mit dem feigen Pack –
hier ist Beute!“ Von wem dieser Ruf kam, war nicht auszumachen, aber
jetzt rückte die Menschenmasse auf die Verteidiger zu; Lanzen, Hellebarden, Morgensterne, Schwerter drohten den Wenigen, auch mancher feste Eichenknüppel wurde geschwungen. Cuno brauchte seinen
Schützen nicht sagen, dass sie nachladen sollten, aber das würde seine
Zeit kosten: Pulver einfüllen, Kugel einführen, Pfropfen mit dem Ladestock eindrücken und dann die Lunte entzünden – bis dahin hätte er mit
Urban allein nicht standgehalten. Deshalb rief er: „Erstes Dutzend mit
den Kurzschwertern hinter die Pferde!“ und erwartete mit nun geschlossenem Visier den Ansturm der Angreifer, die zu Fuß auf sie zuliefen. Urban stach den ersten mit seiner Lanze nieder, Cuno den zweiten,
aber dann erkannten die Gegner, wie sie die über ihnen thronenden
und auf sie niederstechenden Herren besiegen können: Lanzenträger
drängten nach vorne und suchten die Schenkel und Hälse der Pferde zu
treffen. Urbans Hengst bäumte sich auf und schlug mit den Vorderhufen aus und bot so den feindlichen Lanzen seine ganze Brust und ward
getroffen. Er knickte ein, Urban flog aus dem Sattel, genau hinein in die
Meute der Angreifer. Das alles geschah so schnell, dass Cuno ihm erst
helfen konnte, als der Knappenmeister schon unter dem angreifenden
Gesindel zu verschwinden drohte. Berno, sein Ross, hatte anders reagiert als das Urbans: Es war leicht zurückgewichen, hatte sich rückhändig fast hingesetzt, und als Cuno ihm jetzt die Absätze gab, sprang es
mit aller Macht mitten in die Angreifer hinein, mehrere von ihnen zu
Boden werfend, und schlug dann mit den Hufen nach den am nächsten
Stehenden, während Cuno mit dem Langschwert sich eine Gasse zu Urban freihackte. Die Schützen mit den Kurzschwertern hatten die Überraschung der Gegner ausgenutzt und die Vordersten niedergemacht,
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während die zweite Salve die andrängenden Kämpfer weiter hinten niedermähte – die Schützen konnten ja nicht gut auf ihre eigenen, mit den
Gegnern ringenden Leute schießen. Unterdessen hatte Cuno mit zwei
Männern Urban freigekämpft und wollte mit Berno wieder ins Getümmel eingreifen, als er einen der verwundet am Boden liegenden Gesellen genauer anschaute; er wurde weiß unter seinem Helm und brüllte:
„Alle zurück, schnell!“ Und dann an die mit Laden beschäftigten Schützen: „Schießt, so schnell ihr könnt, alle Schützen, und dann langsam zurückgehen!“ Er legte den schwer zugerichteten Urban vor sich aufs
Pferd und ritt hinter die Reihe der Schützen, die jetzt abwechselnd auf
den sich auflösenden Haufen der Eindringlinge hielten, bis die letzten
davonliefen, Verwundete mit sich schleppend.
Als sie die Zugbrücke überquerten, öffnete sich das Burgtor und Gernot,
in voller Rüstung, fragte verwundert: „Was war denn das jetzt? Noch
ein paar Minuten und wir wären die Kerle ein für alle Mal los!“ „Lass
uns erst einmal rein – uns alle!“ Dann schickte er eine Magd zu Adelheid, bettete Urban auf die Bank am Gesindehaus und setzte seinen
Helm ab. „Was ist?“ fragte Salwa, die unterdessen herbeigelaufen war.
„Du bist ja ganz blass. Sieht es so schlimm mit ihm aus?“ „Ja, auch das,
aber viel schlimmer: die Menschen da vor der Burg haben die Pest – ich
habe die Beulen deutlich gesehen und dann auch den Eiter gerochen,
es ist genau wie in Weißenfels oder Genua…“ Cuno sank in sich zusammen. „Kann es wirklich die Strafe Gottes für unser jahrelanges Glück
sein, dass wir jetzt jämmerlich verrecken?“ „Sieh‘ nicht so schwarz,
Cuno!“ Wieder drängte sich Salwa an ihn und hielt seinen linken, immer
noch mit Blut des Gesindels verschmierten Arm. „Noch leben wir, noch
haben wir nicht die Pest, noch sind Barbara, Gernot und Cuno gesund
und munter – dein Ruf als Herr über Wohlstand ohne Leibeigenschaft
ist auch noch vorhanden, und ich bin auch noch da, oder?“ Er schloss
sie in die Arme, drückte sie, so fest es die Rüstung erlaubte. Dann wurde
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er von Adelheid gestört, die unterdessen mit ihrem Kräuterkorb durch
dass Burgtor gelaufen kam. „Was stinkt denn da unten, wo ihr gekämpft
habt, so furchtbar? Doch nicht etwa …?“ Die Steigerthals nickten nur.
„Oh weh!“ Dann fasste sie sich: „Wo habt ihr Urban versteckt?“ Gernot
zeigte auf das Gesindehaus. „Helft mir, ihm vorsichtig die Rüstung abzunehmen.“ Der kleine Cuno holte eine große Blechschere, wie sie Gabriel benutzt hatte und schnitt die Rüstung auf. „Das sieht schlimm aus,
aber“, sie legte den Finger an Urbans Hals, „er atmet noch, das Herz
schlägt und was er an Wunden hat, werden wir bald haben.“ Damit
schnitt sie auch Urbans Kleidung weg und fing an, ihn mit Schnaps zu
waschen, um die Wunden zu reinigen. „Hoi, da hätte noch manch jüngere Frau ihr Vergnügen“, kicherte sie in sich hinein, als Urbans Manneszierde sich unter dem Einfluss des Schnaps und des Waschlappens
zu bewegen begann. „So kaputt kann der gar nicht sein!“ Als sie ihn untersucht hatte stellte sie trocken fest: „ Einen großen Schrecken hat er
uns eingejagt, aber der überlebt mich noch um Jahre!“ Sie schmierte
Spitzwegerichbrei auf die kleinen Wunden, verband die großen, schiente den Arm und deckte den Knappenmeister dann mit einer warmen
Decke zu. „Tragt ihn in sein Quartier, ich schaue morgen früh nochmal
nach ihm.“ Sprach’s und ging.
Als die Familie wieder allein war – die auf der Burg wohnenden Schützen hatten sich in ihre Unterkunft verzogen, die anderen standen noch
Wache am Ort des Kampfes, schaute Gernot im Kreis herum, und zum
ersten Mal, seit er dem Recht nach Lehnsherr war, entschied er ohne
Zögern: „Das Beste wird sein, wir nehmen die Quarantäneregel wieder
auf: jeder, der Kontakt mit Fremden hatte, muss sich drei Wochen außerhalb menschlicher Siedlungen aufhalten, bevor er - oder sie – eingelassen wird; da Wenzel und Anna jetzt schon viele Tage in der Hütte
auf der alten Schafweide sind, wäre es nicht gut, wenn neue Gefahrbringer auch dorthin gingen. Vater, du kennst doch das Gelände um den
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Alten Stollberg, oder? Da, wo früher einmal das Geröll aus den Stollen
abgelagert wurde, ist eine schöne Wiese entstanden, auf der man leicht
ein paar Zelte errichten kann. Getreide haben wir schon genug, Wein
und Bier gibt es auch reichlich.“ „So es denn hilft, die Pest von den Menschen hier fern zu halten, denke ich schon, dass du Recht hast, aber wie
stellst du dir das genau vor?“ „Es – es ist nicht ganz leicht zu sagen, aber
du, Urban und die Schützen, die draußen gekämpft haben, müssten
zum Alten Stollberg und dort drei Wochen bleiben; in der Zeit könntet
ihr jagen, ausruhen oder was euch sonst so einfällt. Und dann kommt
ihr zurück!“ „Dann müssen aber auch wir die Toten beerdigen – ob sie
vor ihrem Tod gesund oder krank waren, und nicht auf dem Friedhof,
wo alle Leute hingehen! Hinter dem ersten Schacht ist noch ein kleiner
Stollen, in dem ich schon als Kind gespielt habe - dorthin könnten wir
die Toten bringen und vergraben. Und wenn das alles vorbei ist, segnet
der Pater das Land, damit sie in Ewigkeit Frieden finden. Aber hast du
dir überlegt, wer dann alles zum Alten Stollberg muss? Die Schützen und
ich, klar; Urban; Adelheid und alle, die sie heute noch behandelt; Salwa,
deine Mutter, die mich möglicherweise Kranken immer noch festhält…“
„Und ich bin leider auch dabei“, rief in diesem Moment Egbert, der
durch das Tor rannte. „Ich habe eben ohne zu überlegen mit eigener
Hand eine Krähe erledigt, die ein komisches, stinkendes, gelbes Zeug
am Schnabel hatte und von hier zu uns hinauf geflogen kam, womöglich
war das Eiter aus Pestbeulen!“ „Dann lasst uns eine Trage für Urban
bauen. Du, Gernot, kümmerst dich um die Zelte und die Vorräte, und
da unsere Frauen dabei sein müssen, vergiss die warmen Decken nicht.
He! Torwache! Schick nach Adelheid, und sie soll ihren Kräuterkorb mitbringen! Egbert, kannst du für die Schützen Pferde besorgen lassen?
Unsere hier sattle ich selber.“ Jetzt erst ließ Salwa seinen Arm los und
ging in die Kemenate, um das Nötigste in ein Bündel zu packen.“
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Eine halbe Stunde später zog die kleine Karawane vom Burgtor Richtung
Thyre: Vorneweg Cuno auf seinem Hengst Berno, Salwa im Herrensitz
auf ihrer Stute, zwei Maultiere, die zwischen sich die Bahre mit Urban
trugen, Egbert, Adelheid, zwei Gespanne mit den Zelten und den Vorräten und als Nachhut die Schützen. Keiner beachtete die kleine Gruppe,
die Menschen, die zu sehen waren, arbeiteten auf den Feldern und
kümmerten sich nicht um irgendwelche seltsamen Handelszüge. Noch
vor dem Anbruch des Abends erreichten sie die Wiese am Alten Stollberg, die Männer stellten die Zelte auf und versorgten die Pferde, die
zwei Frauen richteten ihre Unterkünfte wohnlich her und ließen Urban
in Adelheids Zelt bringen; zwei der Schützen gingen Holz sammeln, und
bald prasselte ein lustiges Feuer, an dem sie den mitgebrachten Speck
rösteten und eine Brühe kochten für den verletzten Knappenmeister,
der erst auf dem Ritt hierher wieder zu Bewusstsein gekommen war.
Die Männer lagen halb auf ihren Pferdedecken, der Himmel war klar,
die Sterne funkelten, die Nachtkühle war noch nicht aufgekommen und
mit jedem Becher Wein oder Bier wurde die Gesellschaft fröhlicher,
selbst Urban machte erste Witze: „Jetzt muss ich mir erst von solch einem Gesindel die Knochen brechen lassen, bevor ich eine muntere Ausfahrt machen kann, auf der ich mich um nichts kümmern muss!“ „Und
ich muss endlich einmal nicht das Pulver trocken halten und mit dem
stinkenden Zunder neben mir schlafen“, rief einer der Schützen. „Wenn
dann morgen noch das Wetter gut ist, gibt es am Abend frisches Wildbret, ich weiß, dass drüben im Niederwald eine kleine Rehherde lebt,
bei denen mindestens eine Ricke gekalbt hat, und als Herr des Landes
muss ich doch dafür sorgen, dass die Tiere des Waldes nicht die Feldfrüchte der Bauern verzehren!" Salwa hatte sich neben Cuno gelegt,
den Kopf an seiner Brust. „Ich finde es wichtig, dass Gernot und Cuno
versuchen müssen, alleine zu Recht zu kommen – irgendwann müssen
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sie das sowieso.“ Dann, etwas leiser: „Und wir haben so auch noch einmal viel Zeit für uns.“ Aus der Wiese stieg langsam der Nebel und die
fröhliche Runde löste sich allmählich auf. Adelheid erneuerte in ihrem
Zelt noch einmal Urbans Verbände, die Männer zogen sich in ihre Unterkünfte zurück und Cuno trug vorsichtig die schlafende Salwa in ihr
vorläufiges Gemach. Bei Sonnenaufgang entzündeten ein paar der
Schützen das Feuer wieder, um sich, wie sie es auf der Suche nach den
Katharern gelernt hatten, ein Gebräu aus Kräutern und Wasser zuzubereiten. Ein kleiner Hund, unverkennbar aus Wolfs Familie, kam über die
Wiese gerannt und sprang einem der Männer auf den Arm. „Willst du
mich holen, oder soll ich dein Frauchen holen?“ Der Gedanke kam nun
auch den anderen: Es war Sommer, alle mussten arbeiten, sie aber durften nichts tun und wurden von ihrem Herren auch noch versorgt – wenn
ihre Frauen oder Mädchen dabei wären, würde man das Ganze noch
mehr genießen können, denn, das war das Ergebnis des abendlichen
Gesprächs, keiner, auch nicht Egbert befürchtete, den Keim der Krankheit schon in sich zu tragen. Als sie sich das Morgenbrot und das heiße
Getränk teilten, ging die Frage an Cuno: „Könnten wir nicht zurückreiten, auch unsere Frauen holen und heute Abend wieder hier sein?“
„Aber nur, wenn ihr nicht die Burg oder das Dorf betretet – wer abends
heiser vom Schreien über große Entfernungen, hat Anspruch auf einen
weiteren Krug Bier! Wer würde denn gehen wollen?“ Acht Männer hoben den Arm. „Gut. Und die anderen? Wer will mit zur Jagd, auch wenn
wir bloß unsere Kurzschwerter Haben und uns Speere selbst schnitzen
müssen?“ Wieder hoben acht den Arm. „Dann ist das so abgemacht!
Von den vieren, die hier bleiben, muss immer einer als Wache da bleiben, die anderen gehen Holz sammeln, versorgen die Pferde, holen
Wasser oder suchen Wurzeln und Kräuter. Auf dann!“ Er ging kurz in
sein Zelt zurück, um sich von Salwa zu verabschieden, schaute bei Adel-
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heid und Urban hinein, holte Egbert ab und machte sich mit den Männern leise zu Fuß auf den Weg, die Rehkitze zu finden. Als er zurückschaute sah er Salwa mit Adelheid am Feuer sitzen, er winkte ihnen zu
und die Frauen winkten zurück.
Der Birken- und Buchenwald war lichtdurchflutet. Das Wild hatte das
meiste Unterholz bereits verbissen, als es noch jung war. Der Regen des
Spätwinters hatte den Boden gut durchgefeuchtet so dass in der
Wärme der letzten Wochen das Gras, vermischt mit vielen Blumen und
Kräutern, in die Höhe geschossen war. Cuno schnitzte sich mit den Männern Speere aus Haselnussruten und dann drangen sie vorsichtig von
der windabgewandten Seite in den Wald ein, fast ohne Geräusch, immer hinter Stämmen Deckung suchend.
Es war lange nach Mittag, als sie endlich die hellen Hinterteile der kleinen Herde im Grün einer Lichtung aufscheinen sahen. Noch vorsichtiger
als bisher schlichen sie näher, froh, dass keiner eine Rüstung trug, die
Lärm gemacht hätte. Dann ging es ganz schnell: Der Bock warf seinen
Kopf, witterte und setzte zur Flucht an; die Speere schwirrten durch die
Luft, einer traf ein Tier, das zusammenbrach, die anderen entkamen.
Die Männer liefen auf die Lichtung. Eine Ricke war getroffen und einer
der Schützen erlöste sie mit seinem Kurzschwert von ihrem Leiden. „Das
gibt uns jetzt nicht die zarten Keulen, von denen ich geträumt habe,
aber es ist trotzdem gute Beute“, und dann gab Cuno die Anweisungen,
wie das Reh aus dem Wald auf eine Wiese am Waldrand zu schaffen sei,
damit man das Tier ausweiden und so zerlegen könne, dass sie es gut
zum Lagerplatz schaffen konnten. Als sie sich der Wiese mit den Zelten
näherten, erstarb das fröhliche Geplauder, dass ihren Rückweg bisher
begleitet hatte: Die meisten Zelte fehlten, der Rest glimmte vor sich hin,
die Pferde waren verschwunden, und als sie ganz nahe gekommen waren, machte sich Entsetzen breit, denn die vier Schützen, die zurückge-
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blieben waren, lagen in ihrem Blute, Urban von der Bahre auf den Boden geworfen neben der Feuerstelle. Als Cuno mit dem Schwert die
glimmenden Zeltbahnen beiseite schob, bestätigte sich sein schlimmster Verdacht. Die beiden Frauen lagen, von hinten erstochen, unter den
Trümmern des Zeltes. Tot. Cuno fiel neben Salwa auf die Knie, nahm sie
in seine Arme und brach dann schluchzend zusammen. Egbert und die
Männer standen fassungslos auf dem Platz, unfähig zu handeln oder gar
zu entscheiden. „Das Gesindel von der Thyre, aus Rache für gestern“,
krächzte da eine Stimme. Es war Urbans letzte Äußerung, dann brachen
seine Augen und auch er gab seinen Geist auf.
In den folgenden Wochen hörte man überall die Geschichte von dem
Ritter, der nach untadeligem Leben und Dienst die Ermordung seiner
geliebten Gemahlin erdulden musste. Er übertrug Lehen und alle Güter
seinen Söhnen und machet sich, durch Rüstung und Handrohre geschützt, an die Verfolgung der Mörder, die er unter dem Gesindel vermutete, das am Vortag der Morde die Burg angreifen wollte. Mann um
Mann erschlug oder erschoßt er, bis sich aus ganz Thüringen ein kleines
Heer bildete, das unter seiner Führung den Gesetzlosen den Kampf ansagte. Seinem Schwiegersohn Walter von Hohnstein übertrug er dann
mit Dispens des Landgrafen Friedrich von Thüringen die Befehlsgewalt
und zog sich ins Kloster Himmelgarten zurück.
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Nordhausen 1359
Cuonrad von Steigerthal, genannt Cuno, lebte als Laienbruder Conradus
de Steyertal noch 10 lange Jahre im Kloster Himmelgarten. Er half beim
Bauen, beim Ernten, bei der Verteidigung und war trefflicher Sänger im
Chor des Klosters.
Er hörte vom endgültigen Sieg Kaiser Karls des Vierten über die Wittelsbacher, den Thronverzicht Günthers von Schwarzburg-Arnstadt, der als
letzter Getreuer des bayrischen Hauses sich dann doch noch gegen Karl
zur Wahl stellen ließ und durch Geld und Privilegien zum Einlenken gebracht wurde; er hörte auch davon, dass Günther schnell darauf an der
Pest gestorben war und die Früchte seiner Taten nicht genießen konnte.
Karl war noch vor dem Fest der Geburt des Herren des selben Jahres in
Aachen zum König gekrönt worden und hatte, wie es Cunos Hoffnung
gewesen war, aus den Wirren des Gegenkönigtums seine Lehren gezogen und mit den Fürsten des Reiches ein Gesetz beschlossen, dass genau festlegte, wer das Recht zur Königswahl hatte, nämlich eine Mehrheit der Kurfürsten; kur- also wahlberechtigte Fürsten waren die Erzbischöfe von Mainz, Trier und Köln und als weltliche Herrscher der König
von Böhmen, der Markgraf von Brandenburg, der Pfalzgraf bei Rhein
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und der Herzog von Sachsen; die Herrschaftsgebiete der Kurfürsten waren unteilbar, so dass immer geklärt war, wer die Wahlstimme hatte.
Die Wahl musste in Frankfurt am Main stattfinden, die Krönung entweder im Dom zu Aachen oder im Dom zu Frankfurt; der Papst war gehalten, den König in Rom zum Kaiser zu krönen. Der ganze Text wurde auf
ein Pergament geschrieben, das mit einem goldgewirkten Band umschlossen war, an dem ein goldenes Siegel hing, Bulla aurea, weswegen
man das Dokument die Goldene Bulle nannte.
Friedrich des Zweiten Sohn Friedrich, genannt der Strenge, folgte wenige Wochen, nachdem Cuno ins Kloster eingetreten war, seinem verstorbenen Vater als Landgraf von Thüringen und konsolidierte die Herrschaft des Hauses Wettin, immer auf das Wappen des Hauses mit dem
aufrechtstehenden Löwen verweisend, und kämpfte so manches Mal
wie das Wappentier. Als Augenzeuge hatte Cuno gesehen, wie seinem
Sohn, dem Ritter Gernot von Steigerthal von seiner Gattin Maria nach
der erstgeborenen Luzia noch ein Mädchen und dann ein Knabe, natürlich Gernot getauft, geschenkt wurde und die Gemeinschaft der Familie
glücklich zusammenlebte, auch wenn die Probleme mit dem Silberbergbau nicht geringer wurden; die Glasherstellung mit den neuen Farben
gelang und war einträglich. Der Bau von Handfeuerwaffen durch die
Leute Cunos brachte viel ein, und durch den Zug gegen die Katharer hatten viele die Güte dieser Waffen gesehen und bestellten sie beim kleinen Cuno. Und doch war es viel einfacher gewesen, Silber, also Geld, zu
machen, als Waren, die man für Geld verkaufen konnte. Seiner andere
Familie, die das Gestüt betrieb, gelang es nicht nur, zu überleben, sondern auch vielen Dörflern Arbeit und Brot zu geben; Wenzel und Anna,
die offenbar die Gabe ihrer Mutter geerbt hatte, die Pferde zu verstehen, verkauften die Pferde bis nach Böhmen, Ungarn und Polen, so dass
sie selbst bei Missernten in einigen Gegenden des Reiches noch genügend Nahrungsmittel für alle erwerben konnten. Die Pest hatte so viele
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Menschen dahingerafft, dass Lehen frei waren, Bauernstellen verwilderten und Arbeitskräfte teuer wurden. Die Preise für Nahrungsmittel
stiegen erst ins Unermessliche, um dann tiefer zu fallen als je zuvor; zuerst waren zu wenig Menschen da, um Ackerbau zu betreiben und weil
die Preise so hoch waren, verhungerten mehr, als der Pest zum Opfer
gefallen waren; keiner kaufte mehr Getreide. Die Menschen fühlten die
Rache Gottes; lässliche Sünden wurden zu Todsünden; Prediger aller Art
durchstreiften das Land und jagten den Menschen die wortwörtliche
Höllenangst ein; viele Ketzer schlossen sich zu neuen Gemeinden zusammen und versuchten, durch Einschränkungen, Hunger und Kasteiungen die Gnade des Ewigen zu erlangen; es gab auch Gruppen, die sich
durch Gewaltanwendung gegen ‚Sünder‘ ihren Platz im Paradies zu erzwingen versuchten; und immer wieder kam es zu Gewalt gegen Juden,
deren Gemeinden an vielen Orten des Reiches zerschlagen wurden.
Am Tag der Heiligen Barbara fühlte sich Cuno zu schwach um aufzustehen, und als der Bruder Portenarius, mit dem er für diesen Tag die
Reparatur des Tores vereinbart hatte, nach ihm sehen wollte, war er
bereits sanft entschlafen und heimgegangen zu Salwa und seinen Ahnen.
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