Lebende Bücher

Leibhaftige Bücher
Die Schüler der Regelschule „Cuno Hoffmeister“ haben am Projekt „Lebende Bücher“
teilgenommen. Die Idee dazu stammt aus Skandinavien.
Sonneberg – Soweit bekannt, sind
Bücher vorrangig zum Lesen da.
Gut, hin und wieder kann man mit
ihnen auch andere Dinge anstellen.
Aber Bücher aus Fleisch und Blut,
denen man direkt Fragen stellen
kann, die dann noch live von ihnen
beantwortet werden? Die Schüler der
Regelschule „Cuno Hoffmeister“ im
Sonneberger Stadtteil Wolkenrasen
sind vor kurzem in den Genuss dieses wunderlichen Erlebnisses gekommen.
Schulsozialarbeiterin Olena Schwarz hat das Projekt „Lebende Bibliothek“ gemeinsam mit den
Lehrern vorgestellt.
„Die Idee dazu stammt aus Skandinavien“, erklärt die Mitarbeiter von „Lichtblick“, dem
Zentrum für Jugendsozialarbeit des Diakoniewerkes Sonneberg-Hildburghausen/Eisfeld. „Die
sogenannte lebende Bibliothek funktioniert wie eine herkömmliche Bücherei. Statt Büchern aus
Papier leihen sich die ‚Leser‘ eben ‚lebende Bücher‘ aus, können ihnen Fragen stellen, auf die
sie eine Antwort suchen.“ Jeder Mensch kann dabei ein lebendes Buch aus Fleisch und Blut
sein, denn jeder hat seine eigene, einzigartige und besondere Lebensgeschichte. Für die
Veranstaltung an der Cuno-Hoffmeister-Schule hatte Olena Schwarz Personen ausgesucht, von
denen die Kinder und Jugendlichen besonders viel lernen können. Diese drei lebenden Bücher
stellte sie in einem Katalog zusammen, aus dem sich die Schüler eines aussuchen konnten. Mit
Melanie Fleischmann, Yeong Kim und Nils Anders standen drei Menschen zur Auswahl, die
schon einiges erlebt, viele Schwierigkeiten gemeistert und ihren eigenen Weg gefunden haben.
Unter dem Titel „Blind durchs Leben – Von
der Selbstverständlichkeit, anders zu sein“
stellte sich die 22-jährige Melanie Fleischmann
als lebendes Buch zur Verfügung. Sie liebt
Musik, Bücher, Sport, Freunde und
Schokolade und hat vor einem Jahr erfolgreich
ein Studium absolviert. Soweit nichts
Besonderes. Doch Melanie Fleischmann ist
von Geburt an blind. Die fröhliche und stets freundliche junge Frau erzählte den Schülern, die
sie „ausgeliehen“ hatten, wie sie es trotz ihrer Beeinträchtigung schafft, mit sehr viel Mut und
positiver Energie durchs Leben zu gehen.
Wer etwas über andere Kulturen erfahren wollte, wandte sich dem Buch mit dem Titel
„Koreanisch für Anfänger. Von Kimchi bis Starcraft“ zu. Yeong Kim stammt aus Südkorea,
verlor schon sehr früh ihren Vater, kämpfte sich durch das harte koreanische Schulsystem, in
dem Prügelstrafen keine Seltenheit waren, besitzt den schwarzen Gürtel in Taekwondo und
studiert nun Automobiltechnik und Management in Coburg.
Über die spannende Suche nach dem Sinn des Lebens berichtete Nils Anders. Sein Titel als
lebendes Buch lautete „Wer immer nur funktioniert, entzieht sich dem Abenteuer des Lebens“.
Bei ihm erfuhren die neugierigen „Leser“, was er schon alles erlebt und durchgemacht hatte:
seinen Zivildienst leistete er in einem Hospiz, er wanderte durch die Gletscherlandschaften von
Island, fuhr mit dem Fahrrad 6000 Kilometer durch Europa, meditierte 30 Tage lang in einem
buddhistischen Kloster, absolvierte ein Praktikum in einem Kindergarten und schloss
erfolgreich ein Studium der Sozialen Arbeit ab.
Bei all den spannenden und aufregenden Geschichten, von denen die lebenden Bücher
„handelten“, fiel den Schülern die Auswahl auf zwei Exemplare sichtlich schwer. Doch sie
konnten sich im Vorfeld auf ein Gespräch vorbereiten und überlegen, welche Fragen sie stellen
möchten.
„Das ‚Lesen‘ der ‚lebenden Bücher‘ war sehr aufregend und spannend für die Jugendlichen“,
berichtet Olena Schwarz. „Eine Frage folgte der anderen. Die sonst so geliebten, sehnlich
erwarteten Schulpausen wurden dabei von den ‚Lesern‘ fast vergessen, weil sie noch so viel
besprechen wollten. Fragen zu Politik von Südkorea, zu Mobbing in der Schule, darüber, wie
blinde Menschen Farben unterscheiden können, und noch viele andere haben die Schüler
gestellt.“ Dieses enorme Interesse und die vielen spannenden und durchdachten Fragen haben
am Ende auch die Lehrer und die Schulsozialarbeiterin überrascht. Außerdem sei es großartig
gewesen zu sehen, mit wie viel Respekt und Wertschätzung die Schüler ihren „ausgeliehenen
Büchern“ entgegengekommen sind. „Das Ziel der Veranstaltung war es auch, den Kindern und
Jugendlichen zu zeigen, wie vielfältig, einzigartig und wertvoll die Menschen sind und wie sie
ihren eigenen Weg durch schwierige Situationen suchen, finden und diesen auch gehen“, sagt
sie. Allein die Aussage eines Schülers zu den „Lebenden Büchern“: „Mein Respekt, wie Sie
mit den Schwierigkeiten umgehen und wie viel Mut und positive Energie Sie haben“, habe ihr
gezeigt, dass die Kinder und Jugendlichen sehr vieles von den Gesprächen mit nach Hause
nehmen könnten, so Olena Schwarz.