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Freitag, 13.01.2017
SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs: Vorgestellt von Katharina Eickhoff
Außergewöhnliche Sängerbesetzung
orfeo chamán
L’ARPEGGIATA • CHRISTINA PLUHAR
ERATO 0 190295 969677
Viel zu gefällig
JÓHANN JÓHANNSSON
Orphée
DG 479 60218
Ungeheuer wohlklingend
ERBARME DICH
BACH
REINOUD VAN MECHELEN
A NOCTE TEMPORIS
ALPHA CLASSICS 252
Richtig gut bei Stimme
AMERICAN CLASSICS
RICHARD DANIELPOUR
Songs of Solitude • War Songs
Thomas Hampson, Baritone
Nashville Symphony • Giancarlo Guerrero
NAXOS 8.559792
Signet „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“ … heute mit Katharina Eickhoff.
Viele von uns schauen gerade ratlos und sorgenvoll in Richtung USA und fragen sich, was
bloß mit den Amerikanern los ist – der US-Komponist Richard Danielpour hat nach 9/11 und
den Irak-Kriegen Orchesterlieder geschrieben, die uns ein bisschen etwas darüber erzählen,
und Thomas Hampson hat diese Lieder aufgenommen. Das hören wir uns nachher an hier.
Außerdem stelle ich Ihnen meinen derzeitigen Lieblingstenor vor, Reinoud van Mechelen,
der Bach-Arien in emotional informierter Aufführungspraxis singt, und wir machen uns auf
Sinn-Suche in der Orpheus-Musik des isländischen Komponisten Jóhann Jóhannsson.
Dessen „Orphée“ kann allerdings leider so gar nicht mithalten mit jenem anderen OrpheusProjekt, das da Ende letzten Jahres rausgekommen ist, und das, quietschlebendig, knallbunt
und mit außergewöhnlich schöner Musik, die alte Geschichte von Orfeo und Euridice
tatsächlich noch mal ganz neu erzählt ...
Orfeo Chamán: Bucimis – Tanz der Bacchantinnen (Ausschnitt)
1‘50
Tanzmusik mit unüberhörbar orientalischem Einschlag – das Stück hier kommt ursprünglich
aus Bulgarien, aber diese Version stammt aus „Orfeo Chamán“, dem jüngsten CD-Projekt
von Christina Pluhar und ihrem Ensemble L’Arpeggiata – und wenn es an diesem
Unternehmen etwas zu bedauern gibt, dann vielleicht, dass nicht noch mehr Musik aus
balkanischen Gegenden dabei ist, denn in Bulgarien, oder genauer: in Thrakien, noch
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genauer: in den Rhodopen soll Orpheus ja gelebt, geliebt und geharft haben, und es wäre
bestimmt ganz spannend gewesen: so ein Orfeo mit Musik aus seiner ureigenen Heimat.
Aber das wäre dann eine andere Geschichte geworden.
In Christina Pluhars Orpheus-Musik taucht der orientalische Ton stattdessen nur ganz kurz
am Schluss auf, als Tanz der Bacchantinnen, die den Sänger aller Sänger am Ende in
Stücke reißen. Denn diese Orfeo-Geschichte spielt anderswo, in Südamerika – und Orpheus’
Gang in die Unterwelt wird hier zu einer indianisch-schamanistischen Bewusstseinsreise
umgedeutet.
Klingt ein bisschen verblasen, aber wenn Christina Pluhar ihre Lautenistinnen-Finger im
Spiel hat, kommt ja auf jeden Fall immer gute Musik raus, mit so manchen für eine AlteMusik-Combo unerwarteten Abzweigungen und Untertönen ... Gleich der Prolog der
Geschichte öffnet eine Tür in ein atmosphärisches Amazonas-Märchenreich, um dann
verschmitzt in so einen barocken Swing abzubiegen, wie ihn L’Arpeggiata vielleicht
überhaupt erst erfunden hat ...
Orfeo Chamán: La selva
2’20
Eigentlich wollte das Opernhaus von Bogotà in Kolumbien einfach nur Monteverdis „Orfeo“
mit L’Arpeggiata und unter Christina Pluhars Leitung aufführen. Aber zusammen mit zwei
Schweizer Regisseuren, die seit rund 30 Jahren in Bogotà eine der wichtigsten
experimentellen Theatergruppen Südamerikas leiten, ist dann ziemlich bald eine ganz
andere Idee entstanden – nämlich die, eine eigene Orpheus-Geschichte zu erzählen, mit
einem eigenen Libretto, auf der Basis von alter und neuerer lateinamerikanischer Musik ...
Und Christina Pluhar hat für ihre Orfeo-Musik wie immer aus allen möglichen Quellen
geschöpft: Es gibt eigene, neue Kompositionen von ihr auf Ostinato-Basslinien des
17. Jahrhunderts, venezolanische, katalanische, ja sogar sizilianische Volkslieder oder auch
mal ein Lied von Atahualpa Yupanqui, dem großen Sängerpoeten Argentiniens im
20. Jahrhundert.
Mit das Aufregendste bei „Orfeo Chamán“ ist die außergewöhnliche Sängerbesetzung, und
vor allem der Sänger des Orfeo ist eine ganz neue Entdeckung, oder vielleicht besser:
Erfahrung. Nahuel Pennisi kommt aus Buenos Aires und ist dort vor ein paar Jahren
buchstäblich auf der Straße entdeckt worden – der junge Sänger und Gitarrist ist blind, er
spielt seine Gitarre die Saiten nach oben auf den Knien liegend, und er hat eine Stimme,
oder sagen wir besser: eine Art zu singen, die einen direkt ins Herz trifft.
Tatsächlich ist diese ganze Orfeo-Opernproduktion auf diesen irgendwie kindlich und durch
seine Blindheit so verletzlich wirkenden Protagonisten zugeschnitten. Und da kommt die
zweite CD dieses wirklich sehr schön aufgemachten Pakets ins Spiel – es gibt nämlich
neben der Musik-CD mit den besten Liedern und Szenen aus der Oper noch eine DVD, die
die ganze farbenprächtige Produktion auf der Bühne zeigt. Die muss man vielleicht nicht
unbedingt vollständig gesehen haben, als Ganzes hat das rund zweistündige Orfeo-Projekt
für mein Gefühl ein paar deutliche Längen und funktioniert auch nicht wirklich als Oper ... Die
fantastischen Kostüme sind zwar ein Augenschmaus, aber das Ganze hat mit seiner
naturmystischen Dramaturgie einen leicht anthroposophischen Touch, der nicht jedermanns
Sache ist – jedenfalls nicht meine ...
Trotzdem: Man sollte sich bei diesem Opernfilm zumindest eine Zeit lang zuschalten, um
Nahuel Pennisi zu sehen – der tut kaum mehr als einfach in sich versunken auf einer
Riesenschildkröte zu sitzen und zu singen, aber das ist eigentlich das Anrührendste an der
gesamten Produktion, so zum Heulen echt und unverstellt singt er diesen Orpheus, und
wenn er am Ende des zweiten Akts seine Totenklage um Euridice anstimmt, glaubt man
sofort, dass dieser Sänger Sirenen verstummen lässt und Steine zum Schmelzen bringt ...
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Orfeo Chamán: Cubrámonos con cenizas
6’50
Orfeos Totenklage um Euridice, mit dem blinden argentinischen Sänger Nahuel Pennisi – die
Melodie geht zurück auf ein Stück des erst vor knapp drei Jahren verstorbenen
venezolanischen Songwriters Simón Díaz.
Nahuel Pennisi ist bei uns noch wenig bekannt, in Südamerika ist er inzwischen ein Star in
der dort natürlich ziemlich starken Folklore-Szene. Zufall oder auch nicht: Der Beschützergeist, der in der Oper dem Orfeo mitgegeben ist, und den es in der schamanistischen
Überlieferung tatsächlich gibt, heißt genau wie er, Nahual. Nahual im Stück, das ist Vincenzo
Capezutto, und dessen verwirrend androgyne, eigentlich eher weibliche Stimme passt
perfekt zu seiner Rolle als Schamanengeist Nahual.
L’Arpeggiata sind in bester Spiellaune: Mit Barockvioline und -cello, Erzlaute, Arpa Llanera,
Psalter und jeder Menge fantastisch anmutender Percussion entfesseln sie den typischen
Arpeggiata-Swing oder lassen eine verzauberte Urwald-Atmosphäre entstehen, wenn Orfeo
mit seinem Schutzgeist Nahual auf dem Boot über den Fluss ins Totenreich fährt:
Orfeo Chamán: Esta barca (Ausschnitt)
5‘20
Die ganze Oper, die als DVD-Mitschnitt mitgeliefert wird, ist schön anzusehen, aber hat, wie
gesagt, ihre Längen; die CD allerdings, mit einem der Handlung folgenden Querschnitt von
Christina Pluhars Musik ist, wie immer bei L’Arpeggiata, ein Ohrenstreichler. Und allein um
den blinden Sänger Nahuel Pennisi und seinen Orfeo kennenzulernen, lohnt sich die
Anschaffung auf jeden Fall ...
Und weil es thematisch so schön passt, bekommen Sie hier jetzt in SWR2 Treffpunkt
Klassik – Neue CDs“ gleich noch einen Orpheus serviert: „Orphée“ heißt die in schickem
Existenzialistenschwarz bei der Deutschen Grammophon herausgekommene CD mit Musik
von Jóhann Jóhannsson. Auch bei ihm geht es vor allem um Atmosphäre, ich bin mir nur
nicht ganz sicher, ob es ansonsten noch um irgendwas von Belang geht ... aber hören wir
erst mal ein bisschen rein:
Jóhann Jóhannsson: Orphée, The radiant city (Ausschnitt)
3’30
Musik von der CD „Orphée“ von Jóhann Jóhannsson – in seinem Text dazu erzählt
Jóhannsson von seiner ganz persönlichen Orpheus-Ideenwelt: Orpheus’ Blick zurück auf
Eurydike bei der Evakuierung aus der Unterwelt ist für ihn eine Metapher für künstlerische
Inspiration, die immer ein Blick in den Hades sei, und der Verlust von Eurydike steht für ihn
auch für die Schwierigkeit kreativer Menschen, die vagen Ideen und Motive, die da im
Unterbewusstsein schweben, zu fassen zu kriegen, sie ans Licht zu holen und ihnen eine
Form zu geben.
Jóhann Jóhansson ist Isländer, er stammt aus Reykjavik und hat sich neben der Musik auch
immer schon viel mit Sprache und Literatur beschäftigt – die Musik, die er schreibt, ist oft mit
Texten und Bildern verbunden, sprich: Jóhansson komponiert Theatermusik und in den
letzten Jahren auch immer mehr Filmmusik für große Hollywood-Produktionen. Mit
durchschlagendem Erfolg: Seine Musik zu „The theory of everything“, dem Film über das
Leben Stephen Hawkings, hat vor zwei Jahren den Golden Globe gewonnen, und auch in
der gerade höchst erfolgreich in den Kinos gelaufenen Science-Fiction-Fantasie „Arrival“
spielt zur Invasion aus dem Weltraum Jóhannssons Musik. Insofern ist schon ein bisschen
klar, wohin bei ihm die Reise geht – es geht eher um Atmosphäre als um Form, eher um
minimalistische Bewegungen als um die große Hollywood-Sinfonik mit Wagnerschem
Leitmotiv.
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Über Jahre, schreibt Jóhansson, hat er diese repetitiven Miniaturen mit sich herumgetragen,
die eigentlichen Originale seien viel schöner als das, was man jetzt zu hören bekäme, sie
seien aber in die Dunkelheit seines Unterbewusstseins zurückgefallen wie Eurydike in die
Unterwelt. Allerdings scheint da beim Reibungsverlust auch irgendwie die Substanz der
Musik im Jenseits klebengeblieben zu sein.
Jóhann Jóhannsson: Orphée, The drowned world
2’20
Wenn das Wort noch in Mode wäre, könnte man Jóhanssons Stil vielleicht als „Ambient“
bezeichnen, ganz sicher ist er ein später Nachfahre von Erik Satie, allerdings ohne dessen
sardonische Ironie, und die Minimal Music ist natürlich auch dabei: Ein Kritiker hat seine
Sachen mal beschrieben als „Morton Feldman, eingedampft auf drei Minuten“, was nicht als
Kategorie taugt, weil bei Feldman ja die endlos scheinenden Längen der Stücke ein
konstituierendes Element sind. Würde man Jóhannssons durchweg kurze Stücke
hintereinander weg spielen, was man machen könnte, ohne dass man die Übergänge groß
bemerken würde, dann würde trotzdem noch kein Feldman daraus.
Interessant wird die Sache in den Momenten, die sich hörbar auf die große OrpheusIdeengeschichte beziehen, zum Beispiel auf Jean Cocteaus legendären „Orphée“-Film, wo
Jean Marais in seinem Autoradio diese seltsamen Signale auffängt, rätselhafte
Zahlenkombinationen und Verse werden da durchgesagt, und Orphée ist sicher, dass es
eine Botschaft nur für ihn ist – tatsächlich sind ja während des Kriegs jede Menge geheime
Botschaften als Zahlencodes über Kurzwelle transportiert worden, und bis heute gibt es ein
paar nicht ortbare geheimnisvolle Sender, die endlos solche Codes verlesen. Ob diese
kryptischen Botschaften von irgendeinem Geheimdienst kommen oder direkt aus der
Unterwelt – wer weiß das schon ...
Jóhann Jóhannsson: Orphée, A deal with chaos
2’00
Das Problem an dieser Orpheus-Unternehmung des Isländers Jóhannsson ist die viele heiße
Luft, die die eher wenige Substanz großsprecherisch aufplustert: Klavier, Orgeln, ein
Streichquartett und ein Streichorchester, dazu Soloinstrumente und Elektronik, die
Besetzung klingt fantastisch und nach viel Abwechslung, aber das alles gerät zu einer relativ
monochromen und viel zu gefälligen Angelegenheit. Diese Musik hat keine Widerhaken, den
Repetitionen fehlt der hypnotische Drive eines Steve Reich oder auch nur Philip Glass‘. Die
Stücke sind sich ziemlich ähnlich, und doch hat jedes einen anderen wichtigheimerischen
Titel, als handle es sich bei jedem Zweiminüter um einen Elena-Ferrante-Roman: „The
drowned world“, „A deal with chaos“, „The burning mountain“, „A pile of dust“ und so weiter.
Wenn es zu dieser Atmosphärenmusik einen Film gäbe, sähe die Sache schon anders aus,
dann gäbe es etwas wie einen Bedeutungs-Nukleus, um den Jóhannssons Musik schweben
könnte, und man könnte sie als Bindeglied zwischen dem Kunstwerk Film und dem eigenen
Unterbewussten akzeptieren. Aber wie die Dinge liegen, findet der Film nur im Kopf des
Komponisten statt, und als Zuhörer sieht man am Schluss bloß den Vorhang zu und alle
Fragen offen, vor allem die ganz grundlegende: Was soll uns das?
Fragen solcher Art stellen sich bei meinem nächsten CD-Fund zum Glück nicht, wie denn
auch, es geht ja schließlich um Bach. Und um Reinoud van Mechelen, meinen neuen
Lieblingstenor! – Erbarme dich!“, heißt diese ausnehmend schöne Platte, die van Mechelen
da mit seinem Ensemble A nocte temporis gemacht hat, und sie sollte eigentlich eher
„Erfreue dich!“ oder so ähnlich heißen, denn van Mechelens Gesang und der streichelweiche
Ton seiner Flötistin Anna Besson und überhaupt die ganze stillvergnügte, ohne
Sensationsgehabe auskommende Ausstrahlung dieses Projekts sind schlicht ein Genuss ...
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Johann Sebastian Bach: Was willst du dich betrüben BWV 107,
Drum ich mich ihm ergebe
3‘15
Die Tenor-Arie aus Bachs Kantate „Was willst du dich betrüben“ BWV 107. Reinoud van
Mechelen ist nicht einfach ein fantastischer Tenor – auch das wäre schon kostbar genug, er
ist etwas noch Selteneres, nämlich ein Haute-Contre. Das ist ein Stimmtyp, der mit dem, was
wir heute unter „Heldentenor“ verstehen, eher weniger zu tun hat, aber die Helden und
Liebhaber-Partien in den französischen Barock-Opern sind eigentlich noch alle für solche
Haute-Contre-Stimmen geschrieben: wenig körperbetont, mit viel Kopfresonanz und diesem
weichen, fast ein bisschen weiblichen Klang, der den eleganten Franzosen für ihren Stil gut
in den Kram passte, weil man in Frankreich Kastraten nicht mochte – im früheren 18. Jahrhundert waren aber außerhalb Frankreichs nun mal 70 Prozent der männlichen Sänger
Kastraten, und die hatten denn auch oft die schönsten Arien.
Nur nicht bei Johann Sebastian Bach – der hat in seinen Kantaten und Oratorien immer
wieder die wunderherrlichsten Tenor-Arien untergebracht, für die es nun genau so eine
biegsame, federleichte und doch in sich gefestigte Tenorstimme braucht, wie Reinoud van
Mechelen sie hat. Mit dieser besonderen Stimme singt er jetzt also eine Auswahl von gar
nicht mal so bekannten Stücken aus Bachs Kantaten in einer Kammerbesetzung, nämlich
nur begleitet von Flöte, Orgel und Cello; dafür hat er im letzten Jahr ein eigenes Ensemble
gegründet: A nocte temporis nennen sich die vier, und auch die Instrumentalisten kriegen bei
dieser Produktion ihre Solo-Auftritte in den instrumentalen Intermezzi zwischen den Arien –
Benjamin Alard spielt Bach-Choralpräludien auf der Silbermann-Orgel von Sainte-Aurélie in
Straßburg, wo die ganze CD aufgenommen wurde, und ganz besonders ins Ohr schmeichelt
sich die Flötistin Anna Besson – die hat in Händen den Nachbau einer Barockflöte von Carlo
Palanca, der Turiner war im 18. Jahrhundert sowas wie der Stradivari des Flötenbaus, und
Anna Besson beseelt das schöne Stück Ebenholz mit einem so warmen, tröstlichen Klang,
dass man sofort versteht, wieso Bach dieses – damals noch ganz junge – Instrument so
besonders gern gehabt hat ...
Johann Sebastian Bach: Partita a-Moll BWV 1013, Sarabande
3’30
Anne Besson mit der Sarabande aus Bachs Solopartita für Flöte in a-Moll, einer der vielen
schönen Nebenwege auf Reinoud van Mechelens CD mit Bachschen Kantaten-Arien. – Bei
William Christies Arts Florissants, Hervé Niquet mit seinem Concert Spirituel, bei Philippe
Herreweghe oder Christophe Rousset ist der Haute-Contre-Tenor van Mechelen mit seiner
so besonderen Stimme schon eine feste Größe – auch für Opernproduktionen, kein Wunder,
er ist ein echtes Sahneschnittchen, dunkle Augen, lockiges Haar, schmachtender Blick: Der
Mann ist der liebende Held par excellence, der zärtlich säuseln kann, aber gleichzeitig auch
die verzwirbeltesten Koloraturen mit einer scheinbaren Mühelosigkeit singt, um die ihn selbst
ein Philippe Jaroussky beneiden müsste.
Bei vielen Sängern – auch bei Jaroussky – leidet ja die Schönheit der Stimme, wenn es an
die Koloraturen geht, oft ist das nur ein Abschnurren des Pensums, im schlechtesten Fall ein
eher angestrengtes Durchhecheln. Den Koloraturpassagen Seele einzuhauchen, ist schwer,
sogar wenn sie von Bach sind – Reinoud van Mechelen kann das. Und er hat eine
besonders emotionale, eindringliche Phrasierung, ein sprechendes Singen, das die Worte
trägt: Van Mechelen ist nun mal kein Deutscher, sondern gebürtiger Flame, und das hört
man schon, auch wenn er sich hörbar intensiv mit der deutschen Sprache befasst hat. Aber
das stört kein bisschen, denn er legt mehr als was Worte sagen könnten, in seine Töne und
Gestaltung.
Und so wird aus der großen Arie aus der Kantate „Ach, lieben Christen, seid getrost“ fast
schon ein Theatermonolog, eine Opernszene, in der ein nachdenklicher Mensch sich
Gedanken um seine Schwächen und Möglichkeiten macht ...
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Johann Sebastian Bach: Ach, lieben Christen, seid getrost BWV 114,
Wo wird in diesem Jammertale
10‘30
Die große Tenor-Arie aus Johann Sebastian Bachs Kantate „Ach, lieben Christen, seid
getrost“. Der Mann, dem diese ungeheuer wohlklingende Tenorstimme hier gehört, heißt
Reinoud van Mechelen, und er stellt sich auf seiner CD mit Bach-Arien als DER kommende
Barock-Tenor vor – da zündet die nächste Stufe der historisch informierten Aufführungspraxis und wird zur emotional informierten Aufführungspraxis – auch, weil van Mechelen
dabei so wunderbar von seinem im letzten Jahr gegründeten Ensemble A nocte temporis
begleitet wird. „Erbarme dich“ heißt diese wirklich schöne CD, erschienen beim Label ALPHA
CLASSICS, das ja immer wieder für solche Entdeckungen gut ist.
Thomas Hampson muss bei uns nicht mehr entdeckt werden, er sorgt allerdings mit dem,
was er so an Liedern aufnimmt, dafür, dass wir hier in Europa ab und zu mal einen
amerikanischen Komponisten der Gegenwart entdecken können – Richard Danielpour zum
Beispiel.
Richard Danielpour ist ein sehr erfolgreicher Komponist. Große Künstler und Ensembles
haben ihm Aufträge erteilt, Künstler wie Jessye Norman oder Thomas Hampson, Yo-Yo Ma
oder das Emerson String Quartet, das New York Philharmonic oder das Philadelphia
Orchestra, und mit Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison hat Danielpour eine Oper
geschrieben. Diese Aufzählung mag beeindruckend klingen, aber sie ist, wenn man genau
hinsieht, einseitig: All diese Leute und Ensembles sind Amerikaner. In der deutschen
Musikszene der Gegenwart hat ein Komponist wie Danielpour keinen Platz, weil man seine
Musik für zu rückwärtsgewandt, zu eingängig, zu, tja, amerikanisch hält – die InternetEinträge über Richard Danielpour sind fast ausschließlich in englischer Sprache. Und
deshalb wird auch die jetzt bei NAXOS erschienene CD mit Orchesterliedern vermutlich
kaum irgendwo einen Aufruhr oder auch nur einen Artikel verursachen. Das ist schade, es ist
eigentlich sogar ärgerlich.
Denn es ist einfach nicht wahr, dass Amerikas daheim vielgespielte Komponisten
künstlerisch und gesellschaftlich nichts Substantielles beizutragen hätten. Und wir täten gut
daran, uns damit zu beschäftigen, um diese Nation, die uns gerade so fern und fremd und
am Rande des Irrsinns erscheint, besser zu verstehen.
Richard Danielpour: War Songs, Year that trembled and reel’d beneath me
2’35
„Jahr, das unter mir wirbelte und zitterte!
Warm genug war dein Sommerwind, dennoch, die Luft,
Die ich atmete, fror mich.
Eine dichte Trübheit fiel durch den Sonnenschein und verdüsterte mich,
Muss ich meine siegreichen Lieder ändern? Sprach ich zu mir selbst,
Muss ich tatsächlich lernen, die kalten Grabgesänge der Verhinderten zu singen? Und
verdrossene Hymnen der Niederlage?“
Nein, das sind nicht die Worte eines enttäuschten US-Demokraten im November 2016,
sondern Verse von Amerikas zentralem Dichter Walt Whitman, vertont von Richard
Danielpour, gesungen von Thomas Hampson.
Richard Danielpour hat mal ganz brav und zeitgemäß als Serialist angefangen, aber er hat,
wie vor ihm schon Copland oder Bernstein, gemerkt, dass das einfach nicht seine Sprache
war, dass ihm der „amerikanische Weg“, die amerikanische Musiktradition eben doch näher
waren: eine Musik, die sich aus dem zusammensetzt, was die USA geformt hat. Aus
Folksongs und Broadway, aus Aaron Coplands Präriemusik, dem Jazz und, ja, zum Teufel,
auch der Popmusik, die das Leben unserer letzten 50 Jahre geprägt hat wie nichts sonst aus
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der Kultur, – und die erfreuliche Tatsache, dass Bob Dylan nun den Literaturnobelpreis
gekriegt hat, zeigt ja, dass ein paar Leute das so langsam auch anerkennen.
Richard Danielpour schreibt Musik, die verstanden werden will, auf Worte, die gehört werden
sollen. Stücke, die nicht als l’art pour l’art auf fragmentierte Textbrösel den
zweiunddreißigeinhalb unterschiedlichen Schwingungsmöglichkeiten eines Tons hinterher
lauschen, sondern die den Versen vertrauen, die sie transportieren, und die diese Verse an
den Mann bringen wollen.
Nichts gegen die zeitgenössische Musik, wie sie zum Beispiel in Donaueschingen präsentiert
wird, sie kann aufregend und wichtig, inspirierend und manchmal sogar herzerwärmend sein,
aber sie hat nun mal den Vertrag, der einst zwischen Wort und Musik bestanden hat, diese
innige Beziehung von Text und Melodie, aufgekündigt. Und sie hat mit dazu beigetragen,
dass Gedichte heute so scheinbar unerheblich geworden sind, etwas Altmodisches, das nur
noch als „Material“ taugt, mit dem man sich nur noch in Fragmenten befassen mag, anstatt
ihnen im Ganzen zuzuhören.
Denn das ist der Sinn des guten alten Lieds, das gar nicht so alt sein müsste, wie man hier
bei uns immer tut. Zwei Zyklen mit Orchesterliedern sind auf dieser neuen CD zu hören, und
die stellen die Texte in geradezu altmodischer Orchesterlied-Tradition in den Mittelpunkt.
Danielpours Vorlagen stammen von den beiden vielleicht größten Dichtern der englischen
Sprache in der neueren Zeit, vom Iren William Butler Yeats und dem Amerikaner Walt
Whitman, sie erzählen von den seelischen Verwüstungen des Kriegs und von der Verwirrung
der Menschen, und sie sind, so wie Danielpour sie präsentiert, aktueller denn je. Den
Liedzyklus „Songs of Solitude“ nach Yeats zum Beispiel hat Danielpour im Schock nach den
Anschlägen des 11. September zusammengestellt.
William Butler Yeats war der Meinung, dass Geschichte sich zyklisch wiederholt; wir stellen
gerade fest, dass er wohl recht hat, und so gesehen sind auch Yeats’ Gedichte immer wieder
von Bedeutung. „The Second Coming“, Die Wiederkehr, ist eins seiner berühmtesten.
Entstanden ist „The Second Coming“ am Ende des Ersten Weltkriegs, aber es war auch
eines der in der Öffentlichkeit meistrezitierten Gedichte in den Monaten nach 9/11. Eine
Medienuntersuchung hat allerdings ergeben, dass es niemals so oft zitiert wurde wie im
vergangenen Jahr, denn es handelt davon, wie die Welt mit ihren scheinbar unverrückbaren
Werten auseinanderfällt. Und dann ist da noch jene Passage, die mit einem dieser
emblematischen Yeats-Sätze beginnt, und die auf gespenstische Art unsere Gegenwart zu
beschreiben scheint: „The ceremony of innocence is drowned; the best lack all conviction,
while the worst are full of passionate intensity“ (Die Zeremonie der Unschuld ist
untergegangen; den Besten fehlt es an jeglicher Überzeugung, derweil die Schlimmsten voll
leidenschaftlicher Stärke sind). Richard Danielpour hat aus „The Second Coming“ einen
knapp zehnminütigen Totentanz im düsteren Dreivierteltakt gemacht.
Richard Danielpour: Songs of Solitude, The Second Coming (Ausschnitt)
2’50
Songs of Solitude, Richard Danielpours Zyklus nach Gedichten von William Butler Yeats, ist
ungefähr zeitgleich mit den weltverändernden Anschlägen von 9/11 entstanden – auf Bitte
bzw. Bestellung von Thomas Hampson, der ja mit unermüdlichem Idealismus Lanzen bricht
für die ungebrochene Aktualität von Liedern.
Thomas Hampson schont seine immer noch prachtvolle Stimme bei diesen Live-Aufnahmen
nicht, er schmeißt sich mit aller Leidenschaft in die oft rezitativisch wirkenden Gesangslinien,
und weil er, wie Richard Danielpour es ausdrückte, „ebenso sehr ein Gelehrter wie ein
Sänger ist“, weiß er um die Bedeutung jedes einzelnen Wortes und kann sie in Klang und
Tonfall verwandeln. Und er ist auch nach vielen Jahrzehnten im Stargeschäft noch nicht so
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abgebrüht, als dass ihn eine Gedichtzeile von Walt Whitman nicht mal eben noch aus der
Fassung bringen könnte.
Walt Whitman begegnet uns dann im zweiten großen Zyklus, „War Songs“, der auch auf die
Ratlosigkeit Amerikas im Umgang mit seinen Veteranen zielt, den Männern und inzwischen
auch Frauen, die im Krieg gewesen sind, die einen in Vietnam, die anderen im Irak und dann
wieder im Irak. So viele sind traumatisiert zurückgekommen, und Amerika fiel nichts
Besseres ein, als sie mit Tranquilizern ruhigzustellen und ihre Hoffnungslosigkeit zu
ignorieren, derweil bei öffentlichen Anlässen phrasenhaft und in hohlen Worten ihre
Heldentaten gepriesen wurden.
Das alles fällt jetzt auf die Gesellschaft zurück, ein großer Teil dieser Vergessenen hat
Donald Trump gewählt, und sei es nur aus Rache, weil niemand mit ihnen fühlen wollte. Der
reale Krieg in seiner Grauenhaftigkeit hat weit weg von den USA stattgefunden, und keiner
kann sich die Hölle vorstellen, durch die die Soldaten und ihre Familien gegangen sind,
während des Kriegs und danach. Einer allerdings hat das alles schon vor 150 Jahren in
Worte, oder besser: Verse gefasst – Walt Whitman, Amerikas großer Dichter, war
Krankenpfleger in den Lazaretten des amerikanischen Bürgerkriegs, in seinen Armen sind
unzählige junge Männer gestorben, und Whitman hat über das Unsagbare geschrieben,
nicht zuletzt, um sich selber zu trösten ... In dem großen „Come up from the fields father“,
das fast wie eine Opernszene wirkt, trifft eine Familie die Nachricht vom Kriegstod ihres
Sohns – Richard Danielpour hat der Trostlosigkeit der Verse immerhin ein tröstendes
Solocello mitgegeben.
Richard Danielpour: War Songs, Come up from the fields father
11’15
„Come up from the fields father“ – aus dem Liederzyklus „War Songs“ von Richard
Danielpour, auf Verse über den amerikanischen Bürgerkrieg von Walt Whitman, die
Danielpour aber auch mit Blick auf die Toten des letzten Irak-Kriegs ausgesucht hat.
Amerika kämpft um sein Selbstverständnis – auch in diesen Liederzyklen von Richard
Danielpour, die mit Thomas Hampson natürlich den besten Fürsprecher und Vor-Sänger
haben, der sich denken lässt, zumal er hier so richtig gut bei Stimme ist. Und ziemlich gut
klingt auch die auf zeitgenössische amerikanische Musik spezialisierte Nashville Symphony
unter Leitung seines Chefs Giancarlo Guerrero – das Ganze ist erschienen bei NAXOS in
der Reihe „AMERICAN CLASSICS“.
Und das war es auch für heute in „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“; die Liste mit den
besprochenen Aufnahmen und das Manuskript finden Sie wie immer im Netz unter
www.swr2.de, dort können Sie die Sendung auch noch eine Woche lang nachhören –
morgen ist in „SWR2 Treffpunkt Klassik extra“ der Komponist Klaus Fessmann zu Gast, der
Steine zum Singen bringt, mein Name ist Katharina Eickhoff, und ich sage tschüss und
schönen Nachmittag!