Luther, Lenin und die Linken Silvesterknaller fürs Jubiläumsjahr. Ein wochen-nd zu 500 Jahren Reformation, 100 Jahren Oktoberrevolution und eher jubellosen Jubiläen. Seiten 17 bis 32 Grafik: Raúl Soria Sonnabend/Sonntag, 31. Dezember 2016/1. Januar 2017 STANDPUNKT Rollentausch Klaus Joachim Herrmann über Obamas Russland-Attacke Barack Obama hat im Zorn auf Wladimir Putin Unerwartetes vollbracht. Zum Ende der Amtszeit präsentiert er sich als außenpolitischer Wüterich. Sein designierter Nachfolger Donald Trump hingegen zeigt sich weit besonnener, als sein übler Ruf erwarten ließe. Vor die Reaktion will er Fakten setzen – anstelle von Vermutung, Verdacht, Anschuldigung und giftigem Ausbruch. Die Rollenverteilung in dem üblen Wahlkampf sah noch anders aus. Den hätte er, so meint Obama, gewonnen. Eine wohlfeil-arrogante, weil spekulativ rückschauende Gewissheit. Jedenfalls verlor seine Favoritin Hillary Clinton. Statt ihrer will nun der alte Präsident wenigstens beim Abgang der Welt zeigen, was sie bei einem Sieg der Demokratin zu erwarten gehabt hätte. Obamas rüder Rausschmiss von Diplomaten gehört zum Arsenal des Kalten Krieges – jeder feuert die Leute des anderen bis zur unausweichlichen Einsicht der Sinnlosigkeit solchen Tuns. Moskau verweigerte sich demonstrativ dieser Spirale der Eskalation – und zeigte dabei elegant provozierende Lässigkeit. Es geht längst um mehr als die Frage, wie sehr sich die Gegenspieler verachten oder mögen. Erbittert umstritten ist die Strategie des Umgangs der Supermacht USA mit dem nach dem Zerfall der Sowjetunion in die Weltpolitik zurückgekehrten Russland. Dabei muss sich nicht nur Washington zwischen Kooperation und Konfrontation entscheiden. Moskau jedenfalls hat mit der Einladung von Diplomatenkindern in den Kreml zum Neujahrsfest auch ein ernsthaftes Angebot gemacht. UNTEN LINKS Auf ein Probefeuerwerk, wie es die unterfränkische Gemeinde Reichenberg Ende Dezember 2015 ausrichten ließ, um dort lebende Kriegsflüchtlinge behutsam auf den Ernstfall hiesiger Silvestergepflogenheiten einzustimmen, hat man in diesem Jahr offenbar verzichtet. Man könnte den Wegfall der willkommenskulturellen Maßnahme als Anzeichen gelungener Integration werten. Man könnte aber auch daraus ableiten, dass die Sorge, Flüchtlingen Angst einzujagen, weithin der Furcht gewichen ist, von deren vermeintlichen eigenen Neujahrsbräuchen erschreckt zu werden. Seit Köln meinen ja viele zu wissen, wie der Flüchtling tickt. Uns bleibt an dieser Stelle nicht viel mehr, als von derartigen Pauschalisierungen und Vorverurteilungen abzuraten und stattdessen auf die Vorzüge des Miteinander-Redens hinzuweisen. Allerdings ist dabei auf deutliche Aussprache zu achten. Bitte wünschen Sie niemandem, egal woher, einen »guten Putsch« und ein »rohes neues Jahr«. mha ISSN 0323-3375 71. Jahrgang/Nr. 306 Bundesausgabe 2,30 € www.neues-deutschland.de Kalter Krieg ohne den Kreml In dieser Ausgabe: Die Themen des Jahres Die Toten des Jahres Seiten 4, 5 Seite 10 Statt Ausweisung Einladung an Diplomatenkinder zum russischen Neujahrsfest Vereinzelt Gefechte in Syrien trotz neuer Waffenruhe Islamisten werden weiter bekämpft Damaskus. Am ersten Tag der landesweiten Waffenruhe in Syrien haben sich die Konfliktparteien nach Angaben von Beobachtern größtenteils an die Feuerpause gehalten. In der Nacht zum Freitag gab es nur vereinzelt und lokal begrenzt Gefechte, am Morgen kamen Luftangriffe auf Rebellenstellungen nahe der Hauptstadt Damaskus hinzu, wie die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte am Freitag berichtete. Im Wadi Barada hatten Aufständische vor einigen Tagen die Kontrolle über Wasserquellen gewonnen, durch die mehrere Millionen Bewohner der Hauptstadt mit Frischwasser versorgt werden. Unter den Rebellengruppen sind nach Angaben der Beobachtungsstelle auch Kämpfer der islamistischen Dschabhat Fatah al-Scham, der früheren Nusra-Front. Sie ist wie die Terrormiliz IS von der Waffenruhe ausgenommen. dpa/nd Türkei: Opposition warnt vor Diktatur Vorschlag für Präsidialsystem kommt im Januar ins Parlament Zwei Präsidenten, zwei Botschaften: Einer verhängt Sanktionen, einer wünscht frohe Weihnacht. Moskau. Eine überraschende Wendung nahm der Konflikt zwischen dem Weißen Haus und dem Moskauer Kreml am Freitag. Die von USPräsident Barack Obama verfügte Ausweisung von 35 Diplomaten Russlands und weitere Sanktionen beantwortete sein Amtskollege Wladimir Putin mit einer Einladung zum russischen Neujahrsfest. »Ich lade alle Kinder der in Russland akkreditierten Diplomaten zu einem Neujahrs- und Weihnachtsfest in den Kreml ein«, wurde dessen Hausherr zitiert. »Wir werden keine Probleme für US-Diplomaten in Russland schaffen«, hieß es in einer Mitteilung des Präsidialamtes. Einer von Außenminister Sergej Lawrow vorgeschlagenen Ausweisung von 35 US-Diplomaten und weiteren Sanktionen erteilte Putin eine Absage. Stattdessen übermittelte er Obama und dessen designiertem Nachfolger Donald Trump seine Weihnachts- und Neujahrsgrüße. Die weiteren Schritte Russlands würden von der Politik der neuen US-Regierung unter Trump abhängen. Der scheidende US-Präsident Barack Obama hatte am Donnerstag mit ungewöhnlich harten Sanktionen auf angebliche Hackerangriffe während des US-Präsidentschaftswahlkampfes reagiert. Die US-Behörden werfen Foto: Reuters/Jason Reed Russland vor, mit Cyberattacken dem späteren Wahlsieger Donald Trump geholfen zu haben. Obama hatte die Sanktionen als »notwendige Antwort« auf Versuche dargestellt, den Interessen der USA zu schaden. »Alle Amerikaner sollten von den Aktionen Russlands alarmiert sein.« Trump zeigte sich weniger beeindruckt. Es sei »Zeit für unser Land, zu größeren und wichtigeren Dingen überzugehen«, erklärte er. Nach der Amtseinführung am 20. Januar könnte der neue Präsident die Strafmaßnahmen per Dekret wieder zurücknehmen. Agenturen/nd Seite 6 Istanbul. Trotz wütender Proteste der Opposition macht die Türkei einen Schritt weiter auf ein Präsidialsystem zu, das Recep Tayyip Erdogan mehr Macht geben soll. Die zuständige Kommission des türkischen Parlaments nahm den Vorschlag zur nötigen Verfassungsreform am Freitag mit geringfügigen Änderungen an, wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu berichtete. Damit ebnete das Gremium auch den Weg zur Abstimmung im Parlament. Die größte Oppositionspartei CHP kritisierte das Vorhaben der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP erneut scharf und warnte vor der Einführung einer Diktatur. Nach türkischen Medienberichten will das Parlament schon in der zweiten Januarwoche mit den Beratungen über die geplante Reform beginnen. Unterdessen haben die türkischen Behörden 94 Vereine wegen »Bedrohung der öffentlichen Ordnung« schließen lassen. dpa/nd Grün soll Bauern helfen Landwirtschaftsminister will Landwirte halbherzig vor Investoren schützen Ein »Grünbuch – Ernährung, Landwirtschaft und Ländliche Räume« stellte Agrarminister Christian Schmidt am Freitag vor. Es soll vor allem die bäuerliche Landwirtschaft retten. Von Jörg Staude Seine Forderung nach einen Namensverbot für »vegane Wurst«, die für mediale Aufregung gesorgt hatte, wiederholte der Bundesagrarminister bei der Präsentation seines »Grünbuchs« nicht – eher ruderte er zurück und verkündete Selbstverständlichkeiten: »Jeder soll essen, was ihn glücklich macht. Was auf den Teller kommt, entscheiden die Menschen selbst«. Um seine Forderung, nur Fleisch dürfe Fleisch genannt werden, irgendwie zu begründen, griff Schmidt zur Analogie der MilchKennzeichnung: Aus »guten Gründen« dürften Produkte, die keine Milch enthielten, nicht den Namen »Käse« tragen. Die Bezeich- nung »Analogkäse« sei deswegen nicht erlaubt. Bei Milch so etwas auszuschließen, bei Fleisch aber nicht, sei ein »intellektueller Salto«, meinte der Minister. Konkrete nationale Initiativen zu Fleischkennzeichnung sind von ihm bis zum Ende der Legislatur aber nicht zu erwarten. Letztlich müsse die Frage, was »vegan« und »vegetarisch« bedeute, auf europäischer Ebene geklärt werden. Darin können sogar die Grünen dem Minister zustimmen. Die Hauptsorge, die den Minister zum »Grünbuch« trieb, ist die nicht neue Erkenntnis, dass für die heutige Art der Landwirtschaft keine »durchgängige gesellschaftliche Akzeptanz« gegeben ist. Um die wiederherzustellen, müsse, so Schmidt, bäuerlichen Familien und regionalen Strukturen der Zugriff auf landwirtschaftliche Ressourcen gesichert werden. Der regional verwurzelte Bauer solle künftig mehr unterstützt werden und auch stärker von Direktzah- lungen profitieren. »Der Zugriff außerlandwirtschaftlicher und ausländischer Investoren auf den Boden, nicht selten mit Umnutzung verbunden, muss erschwert werden«, forderte Schmidt. Zugleich musste er aber einräumen, Der regional verwurzelte Bauer solle künftig mehr unterstützt werden. dass der Kauf von Grund und Boden durch große Unternehmen rechtlich nicht unterbunden werden kann. Deshalb skizzierte er die Idee, die Zukunft des Bäuerlichen mit Hilfe des Agrarstrukturrechts zu sichern. Das »Grünbuch« sieht die Länder in der Verantwortung: Sie sollten, heißt es, »rechtliche Rahmenbedingungen so gestalten, dass die Umwandlung selbststän- diger Landwirtschafts- in Filialbetriebe und deren Übernahme durch überregionale Investoren verhindert werden«. Die einzige konkrete Initiative, die der Minister im Januar zur »Grünen Woche« auf den Weg bringen will, ist ein staatliches Tierwohl-Label, das die Haltungsart von Tieren positiv kennzeichnen soll. Die bestehende »Initiative Tierwohl« von Landwirtschaft, Fleischindustrie und Einzelhandel soll demnach ein »wichtiger Baustein« für das staatliche Label sein. Das »Grünbuch« erwähnt wenigstens noch, dass die millionenfache Tötung von Ersttagsküken »ethisch nicht vertretbar« ist und deshalb beendet werden müsse. Von einem Verbot des »Kükenschredderns«, wie es die Grünen fordern, ist dennoch nicht die Rede. Das Ministerium warnt zunächst vor einer Verlagerung der Produktion ins Ausland und setzt anschließend auf eine »rasche technische Lösung«. Asylunterbringung unwürdig Afghanin darf nicht aus Belgien nach Deutschland abgeschoben werden Brüssel. Im Belgien gibt es Zweifel daran, dass besonders schutzbedürftige Asylsuchende in Deutschland angemessen untergebracht werden. Wie am Freitag bekannt wurde, hat es der nationale Rat für Ausländerstreitsachen den Behörden untersagt, eine Afghanin und ihre fünf Kinder gemäß den EU-Asylregeln in die Bundesrepublik zurückzuschicken. Begründung: Es ist nicht ausreichend sichergestellt, dass die Familie dort eine menschenwürdige Unterkunft bekommt. Der Anwalt der Asylsuchenden hatte in dem Verfahren u.a. auf überfüllte Aufnahmeeinrichtungen mit unzureichenden sanitären Anlagen verwiesen. Die Überstellung der Frau und ihrer Kinder nach Deutschland sollte erfolgen, weil die Familie dort bereits einen Asylantrag gestellt hatte. Die belgische Regierung äußerte am Freitag Unverständnis über die Entscheidung und kündigte an, einen Einspruch zu prüfen. Deutschland tue ungeheuer viel dafür, Migranten angemessen aufzunehmen, sagte Staatssekretär Theo Francken. dpa/nd
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