D. Thomaschke: In der Gesellschaft der Gene 2016-4 - H-Soz-u-Kult

D. Thomaschke: In der Gesellschaft der Gene
2016-4-182
Thomaschke, Dirk: In der Gesellschaft der Gene. Räume und Subjekte der Humangenetik in
Deutschland und Dänemark, 1950–1990. Bielefeld: Transcript – Verlag für Kommunikation,
Kultur und soziale Praxis 2014. ISBN: 978-38376-2813-5; 303 S.
sondern von Subjekten, Subjektivierungsweisen und Dispositiven die Rede. Thomaschke
orientiert sich bei der Auswahl der zu untersuchenden Objekte an einer für ihn zentralen Unterscheidung zwischen Laien und Experten. Da seiner Argumentation folgend, –
die leider nicht näher ausgeführt wird – die
Macht immer beim Experten liege, werden
ausschließlich Quellen genutzt, die die Perspektive, oder um Thomaschkes Ansatz zu
folgen, die Subjektivierungsweisen der Experten spiegeln. Hierzu zieht er einen breiten
Quellenkorpus heran, für die Bundesrepublik
unter anderem Korrespondenzen, Nachlässe
und Förderakten der DFG. Neben den Subjekten ist eine weitere zentrale Kategorie zu
nennen: Räume. Diese Kategorie führt unmittelbar zum Untersuchungsgegenstand. Ziel
der Monografie ist es „wirkmächtige räumliche Dispositive des humangenetischen Diskurses“ (S. 11) in Deutschland und Dänemark aufzuzeigen. Die Arbeit gliedert sich
nach der Einleitung in vier Teile: einem historischen Abriss der Humangenetik von Ende des 19. Jahrhunderts bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts (S. 39–86) folgen zwei
Hauptkapitel, eines zu Räumen (S. 87–182)
und eines zu Subjekten (S. 183–320) der Humangenetik. Schließlich ist dem Fazit ein sehr
knapp gehaltenes Kapitel vorgeschoben, das
sich noch einmal explizit dem Vergleich zwischen Dänemark und Deutschland widmet
(S. 327–341).
Das zweite Kapitel erläutert zunächst die
Entwicklung und Durchsetzung der Vorstellung von einer „geteilten Erbmasse“ Ende
des 19. Jahrhunderts. Dieses Konzept war
nicht nur in der wissenschaftlichen Sphäre maßgeblich, sondern hieraus ließen sich
auch politische Handlungsansprüche ableiten. Denn die „geteilte Erbmasse“ (der Genotyp) verband jedes einzelne Individuum mit
einer imaginierten größeren Bevölkerungs-
Rezensiert von: Stefanie Coché, Historisches
Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen
Zweifelsohne ist Humangenetik ein hoch aktuelles Thema, das in seiner gesellschaftlichen
Bedeutung kaum überschätzt werden kann.
Humangenetische Überlegungen, Methoden
und Diagnosen erweisen sich etwa in Form
der Pränataldiagnostik als wegweisend sowohl für individuelle Lebensentscheidungen
als auch für eine ethische und medizinischnaturwissenschaftliche Selbstverortung nicht
nur der deutschen Gesellschaft. Dirk Thomaschke widmet sich in seiner Studie, die auf
seiner an der Carl von Ossietzky-Universität
Oldenburg entstandenen Dissertation basiert,
diesem Thema daher vergleichend. Das erklärte Ziel des Vergleichs zwischen Deutschland und Dänemark ist eine transnational
tragfähige Modellbildung. Dementsprechend
werden die Gemeinsamkeiten beider Länder
herausgearbeitet.
Die Studie beginnt bewusst nach dem
Zweiten Weltkrieg, da die Kontinuitäten vom
„Dritten Reich“ in die frühe Bundesrepublik
gut bekannt sind. Während die Geschichte
der Eugenik für beide Länder seit den 1980erJahren erforscht wird, gilt dies für die Geschichte der Humangenetik weit weniger. Anschließen kann die Studie in diesem Feld vor
allem an zwei Projekte: zum einen die wissenschaftsgeschichtlichen Forschungen zur Geschichte der Vererbungsforschung Hans-Jörg
Rheinbergers und Staffan Müller-Willes1 ; allerdings endet der Untersuchungszeitraum
hier mit den 1970er-Jahren. Zum anderen
ist die sozialwissenschaftliche Pionierstudie
zum „Subjekt der Humangenetik“ von Anne Waldschmidt2 zu nennen, deren Untersuchungszeitraum nahezu deckungsgleich mit
Thomaschkes ist.
Darüber hinaus verortet der Autor seine
Analyse in einer diskursgeschichtlichen Tradition von Foucault über Lemke zu Link.
Dementsprechend ist kaum von Akteuren,
1 Siehe
z.B. Hans-Jörg Rheinberger / Staffan MüllerWille, Vererbung. Geschichte und Kultur eines biologischen Konzepts, Frankfurt am Main 2009; Dies.,
Zur Genesis der Vererbung als biologisches Konzept,
1750–1900, in: Armen Avenessian / Wilfried Menninghaus / Jan Völker (Hrsg.), Vita aesthetica. Szenarien ästhetischer Lebendigkeit, Zürich 2009.
2 Anne Waldschmidt, Das Subjekt der Humangenetik.
Expertendiskurse zu Programmatik und Konzeption
der genetischen Beratung 1945–1990, Münster 1996.
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einheit. Der Genotyp bedurfte, um den „gesunden“ Erhalt der Population zu erhalten,
konstanten Schutzes oder gar stetiger Verbesserung. Geschildert werden einschneidende
medizinisch-technische Neuerungen und ihre Konsequenzen. Hier sei exemplarisch die
künstliche Herstellung von Insulin genannt,
die zu Beginn der 1980er-Jahre zu einer „Umkehr der Untersuchungsrichtung“ (S. 72) beitrug, da die Gene nun von innen heraus erkundbar wurden. Als wohl größter konzeptioneller Umbruch ist die Idee eines „genetischen Codes“ anzusehen, um dessen Entschlüsselung seit den 1960er-Jahren ein internationaler Wettbewerb entstand. Konzise
werden in diesem Kapitel auch die Etablierung zentraler Messinstrumente und Darstellungsweisen erklärt, etwa von Stammbäumen
und Statistiken, und ihre Anwendungsgebiete umrissen. In Deutschland und in Dänemark entwickelte sich vor allem die Psychiatrie seit der Jahrhundertwende zu einem humangenetischen Forschungsfeld. Thomaschke betont hier besonders, dass es ein Nebeneinander von alten und neuen Methoden gegeben habe. Der Stammbaum etwa blieb bis
in die 1980er-Jahre in Gebrauch.
Das erste der beiden Hauptkapitel „Räume
der Humangenetik“ zeichnet eine zweifache
Verschiebung von Raumdispositiven nach,
zunächst von geographischen Räumen zu
Versorgungsräumen (1970er-Jahre), anschließend zu Standorten. Für die 1950er- und
1960er-Jahre beschreibt der Autor ein Dispositiv „genetischer Behälterräume“. Entsprechend der etablierten Idee der „geteilten Erbmasse“ wurden meist national konstruierte Populationen als Behälter imaginiert, deren Inhalt durch objektive Experten kontrolliert und vermessen werden musste. Der
Funktionsverlust der humangenetischen Behälterräume kündigte sich zunächst durch
den Aufstieg laborzentrierter Methoden an.
Statt der möglichst vollständigen Erfassung
von Populationen, also einem quantitativen
Ziel, gewann die qualitative Durchleuchtung
von Einzelfällen an Gewicht. Dies bereitete
dem Anspruch der 1970er-Jahre, flächendeckende Versorgungsräume zu etablieren, in
beiden Ländern den Nährboden. Die wechselseitige Beeinflussung neuer Forschungsdesigns und Anwendungsmöglichkeiten wird
dabei besonders herausgestrichen. Anschaulich und überzeugend führt Thomaschke lokale Tiefenbohrungen durch, um die Durchsetzung des Dispositivs der Versorgungsräume zu zeigen. So umreißt er exemplarisch
die Entstehung der humangenetischen Beratungsstelle der Universität Bremen zwischen
1974 und 1979: Hier zeigen sich sowohl die
Zusammenarbeit wissenschaftlicher Einrichtungen mit medizinbürokratischen Einrichtungen als auch Strategien der Konstruktion und Sichtbarmachung eines gesundheitspolitischen Mangels. Um die Region Bremen als humangenetisches Mangelgebiet zu
etablieren und Handlungsbedarf zu erzeugen, wurden unterschiedliche graphische und
argumentative Strategien zusammengeführt.
Das Gebiet wurde auf Karten als weißer
Fleck markiert und es wurden Gutachten erstellt, die dieses Defizit auf sprachlicher Ebene fassbar machten. In der Bundesrepublik
war die Durchsetzung des Versorgungsraumdispositivs begleitet von der Etablierung einer „empörten Öffentlichkeit“, die einen Anspruch der „Konsumenten“ auf genetische
Beratung formulierte, insbesondere hinsichtlich der Pränataldiagnostik.
In Dänemark ging der Wandel zu den
Versorgungsräumen leiser vonstatten. Der
Autor erklärt dies durch die Legalisierung
eugenisch indizierter Schwangerschaftsabbrüche bereits in den 1930er-Jahren. Im
Anspruch der „Konsumenten“ zeichnete
sich bereits ein Schema ab, welches in den
1980er-Jahren maßgeblich werden sollte: das
Angebot-Nachfrage-Konzept. Thomaschke
zeichnet die Humangenetik dieses Jahrzehnts
in beiden Ländern als von ökonomischen
Leitlinien durchdrungen. Als neue zentrale
Raumkategorie führt er „Standorte“ ein.
An unterschiedlichen Forschungsstandorten
konkurrierte man, um die Entschlüsselung
des Genoms. Eng damit verbunden waren
nationale Raumbezüge, die in diesem Wettbewerb von nicht zu unterschätzender Relevanz
blieben. Schließlich tauchten zunehmend globale Bezüge auf; die „Dritte Welt“ wurde als
humangenetisches Mangelgebiet konstruiert. Ziel der Forschungen waren industriell
verwertbare Produkte, dementsprechend
wurden Forschungsprogramme von großen
Chemiekonzernen finanziert, in Deutschland
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etwa von BASF, Bayer, Hoechst, Wacker
Chemie (S. 163). Auch in Dänemark sollte die
Humangenetik in den 1980er-Jahren genutzt
werden, um das Land als Wirtschaftsstandort
attraktiver zu machen (S. 165). Zugleich
begann nicht erst in den 1980er-Jahren eine
Phase der Transnationalisierung: Bereits seit
1973 wurde die internationale Workshopreihe
„The Human Gene Map“ veranstaltet.
Kapitel vier zu „Subjekten der Humangenetik“ ist stärker theorielastig und fällt gegenüber dem empirisch innovativen vorherigen
Kapitel ab. Die Ergebnisse fallen mehrheitlich erwartungsgemäß aus, da die hier präsentierten Wandlungen stark mit denjenigen
des vorherigen Kapitels korrelieren. Dass die
Humangenetiker in Phase 2 „als eine Art Versorger“ (S. 190) auftraten, war nach den Ausführungen zum Wandel von Behälterräumen
zu „Versorgungsräumen“ zu erwarten. Ausgesprochen interessante Ergebnisse, wie etwa, die Tatsache, dass humangenetische Beratung in den 1980er-Jahren zunehmend von
Menschen in Anspruch genommen wurde,
die die Experten gar nicht als Klientel ansahen, hätten gut in die Analyse der Etablierung des Angebots-Nachfrage-Prinzips und
die Entstehung einer „empörten“ Öffentlichkeit, die Anspruch auf humangenetische Beratungsmöglichkeiten artikuliert, gepasst. So
entstand für die Rezensentin bisweilen der
Eindruck, dass die narrative Trennung von
Räumen und Subjekten maßgeblich auf eine
in der Einleitung kurz erwähnte, aber nicht
weiter ausgeführte Grundannahme zurückzuführen ist. Thomaschke geht davon aus,
dass, „Diskurse nicht allein bestimmte Gegenstandsbereiche auf exklusive Weise [verhandeln], sie bringen sie überhaupt erst hervor. Dies gilt zugleich für entsprechende Subjekte [. . . ]“ (S. 30). Dies verleitet zu einer
analytischen Trennung von Gegenstandsbereichen, hier Räumen und Subjekten, führt jedoch zum einen zu Redundanzen, zum anderen erschwert es mitunter die Rekonstruktion
von Verbindungen zwischen Akteuren und
Diskursen und somit der eigentlichen Hervorbringung der Dispositive.
Das fünfte Kapitel stellt auf knapp 10 Seiten die Unterschiede zwischen Deutschland
und Dänemark hinaus. In dieser Kürze kann
es dem selbstformulierten Anspruch, nicht le-
diglich auf Gemeinsamkeiten zu fokussieren
allerdings nur bedingt gerecht werden. Durch
den Anspruch der Modellbildung bleibt der
Eindruck zurück, es habe sich um eine nahezu identische Entwicklung in beiden Ländern
gehandelt.
Es
gelingt
dem
Autor
durch
einen
kulturwissenschaftlichendiskursanalytischen Zugriff neues Licht
auf die deutsche und dänische Humangenetik der 1950er- bis 1980er-Jahre zu werfen.
Resümierend lassen sich jedoch auch vier
Punkte bemängeln: (1) Der Vergleich ist sehr
stark durch die Modellbildung beeinflusst.
Es fragt sich, inwiefern ein Modell überhaupt notwendig ist und nicht hinter einer
abgewogenen Darstellung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden hätte zurücktreten
können. (2) Der theoretische Überbau trägt
nicht an allen Stellen zur besseren Erklärung
der empirischen Ergebnisse bei. Dies gilt
insbesondere für das zweite Hauptkapitel
und seine mutmaßlich durch theoretische
Annahmen bedingten Redundanzen zum
ersten Hauptteil. (3) Gerade angesichts des
Ergebnisses, dass Laien in den 1980er-Jahren
als neue Expertengruppen Anerkennung fanden, fragt sich, ob die eingangs formulierte
klare Trennung von Experten und Laien und
die damit einhergehende Entscheidung nur
die Perspektive der Experten zu untersuchen,
in auf dieser Studie aufbauenden Forschungen nicht überwunden werden sollte. (4)
Schließlich bleibt unthematisiert, wie in
vielen Studien zurzeit nach 1945, warum der
Autor sich entschlossen hat, die DDR nicht
zu berücksichtigen.
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Deutschland und Dänemark, 1950–1990. Bielefeld 2014, in: H-Soz-Kult 16.12.2016.
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