SWR2 Wissen

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Wissen
Die digitale Versuchung
Zerstreuen wir uns zu Tode?
Von Ralf Caspary
Sendung: Dienstag, 13. Dezember 2016
(Erstsendung: Freitag, 27. November 2015)
Redaktion: Ralf Kölbel
Produktion: SWR 2015
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MANUSKRIPT
Sprecher:
Neulich im ICE Baden-Baden- Berlin, im Ruhebereich: vor mir sitzt eine junge Frau:
Sprecherin:
Ja, Walter hier, ach Du bist es Schatz, ja, mein, mein Zug hat ... was? Hörst Du mich
noch? Hallo, hallo ... Ja, jetzt wieder, endlich, mein Zug hat dreißig Minuten
Verspätung, mach schon mal die Bratkartoffeln, okay? Ja, also ...
Atmo:
Eine Mail kommt herein
Sprecherin:
Oh warte, eine Mail vom Chef, ich muss das eben lesen, ach Du meine Güte, die
Rohre passen nicht, 2,5 Millimeter zu dick, Lieferung wird storniert, nein, oh Mist!
Schatz hörst du noch? Hallo, Schatz, hallo ...
Ansage:
Die digitale Versuchung – Zerstreuen wir uns zu Tode?
Eine Sendung von Ralf Caspary.
Musikakzent:
Rainald Grebe "Multitasker"
Sprecher:
Rainald Grebe attackiert die Multitasking-Fantasien mit seinen absurd-ironischen
Kabarettpfeilen. Das moderne Subjekt soll flexibel und kreativ sein, es soll sich
permanent selbst steigern, effizienter werden, dank neuer digitaler Medien. Eine
SMS empfangen, gleichzeitig bei WhatsApp vorbeischauen, gleichzeitig ein "Like"
auf der Facebook-Seite loswerden, dann rüber zur Wikipedia-Recherche, und
schließlich schnell zum Einkaufen in den realen Supermarkt um die Ecke - die AppleWatch zählt brav unsere Laufschritte, während wir auf die EinkaufsApp starren.
Multitasking bedeutet für unser neurologisch konfiguriertes Aufmerksamkeitssystem:
Sei ständig bereit, teile Deine Aufmerksamkeitsressourcen in kleine Häppchen ein,
sei ein Meister der Parallelverarbeitung, vertiefe Dich niemals in eine Sache, denn
dann verpasst du die nächste!
O-Ton Stefan Aufenanger:
Ich habe einen Enkel, der ist 15 Monate, er weiß, was wie er am Smartphone blättern
kann, er weiß, dass das ein Telefon ist und er kann es sehr gut von einem gefakten
unterscheiden. Die jüngere Generation heute wächst mit so einer
Selbstverständlichkeit auf, das ist klar.
Sprecher:
Stefan Aufenanger, Medienpädagoge an der Universität Mainz. Er ist gelassen und
meint, die Jugend werde sich schon mit den neuen Medien arrangieren. Er sieht
keine zerstreute Gesellschaft mit lauter SMS-Junkies auf uns zukommen.
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O-Ton Susan Neiman:
Ich merke das immer, wenn ich eine digitale Entgiftung mache, wenn ich für eine
bestimmte Zeit auf die digitalen Medien verzichte, ich merke, mein Gehirn funktioniert
dann anders.
Sprecher:
Susan Neiman, Philosophin, Direktorin des Einstein-Forums in Berlin. Ihre Diagnose:
Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir zu Süchtigen degradiert werden, die
permanent am digitalen Tropf hängen. Der Ausweg: Medien-Aaskese.
O-Ton Markus Appel:
Also können sich Kinder und Jugendliche heute schlechter konzentrieren? Wenn
man das über die Generationen hinweg betrachtet, kommt es heute beim Lernen viel
mehr auf Konzentration an. Die Anforderungen werden immer größer, viel mehr als
das vor 20 oder 30 Jahren noch war, so dass es eben auffällt. Denken Sie an ADHS,
als Aufmerksamkeit-Defizit-Störungen. In wie weit da neue Medien einen Beitrag
leisten, dazu gibt es keine Daten. Mir sind im Gegensatz zu den Thesen, die man
immer hört, keine Studien bekannt, in denen ein klarer Nachweis geliefert würde,
dass es diese Zusammenhänge tatsächlich gibt.
Sprecher:
Markus Appel, Medienpsychologe an der Universität Koblenz-Landau. Er hält nichts
von der Dämonisierung digitaler Medien, auch nichts von der These der zerstreuten
Gesellschaft, die uns angeblich immer dümmer mache.
O-Ton Julian:
Ich schaue zweimal pro Stunde aufs Handy, wegen der Uhrzeit und wegen Social
Network, wegen der Freunde, ob Leute geschrieben haben. Wenn man es aktiv im
Unterricht benutzt und Leuten schreibt, kann man dem Unterricht nicht mehr folgen.
Sprecher:
Julian ist 17 Jahre alt, geht aufs Gymnasium und macht nächstes Jahr Abitur. Er hat
seinen Handy-Konsum scheinbar gut im Griff.
Musikakzent: Grebe
Sprecher:
Der Mediengeschichtler Stefan Rieger hat ein Buch über Multitasking geschrieben.
Ihn interessieren nicht die moralinsauren und zum Teil gesinnungspolizeilichen
Alarmrufe wie: Digitale Medien machen dumm, dick, traurig, sie würden uns
zerstreuen und das Ich fragmentieren.
O-Ton Stefan Rieger:
Das ist kulturkritisches Feuilleton-Gerede. Eben auch mit dem Impetus, da wird ein
bisschen gegen die Medien geschossen, dann haben sie wieder das Problem mit
den jugendlichen Nerds. Also man kann's doch nicht mehr hören.
Sprecher:
Rieger blickt als neutraler Beobachter auf die kulturellen Erscheinungsformen des
Multitasing in Gegenwart und Vergangenheit.
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O-Ton Stefan Rieger:
Also ich glaube, dass diese Idee, dass sich ein Mensch selbst vervielfältigt und
leistungsfähiger ist als diese eine isolierte Einheit, die er eigentlich ist und sein soll,
dass das etwas zu tun hat mit der antiken Rhetorik, der Gedächtniskunst. Bei dieser
Kunst ging es darum, sich alles Mögliche zu merken, um eine Rede gut zu
memorieren, und so entwickelte sich eine ganze Wissenschaft darum herum, die
zeigte, wie man besser memorieren kann, und damit wurde das Fantasma festgelegt,
dass Menschen sich vervielfältigen und mehr leisten.
Sprecher:
Für Rieger basiert Multitasking auf Strategien der Selbstoptimierung, die immer auf
die Imperative hinauslaufen: Werde effizienter, schneller, kreativer als die anderen!
Und diese Beschwörungsformeln spielten schon früh in bestimmten
gesellschaftlichen Bereichen eine Rolle:
O-Ton Stefan Rieger:
Es gibt bestimmte Typen, das sind Leute, die was mit Verwaltung und Bürokratie und
Militär zu tun haben, Napoleon und Cäsar etwa. Von Cäsar wird berichtet, er war
angeblich in der Lage, mehreren Schreibern gleichzeitig etwas zu diktieren. Das sind
die Urszenen: administrative Akte, bei denen es um Leistungsfähigkeit geht.
Sprecher:
Der Soziologe Ulrich Beck diagnostizierte in den 90er-Jahren: Die Individuen in der
modernen Risikogesellschaft werden zu "Akteuren, Jongleuren, Inszenatoren ihrer
Biografie, ihrer Identität". Jeder Einzelne müsse mühsam – herausgelöst aus
traditionellen Lebens-, Beziehungs- und Arbeitsmustern – seine eigene Biografie
zusammenbauen, Beck nennt das die "Bastelbiografie". Sie basiert auf einer IchIdentität, die die Vielheit in der Einheit repräsentiert: Das Subjekt fächert sich auf in
verschiedene Rollen und Tätigkeiten, es jongliert und experimentiert praktisch
fortwährend mit neuen Selbstinszenierungen. Das Multitasking-Ich treibt die
Becksche Bastelbiografie zur Spitze und gleichzeitig zur Absurdität, was sich
besonders schön an der heutigen Ikonografie zeigt. Auf dem Titelblatt einer Ausgabe
des Berliner "philosophie"-Magazins prangt als Verbildlichung des Phänomens ein
digital verfremdeter menschlicher Oberkörper, der mit fünf Armen ausgestattet ist, die
Hydra-artig alle ein Eigenleben zu führen scheinen. Genau das ist die
Jongleursmetapher auf der Ebene der kognitiven Parallelverarbeitung. Teile Dich und
wachse, sei mehr als nur ein Ich!
Musikakzent Grebe
Atmo:
E-Mail geht ein
Sprecherin:
Im Jahr 2000 waren rund zehn bis 12 Prozent der Berufstätigen vom Burnout
betroffen, 2014 sind es schon rund 20 Prozent, also jeder fünfte Arbeitnehmer.
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Atmo:
E-Mail geht ein
Sprecherin:
Laut Robert Koch-Institut leiden rund 25 Prozent der deutschen Bevölkerung unter
Schlafstörungen, betroffen ist also jeder Vierte.
Atmo:
E-Mail geht ein
Sprecherin:
Die neue Shell-Jugendstudie zeigt: 99 Prozent der Jugendlichen haben Zugang zum
Internet. Zudem ist die junge Generation immer länger im Netz: Durchschnittlich 18,4
Stunden verbringen die Jugendlichen wöchentlich online, 2006 waren es noch
weniger als 10 Stunden.
Atmo:
E-Mail geht ein
Sprecherin:
Das Berliner "philosophie"-Magazin schreibt: "Rund 5 Millionen Bundesbürger üben
regelmäßig Yoga aus".
O-Ton Joachim Bauer:
Die Aussage, dass es keine Muße mehr in der Schule mehr gibt, ist richtig. Wir
sehen, dass die jungen Menschen, die heute unsere Schulen besuchen, nicht nur
unter permanentem Leistungsdruck und Stress stehen, sondern sie haben auch eine
Tendenz, dauernd auf Reize zu reagieren, die auf sie einwirken: Reize aus den
Medien, Reize aus ihren Gadgets, den Smartphones, den Bildschirmen usw. Sie
erleben in Intensivform, was im Moment in unserer Kultur vielleicht überhaupt die
meisten Menschen erleben, nämlich permanent sozusagen innerlich auf dem Sprung
zu sein, zu reagieren auf Dinge, die auf uns einwirken anstatt innezuhalten und zu
überlegen, was will ich eigentlich wirklich? Will ich wirklich in permanenten
Automatismen auf mediale, auf informative, auf Warenangebote reagieren oder will
ich immer wieder mal gucken, wie ich zu mir selber finden kann und wie ich mich in
dieser Welt so aufstellen kann, dass ich prüfe, was ich wirklich will.
Sprecher:
Für Joachim Bauer ist in unserer Gesellschaft in Sachen digitaler Reizüberflutung
und Zerstreuung einiges aus dem Ruder gelaufen, gerade im Bildungsbereich. Der
Psychosomatiker an der Universitätsklinik Freiburg hat in seiner Praxis täglich mit
ausgebrannten nervösen Patienten zu tun, deren Zahl stetig zunimmt. Zusammen mit
dem Psychologen und Achtsamkeitsforscher Stefan Schmidt, ebenfalls vom
Uniklinikum Freiburg, leitet Bauer ein Forschungsprojekt, das herausfinden will, wie
Muße und Entschleunigung neue Freiräume für Kreativität und Selbstzufriedenheit
erobern könnten. Beide arbeiten auch mit Schulen zusammen und versuchen, dem
allgegenwärtigen Zerstreuungsmodus etwas entgegenzusetzen. Stefan Schmidt:
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O-Ton Stefan Schmidt:
Wir sitzen am Computer, schreiben einen Text, da kommt eine Mail rein, dann will
man wissen, was da drin steht. Und es ist sehr schwer, diesem Impuls, dass da eine
kurzfristige kleine Belohnung kommen könnte, zu widerstehen. Wenn wir dieser EMail nachgehen und diesem Stimulus folgen, dann verlieren wir unsere langfristigen
Ziele aus dem Auge. Mein langfristiges Ziel war, den Text zu schreiben. Und dann
fange ich an, mich in meiner Arbeit zu zerstückeln.
Sprecher:
Überfordert Multitasking also unser Gehirn? Setzen Reizüberflutung und
Parallelverarbeitung wichtige neuronale Steuerungs- und Aufmerksamkeitssysteme
außer Kraft, so dass sich unser Ich aufzulösen droht in der Flut der Stimuli?
O-Ton Joachim Bauer:
Im Gehirn gibt es Systeme, die den Stress begleiten, die aktiv werden, wenn wir
unter Stress sind und getrieben werden. Und es gibt Systeme, die aktiv werden,
wenn wir innehalten können, wenn wir träumen und kreativ sein können. Wenn wir
getrieben werden, dann sind es meistens die sogenannten Belohnungszentren, die
gierig auf die nächste schnelle Lustbefriedigung warten. Dem gegenüber steht eine
Fähigkeit des Menschen, die wir dem Stirnhirn, dem präfontalen Cortex, verdanken,
der uns in die Lage versetzt, erstmal innezuhalten und zu überlegen, was will ich jetzt
im Moment wirklich. Und da stellt sich oft heraus, dass es nicht immer gut ist, allen
Impulsen sofort nachzugeben, die sich gerade aufdrängen, sondern erstmal in der
Lage zu sein, die inneren Impulse anzuschauen, also sie nicht schlecht zu erklären
oder sie wegzudrängen, und mir unter dem Blickwinkel meiner längerfristigen
persönlichen Ziele zu überlegen, was will ich wirklich tun.
Sprecher:
Für Bauer ist aufgrund dieser neuronalen Architektur klar: Unser Umgang mit
digitalen Medien reizt einseitig die Triebsysteme im Gehirn, zu kurz kommt dabei das
Areal, das zuständig ist für Planung, Selbstkontrolle und Selbstbestimmung. Ähnlich
sieht das auch der Neurobiologe Martin Korte von der TU Braunschweig:
O-Ton Martin Korte:
Wir haben zwei Systeme: Auf der einen Seite ein System, das im limbischen System
sitzt, einer ringförmigen Ansammlung von Gehirnstruktur, meist unterhalb der
Großhirnrinde, das auf schnelle Belohnung aus ist. Und wir haben im vordersten Teil
des Stirnlappens in der Großhirnrinde Gehirnareale, die für langfristige Ziele
codieren. Und diese Systeme befinden sich in Konkurrenz zueinander. Und wir
müssen jungen Menschen auch zeigen, dass es lohnt, langfristige Ziele zu haben
und nicht nur den unmittelbaren Zielen nachzugehen. Jemand, der immer sofort
seine Emails checkt, dem fällt es auch in anderen Umständen schwer, Belohnungen
aufzuschieben.
Sprecher:
Das limbische System, von dem Korte spricht, hat mehrere Funktionsebenen. Ganz
allgemein ist es Sitz des Unbewussten, das, was Freud das "ES" nannte. Im
limbischen System werden zugleich die Botenstoffe produziert, mit denen sich das
Gehirn belohnt, wenn es denkt, etwas gut gemacht zu haben. Das meint Korte mit
den "schnellen Belohnungen". Und in diesem neuronalen Gebiet werden auf
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unbewusster Ebene Handlungen, Ereignisse, Episoden, Erinnerungen, Personen
emotional eingefärbt. Das limbische System sagt uns: Dieser Sommerurlaub war
wunderschön, diese Handlung sollten wir unterlassen, vor diesem Menschen müssen
wir Angst haben.
Und jetzt kommt das Entscheidende: Das limbische System ist – wie der Bremer
Hirnforscher Gerhard Roth schreibt – ein "kleines Kind", das nur spontan ein
Geschehen oder ein Ereignis emotional bewerten kann. Es kann nicht über den Tag
hinausdenken, es ist eingebunden in das Hier und Jetzt, in die ReizReaktionsstruktur. Erst wenn dieses System ergänzt wird durch einen Bereich in der
Großhirnrinde im vorderen Stirnlappen, wird aus dem "kleinen Kind" ein vernünftiger
Mensch, der langfristig Ziele ins Auge fasst, die Folgen seines Tuns überdenkt und
seine Handlungen etappenweise plant.
Nach Bauer und Schmidt stimuliert unser Umgang mit digitalen Medien wie dem
Smartphone immer wieder dieses "kleine Kind" im Kopf und fährt das rationale
Steuerungssystem im Stirnlappen herunter. Die zerstreute Gesellschaft ist auf
psychologischer Ebene deshalb eine infantile Gesellschaft: Ihr ist schlichtweg die
Kontrolle abhanden gekommen. Joachim Bauer beschreibt das auch so:
O-Ton Joachim Bauer:
Das ist ein Hirnsystem, das immer dann aktiv wird, wenn wir eine breite unruhige
Aufmerksamkeit haben, es ist wahrscheinlich evolutionär entstanden, als wie in der
Savanne waren und permanent mit Gefahren rechnen mussten. Es ist eine Unruhe,
die uns zwingt, die Umwelt ständig abzuscannen. Das ist der Savannenmodus.
Heute sieht der so aus: Was muss ich morgen tun, was darf ich nicht vergessen, hab
ich meine Steuererklärung gemacht, der Chef muss noch benachrichtig werden. Man
weiß, dass wenn wir in diesem Savannenmodus von allseitiger Gefahr sind, ein
Hirnsystem aktiv wird, das man Default Mode Network nennt. Der wird aktiv, wenn
wir nicht bei einer Sache konzentriert bleiben können. In Experimenten hat man in
den letzten Jahren herausgefunden, dass wenn Menschen trainiert werden,
Multitasking zu machen, also permanent im Savannenmodus sein, viele Dinge
gleichzeitig tun, die Fähigkeit, konzentriert bei einer Sache zu bleiben und ein
Problem zu lösen, immer mehr abnimmt. Multitasking und Zerstreutheit macht dumm,
etwas verkürzt ausgedrückt. Die Fähigkeit, Probleme in Ruhe zu lösen, kann nur
dann zunehmen, wenn wir die Ruhe und Muße haben, uns mit einer Sache zu einer
Zeit zu beschäftigen.
Sprecher:
Zu dieser Analyse passt auch das verblüffende Ergebnis einer der wohl
berühmtesten psychologischen Langzeitstudien, die der Psychologe Walter Mischel
zusammen mit Kollegen in den 60ern und 70ern des letzten Jahrhunderts
durchgeführt hat. Das Setting sieht so aus: Man präsentiert Kindern in einem Raum
auf einem Teller ein verführerisches Marshmallow. Der Versuchsleiter sagt dem Kind:
Ich gehe jetzt für einige Zeit aus dem Zimmer, wenn Du es schaffst zu warten, ohne
die Süßigkeit zu essen, bekommst Du, wenn ich zurück bin, zwei Marshmallows.
Einige Kinder konnten nicht an sich halten und verspeisten gierig das Marshmallow,
sobald der Versuchsleiter verschwunden war. Andere konnten ihre Triebe
kontrollieren und geduldig warten. Und jetzt kommt der Clou an der Studie: Die
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Psychologen begleiteten die Probanden beim Erwachsenwerden und siehe da: Die
erfolgreichen Aufschieber waren als Erwachsene zufriedener, intelligenter, sie hatten
die besseren Jobs als diejenigen, die sofort ihrer Gier nachgeben mussten.
Musikakzent Grebe
Sprecher:
Wie werden wir also zu Menschen, die erfolgreich den Marshmallowtest absolvieren
würden? Martin Korte:
O-Ton Martin Korte:
Wir sind extrem schlechte Multitasker, wir können nur wenige Tätigkeiten parallel
verrichten. Und wenn man ganz genau ist, muss man sagen, wir können nur eine
Sache mit voller Konzentration gut machen. Wir schaffen es noch relativ gut, zwei
parallel zu verfolgen, weil die kognitiven Ressourcen, die man dazu braucht, auf die
beiden Großhirnrind-Hemisphären verteilt werden. Sobald es aber mehr Tätigkeiten
werden, sobald man auch noch Programme zwischenladen muss, die man braucht,
zieht man Kapazität vom Arbeitsspeicher ab, man ist dann kognitiv reduziert, und wir
werden fehleranfälliger. Spätestens ab der dritten, vierten Tätigkeit nimmt die Anzahl
der Fehler zu.
Sprecher:
Multitasking ist also neurologisch gesehen problematisch, weil damit
Fehleranfälligkeit, Zerstreutheit, Unaufmerksamkeit und Konzentrationsschwäche
gerade beim Lernprozess vorprogrammiert sind. Für Korte lautet daher die
pädagogisch-didaktische Maxime: Weniger ist mehr! Und das hat nicht nur mit der
begrenzten Kapazität des Arbeitsspeichers im Kopf zu tun, sondern auch mit der
Architektur der Aufmerksamkeitssysteme:
O-Ton Martin Korte:
Zunächst mal, wir lernen umso effektiver, je länger wir intensiv an einem Problem
arbeiten und nicht ständig unterbrochen werden. Wenn wir alle 15 Minuten aufs
Display des Smartphone blicken, nach Nachrichten suchen, Nachrichten lesen,
antworten, dann ist man sofort abgelenkt. Das Gehirn braucht sehr lange, um sich
auf eine neue Aufgabe einzustellen, weil die inneren Algorithmen der Fähigkeiten für
diese Aufgabe neu eingestellt werden müssen, das kann bis zu 15 Minuten dauern.
Wenn wir also ständig unterbrochen werden, müssen wir immer diese Filter neu
einstellen, das ist eine sehr ineffektive Form des Lernens und des Wissenstransfers.
Wir sollten uns einem Problem immer mindestens eine halbe Stunde widmen, bevor
man mit etwas Neuem beginnt.
Sprecher:
Der Psychosomatiker Bauer und der Psychologe Schmidt setzen in diesem Kontext
auf eine bestimmte Meditationsstrategie, die dem zerstreuten Ich wieder
Konzentrationsfähigkeit, Muße und Intensität ermöglichen. Dabei geht es um das
Prinzip der Achtsamkeit:
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O-Ton Stefan Schmidt:
Das eine ist, dass ich mit meiner Aufmerksamkeit in der Gegenwart bin, ich überlege
nicht, was passiert alles noch, was muss ich alles noch tun oder wie war es gestern,
ich bin präsent im Hier und Jetzt. Das zweite ist, dass man eine akzeptierende
Grundhaltung einnimmt, Dinge und Ereignisse, die einem entgegenkommen oder
passieren schaut man offen und neugierig an, mit einer Haltung, als mache man das
zum ersten Mal, so, als hätte ich zum Beispiel noch nie ein Glas Wasser getrunken.
Man unterbricht den automatischen Reiz-Reaktionsmechanismus, und ich begebe
mich in eine innere Ruhe und schaue auf die Impulse, die aus mir kommen. Da
machen wir die erste Tür auf, um Ruhe erleben zu können.
Sprecher:
Wer durch diese Tür geht, der ist nicht mehr fixiertauf die Zukunft, auf das ZuErledigende, die Hektik, die Reize, sondern auf innere Konzentration, Ruhe,
Aufmerksamkeit und Ausgeglichenheit – Kompetenzen und Haltungen, die viele
Menschen heute erst mühsam einüben müssen. Und wie sieht Achtsamkeit genau
aus, wie lässt sie sich in den Alltag integrieren?
O-Ton Stefan Schmidt:
Also ich bin in der Arbeit stark eingespannt, kriege viele Emails, muss mich
unterhalten, dann merke ich, ich muss auf Toilette. Und dann ertappe ich mich dabei,
ich renne zur Toilette wegen meines Zeitmanagements. Da achte ich dann auf meine
Schritte, renne ich, gehe ich langsam, und spüre in meinen Körper rein, das bringt
mich aus dem Druck raus. Und wenn ich zurückgekommen bin, bin ich verwandelt,
ich merke, alles, was dringlich schien, das kann ich auch morgen erledigen. Diese
Unterbrechung, diese Phase der Selbstreflexion kann den Strom unterbrechen.
Sprecher:
Auch Meditations- und Entspannungsübungen etwa aus Asien helfen dabei,
gestresste nervöse Menschen aus dem "Savannenmodus" herauszuholen.
O-Ton Anke Liselotte Geiger:
Schon die Taoisten haben gewusst, dass Stress das Gehirn zum Kochen bringt.
Sprecher:
Sagt Anke Liselotte Geiger, Qui-Gong- und Tai-Chi-Chuan-Trainerin in BadenBaden.
O-Ton Anke Liselotte Geiger:
Ich hab an meinen Schülern gemerkt, wer so fünf bis sieben Minuten am Tag sich die
Zeit nimmt, regelmäßig morgens und abends eine geistige Stille auszuüben, der hat
einen guten Ansatz für mehr. Mediation ist ja im Prinzip eine Konzentrationsübung,
Aufmerksamkeit und Achtsamkeit werden dabei geschult, man kann sich vor eine
Kerze setzen, einen Sonnenuntergang ansehen, sich mit offenen Augen vor eine
weiße Wand setzen, um Stille zu erfahren. Es geht immer darum, sich selbst
wahrzunehmen, die Kommunikation mit uns selbst und unseren Körper wieder
herzustellen, die wir ja total verloren haben in unserem Alltag, durch
Fremdsteuerung, durch die Zerstreuung unseres Geistes. Ist der Geist beruhigt, wird
die Kraft nicht länger zerstreut sein. Probieren Sie es einfach mal aus.
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Sprecher:
Stefan Schmidt deutet mit dem Achtsamkeitsmodell zwei zentrale Strategien an, die
auch die erfolgreichen Kinder im Marshmallowtest angewendet hatten: Distanzierung
von den eigenen Impulsen, also Selbstreflexion, und damit einhergehend kognitive
Neubewertung. Wer sich aus der Hektik des Arbeits- oder Schulalltags für Minuten
herausnimmt, wer sein rationales Steuerungszentrum im Gehirn aktiviert, distanziert
sich von seinen Trieben, macht sich frei von den Befehlen des limbischen Systems
und kann dann eingefahrene Verhaltensmuster neu bewerten und ausmessen.
Musikakzent Grebe weiter
Sprecher:
Zerstreuen wir uns also wegen der digitalen Apparate, die unseren Alltag dominieren,
die uns minütlich begleiten und unsere Kommunikation verändern, konsequent zu
Tode? Setzen wir unsere Konzentrationsfähigkeit aufs Spiel, werden wir
oberflächliche dumme Reiz-Reaktionsautomaten?
Der Umgang mit den digitalen Medien treibt seltsame Blüten. Wer abends auf einem
Bahnsteig steht, ist umringt von Wartenden, deren Gesichter alle durch das bläulichweiße Licht des Smartphone-Displays eine fahle Farbe annehmen – als wäre man in
eine stille Versammlung von Zombies hineingeraten. Und ein Beispiel aus dem
Ausland: In einer chinesischen Millionenstadt ist ein Gehweg extra für Handynutzer
eröffnet worden, damit die armen Menschen, die fortwährend aufs Display schauen,
nicht mit Fahrradfahrern und handylosen Fußgängern kollidieren. Der hochgerüstete
digitale Kapitalismus attackiert fortwährend mit seinen neuen verheißungsvollen
digitalen Waren- und Unterhaltungsangeboten unsere Aufmerksamkeitssysteme.
Diejenigen, die sich dagegen immunisieren können, die selbstbestimmt handeln, sind
wohl kaum gefährdet. Sie wissen genau, wie viel Ablenkung und Zerstreuung ihrer
Psyche, ihrem Gehirn gut tut. Opfer sind die, die aufgrund sozialer oder
psychologischer Faktoren über nur geringe Selbststeuerungspotenziale verfügen.
Die benötigen Unterstützung, Hilfe, Rat.
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