SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Wissen Medienkrieg in Ungarn Von Stephan Ozsváth Sendung: Montag, 6. Februar 2017, 8.30 Uhr Redaktion: Gábor Paál Produktion: SWR 2017 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Wissen können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/wissen.xml Die Manuskripte von SWR2 Wissen gibt es auch als E-Books für mobile Endgeräte im sogenannten EPUB-Format. Sie benötigen ein geeignetes Endgerät und eine entsprechende "App" oder Software zum Lesen der Dokumente. Für das iPhone oder das iPad gibt es z.B. die kostenlose App "iBooks", für die Android-Plattform den in der Basisversion kostenlosen Moon-Reader. Für Webbrowser wie z.B. 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Der auflagenstärksten im Land. Es hatte ein Erdbeben in der ungarischen Medienszene gegeben. Der Wiener Osteuropa-Experte Paul Lendvai ist entsetzt. O-Ton – Paul Lendvai: Es war ein Mord mit Gummi-Handschuhen. Und ohne Spuren. Und dadurch wird jetzt die wichtigste Stimme der kritischen Intelligenz verstummt. Sprecher: Márton Gergely, damals stellvertretender Chefredakteur der Zeitung, spricht von einem Putsch. "Népszabadság" ist tot. Aus seiner Sicht ein Riesen-Verlust. O-Ton – Márton Gergely: Ich glaube, wir haben eine Redaktion verloren, die frei arbeitete. Ein sehr empfindlicher Teil ist jetzt mundtot gemacht worden. Ich glaube, das schadet Ungarn, das schadet der Demokratie. Und es nützt einzig und allein Orbán. Atmo: Demonstration Ansage: Medienkrieg in Ungarn, von Stephan Ozsváth. Atmo: Demonstration, Newsticker Sprecher: Klara Kovács beginnt am Morgen des 8. Oktober 2016 ihren Dienst in der OnlineRedaktion der "Népszabadság". Einst Organ der Kommunistischen Partei, hat sich das Blatt seit der Wende zu einer linksliberalen Qualitätszeitung gemausert und ist gerade umgezogen. O-Ton – Klara Kovács, darüber Übersetzerin: Am Morgen des 8.Oktober hatte ich Dienst. Das Computersystem funktionierte nicht. Ich dachte, die Informatiker hätten die Kabel herausgezogen. Ich versuchte, ins System zu kommen, nicht mal Facebook ließ mich rein. Dann dachte ich: Gut, lese ich die Mail des Chefredakteurs. Das klappte auch nicht. Und da wurde mir klar: Hier stimmt etwas nicht. Ich rufe den Online-Chef an. Der fragt: War der Bote nicht bei Dir? – Was für ein Bote ? Dann hat er den Brief vorgelesen. Ich war wie erstarrt. Denn niemand hatte uns etwas gesagt. 2 Sprecher: Der Brief ist die Beurlaubung. Und ein Maulkorb. "Népszabadság" ist trotz der niedrigen Auflage von nicht einmal 40.000 Exemplaren Spitzenreiterin in Ungarn. Denn der Markt ist klein. "Népszabadság" und ein Dutzend Regionalzeitungen gehören dem Verlag "Mediaworks". Verleger ist der Wiener Finanzinvestor Heinrich Pecina. Welche Rolle spielte die Regierungspartei Fidesz beim Verkauf des Verlages? Stellvertretender Chefredakteur der "Népszabadság" ist im Oktober noch Márton Gergely. O-Ton – Márton Gergely: Wir wussten, dass etwas mit der Firma Mediaworks bevorsteht, da sie in den letzten Wochen vier neue Regionalzeitungen kaufen konnte – mit eindeutiger Hilfe von Fidesz und den offiziellen Stellen. Und wir haben uns gedacht: Wenn Fidesz Anstalten macht, dass Mediaworks größer und profitabler wird, dann ist das wie immer – aus Eigennutz. Fidesz macht alles aus Eigennutz. Sprecher: Das sollte sich schon bald zeigen. András Pethö ist Gründer von "Direkt 36", einem Zusammenschluss von Investigativ-Journalisten aus Budapest. Wochenlang recherchierten er und seine Kollegen den Tod der "Népszabadság". O-Ton – András Pethö, darüber Übersetzer: Zwar waren alle überrascht, wie die Zeitung geschlossen wurde. Aber dass etwas mit der Zeitung passieren würde, sie unter politischen Druck geraten würde – dafür gab es schon länger Anzeichen. So gab es schon länger politisch heikle Themen, mit denen sich die Redakteure nicht in der Tiefe befassen konnten. Und aus politischen Kreisen kamen schon seit Monaten Signale, dass etwas mit dem Verlag, mit der Zeitung geschehen würde. Das heißt: Da steckte die Politik dick drin. Sprecher: In der Redaktion der "Népszabadság" hatte Verleger Pecina schon anderthalb Jahre vor dem Aus einen Maulwurf installiert. Er selbst wirft in dieser Zeit in der Redaktion Nebelkerzen. Investigativjournalist András Pethö sieht in dem Österreicher eine Schlüssel-Figur. O-Ton – András Pethö, darüber Übersetzer: Die Rolle des Besitzers Heinrich Pecina ist sehr interessant. Gegenüber seinen Angestellten und Redakteuren hat er immer wieder beteuert, an den Gerüchten, der Verlag werde an einen regierungsnahen Unternehmer verkauft, sei nichts dran. Aber wir haben ja gesehen, was dann geschehen ist. Atmo: Newsticker Sprecher: Mitte Oktober 2016 veröffentlicht die Budapester Börse auf ihrer Internet-Seite eine kurze Notiz: Mediaworks gehört jetzt Opimus – ein verschachteltes Firmengeflecht, mit Offshore-Konten auf den Seychellen. Die Fäden laufen allerdings bei einem Mann zusammen und zwar im Heimatdorf der Orbáns: Beim Bürgermeister Lörincz Mészáros. Der frühere Gasinstallateur gilt als loyaler Strohmann des Premiers 3 Orbán. Fidesz-Vize Szilárd Németh – Orbáns Mann fürs Grobe – konnte seine Schadenfreude kaum unterdrücken. O-Ton – Szilárd Németh, darüber Übersetzer: Es wurde höchste Zeit, dass Népszabadság geschlossen wird. Ich werde deshalb keine Krokodilstränen vergießen. Sprecher: Kein Wunder: Hatte die links-liberale Zeitung die Regierung doch mit vielen Enthüllungsgeschichten geärgert. Medienforscherin Ágnes Urbán beschreibt den Verlust für die ungarische Medienlandschaft so. O-Ton – Ágnes Urbán, darüber Übersetzerin: Das ist eine sehr traurige Entwicklung. Zum einen, weil jedes Blatt, das verschwindet, weniger Öffentlichkeit bedeutet. Zum anderen war "Népszabadság" die größte politische Tageszeitung im Land. Und in der letzten Zeit haben die Journalisten solche Geschichten in die Öffentlichkeit geworfen, an denen dann über Wochen auch andere Medien gearbeitet haben. Kurz: Eine ernsthafte Investigativ-Tätigkeit begann. Diesen Schaden können wir noch gar nicht ermessen. Sprecher: Der ehemalige Verleger begründete das Aus der "Népszabadság" mit den Millionenverlusten, die das Blatt verursacht habe. Regierungsnahe Zeitungen dagegen werden mit Anzeigen künstlich am Leben erhalten. Ágnes Kunhalmi, Abgeordnete der Sozialisten, sieht in dem Aus für Népszabadság eine Botschaft an alle Journalisten in Ungarn. O-Ton – Ágnes Kunhalmi, darüber Übersetzerin: Eines sollte jedem klar sein: Das was mit Népszabadság geschehen ist und mit ihren Journalisten, das kann jeden Journalisten in Ungarn betreffen. Niemand ist sicher. Was in Orbáns Ungarn geschieht, ist ohne Beispiel. Leider ist es eine Kopie der Putin-Welt in Russland. Atmo: Newsticker, Jingles-Potpourri Echo TV/TV 2/ Radio 1 Sprecher: "Népszabadság" war nur der Anfang. Getreue der Regierung gehen seitdem auf Einkaufstour. Je ein landesweiter privater Fernseh- und Radiokanal gehören jetzt einem Regierungs-Beauftragten. Orbáns Hofhistorikerin kaufte eine angesehene Wochenzeitung. Und Orbáns Duz-Freund Mészáros erweitert sein Medien-Portfolio weiter. Auch der rechtsradikale Sender "Echo TV" gehört jetzt ihm. O-Ton – Lörincz Mészáros, darüber Übersetzer: Ich will ein gutes Fernsehen machen, eines, das man anschauen kann. Eines, das die Regierung im Wahlkampf unterstützt. Sprecher: Vor der Parlamentswahl 2018 sollen offenbar möglichst viele Medien die Melodie der Regierung pfeifen. Die Begründung für die Einkaufstour lieferte Premier Orbán kürzlich im Echo TV-Studio. 4 Archivton – Victor Orbán, darüber Übersetzer: Es gibt eine Informationsverzerrung. Die Leute wissen nicht mehr: Was ist wahr, was nicht? Was will die Regierung wirklich? Worüber wurde noch nie geredet? Da gibt es eine Störung. Der Grund dafür ist, dass wir unsere Medien verloren haben. Es sind nur noch wenige Medien verblieben, die den Leuten in dieser Hinsicht helfen. Sprecher: Orbáns Sicht ist völlig verzerrt, findet Agnes Urbán: Schließlich kontrolliert die Regierung die meisten Medien und den Anzeigenmarkt. Die kritischsten Medien sind Online-Portale wie Index, Átlátszó, Direkt 36 oder 444. Sie schießen wie Pilze aus dem Boden. Aber Hauptinformationsquelle sind herkömmliche Medien – vor allem auf dem Land, meint Medien-Forscherin Ágnes Urbán. O-Ton – Ágnes Urbán, darüber Übersetzerin: Das Publikum in Ungarn informiert sich vor allem aus dem Fernsehen. RTL, TV2 und die staatlichen Kanäle sind die wichtigsten Informationsquellen. Die staatlichen Kanäle sind Sprachrohr der Regierung. Und auch TV2 sendet seit dem EigentümerWechsel Regierungspropaganda. Der Besitzer ist ein Regierungsbeauftragter. Unter den Informationsquellen mit der größten Reichweite ist RTL Klub das einzige unabhängige Medium geblieben. Sprecher: Die politische Opposition hatte der Regierung bislang das Medien-Feld überlassen. Jetzt steigen die Sozialisten wieder ein. Ein Tropfen auf den heißen Stein. Atmo: Newsticker, Klingeln Sprecher: So sehen also Kriegsgewinnler aus: Ein herunter gekommener Siedlungsbau in der Nähe des Budapester Stadtparks. Auf dem verwitterten Klingelkästchen klebt das Logo der Zeitung in Blau: "Népszava", zu Deutsch: Volksstimme. Atmo: Klingeln, Treppe Sprecher: Die Treppe ist etwas schmuddelig, an den Wänden hängen gerahmte Titelseiten aus vergangenen Zeiten. "Ungarn: Republik" lautet eine Überschrift der Nachkriegszeit. Eine Ausgabe von 1922 berichtet vom Ringen der Zeitung um die Pressefreiheit. "Népszava" ist eine sozialdemokratische Zeitung, 1877 gegründet. Berühmte ungarische Autoren wie Ady oder Kosztolányi schrieben hier. Zu Ostblock-Zeiten war sie ein Gewerkschaftsblatt. Heute ist die Auflage winzig. Chefredakteur Péter Németh hofft, die Lücke zu füllen, die das linksliberale Konkurrenzblatt hinterlassen hat. O-Ton – Péter Németh, darüber Übersetzer: Die "Népszabadság" gibt es ja nicht mehr. Davon profitieren wir. Denn auf dem Markt sind wir jetzt das einzige linke Blatt. Mit der Verantwortung und den Chancen. Ohne dass wir groß am Inhalt etwas ändern mussten, hat sich unsere verkaufte Auflage 5 verdoppelt. Wir verkaufen jetzt etwa 20.000 Stück, das ist auf dem ungarischen Markt viel. Sprecher: Eine Gruppe um den ehemaligen Schatzmeister der Sozialisten hat die Zeitung gekauft. Der Sitz des Verlages ist in Wien – denn die Investoren trauen nach eigenen Aussagen dem Rechtsstaat in Ungarn nicht mehr. Investor László Puch: O-Ton – László Puch: Die Richtung ändert sich nicht. Es wird ein Statut geben. Die Redakteure, der Chefredakteur bestimmen die Linie. Es gibt nur eine Vorgabe: Rationales Arbeiten. Eine Auflage von 30 bis 35.000, Zielgruppe: Népszabadság-Leser. Wenn die Gesamtredaktion steht und sich die Qualität des Blattes in Richtung Presse des 21. Jahrhunderts bewegt, dann kann sich die Auflage von jetzt 20.000 auf 35.000 steigern. Sprecher: Lange Zeit hatten die Sozialisten sich aus dem ungarischen Medienmarkt immer mehr zurückgezogen. Die Folge: Die Regierung dominiert den Werbemarkt, Regionalblätter, Anzeigenblätter, elektronische Medien. Péter Németh: O-Ton – Péter Németh, darüber Übersetzer: Der Einfluss der Regierung auch in der Provinz ist unglaublich gewachsen. Die heutige Regierung hält die Medien für außerordentlich wichtig. Das wissen wir schon seit Anfang der 1990er-Jahre. Viktor Orbán hat sich damals beklagt, sie hätten keine Medien, obwohl das wichtig sei. In der Hinsicht hat er viel klarere Vorstellungen über die Bedeutung der Medien als jeder Oppositionspolitiker. Sein Ziel war, sowohl in den elektronischen Medien als auch im Print-Bereich bis zu 95 Prozent des Landes abzudecken. Indem er jetzt auch die Regionalblätter aufgekauft hat, wird die Information auch auf dem Land sehr einseitig. Atmo: Abschied, Newsticker, Freitagsauftritt Viktor Orbán im Kossuth Radio Sprecher: Es ist Freitag. Im staatlichen Kossuth Radio läuft die Sendung "180 Minuten". Viktor Orbán spricht hier regelmäßig, Spötter nennen diese Auftritte "Freitagsgebet". Klára Kovács ist Nachrichten-Profi. Sie meint: O-Ton – Klára Kovács, darüber Übersetzerin: Ich würde das eher anders nennen, ich sage aber nicht wie (lacht). Es ist völlig klar, dass die Fragen vorher abgesprochen wurden, auf die sich der Ministerpräsident dann vorbereitet. Da gibt es keine Zwischenfragen nach dem Motto "Herr Ministerpräsident, Sie haben hier einen Halbsatz fallen lassen, lassen Sie mich da mal nachhaken …". Da gibt es acht Fragen, die reißt der Moderator runter und Viktor Orbán sagt das, worauf er sich vorbereitet hat. Atmo: Attila Mong 6 Sprecher: Die Sendung "180 Minuten" war nicht immer mediale Bühne für den Premier. Am Morgen, nachdem die Regierung 2010 das Mediengesetz beschlossen hatte, war sie noch ein Hort der Rebellion. Die Morgen-Crew sendete eine Schweigeminute, Moderator Attila Mong kündigte sie an. Atmo: Attila Mong Sprecher: Die Aktion war mit dem Redakteur Zsolt Bogár abgesprochen. Das hatte Folgen für beide. O-Ton – Zsolt Bogár: Schon während der Sendung habe ich einen Anruf bekommen. Der Chefredakteur kam gegen sieben Uhr und hat gefragt, ob wir irgendetwas planen, um die Sendung zu beeinflussen. Die ersten Reaktionen in der Redaktion? Offen gab es keine positiven Reaktionen. Aber in E-Mails oder SMS oder Facebook gab es doch eher positive Reaktionen der Kollegen. Viele haben einfach keinen Mut gehabt, sich dazu zu äußern. Sprecher: Die Oberen sehen das nicht ganz so positiv. Damals begannen die Säuberungswellen in den staatlichen Medien. Die Sender wurden unter einem Dach zusammengeführt. Hunderte unliebsame Redakteure wurden entlassen. Zsolt Bogár, Moderator Mong, aber auch Klára Kovács, die 13 Jahre beim ungarischen Fernsehen gearbeitet hatte. O-Ton – Klára Kovács, darüber Übersetzerin: Die blieben, die ein Blatt Papier bekamen. Die, die einen Umschlag mit einem Stoß von Papieren bekamen, flogen raus. Wir wurden in Gruppen eingeteilt, jeder hatte eine Viertelstunde. Du bist rein, hast Dich hingesetzt, vor Dir drei Leute, und dann: Du kriegst ein Papier, Du einen Umschlag. Mich hat der Sportchef rausgeschmissen. Mit dem hatte ich nie vorher zu tun gehabt. Ich fragte ihn: Sag mir mal, warum? Sagt er: Wir kennen uns ja gar nicht. Ich kann Dir nichts dazu sagen. Sprecher: Wer bleibt, bekommt einen Vertrag bei MTVA. Das ist jetzt die Nachrichten-Zentrale Ungarns. MTI, die einzige Nachrichtenagentur des Landes, liefert das Rohmaterial. Das wird dann in der Nachrichtenzentrale weiter verarbeitet. Atmo: Newsticker, János Kárpáti Sprecher: János Kárpáti erzählt von seinem beruflichen Werdegang. Der Nachrichtenredakteur hat 34 Jahre lang für MTI gearbeitet. Er hat die Wendezeit beobachtet, er war für die ungarische Nachrichtenagentur Auslandskorrespondent in Prag, Washington und zuletzt in Brüssel, erzählt er. Auch er wurde gefeuert. 7 O-Ton – János Kárpáti, darüber Übersetzer: Es gab immer mehr Vorgaben. Wenn ich zum Beispiel aus Brüssel Berichte mit Bezug zu Ungarn schickte, dann durfte die nicht jeder Redakteur bearbeiten, sondern nur bestimmte. Und die haben auch nicht selbst entschieden, sondern schickten die Texte auch weiter und warteten auf die Antwort: So kann es raus, so nicht. Ich wurde zum Beispiel kritisiert, weil ich in einem Bericht über eine Europaparlamentsdebatte mehr Sozialdemokraten und Liberale als Christdemokraten zitiert hatte. Sprecher: Ein Interview mit MTVA kommt nicht zustande. Per Mail antwortet der Pressesprecher auf die Anfrage. Zitator: "Von Seiten der MTVA können wir ein Gespräch nur unter der Bedingung führen, dass ich das Material vor der Ausstrahlung sehen kann. Und damit wir uns verstehen: Weder ich noch die öffentlich-rechtlichen Medien werden an einem Beitrag mitwirken, dessen Botschaft oder Fokus ist, dass die Pressefreiheit in Ungarn in Gefahr ist." Sprecher: MTVA will also, dass der ARD-Beitrag positiv ausfällt – schon vor Abschluss der Recherchen. Ein Kontrollversuch, sogar über das eigene Haus hinaus. Das Interview mit MTVA findet nicht statt. Atmo: Klubrádió, János Kárpáti liest die Nachrichten Sprecher: János Kárpáti hat jetzt einen neuen Job. Er spricht die Nachrichten beim Klubrádió. Eine weitere verbliebene Nische kritischer Berichterstattung. Der private Sender in Budapest macht die Nachrichten selbst. Ein Zebra hängt als Logo am Gebäude in Óbuda, dem ältesten Teil der Stadt. Im Eingangsbereich sind alte Röhrenradios hinter Glas ausgestellt – und Plaketten mit den früheren Regionalfrequenzen. Klubrádió hat jahrelang gegen die Staatliche Medienbehörde prozessiert – um eine Dauerfrequenz. Geschäftsführer András Arató erinnert sich. O-Ton – András Arató, darüber Übersetzer: In dieser Zeit ging es zwischen Medienbehörde und dem Klubrádió hin und her: Die Sendelizenz wollten sie nicht verlängern, eine andere, die wir vor dem Regierungswechsel bekommen hatten, wollten sie uns nicht geben. Es waren dreieinhalb Jahre voller Unsicherheit: Verlängern sie nun die vorübergehende 60 Tage-Lizenz oder nicht? Man kann sich vorstellen, wie viele Werbeaufträge man bekommt, wenn man dem Kunden sagt: Ich kann den Auftrag zwar annehmen, aber ich weiß nicht, ob ich die Werbung ausstrahlen kann. Sprecher: Zusammen mit dem Mediengesetz installierte die Regierung Orbán 2010 ihre Leute in der Medienbehörde. Sie vergeben Lizenzen, strafen kritische Medien ab, verhängen Bußgelder. Immerhin: Die Prozesse gegen die Medienbehörde hat Klubradio gewonnen. 8 Atmo: Jingles Klubrádió Tények és Vélemények /Ausschnitt aus Live-Sendung Sprecher: Der regierungskritische Sender kann weiter machen mit einer Sieben-Jahres-Lizenz. Aber die gilt nur noch für Budapest. Ein Dutzend Regionalfrequenzen verlor Klubrádió, auch viele Werbekunden. Eine "sanfte" Zensur, so das Meinungsforschungsinstitut "Mérték". Klubrádió-Geschäftsführer András Arató beschreibt das so: O-Ton – András Arató, darüber Übersetzer: In Ungarn gibt es keinen Medienmarkt. Den gibt es dort, wo die Produkte von Radio, Fernsehen, Print oder Online nach Marktmechanismen funktionieren: Wer überlebensfähig ist, überlebt. Wer nicht, eben nicht. In Ungarn wird der staatliche Anteil des Werbekuchens nach den Interessen der herrschenden Partei verteilt. Sprecher: So werden Regierungs-Medien künstlich beatmet. Mit Geld und kostenlosen Angeboten lassen sich auch die Nachrichtenströme in den elektronischen Medien kanalisieren. András Arató: O-Ton – András Arató, darüber Übersetzer: Man muss wissen: die staatliche Nachrichtenagentur MTI, die eine Monopolstellung hat, stellt ihre Dienste umsonst zur Verfügung, sie produziert sogar eigene Nachrichtensendungen, man muss sie nicht mal selbst sprechen. Wenn man nun auf die Lokalsender schaut, die übernehmen Eins-Zu-Eins die Nachrichten, die eher Propaganda sind. Das heißt: Sie drücken den Leuten das in die Köpfe, was die Regierung dort haben will. Atmo: Newsticker, Jingle MTV, Kossuth Radio, Duna TV etc. Sprecher: Wer das Monopol bei den Nachrichten hat, kann die Köpfe leichter kontrollieren. Das fängt bei den Redakteursköpfen an. Auch beim staatlichen Fernsehen gibt es klare Vorgaben, wie eine Meldung auszusehen hat. Bevor Klára Kovács zu "Népszabadság" ging, war die junge Budapesterin jahrelang beim staatlichen Fernseh-Sender MTV in der Nachrichten-Redaktion. Mit Orbán an der Macht kamen die Vorgaben, erzählt sie. O-Ton – Klára Kovács, darüber Übersetzerin: Bis ein Reporter zurückkam, war der Beitrag schon geschrieben. Er oder sie musste nur noch die Zitate einfügen. Und es wurde genau ausgewählt, welche Zitate das waren. Es gab auch Leute, die auf gar keinen Fall zitiert werden durften, etwa Zoltán Lomniczi, ehemaliger Verfassungsrichter und Bürgerrechtler. Warum, wurde nicht gesagt. Andere Meinungsforscher oder Politologen mussten dagegen zu Wort kommen. 9 Atmo: Proteste Sprecher: Nicht einmal vor Fälschungen schreckt das staatliche Fernsehen zurück. Als die Regierung Orbán sich selbst und die neue Verfassung in der Budapester Oper feierte, protestierten auf dem Andrássy-Boulevard draußen Tausende. Der Reporter des staatlichen Fernsehens stand in einer Seitenstraße. Dort, wo keine Demonstranten zu sehen waren. Atmo: MTV-Reportage vor Oper O-Ton – Klára Kovács, darüber Übersetzerin: Vor der Oper war alles abgesperrt. Auf der einen Seite war die Menge, auf der anderen sie. Wenn man sieht, was im Fernsehen davon ankam, dann ist das eine ausgesprochene Nachrichtenfälschung. Atmo: Newsticker, Klingel, Türöffnen, Treppensteigen Sprecher: In einem alten Mietshaus in Budapest hat eines der unkonventionellsten Medien Ungarns seinen Sitz. Draußen tost der Autoverkehr. Im Flur hängen Rennräder von der Wand. In dieser in die Jahre gekommenen Altbau-Wohnung arbeitet die Redaktion des Online-Portals 444.hu. Chefredakteur Péter Új teilt sich ein kleines Zimmer mit zwei Kollegen, einer schneidet gerade ein Video. An der Wand hängen Cover-Fotos von ungarischen Politikern. Allen haben die Redakteure Hitlerbärte aufgemalt – 444-Humor. O-Ton – Péter Új, darüber Übersetzer: Wir sind von Print zu Online geflüchtet, ich habe früher bei Népszabadság gearbeitet. Auch einige andere. Wir dachten damals schon, die Politik kommt hier zu nah ran. Wir wollten ein mutiges Medium aufbauen, das unabhängiger, außenstehend, in alle Richtungen kritischer ist. Das hat den Sound von 444 ausgemacht, eine scharfe, kritische Stimme. Sprecher: Chefredakteur Péter Új sieht aus wie ein eingefleischter Heavy-Metal-Fan: lange Haare, roter Rauschebart, massive Armkette, großer Ohrring. In den letzten Jahren sind Online-Medien wie Pilze aus dem Boden geschossen. Die Vorteile liegen auf der Hand: Sie sind nicht so teuer wie andere Medien. Sie sind schnell. Ihre Reichweite ist groß – wenn man Internet hat und damit umgehen kann. Aber, so gibt Medienforscherin Ágnes Urbán zu bedenken: O-Ton – Àgnes Urbán, darüber Übersetzerin: Es gibt Pressefreiheit in dem Sinne, dass nicht alle Medien geschlossen wurden. Es gibt nicht diese "Die-Partei-Bestimmt-Alles-Ordnung" wie vor der Wende. Aber: Die meisten Mediennutzer haben nur Zugang zu einem sehr gelenkten und manipulierten Medienangebot. 10 Atmo: Jingle-Collage Newsticker, Klubrádió, MTV … ***** 11
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