Neueste tagesaktuelle Berichte ... Interviews ... Kommentare ... Meinungen .... Textbeiträge ... Dokumente ... MA-Verlag MEDIZIN / REPORT Vorratstherapeutikum Antibiotika - Gezielte Vergaben ... Prof. Dr. rer. nat. Thomas Marlovits im Gespräch (SB) Die kleinen Teufel stecken überall: Sie tummeln sich auf der Tastatur des Rechners, im Darm, in Mund und Nase. Sie leben in der Tiefsee, im Eis der Polarregionen, auf und in Pflanzen, Tieren, Steinen, in der Luft und sogar in aktiven Vulkanen ... (S. 6) Elektronische Zeitung Schattenblick Freitag, 18. November 2016 21. Linke Literaturmesse Bilder, Medien und Dokumente ... Gabriele Senft im Gespräch Mit erhellendem Blick fürs Wesentliche Interview am 6. November 2016 in Nürnberg POLITIK / KOMMENTAR Sanktionen tabu Unser Despot am Bosporus (SB) Die Türkei ist als Mitglied der NATO, geostrategischer Brückenstaat, Wirtschaftspartner, Bollwerk der Flüchtlingsabwehr und Pufferzone am Rande des Kriegsgebiets viel zu wichtig und nützlich für die Bundesregierung Gabriele Senft und die EU, als daß man dem Re- Foto: © 2016 by Schattenblick gime Recep Tayyip Erdogans und der AKP-Regierung ernsthaft in (SB) 17. November 2016 Gadie Parade fahren würde . .. (S. 16) briele Senft widmet sich als politisch aktive Fotografin der Darstellung sozialer Widersprüche POLITIK / MEINUNGEN und staatlicher Übergriffe auf stets positionierte und eingreiIn schlechter Gesellschaft fende Weise. In der DDR aufgeRussland und der UNwachsen und dort insbesondere Menschenrechtsrat im kulturellen Leben als Be(Pressenza) Bei einer Abstimmung richterstatterin tätig zählt sie in der UN-Vollversammlung über heute zu der in der Bundesrepudie Vergabe von zwei Sitzen in der blik eher kleinen Zahl sozialistiOsteuropa-Gruppe erhielt ... (S. 19) sche und sozialrevolutionäre Geschichte ins Gedächtnis rufender und die Schattenseiten herrschender Verhältnisse sichtbar machender Fotografinnen. Aus der Tradition der Arbeiterfotografie, auf die sie sich beruft, sind verschiedene Gruppen und Organisationen hervorgegangen wie der Verband Arbeiterfotografie, R-Mediabase und die Fortschrittlichen Arbeiterfotografen, denen Gabriele Senft angehört. Auf deren Galerie [1] sind auch einige Beispiele für die Fotografie ihres Lehrers Horst Sturm zu sehen. Elektronische Zeitung Schattenblick Auf der 21. Linken Literaturmesse schilderte Gabriele Senft in einem Gespräch mit dem Schattenblick, wie sie zur Pressefotografie kam und welche Rolle der ADNFotograf Horst Sturm bei ihrem Werdegang spielte. Schattenblick (SB): Könntest du etwas zu deiner Entwicklung als Fotografin erzählen und in welcher Beziehung dies zu Horst Sturm stand? Gabriele Senft (GS): Da ich schon während der Schulzeit mit dem Fotografieren begann, wollte ich nach dem Abitur - das war jetzt wirklich in einem anderen Leben - Fotojournalistin werden. Ein möglicher Schritt dahin war ein einjähriges Volontariat beim Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienst (ADN) der DDR in Berlin. Horst Sturm war in diesem Jahr 1970/71 unser Mentor. Anschließend habe ich in Leipzig studiert mit dem Ziel, auch als Diplomjournalistin, natürlich durch das Wort, vor allem durch die Bildaussage wirken zu können. Horst Sturm, voll beschäftigter Pressefotograf der Agentur, verstand es neben seiner Reporterarbeit dennoch, und vielleicht gerade deshalb, besonders erfolgreich, uns das Fotografieren beizubringen. Dazu gehört zunächst das Beherrschen des technische Werkzeugs, vor allen Dingen hat mich aber seine Persönlichkeit und die Art und Weise, wie er an die Aufgaben heranging, geprägt. Er hat uns mit der Kamera begleitet und auch eigene Bilder gemacht. Wie er die Leute respektvoll in allen Bereichen des Lebens betrachtete und ihre Arbeit, ihr Umfeld achtete, hat mich sehr Seite 2 berührt, weil das meiner eigenen Motivation zu fotografieren sehr entgegenkam. Nach diesem Jahr Volontariat war ich vier Jahre in Leipzig an der Karl-Marx-Universität. Anschließend hatte ich das Glück, wieder in Berlin bei der Agentur anfangen zu können. Dort habe ich mich nach und nach auf die Kulturberichterstattung spezialisiert. Horst Sturm gab mir das Versprechen, mich noch eine Weile unter seine Fittiche zu nehmen und mir bei Problemen zu helfen und gab mir so Sicherheit. So konnte ich mich in Ruhe zu einer vollgültigen Pressefotografin der Agentur entwickeln, für die ich von 1975 bis 1990 unter anderem auch als Theaterfotografin tätig war. Der Verlag Wiljo Heinen, der hier auf der Messe ist, hat den Bildband Schriftsteller der DDR herausgebracht. Das ist auch ein Resümee meiner Arbeit in dieser ganzen Zeit der DDR bei Lesungen, Schriftstellerkongressen und anderen Treffen des Dialoges zwischen Schriftstellern beider deutscher Staaten. SB: Wie hat sich deine Arbeit vor dem Hintergrund, einen Blick zurück auf diese Zeit zu werfen, weiterentwickelt? GS: Die erste solcher Rückbesinnungen war eine Ausstellung mit dem Titel Jahrgang 49. Das war etwas hintersinnig, weil nur für Leute aus der DDR in doppeltem Sinn zu verstehen. Es gab in der DDR eine politisch wache Gruppe von Sängern, die sich so nannte, aber es war auch ein erste umfassende Rückschau auf mein fotografisches Wirken anlässlich meines 60. Geburtstages. Die konnte ich in Berlin, aber auch in meinem Geburtshaus in Belzig/Land Brandenburg zeigen. Eiwww.schattenblick.de ne Ausstellung in der Ladengalerie der Tageszeitung junge Welt mit Porträts aus vier Jahrzehnten, die ich Gesicht zeigen nannte, folgte. Es ging dabei um Porträts, die mir in meinem Leben wichtig erschienen, Erinnerungswert haben und auch anderen etwas geben können. Dazu entstand ein gleichnamiger Katalog im Verlag Wiljo Heinen. In diesem Jahr habe ich wieder einen Bildband zusammengestellt. Das sind nicht meine Fotografien, aber ich fühle mich ihnen sehr nah. Der Bildband ist meine Art des Dankes an Horst Sturm, der im Dezember 2015 verstorben ist. Es ist mehr als ein Katalog zu der Ausstellung, die im April bei der jungen Welt zu sehen war und später noch im KarlLiebknecht-Haus in Leipzig, Fotografien von Horst Sturm, die etwas über ihn und das Land, in dem wir lebten, aussagen. Es gibt einige Bilder von ihm, die die Leute kennen wie zum Beispiel das weltberühmte Foto aus dem Jahr 1954, Helene Weigel und Bertolt Brecht auf dem Festwagen am 1. Mai. Viele kennen Fotografien von ihm, aber der Name Horst Sturm ist ihnen noch häufig kein Begriff. Doch Menschen, die mit ihm vertraut sind, stammen nicht nur aus der DDR, er war auch in der BRD bekannt. Klaus Rose zum Beispiel war mit ihm befreundet und er hat auch Freunde in der Mongolei, in Tunesien, im Libanon, in Vietnam. Dort hat er oftmals Fotojournalisten ausgebildet, die ihn später noch besucht und geehrt haben. Er war wirklich eine außergewöhnliche pädagogische Persönlichkeit, zumal er nicht mit dem Zeigefinger lehrte, sondern vielmehr ein freundschaftlicher Ratgeber war. Das machte ihn aus. Fr, 18. November 2016 Elektronische Zeitung Schattenblick Nach seinem Tod haben im Januar diesen Jahres über 80 Menschen in einer Traueranzeige noch einmal an ihn erinnert. Im selben Monat gab es auch Beiträge und Fotoreportagen in mehreren Zeitungen wie beispielsweise in der Berliner Zeitung, UZ, junge Welt und Neues Deutschland. Das Bundesarchiv Koblenz ehrte ihn durch eine Sammlung seiner Fotografien mit eindringlichem schönen Text. Er hat in diesem Jahr posthum viele Ehrungen empfangen. Und zu einer Fotoausstellung seiner Fotografien bei der jungen Welt trafen sich viele seiner ehemaligen Kollegen und Freunde nach Jahren wieder. Er hatte schon 1946 mit dem Fotografieren wieder begonnen, hat in Berlins Trümmern gezeigt ,wie die Menschen miteinander umgegangen sind in sehr eindringlichen, von ihm fast zärtlich eingefangenen Momenten. Man merkt darin, dass er die Menschen wirklich liebte und dass viele seiner Fotografien zeitlos und aktuell bleiben. Wenn man die Bilder anschaut, kommt dieses Gefühl, wie wir es im Alltag der DDR kannten, sehr stark durch. Das ist mir gestern wieder bei meinem Vortrag hier auf der LLM zu einigen seiner Bilder aufgefallen. Wir verständigten uns da nicht nur über das geschichtliche Ereignis, sondern wodurch es wirkt, welche technischen Möglichkeiten er nutzte, also dass er eben Licht und Schatten besonders setzte, aber im Vordergrund stand die Aussage des Bildinhalts, dass die Leute eine besondere rücksichtsvolle freundliche Aufmerksamkeit hatten ihrem Leben und Umfeld gegenüber. hen begriffen war. Dies zu bewahren, gibt uns Hoffnung, dass es in Zukunft vielleicht noch einmal als Projekt aufgegriffen werden kann. Es ist ein anderes Miteinander, eine Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau und wie man mit Kindern umgeht und nicht nur mit den eigenen und wie sich Menschen verschiedener Länder gegenseitig achten. All das ist in diesem Bildband herausgearbeitet, und ich denke, dass es hier gut angekommen ist. Man hat mir jetzt angeboten, bei der RosaLuxemburg-Konferenz nächstes Jahr im Januar noch einmal einen ähnlichen Vortrag zu halten. Darauf freue ich mich sehr und hoffe, dass das klappt. Am Stand des Wiljo Heinen Verlages Foto: © 2016 by Schattenblick SB: Einmal ganz allgemein gefragt: Welche Bedeutung wurde in der Kulturpolitik der DDR dieser Art von Bildkommunikation eingeräumt? GS: Wenn ich meine Erfahrungen Die Bilder zeigen, was es so in der Agentur heranziehe, denke schon einmal gab bzw. im Entste- ich, dass die Fotografie in der Fr, 18. November 2016 www.schattenblick.de Kulturpolitik eine große Bedeutung hatte. Bei ADN befand ich mich in der täglichen Wahrnehmung zwar eher in der zweiten oder dritten Reihe. Verständlich, da es eine Nachrichtenagentur war, standen natürlich politische, staatstragende Ereignisse, so die Begegnungen der Großen aus den Regierungen verschiedener Länder im Vordergrund, der Händedruck bei Besuchen oder Verträgen, eben diese Protokollfotografie im Vordergrund. Dann kam die Wirtschaft, der Sport, der natürlich auch sehr wichtig war, aber daneben genauso die Kultur. Das war nicht so etwas wie ein fünftes Rad am Wagen. Ich war bei den Fotoproben vor Theaterpremie- ren, bei vielen Gastspielen, durfte dabei sein bei internationalen Konzerten mit berühmten Dirigenten, beim Festival des Politischen Liedes, in Ateliers von Bildhauern oder in der Kunstausstellung Dresden. Und dann gab es auch viele Volkskunstereignisse wie die Arbeiterfestspiele oder Volkskunsttage von einzelnen Bezirken (jetzt würde man Bundesländer sagen) im Palast der Republik. Und zu meinen AufgaSeite 3 Elektronische Zeitung Schattenblick ben der Fotobegleitung wichtiger kultureller Ereignisse gehörten ebenso Bildungs- und medizinische Einrichtungen sowie die Freizeit der Menschen. Es war also wichtig und umfassend, es erfasste fast alle Bereiche, wo ich mit Fotografien vieles veranschaulichen konnte. SB: Der Zugang zum Bild hat sich über die elektronischen Medien und die Informationstechnik stark gewandelt. Wie würdest du die Rolle einer ambitionierten Fotografie heute im Verhältnis zur damaligen Zeit beurteilen? GS: Es ist natürlich eine völlig andere Art. Heutzutage kann ich mein Material nicht nur vom Handy aus, sondern direkt von meiner Fotokamera in die Redaktion schicken. Dadurch ist es einerseits viel einfacher geworden, Bilder zu machen, aber andererseits ist dadurch auch die Konkurrenz angewachsen. Aber ich bin überzeugt, dass sich die Wiederspiegelung des Lebens zunehmend anschaulich über Bilder definiert. Ein Portal wie Facebook zum Beispiel nutze ich nicht dazu, von meinem eigenen Leben von früh bis abends zu künden, aber andere erwarten schon, dass ich über wichtige Ereignisse, wenn ich die Bilder davon schon nicht in einer Zeitung wie der jungen Welt unterbringe, wenigstens bei Facebook etwas davon zeige. Es gehört wesentlich zu meinem Leben, mit Fotos meine Ansicht zu den Dingen zu verdeutlichen. SB: Und wie steht es mit der Fotografie im Verhältnis zur Videokultur, die immer mehr um sich greift, hat das fotografierte Bild da überhaupt noch einen StellenSeite 4 wert oder gewinnt es möglicher- muss man abwägen, dass die Ausweise sogar an Bedeutung? sage nicht darunter leidet, - aber mehr auf keinen Fall. GS: Das sind zwei Sachen, die parallel laufen. Ich denke, vor Ort Bei einem Werbefoto für ein Buch mit Ton und Musik und dem Ver- ist das eine ganz andere Sache, lauf und allem präsent zu sein, aber wir reden jetzt über den dostellt zunächst einmal ein sehr kumentarischen Charakter eines wichtiges Dokument dar, aber im Fotos, und da ist nur ein minimalFoto kann man die Facetten, die ster Eingriff zulässig. Um das, in einer Sekunde stecken, in Ru- was man erlebt hat, eindringlich he und noch einmal eindringlicher zu gestalten, kann man mit Licht betrachten und bewerten. Beides und Schatten arbeiten, aber man hat also seine Berechtigung. darf keine anderen Personen hinzunehmen oder das Geschehen an SB: Heute gehört die Nachbear- einen anderen Ort verlagern. Das beitung am Computer eigentlich ist für mich unzulässig, es verzum Foto dazu. Wie siehst du fälscht die Authentizität und auch als Dokumentaristin den schadet dem Ereignis. Das Bild Einsatz bildverändernder Verfah- wäre nicht mehr glaubhaft. ren in bezug auf das Fotografieren? SB: Spätestens seit der Weimarer Republik gibt es in Deutschland GS: Eingriffe in das eigentliche die Tradition der ArbeiterfotograGeschehen der Reportagefotogra- fie, die der Arbeiterbewegung anfie sind für mich verboten. Ein- gehörte und aus ihrem Blickwinflussnahme finde ich insoweit le- kel heraus fotografierte. Hat es gitim, dass ich einen Horizont ge- dazu etwas Entsprechendes in der rade rücke, etwas Wesentliches DDR gegeben? aufhelle oder etwas Unwesentliches abdunkle, so wie es auch im GS: In der DDR wurde keine neue Labor üblich war. Und ich denke, Vereinigung Arbeiterfotografie es ist gestattet, bei einer Moment- gegründet, obwohl es ehemalige aufnahme etwas zufällig Stören- Arbeiterfotografen gab, die, wenn des, jedoch für die Bildaussage sie noch im Besitz einer Kamera Belangloses wegzuretuschieren. waren, gleich nach dem Krieg Ein Beispiel dazu: Wenn einer vor weiter fotografierten. Neben dem Laternenpfahl steht und man Horst Sturm möchte ich da auch hat die Laterne so unglücklich er- die bekannte Fotografin Eva wischt, daß sie ihm auf dem Foto Kemlein nennen, die ich auch zu aus dem Kopf herauswächst - das meinen Freundinnen rechnen würde man in natura und im Film konnte. Oder der Arbeiterfotograf ja nicht sehen und man hätte einen Erich Rinka, der wirkte auch in halben Schritt zur Seite machen der DDR und von ihm gibt es können, es zu vermeiden, jedoch einen aussagekräftigen Film über diese Zeit nimmt man sich nicht- die historische Arbeiterfotografie. , solche Sachen können meiner Eugen Heilig, in den 20er Jahren Meinung nach bei der Fotobear- Mitbegründer der historischen beitung korrigiert werden, wenn Arbeiterfotografie, gab die Mites nicht auf die Sekunde des Er- gliederzeitschrift Arbeiterfotograf eignisses angekommen war. Das heraus. Die leitete damals die Arwww.schattenblick.de Fr, 18. November 2016 Elektronische Zeitung Schattenblick beiter praktisch an, half, technische oder auch ästhetische Grundsätze zu erlernen und sich darüber auszutauschen. Sein Sohn Walter Heilig leitete nach 1945 den Illus-Bilderdienst, aus dem später ADN-Zentralbild hervorging und er gewann 1949 Horst Sturm als Berichterstatter. Die Grundsätze der Arbeiterfotografie wurden bei der Agentur, soweit das in der täglichen Berichterstattung möglich war, berücksichtigt. Praktisch eine Generation später, 1970, hat Walter Heilig mich eingestellt. So gab es in gewisser Weise auch für mich von Anfang an eine Verbindung zu den Arbeiterfotografen. Fotografin Tina Modotti zum Beispiel, ist auch in der Arbeiterbewegung bekannt. Sie hat über ein halbes Jahr bei den Heiligs in Berlin gewohnt und in dieser Zeit auch Bilder für die Arbeiterfotografie, für die Arbeiter Illustrierte Zeitung gemacht. Ich fühle mich dieser Tradition der historischen Arbeiterfotografie sehr verbunden, obwohl meine Eltern keine Arbeiter waren und ich als Fotojournalistin das Ganze eigentlich nur aus der geschichtlichen Perspektive beobachten konnte. Das Thema einer Neugründung Arbeiterfotografie stand in der DDR nie wirklich zur Debatte, weil es dort andere Möglichkeiten gab wie Arbeitsgemeinschaften und Fotozirkel beim Kulturbund. Auch ich habe in einem solchen Fotozirkel des Kulturbunds während der Schulzeit in meiner Heimatstadt Luckau erste Fähigkeiten im Fotolabor und bei gemeinsamen Ausflügen gelernt. In der BRD hat man dann 1978 in Essen mit der Gründung eines Bundesverbandes Arbeiterfotografie diese Tradition der hiFr, 18. November 2016 Bücher von Gabriele Senft am Stand des Wiljo Heinen Verlages Fotos: 2016 by Schattenblick www.schattenblick.de → INFO POOL → DIE BRILLE → REPORT: Berichte und Interviews zur 21. Lin ken Literaturmesse in Nürnberg im Schattenblick unter http://www.schattenblick.de/ infopool/dbrille/report/ dbri0079.html BERICHT/059: storischen Arbeiterfotografie wie- 21. Linke Literaturmesse und nicht vergessen ... (1) (SB) derbeleben wollen. BERICHT/060: Linke Literaturmesse SB: Gabriele, vielen Dank für das 21. und nicht vergessen ... (2) (SB) Gespräch. INTERVIEW/077: 21. Linke Literaturmesse - Debattenknigge ... Walter Bauer im Gespräch (SB) Anmerkung: INTERVIEW/078: 21. Linke Litera[1] http://www.arbeiterfotograturmesse - Aktionskunst kollektiv ... fen.de/galerie/index.php?/category/91 Bernd Langer im Gespräch (SB) www.schattenblick.de Seite 5 Elektronische Zeitung Schattenblick MEDIZIN / REPORT / INTERVIEW Vorratstherapeutikum Antibiotika - Gezielte Vergaben ... Prof. Dr. rer. nat. Thomas Marlovits im Gespräch "Antibiotika Stumpfe Waffen?" Diskussionsveranstaltung auf Einladung des Zentrums für Strukturelle Systembiologie (CSSB) und der Akademie der Wissenschaften in Hamburg am 8. November 2016 im Lichthof des Altbaus der Staats und Universitätsbibliothek Hamburg Prof. Thomas Marlovits über den Aufbruch in neue Welten des Mikro und Nanokosmos und wie man über die Schönheit der Strukturen einerseits fasziniert sein kann, um gleichzeitig ihre tödliche Funktionalität in eine Waffe gegen Krankheitserreger umzukehren ... Harmloser Anblick unter dem Elektronenmikroskop effektive und manchmal todbringende Überlebensstrategien Fotos: © HZI Die kleinen Teufel stecken überall: Sie tummeln sich auf der Tastatur des Rechners, im Darm, in Mund und Nase. Sie leben in der Tiefsee, im Eis der Polarregionen, auf und in Pflanzen, Tieren, Steinen, in der Luft und sogar in aktiven Vulkanen. Doch sind nicht einmal alle mikrobiellen Organismen bekannt, die den menschlichen Körper besiedeln. Ohne seine bakteriellen Mitbewohner wäre dieser zwei Kilogramm leichter, schätzt man und allein in einem Teelöffel Erde können mindestens 100.000 Bakterien Platz finden - die restlichen Mikroorganismen (Hefen und Pilze) nicht mitgerechnet. Wären sie alle pathogene Keime oder von ähnlichen Macht- oder Herrschafts-In(SB) 17. November 2016 Seite 6 teressen gelenkt und getrieben wie die Spezies Mensch, dann hätte die menschliche Rasse keine Chance. Denn die Überlebensstrategie pathogener Bakterien auf Kosten ihres Wirts ist effektiv und tödlich: Unter günstigen Bedingungen vermehren sie sich nur. Sobald ihre Population aber eine "kritische Masse" überschritten, die Anzahl der Keime eine spezifische Größe erreicht hat, erfolgt der eigentliche Angriff: Gifte werden ausgeschüttet. Manche Bakterien haben dafür sogar ein spezielles Injektionsbesteck parat. Erst wenn es in der Regel zu spät ist, bemerkt der Körper die Invasion - und wird mit der Vielzahl der Herde kaum noch fertig. Gegen solche Tücke hat der Mensch keine eigene www.schattenblick.de Waffe aufzubieten. Als es ihm dann gelang, die Abwehrmechanismen anderer Mikroorganismen als Antibiotika zu nutzen, wie das Toxin des Schimmelpilzes, Penicillium chrysogenum, schien sich das Blatt zu wenden. Inzwischen zeigt sich, daß die fremdartigen Organismen in Hinsicht auf das langfristige Überleben und der Selbstbehauptung in dieser Welt noch weitere, extrem wirksame Strategien auf Lager haben. Durch die rasche Vermehrung und ein reiches Angebot an Mutationen und die Möglichkeit, durch Plasmide hilfreiche Stoffwechselanpassungen an andere Bakterienarten weiterzugeben, sind sie in der Lage, sich auf Gifte einzustellen und sie sogar als Fr, 18. November 2016 Elektronische Zeitung Schattenblick selektionsfördendes Hilfsmittel zur Selbstoptimierung zu nutzen. Die gefürchtete Resistenzenbildung war Thema der Podiumsdiskussion, zu der die Akademie der Wissenschaften in Hamburg gemeinsam mit dem neuen Zentrum für Strukturelle Systembiologie CSSB eingeladen hatten. [1] Jährlich sterben allein in der Europäischen Union 25.000 Menschen aufgrund von Antibiotikaresistenz, schätzt das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) in einer gemeinsamen Studie mit der Europäischen Arzneimittelagentur (EMEA). [2] Befürchtet wird, daß sich altbekannte und auch neu auftretende Infektionskrankheiten verstärkt ausbreiten könnten. Während vor allem regulatorische und finanzielle Rahmenbedingungen diskutiert werden, um den leichtfertigen Umgang mit der ehemaligen Wunderwaffe einzuschränken und ausreichend wirksame "Reservestoffe" für den Ernstfall zurückzulegen, sehen manche Wissenschaftler und Forscher auch ein Defizit zwischen der akademischen Grundlagenforschung, die an einem bestimmten Punkt endet, und der Industrieforschung, die erst viel später in die Entwicklung von Arzneimitteln einsteigen möchte. Die mühevolle und kostspielige Kleinarbeit, die nicht finanziert wird, könnte ein wenig diskutierter Grund für die Versorgungslücke sein. neue Grundlagen, neue Angriffspunkte, die dann in eine weitere Entwicklung geführt werden können. SB: Suchen Sie nach ähnlichen molekularen Strukturen wie dem eindrucksvollen Beispiel der nanoskaligen Injektionsnadeln, das Frau Prof. Dersch auf dem Podium erwähnte [3], mit denen Bakterien ihre Wirtszellen angreifen? "Wenn ich weiß, wie die einzelnen Bausteine zusammenarbeiten, die in der dreidimensionalen Struktur dieser Nadel verkörpert sind, dann kann ich die Funktionalität dieser Nadel ausschalten." (Prof. Thomas Marlovits) Foto: © 2016 by Schattenblick dem stellvertretenden Direktor des CSSB, einer neuen Forschungskooperation, die durch interdisziplinäre Bündelung und einen gemeinsamen Ansatz solche Lücken überbrücken möchte. Schattenblick (SB): Herr Prof. Marlovits, werden an dem von Prof. Wilmanns, Prof. Meier und Ihnen geleiteten Zentrum für strukturelle Systembiologie auch Antibiotika erforscht? Welche Verbindung besteht zwischen Ihrer Forschung und dem Thema des heutigen Abends? Thomas Marlovits (TM): Unsere Mission besteht eigentlich darin, Erkenntnisse in die Welt zu bringen, das heißt auch neue Erkenntnisse darüber, wie InfektionsweIm Rahmen der Veranstaltung ge ablaufen. Wir sind nicht primär sprach der Schattenblick mit Prof. da, um dann Antibiotika daraus zu Dr. rer. nat. Thomas Marlovits, entwickeln, sondern wir schaffen Fr, 18. November 2016 www.schattenblick.de TM: Ganz genau. Dieses Thema, das jetzt auch vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung aufgegriffen wurde, stammt ursprünglich aus unserem Labor. Wir haben die Nadel entdeckt - die schaut tatsächlich genau so aus wie eine Injektionsnadel - und nun wollen wir wissen, wie genau denn eigentlich so eine Injektionsmaschine funktioniert, wie sie sich zu einer funktionalen Einheit aufbaut. Denn wenn wir das wissen, dann können wir auch etwas dagegen oder - in einem anderen Fall vielleicht auch etwas dafür tun. Das ist genau genommen unser Ansatz dahinter. SB: In welchem Verhältnis stehen dabei in Ihrem Zentrum Grundlagenforschung und die anwendungsbezogene Forschung? TM: Das Centre for Structural Systems Biology, CSSB, als solches hat die Mission, ausschließlich Grundlagenforschung zu machen. Sein Pendant, das DZIF, das Deutsche Zentrum für Infektionsforschung, hat dagegen das ausschließliche Ziel, anwendungsorientierte Forschung zu machen. Und wichtig, glaube ich, wird es für uns in Zukunft werden, hier Seite 7 Elektronische Zeitung Schattenblick "Irgendwann kommt man zu dem Punkt, da sagt man, jetzt muß ich dieses Ding mal sehen." (Prof. Marlovits) Grafik: 2014 by Abrusci, McDowell, Lea, Johnson open access ar ticle under CCBY licence.(http://creativecommons.org/licen ses/by/3.0/), via Elsevier sponsored document aus: Curr Opin Struct Biol. 2014 Apr;25(100): 111117. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4045390/#__refli stid847620titl Brücken zu schlagen, das heißt zunächst die Kommunikation zwischen Grundlagenforschung und Anwendung aufzubauen, um das zu garantieren. TM: Das Konstrukt, zehn Partner an einen Tisch zu bringen, ist an sich schon ungewöhnlich. Wenn das ein Erfolg wird, dann ist das allein der Organisationsstruktur zu verdanken. Die Idee war ursprünglich - und jetzt muß ich die Idee der Gründerväter aufgreifen, wie sie mir mitgeteilt wurde -, ein übergreifendes Zentrum zu haben, in dem die Forschungspartner, unabhängig von der Lokalisation der jeweiligen Mutterinstitution, ein Thema belegen. SB: Das CSSB ist eine Kooperation von einer Anzahl unterschiedlichster wissenschaftlicher Institutionen aus Norddeutschland, darunter drei Universitäten und sechs außeruniversitäre Forschungseinrichtungen. Warum schien so vielen unterschiedlichen Partnern ein spezielles Zentrum für die Bündelung der Infek- Und das Thema Infektionsbiolotions- und Immunforschung not- gie paßt einfach ganz gut zu wendig und sinnvoll? Hamburg, allein schon aus TraSeite 8 www.schattenblick.de dition. Denn in Hamburg haben wir auf der einen Seite das Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin (BNITM) und dann das Heinrich-Pette-Institut (HPI) mit dem speziellen Fokus auf virale Infektionen. Allein schon die Lage in der Nähe eines internationalen Hafens war sicher prädestiniert für die Entwicklung des ersten infektionsbiologischen Forschungsinstituts hier in Hamburg. Und das UKE (Universitätsklinikum Eppendorf) ist mit seiner Behandlungstechnik international bekannt und angesehen. Und schließlich war der Standort DESY naheliegend, um all das zusammenzubringen, da unser Schwerpunkt die Strukturelle Systembiologie ist, unser Ansatz also darin liegt, molekulare Strukturen in ihrer Dreidimensionalität zu verstehen, um daraus abzuleiten, wie sie funktionieren, und DESY einer der weltweit besten Plätze ist, um Fr, 18. November 2016 Elektronische Zeitung Schattenblick solche Strukturen analysieren zu sen. Das sind Hochdurchsatzverkönnen. fahren, bei denen eine Reihe von organischen Stoffen, möglichen SB: Nun weiß man bereits seit potentiellen Medikamenten oder mindestens zwanzig Jahren, daß Grundstrukturen davon, auf ihre durch das Auftreten von Resisten- diesbezügliche Funktionalität gezen eine Lücke in der Antibiotika- testet werden. Zum Beispiel unversorgung und Arzneimittelent- tersucht man ihre inhibierende wicklung zu erwarten ist. Inwie- Wirkung. weit war das ein Argument dafür, sich in einer Kooperative zusam- SB: Das heißt, man schaut nach, menzuschließen und Kräfte und ob sie der passende Stöpsel Wissen gewissermaßen zu bün- sind, der die Injektionsnadel verdeln? schließt? TM: Primär war das kein Grund, den ich unterschreiben könnte, weil die Mission des CSSB ausschließlich in dem Herbeibringen neuer Erkenntnisse liegt. Uns geht es nicht in erster Linie darum, ein Zielmolekül erkannt zu haben, um dagegen ein Medikament zu entwickeln, sondern überhaupt darum, neue Systeme zu erkennen und zu erforschen, die in der Infektion essentiell eine Rolle spielen, wie etwa diese Nadel. Doch wenn ich weiß, wie die einzelnen Bausteine zusammenarbeiten, die in der dreidimensionalen Struktur dieser Nadel verkörpert sind, dann kann man ihre Funktionalität ausschalten und wird nicht mehr infiziert. Das heißt, es läßt sich möglicherweise mit einem neu entwickelten Medikament Sand ins Getriebe bringen, im wahrsten Sinne des Wortes. SB: Haben Sie das entsprechende Stopfmaterial für die Kanüle denn schon gefunden? Wurde die winzige Injektionsmaschine schon mal ausgeschaltet? TM: Ja, nicht am CSSB, aber noch während meiner Tätigkeit in Wien haben wir einige sogenannte chemische Screens laufen lasFr, 18. November 2016 TM: Genau. Dazu gibt es einerseits regelrechte chemische Bibliotheken im Besitz von Unternehmen, andererseits stehen dafür auch schon öffentlich zugängliche Bibliotheken zur Verfügung. Und damit können wir hunderttausend Substanzen testen, ob sie tatsächlich einen Effekt zeigen. In der Regel sind die Effekte sehr gering, wenn sie überhaupt aufscheinen. Aber was man daraus ableitet, sind sozusagen die ersten chemischen Leitstrukturen, das heißt dreidimensionale Strukturen eines Moleküls, die gegenüber der bakteriellen Nadel beispielsweise einen Effekt zeigen. Leider ist das Thema in der Podiumsdiskussion etwas zu kurz gekommen, denn dort hört normalerweise die akademische Forschung auf. Die Industrieforschung möchte erst sehr viel später einsteigen. Die Brücke, die man hier schlagen müßte, besteht darin, diese vorläufigen Leitstrukturen zu verwenden und in die Hände eines medizinischen Chemikers zu geben, der gezielt versucht, sie an einigen Stellen zu verändern. Dann stellt man fest, ob die Moleküle in ihrer inhibierenden Wirkung potenter oder weniger potent geworden sind. www.schattenblick.de Das ist ein ausgesprochen zeitund kostenintensiver Entwicklungsschritt hin zu einem effektiven Wirkstoff, der, wie gesagt, von der akademischen Forschung in der Regel nicht mehr abgedeckt werden kann. SB: Diese Veränderungen an der chemischen Struktur und auch das Überprüfen der Wirkung finden gewissermaßen am Bildschirm im Modell statt. Lassen sich daraus denn tatsächlich neue Zusammenhänge erkennen, von denen man nicht bereits bei der Programmierung oder der dazu notwendigen Vorermittlung ausgegangen ist? Ergibt sich ein Erkenntnisgewinn allein aus der Beobachtung oder aus der Darstellung von dreidimensionalen Molekülen? TM: Ja. Der Ansatz in der sogenannten Strukturbiologie besteht darin, nicht das Erhalten der dreidimensionalen Struktur als Endpunkt einer Forschung anzusehen, sondern vielmehr als eine besser ausformulierte Arbeitshypothese. Bis man tatsächlich eine dreidimensionale Struktur darstellt, werden sehr viele biochemische und molekularbiologische Experimente gemacht. Irgendwann kommt man zu dem Punkt, daß man sagt, es gibt so viele Möglichkeiten, ich weiß ungefähr, wie das funktionieren könnte, aber ich muß dieses Ding mal sehen. Und erst dann, wenn ich es sehe, kann ich einerseits überrascht sein, weil es vielleicht ein völlig anderes, noch ganz unbekanntes Konzept ergibt, oder es ist erwartungsgemäß eines, das man vielleicht schon mal irgendwo gesehen hat und sich in diese Reihe eingliedert. Seite 9 Elektronische Zeitung Schattenblick Sobald man ein neues Konzept in der dreidimensionalen Darstellung hat, beginnt man wiederum eine Arbeitshypothese aufzustellen und fragt: Wie funktioniert das? Wozu dient dieser oder jener Teil in der Gesamtfunktionalität? Und dann beginnt man erneut Experimente um diese Fragestellung herum, um genau das festzustellen. Das ist die Mission des CSSBs, es geht um den ganzen Zyklus: Wir haben zunächst Systeme, die zum Beispiel ein Genom kodieren, die Codes werden umgesetzt in Proteine, die Strukturen aufbauen, die eine Funktion haben, etwa diese Nadel für den initialen Infektionsprozeß zu bilden, und dann versuchen wir schließlich, die Details dieser Nadel noch genauer kennenzulernen. SB: Sie sagten vorhin, daß bei der Wahl des Standortes des CSSB auch die Nähe des DESY eine große Rolle gespielt hat, weil es eines der besten Einrichtungen für die Strukturaufklärung darstellt. Was leistet die physikalische Grundlagenforschung für die Biologie? TM: Zum einen bietet der DESYCampus die nötigen Infrastrukturen. Das sind die sogenannten Streamlines, die beispielsweise verwendet werden, um Streubilder aus Kristallen zu machen oder um dreidimensionale Strukturen zu berechnen, das ist das eine. Zum anderen ist DESY der Standort, der für den Bau des sogenannten freien Elektronen-Lasers von einem internationalen Konsortium ausgewählt wurde. Es gibt momentan einen in Standford, doch hier in Hamburg wird eigentlich der weltstärkste Laser gebaut. Man erhofft sich, mit dieSeite 10 sem Laser vielleicht auch noch schneller und genauer dynamische Prozesse von solchen Molekülkomplexen analysieren zu können. Es wird sich zeigen, ob das tatsächlich machbar sein wird oder nicht, denn noch sind es theoretische Konzepte. Darüber hinaus gibt es natürlich andere Initiativen, die für die Biologie dort durchaus interessant sind. Da gibt es Bereiche aus der Nano-Wissenschaft und Ideen, die chemischen Institute zu bündeln, chemische Biologie zu machen, das also zu ermöglichen, was ich vorhin über medizinische Chemie gesagt habe, die hier eine enge Schnittstelle haben. Das allein ist eine Chance. Die Frage ist, wie sie genutzt wird: Gibt es Mechanismen, die es ermöglichen, daß sich ein Physiker für biologische Fragestellungen begeistert und auch umgekehrt? Eines der spannendsten Elemente in der biologischen Forschung ist durchaus, daß ihre Erkenntnisse - im Grunde gilt das für die ganze naturwissenschaftliche Forschung - durch die Entwicklung neuer Technologien generiert und weiter vorangetrieben werden und daß ein Biologe plötzlich eine Idee entwickelt, welche Technologien gebraucht werden, um das zu bearbeiten. Man entwickelt vielleicht ein solches Gerät, macht damit die nötige Analyse und kommt dann plötzlich auf neue Fragen oder andere Dinge, die man vorher überhaupt nicht gesehen hat. Das heißt, es kommt ein neuer Schwung an biologischen Forschungsaufgaben auf einen zu, und wenn man ein Umfeld schafft, wo sich diese beiden paritätisch zueinander entwickeln können, dann kann daraus nur eine sehr fruchtbare und spannende Forschung entstehen. Aber insgesamt gesehen würde ich sagen: Die meisten Dinge in der Wissenschaft passieren immer dort, wo Leute zusammenkommen, die einen unterschiedlichen Hintergrund haben und sich Gedanken über ein und das gleiche Problem machen, es aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Wenn sie ins Reden kommen, so einfach und so banal das jetzt klingen mag, erkennt man vielleicht eher neue Konzepte und schafft es, tatsächlich, einen Paradigmenwechsel in der Forschung durchzusetzen. SB: In den biomedizinischen Beschreibungen werden häufiger SB: Dieser interdisziplinäre An- Begriffe wie Abwehr und Einsatz scheint überhaupt der neue dringen verwendet oder es wird Trend in der Forschung zu sein? sogar vom Austricksen in der Immunabwehr gesprochen. Gehen TM: Jeder fühlt sich in seiner Sie als Strukturbiologe eher von Community, seinem gewohnten einem absichtsvollen Handeln der Umfeld, normalerweise wohl. Mikroorganismen, der Bakterien Doch in dem Moment, wo man an oder Viren aus oder sind das für seine Grenzen stößt, wird es inter- Sie alles rein biochemische Reakessant. Und jetzt verpflanzt man tionen, die nach einem festgelegsozusagen ein biologisches The- ten Programm ablaufen aufgrund ma mit seinen Technologien mit- von welchen Kräften auch imten auf einen Physiker-Campus. mer? www.schattenblick.de Fr, 18. November 2016 Elektronische Zeitung Schattenblick TM: Grundlegend gehe ich davon aus, daß das schon ein Programm ist. Was wir als Lebewesen sehen, ist ja genau genommen die Geschichte einer ganzen Evolution, die dahinter steht. Und je nach Umwelteinflüssen hat dieser Organismus ein gewisses Potential, sich in die eine oder andere Richtung weiterzuentwickeln. In den Mikroorganismen geht dieses Grundprinzip einfach viel schneller voran. In der schnellen Generationszeit, das heißt, so alle 30 Minuten, also relativ kurz gesehen, habe ich eine Tochterzelle. Heute haben wir über Antibiotika gesprochen, genau genommen, was man macht, wenn man zu lange Antibiotika gibt. Das ist ein Experiment, ein Selektionsprozeß. Ich verändere die Umweltbedingungen und ermögliche, daß sich dann vielleicht nur ein Teil davon multiresistent weiterentwickelt. Das ist eine Antwort auf die Umgebung. Die Möglichkeit, sie zu geben, steckt in der Evolutionshistorie, eingebaut in den Genomen. Antibiotika zu geben ist ein Experi ment, ein künstlich initierter Selekti onsprozeß. Foto: © 2016 by Schattenblick den Molekülen, die in der Regel nicht alleine in unserem Körper, in den Zellen, arbeiten. Das heißt, sie brauchen andere, um vielleicht eine feste "Interaktion" einzugehen, also einen Partner für sich zu finden. Wenn sich ein paar Verschiedenartige binden, kann sich eine Struktur ausbilden, die die eine oder andere chemische Reaktion ermöglicht oder erlaubt. Und wenn es einen Weg gibt, das aufs Genom rückzukoppeln, dann kann sich ein Organismus in die eine oder andere Richtung hin weiterentwickeln. Nanomaschinen sagen wir dann deswegen, weil die Komponentensysteme Bindungsflächen haben. Das sind in der Regel Proteine, die durch bestimmte Muster schon zusammenpassen, die aufeinander abgestimmt sind und dann ein größeres Gebilde zusammensetzen. SB: Würden Sie einen Begriffwie "austricksen" eher als pseudowissenschaftlich ansehen oder als ein Mittel, sich in der Öffentlichkeit irgendwie verständlich zu machen? SB: Ein anderer Blickwinkel auf Ihre Forschung ist ein sehr mechanischer. Im Titel Ihrer nächsten Arbeit geht es um Nanomaschinen. Kann man denn pathogene Mikroorganismen tatsächlich auf solche Mechanik reduzieren? SB: Ich habe Nanomaschinen immer so verstanden, daß es mechanische Einheiten sind, nur eben sehr klein. Bei mechanischen Maschinen stelle ich mir dann eine Regelmäßigkeit vor: Ein Zahnrädchen greift in das nächste. Aber gleichzeitig handelt es sich ja um biologische Systeme. Gibt es dabei auch Reaktionen, die aus dem Ruder laufen, die man nicht vorhersagen kann? Und wird so etwas mit einkalkuliert? TM: Nein, das ist die Möglichkeit der Reaktionsfähigkeit. Man darf nicht vergessen, daß wir fertige Systeme untersuchen, wir sind Teil der Evolution, noch mitten im ganzen Prozeß. Das ist ein Teil des Lebens. Das heißt, manches Mal verstehen wir nicht, wie sich neue Dinge entwickeln können. Es gibt Theorien, die sagen, es müsse zu kleinen Veränderungen in Teilaspekten kommen, bis TM: Wo kommt der Begriff der Nanomaschine eigentlich her, das sind ja zwei Dinge, die Maschine und das Nano. Nano kommt durch die Größeneinheit, durch die Kleinheit, in der wir uns gerade befinden. Für die Maschine kann man im Prinzip eine Analogie zum Auto sehen. Ich habe hunderte von Einzelteilen, die zusammen eine funktionale Einheit ergeben. Und so ähnlich ist das mit TM: Ich würde eher sagen, es wird nicht einkalkuliert, sondern vielleicht sogar bewußt eingesetzt, indem wir zum Beispiel Mutationen einführen, Veränderungen in einzelnen, kleinen Stellen. Wenn ich eine bestimmte Arbeitshypothese verfolge, ist das ein grundlegendes Prinzip, um festzustellen, wie diese Struktur ausschaut. Genauer gesagt: Wenn ich glaube, daß genau da eine be- Fr, 18. November 2016 plötzlich wieder ein neues System gebaut wird. Aber es bedarf immer dieses Selektionsprozesses, den man auch mit sich nimmt. www.schattenblick.de Seite 11 Elektronische Zeitung Schattenblick stimmte chemische Reaktion ablaufen müßte oder daß dieser Teil wichtig ist, dann versuche ich genau diesen Teil spezifisch zu ändern. Und sobald ich eine gewisse Auflösung habe und weiß, welche Aminosäure, die Teil dieses Proteins ist, an dieser Stelle sitzt, kann ich das aufs Genom zurückführen und mir ansehen, wie das kodiert ist. Ich verändere es durch eine bewußt eingeführte Mutation genau an dieser Stelle und verändere diese Aminosäure x zu einer Aminosäure y, die andere Eigenschaften hat und dann stelle ich experimentell die Frage: Hat sich die Funktion nun verändert oder nicht? Es ist ein zusätzlicher Erkenntnisgewinn, wo sich diese "aktive Stelle", wie wir sie nennen, zum Beispiel im Enzymkomplex befindet. SB: Haben Sie schon mal etwas gefunden, was Sie selber total überrascht hat? TM: Ja, wenn man zum ersten Mal diese Nadelkomplexe sieht, das glaubt man nicht. Das sieht aus wie eine korinthische Säule, wirklich ästhetisch, ein wunderschönes Ding. Ich kann Ihnen sagen, was ich gemacht habe, als ich sie zum ersten Mal im Mikroskop sah: Ich habe mir gesagt "okay" und dann den Elektronenstrahl abgestellt, mir einen Kaffee geholt, ihn wieder angeschaltet und mir die Frage gestellt: Ist das noch da oder nicht? Ich meine, das sind ganz einfache Dinge und es ist auch eine entscheidende Phase nicht nur in dem Erkenntnis-, sondern in dem Entdeckungsprozeß, denn das sind zum ersten Mal die ersten beiden Augen weltweit, die dieses Ding sehen - ein sehr privater Seite 12 Was an unentwirrbare Wollhaufen oder Luftschlangen erinnert, sind sogenannte Proteinbausteine, deren Strukturen bereits aus verschie denen anderen Bakterien isoliert und aufgeklärt worden sind und im Modell neu zu funktionellen Einheiten einer ganz anderen Spezies zu sammengesetzt werden. Grafik: 2014 by Abrusci, McDowell, Lea, Johnson open access article under CCBY licence.(http://creativecommons.org/licen ses/by/3.0/), via Elsevier sponsored document aus: Curr Opin Struct Biol. 2014 Apr;25(100): 111117. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4045390/#__refli stid847620titl www.schattenblick.de Fr, 18. November 2016 Elektronische Zeitung Schattenblick Moment auch, wo man sich vielleicht ein paar Minuten zurückzieht und es genießt, daß man sagen kann: Das ist jetzt meine Zeit. SB: Haben Sie in dem Moment die Bedeutung geahnt, daß es was Fundamentales ist? TM: Die Bedeutung kennt man noch nicht so wirklich, aber man hat natürlich das Gefühl, man befindet sich auf einer interessanten Spur. Ich selber bin ein bißchen architekturaffin und da kommt mir durch die Strukturbiologie, auch wenn sie sich in einem anderen Maßstab abspielt, sehr gelegen, mir darüber Gedanken zu machen, wie sich Funktionalität über die Struktur definiert. Ein Auto fährt nur, weil es so gebaut ist. Das heißt nicht, daß das die einzige Lösung ist, Autos gerade so zu bauen. Oder der Körper, den wir haben, mit seinem Skelett, das uns erlaubt, geradeaus zu gehen: Würden wir heute ein Skelett neu bauen, würden wir das nie so anlegen wie unseres gewachsen ist. Der aufrechte Gang hat andere Probleme mit sich gebracht. Statt dessen würden wir das haltgebende Gerüst des Körpers wunderschön gleichmäßig in der Mitte anordnen. Man lebt sozusagen mit dieser Bürde, die die Evolution mit sich bringt. SB: In welche Richtung müßte Ihrer Meinung nach die pharmazeutische Forschung und die Medizin gehen, was Antibiotika und vielleicht auch generell Ihre Forschung betrifft? TM: Ich glaube, es wäre wichtig, wenn die einzelnen Vertreter in diesen Disziplinen noch viel mehr miteinander sprechen beziehungsweise in Kontakt treten Fr, 18. November 2016 können. Für mich wäre es spannend, auch Patienten zu sehen und die Notwendigkeiten, die ein Arzt als wichtig empfindet, weil ich auch glaube, daß das auf unsere Forschungsaktivität einen direkten Einfluß haben kann, genauso auch die Interaktion mit der pharmazeutischen Industrie. Als akademischer Forscher hat man in der Regel überhaupt keine Ahnung, wie die Prozesse in der Industrie ablaufen und was deren Herausforderungen sind, die superspannend sein können, aber sie sind einfach anders gelagert. Und gegenseitiges Verständnis, genau genommen miteinander sprechen kann hier sehr viele Barrieren senken zum Wohle der Gesamtheit. Allein schon eine Podiumsdiskussion kann dabei helfen. Ein Verständnis aufzubringen, ist schon sehr wichtig. Das würde für die Gesellschaft eigentlich langfristig sehr viel mehr bringen. TM: ... ist schon cool - als Wissenschaftler betrachte ich zumindest mich so ein bißchen wie Columbus. Man setzt Segel, weil man nach Indien möchte und landet ganz woanders. Das ist das erste. Dann muß man auch erkennen, daß man woanders gelandet ist, so kann auch etwas Großartiges daraus werden oder nicht. Und ich meine, die grauen Flecken dieser Erde sind nur in einem für uns anderen Maßstab hier, und die gilt es zu ergründen. SB: Das war ein schönes Schlußwort. Haben Sie vielen Dank für das Gespräch. Anmerkungen: [1] Ein Bericht zu der Podiumsdiskussion folgt in Kürze. [2] http://ecdc.europa.eu/en/publications/Publications/0909_TER_ The_Bacterial_Challenge_Time_to_React.pdf [3] Professorin Dr. rer. nat. Petra SB: Man hat das Gefühl, daß die Dersch, Leiterin der Abteilung MoStrukturbiologie, eine lustvolle lekulare Infektionsbiologie HelmAngelegenheit ist, wenn man Ih- holtz-Zentrum für Infektionsfornen zuhört ... schung. Berichte und Interviews zu den Themen: Bezichtigungsmedizin am Beispiel der Proteomanalyse Hirntod im Handel Ersatzteillager Mensch Das System eCard; ECardmedizin; ECARDstopp Der Entnahmediskurs Der gläserne Patient Kostenpauschalen für die Psychiatrie Versorgungsprophylaxe finden Sie im Schattenblick unter Medizin / Report: http://www.schattenblick.de/infopool/medizin/ip_medizin_ report_bericht.shtml http://www.schattenblick.de/infopool/medizin/ip_medizin_ report_interview.shtml www.schattenblick.de Seite 13 Elektronische Zeitung Schattenblick POLITIK / FAKTEN / MENSCHENRECHTE poonal Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen Mexiko Atenco: Wie der mexikanische Staat versucht, die Aufarbeitung zu behindern von Anayeli García Martínez neralstaatsanwaltschaft PGR am 17. September offiziell bekannt, dass nun der Interamerikanische Gerichtshof mit der Klage betraut wurde. Das ist die höchste richterliche Instanz in Amerika, die bemächtigt ist, einen Schuldspruch gegen den mexikanischen Staat zu erlassen. Frauen kämpfen gegen sexuelle Gewalt Foto: © Cimac/César Martínez López (MexikoStadt, 19. September 2016, cimacnoticias) Ohne Sachbericht, wie sonst üblich, wenn ein Fall an das Gericht überstellt wird, übergab die Interamerikanische Menschenrechtskommission CIDH die Klage der elf Überlebenden der sexualisierten Gewalt in Atenco an den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte (CoIDH). Anders als in anderen Fällen von Menschenrechtsverletzungen, die in internationalen Verbänden öffentlich gemacht werden, gaben im Fall "Mariana Selvas Gómez und andere" als erste das Innenministerium Segob, das Außenministerium SRE und die GeSeite 14 Bei dem 2006 von dem damaligen Gouverneur Enrique Peña Nieto geleiteten Polizeieinsatz im mexikanischen Atenco (Bundesstaat Mexiko) wurden neben Männern auch 47 Frauen verhaftet. Mindestens 26 der Verhafteten wurden vergewaltigt. Nur 14 Frauen erstatteten Anzeige, elf von ihnen entschieden sich, trotz aller Verzögerungen weiter auf einer strafrechtlichen Verfolwww.schattenblick.de gung zu bestehen. Im April 2008 hatten sie daher den CIDH angerufen. Im November 2011 beschloss die Interamerikanische Kommission, die Forderung von Mariana Selvas, Georgina Edith Rosales, María Patricia Romero, Norma Aidé Jiménez, Claudia Hernández, Bárbara Italia Méndez, Ana María Velasco, Yolanda Muñoz, Cristina Sánchez, Patricia Torres und Suhelen Gabriela Cuevas anzuerkennen. Diese hatten ausgesagt, während des Polizeieinsatzes in Atenco und Texcoco Opfer von sexualisierten Übergriffen geworden zu sein. An dem Einsatz hatten über 3.000 Sicherheitskräfte teilgenommen. Fr, 18. November 2016 Elektronische Zeitung Schattenblick Außergerichtliche Einigung gescheitert Während des gesamten Prozesses hatte die Kommission über dessen Verlaufberichtet; nachdem der Fall jedoch an den Interamerikanischen Gerichtshof weitergeleitet wurde, veröffentlichte der mexikanische Staat folgende Mitteilung: "Die mexikanische Regierung hat die Kommission selbst gebeten, den Fall an den Interamerikanischen Gerichtshof zu überstellen, damit dieses Justizorgan die Angemessenheit der Maßnahmen zur Wiedergutmachung auf dem Hintergrund interamerikanischer Standards abwägt." Dies geschah nach einem misslungenen Versuch seitens des mexikanischen Staats, mit den Opfern eine gütliche Einigung auszuhandeln. Während einer Tagung in den Räumen des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Washington hatten die damaligen Staatssekretäre des Innenministeriums, Lía Limón und Juan Manuel Gómez-Robledo angeboten, den Fall mit einer "gütlichen Einigung" abzuschließen. Das heißt, es wurde eine Einigung der Opfer mit dem mexikanischen Staat angestrebt, um dem Rechtsstreit auf internationaler Ebene ein Ende zu bereiten. Der Vorschlag wurde jedoch von den Überlebenden der sexualisierten Gewalt abgelehnt. ten Mal Entscheidungen getroffen, ohne die Überlebenden der sexualisierten Gewalt zu konsultieren. Im Jahr 2012 gab sie bei einem Treffen in New York gegenüber Expertinnen der Frauenrechtskonvention CEDAW (Committee on the Elimination ofDiscrimination against Women) an, es gebe "Fortschritte in dem Fall", ohne dass die Betroffenen davon wussten. Verschleierungstaktik statt Fortschritte Die von Segob, SRE und PGR gemeinsam veröffentlichte Erklärung, dass nun der Internationale Gerichtshoffür Menschenrechte mit dem Fall Atenco betraut sei, erfolgte ohne den Bericht der Interamerikanischen Menschenrechtskommission, der die Mitschuld des mexikanischen Staates an den Menschenrechtsverletzungen feststellen und dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte zur Prüfung und als Anregung für ein angemessenes Strafmaß dienen soll. Drei Polizisten, die an den sexuellen Übergriffen gegen 26 Frauen, die bei den Aufständen in Atenco verhaftet worden waren, beteiligt gewesen sein sollen, stünden derzeit vor Gericht, so die mexikanische Delegation. Doch weder die Opfer noch ihre Anwält*innen hatten von den Vorladungen gehört, ebenso wenig von Einzel- URL des Artikels: heiten bezüglich derAnklageschrift https://www.npla.de/poonal/atencooder gar dem zu erwartenden Urteil. wie-der-mexikanische-staat-versucht-die-aufarbeitung-zu-behinEine ähnliche Erfahrung hatten die dern/ Frauen auch im Mai 2015 gemacht: Der Text ist lizenziert unter Creative Im Amtsblatt der mexikanischen Re- Commons Namensnennung-Weitergierung vom 19. März jenes Jahres gabe unter gleichen Bedingungen 4.0 wurde die Gründung eines Fonds für international. die Überlebenden der sexualisierten https://creativecommons.org/licenGewalt angekündigt, ohne dass je- ses/by-sa/4.0/ doch die Höhe der Beträge angegeben wurde. Die Opfer vermuteten, man wolle "ihre Würde kaufen" und sahen in dem geplanten Schritt einen Laut der Darstellung der mexikani- Versuch, ihre Klage vor der Interameschen Regierung "wurde und wird al- rikanischen Menschenrechtskomles Menschenmögliche getan, um die mission zu stoppen. Untersuchung des Falls voranzutreiben, die Schuldigen zur Verantwor- Nach Angaben von Segob, PGR und tung zu ziehen, die Betroffenen zu SRE wurden bis heute über 30 Persoentschädigen und Maßnahmen zu er- nen festgenommen und haben mit eigreifen, um zu verhindern, dass sich nem Strafverfahren zu rechnen. Das ein solcher Fall wiederholt." Menschenrechtszentrum Miguel Agustín Pro Juárez, das die Opfer in In Wirklichkeit jedoch hat die mexi- diesem Fall vertritt, erklärte hingekanische Regierung zum wiederhol- gen, es ginge lediglich um "unterlasFr, 18. November 2016 sene Hilfeleistung"; das heißt, den Verhafteten wird nur vorgeworfen, die Gewalt gegen die Frauen nicht abgewendet zu haben, keiner von ihnen werde jedoch wegen eines sexuellen Übergriffs zur Verantwortung gezogen. www.schattenblick.de Quelle: * poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen Herausgeber: Nachrichtenpool Lateinamerika e.V. Köpenicker Straße 187/188, 10997 Berlin Telefon: 030/789 913 61 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.npla.de http://www.schattenblick.de/ infopool/politik/fakten/ pfmen333.html Seite 15 Elektronische Zeitung Schattenblick POLITIK / AUSLAND / LATEINAMERIKA poonal Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen Kuba Sao Leopoldo: Regierung begnadigt 787 Gefangene (Sao Leopoldo, 16. November 2016, ihu online) - Die kubani- Gefangene unter den Begnadigten befinden. Laut Granma wurden die Gründe für die Verurteilungen überprüft, die Führung während der Haft und die bereits abgesessene Zeit. Nicht begnadigt wurden Personen, die wegen "Mordes, Vergewaltigung, Drogenhandel oder ähnlicher Schwerverbrechen" verurteilt wurden. sche Regierung hat beschlossen, 787 Verurteilte zu begnadigen. Das teilte die offizielle Tageszeitung Granma mit. Anlass war ein Aufruf des Papstes anlässlich des "Heiligen Jahres der Barmherzigkeit". Bei einer Feier zum "Jubiläum der Gefangenen" sollten die Regierungen Nachsicht üben und Gefangenen die Möglichkeit ge- Die letzte Begnadigung ist geraben, sich wieder in die Gesell- de mal ein Jahr her und galt als schaft einzugliedern. Geste des guten Willens der Regierung nach dem Besuch des Zwar hatten mehrere Regierun- Papstes auf der Insel. Am 11. gen daraufhin betont, die Worte September 2015 waren 3.522 Gedes Papstes zu beachten, aber die fangene begnadigt worden. Kuba kubanische Regierung hat als er- mit seinen knapp elf Millionen ste Taten folgen lassen. Unter den Einwohner*innen hat eine hohe nun Begnadigten befinden sich Gefangenenrate; das berichten Frauen, Kranke und junge Men- Oppositionelle. Die Behörden schen. Es wurde jedoch nicht be- veröffentlichen keine Zahlen kannt gegeben, ob sich politische über Gefangene. URL des Artikels: https://www.npla.de/poonal/regierung-begnadigt-787-gefangene/ Der Text ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international. https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/ Quelle: * poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen Herausgeber: Nachrichtenpool Lateinamerika e.V. E-Mail: [email protected] Internet: http://www.npla.de http://www.schattenblick.de/ infopool/politik/ausland/ pala1643.html POLITIK / KOMMETAR / REPRESSION Sanktionen tabu - Unser Despot am Bosporus Die Türkei ist als Mitglied der NATO, geostrategischer Brückenstaat, Wirtschaftspartner, Bollwerk der Flüchtlingsabwehr und Pufferzone am Rande des Kriegsgebiets viel zu wichtig und nützlich für die Bundesregierung und die EU, als daß man dem Regime Recep (SB) 17. November 2016 Seite 16 Tayyip Erdogans und der AKPRegierung ernsthaft in die Parade fahren würde. Je offener die diktatorischen Ambitionen des türkischen Präsidenten und die ungezügelte Repression gegen jegliche Opposition zur Sprache kommen, um so energischer tritt man auf die Bremse, wenn Sanktionen gewww.schattenblick.de fordert werden. Daß dazu eine ebenso absurde wie entlarvende Argumentation ins Feld geführt werden muß, liegt auf der Hand. Erstes Argument: Man darf keine Druckmittel anwenden, weil man damit die Druckmittel aus der Hand gibt. Als die Linken-AbgeFr, 18. November 2016 Elektronische Zeitung Schattenblick ordnete Sevim Dagdelen im Gespräch mit dem Deutschlandfunk [1] erklärt, es wäre eine absolute moralische Bankrotterklärung der EU, hielte sie an den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei fest, muß sie sich der Frage erwehren, ob nicht der Dialog der bessere Weg sei, da man das Land andernfalls in die Isolation triebe. Dagdelen läßt sich davon nicht beirren und verweist darauf, daß die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und der Türkei sehr viel mehr als nur ein Dialog sei, denke man beispielsweise an die deutlich wachsenden deutschen Rüstungsexporte in dieses Land. Es herrsche in vielerlei Hinsicht eine enge Partnerschaft mit dieser Diktatur, wie sie die Türkei unter Erdogan sei. Geltende EU-Gesetze sähen als Voraussetzung für Beitrittsverhandlungen Verbesserungen in Sachen Rechtsstaatlichkeit und Demokratie vor. Das krasse Gegenteil sei der Fall, wie die EU-Kommission in ihrem aktuellen Fortschrittsbericht feststelle. Zweites Argument: Ein Abbruch der Beitrittsverhandlungen ist gar kein Druckmittel. So erklärt Ruth Berschens vom Handelsblatt [2], die EU würde Erdogan damit in die Hände spielen, der ihr eine Falle gestellt habe und nur darauf warte, daß ihm von den Europäern endlich der Stuhl vor die Tür gesetzt wird. Dann könnte er ihnen die Schuld in die Schuhe schieben und käme vor seinen Landsleuten nicht in Erklärungsnöte. Auch Günter Seufert, Türkei-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik [3], hält nichts von dieser Option, da die Beitrittsverhandlungen de facto seit sechs Jahren auf Eis lägen und die EU damit ihren stärksten Fr, 18. November 2016 Trumpf aus der Hand gegeben je einen ökonomischen Aufschwung, um die während ihrer habe. Regierungszeit entstandene neue Drittes Argument: Wirtschafts- Mittelschicht bei Laune zu halten sanktionen sind theoretisch wirk- und ihren politischen Rückhalt samer, aber praktisch ein zwei- nicht zu verlieren. schneidiges Schwert. Wie Seufert laviert, habe sich die EU sehr Wie eng die Kollaboration der schwer damit getan, solche Sank- Bundesregierung mit Ankara trotz tionen gegen Rußland zu be- aller verbalen Schelte verschränkt schließen. Zudem diskutiere man ist, wird insbesondere auf dem kritisch darüber, ob sie überhaupt Feld der "Terror"bekämpfung einen Effekt haben. Vor allem deutlich. Als Frank-Walter Steinaber gelte es zu bedenken, in wel- meier mit dem jüngsten Türkeichem Maße man sich dabei auch besuch seinem Amtskollegen ins eigene Fleisch schneide. Seu- Mevlüt Cavusoglu reichlich Gefert, der immerhin Rußland als legenheit bot, Breitseiten von Beispiel dessen nennt, wovon Vorwürfen gegen Berlin und man bei der Türkei lieber die Fin- Brüssel abzufeuern, vergaß der ger lassen solle, läßt natürlich al- deutsche Außenminister nicht, eile früheren Fälle unerwähnt, in nes zu unterstreichen. Die Bedenen die europäischen Füh- hauptung, Deutschland sei ein rungsmächte keine Probleme mit Hort für Tausende Mitglieder der massiven Sanktionen bis hin zu verbotenen kurdischen ArbeiterAngriffskriegen im Namen der partei PKK, konterte Steinmeier zum Abschluß der gemeinsamen Menschenrechte hatten. Pressekonferenz mit den Worten: Wollte man demgegenüber ernst- "Verehrter Kollege, lieber Mevhaft in Erwägung ziehen, Druck lüt, lass mich nochmal klarstellen, auf die türkische Regierung aus- damit kein Missverständnis im zuüben, ließen sich diverse Mittel Raume bleibt: Wir verurteilen jenennen. So hat die Türkei zwi- de Form von Terrorismus. Die schen 2007 und 2013 von der EU von IS genauso wie Terrorismus 4,8 Milliarden Euro an Vorbei- der PKK." [4] trittshilfen erhalten, die gestoppt werden könnten. Denkbar wäre Als Erdogan am folgenden Tag auch eine Beendigung der Gesprä- seinerseits mit dem Vorwurf che über die Erweiterung der seit nachlegte, die deutschen Behör1995 bestehenden Zollunion zwi- den gingen nicht ausreichend geschen der EU und Türkei, die zu gen die PKK vor, versicherte einem zollfreien Austausch von Bundesinnenminister Thomas de Industrieprodukten führte. Erdo- Maizière: "Für uns ist jeder Tergan möchte gerne auch Agrarpro- rorismus - ganz gleich mit weldukte und Dienstleistungen einbe- chem Motiv - etwas, das wir in ziehen, worüber seit 2015 verhan- Deutschland bekämpfen." Man delt wird. Da die wirtschaftliche sei "offen und bereit" für KoopeSituation des Landes spätestens rationen mit der Türkei. [5] Tatseit dem Putschversuch und der sächlich geht kein anderes Land daraus resultierenden Repressi- der Europäischen Union so reonswelle prekär ist, braucht die pressiv gegen die PKK vor wie AKP-Regierung dringender denn die Bundesrepublik. In Brüssel www.schattenblick.de Seite 17 Elektronische Zeitung Schattenblick wurde kürzlich ein Prozeß mit der Begründung eingestellt, die Angeklagten hätten zwar womöglich mit der PKK gekämpft, doch in der Türkei herrsche Krieg, in dem beide Seiten zur Waffe griffen. Hingegen wurden aufAntrag der Bundesanwaltschaft Kurden aus Frankreich und Dänemark ausgeliefert, damit ihnen in Deutschland der Prozeß gemacht werden kann. Nach Paragraf 129b können "terroristische Vereinigungen" verfolgt werden, die im Ausland aktiv sind. Konkrete Taten müssen Angeklagten nicht nachgewiesen werden, es genügt die Mitgliedschaft in der betreffenden Organisation. Seit dem PKK-Verbot im Jahr 1993 sind in Deutschland 93 Männer und Frauen verurteilt worden. Dazu kommen Tausende Verfahren in den Bundesländern, oft laufen Hunderte in einem Jahr. Für die bloße Mitgliedschaft in einer als PKK-Struktur verdächtigten Gruppe können hohe Strafen verhängt werden, führende Aktivisten wurden von deutschen Gerichten zuletzt zu sieben Jahren Haft verurteilt. Dafür reicht es aus, Spenden zu sammeln oder für die PKK zu werben. In Berlin erhielten kürzlich Demonstranten Strafbefehle über mehrere tausend Euro, weil sie Parolen wie "Es lebe die PKK!" gerufen haben sollen. Als eifrige Erfüllungsgehilfen türkischer Staatsinteressen haben deutsche Behörden des öfteren linke Kurdenvereine durchsucht, Unterlagen beschlagnahmt, Einrichtungen zuweilen als PKKnah verboten. In Stuttgart beginnt gerade der Prozeß gegen einen 46jährigen Kurden, der Aktivitäten der PKK geleitet haben soll. Erst im Oktober war dort ein Mann unter einer ähnlichen VorSeite 18 wurfslage zu dreieinhalb Jahren Für diese Form finaler Repression Haft verurteilt worden. gibt es Begriffe, die Vertretern der Bundesregierung in anderen FälBerücksichtigt man, daß die PKK len leicht von der Zunge gehen. bereits in den neunziger Jahren Nicht so im Falle Recep Tayyip jegliche militanten Aktionen in Erdogans, der sich inmitten hefDeutschland eingestellt und der tigster Kontroversen mit Berlin operative PKK-Chef, Cemil und Brüssel nach wie vor der Bayik, 2015 für derartige Aktivi- Rückendeckung in substantiellen täten in der Vergangenheit aus- Kampfzonen sicher sein kann. drücklich um Entschuldigung ge- Führt er die deutsche Politik am beten hat, wird deutlich, in wel- Nasenring vor, wie vielfach emchem Maße deutsche Politik und pört kolportiert wird? Das kann Justiz die Verfolgung von Linken nur behaupten, wer die Kräfteverin der Türkei auch im eigenen In- hältnisse ebenso ignoriert wie den teresse betreiben. Derzeit wird in eigenständigen Führungsanspruch München zehn Türkinnen und Berlins nicht zuletzt in der WeltTürken der Prozeß gemacht, die region, die Ankara als Einflußbefür die maoistische TKP/ML Mit- reich für sich reklamiert. glieder rekrutiert und Geld gesammelt haben sollen. Die Männer und Frauen befinden sich un- Anmerkungen: ter scharfen Sicherheitsvorkehrungen in Untersuchungshaft. Da- [1] http://www.deutschlandbei ist die TKP/ML nur in der funk.de/beitrittsgespraeche-mitTürkei verboten, während sie auf der-tuerkei-die-roten-linieninternationalen Terrorlisten nicht sind.694.de.html geführt wird. Andererseits dürfen sich die Grauen Wölfe, deren [2] http://www.deutschlandrechtsextreme Position und Mili- funk.de/eu-und-tuerkei-erdoganstanz kein Geheimnis ist, in wunder-punkt.720.de.html Deutschland ungehindert in Vereinen organisieren. [3] http://www.deutschlandfunk.de/eiszeit-zwischen-eu-undErdogan hat den kurdischen "Ter- tuerkei-europa-hat-kein-druckroristen" im eigenen Land wie mittel.694.de.html auch in Syrien den Krieg erklärt, was er keineswegs symbolisch [4] http://www.deutschlandversteht. Wie die Angriffe auf kur- funk.de/steinmeier-in-ankaradische Städte im Südosten der schwere-vorwuerfe-vom-tuerkiTürkei wie auch die Selbstvertei- schen.1766.de.html digungskräfte in Nordsyrien zeigen, ist der Despot fest entschlos- [5] http://www.tagesspiegel.de/sen, den kurdischen Widerstand politik/verfolgung-der-pkk-inphysisch zu vernichten, die kurdi- deutschland-de-maiziere-willschen Lebenszusammenhänge mit-der-tuerkei-kooperieund Gesellschaftsentwürfe zu zer- ren/14852582.html schlagen, Hunderttausende zu http://www.schattenblick.de/ Flüchtlingen zu machen und in infopool/politik/kommen/ letzter Konsequenz die kurdische repr1534.html Kultur und Identität auszulöschen. www.schattenblick.de Fr, 18. November 2016 Elektronische Zeitung Schattenblick POLITIK / MEINUNGEN / STANDPUNKT Internationale Presseagentur Pressenza Büro Berlin In schlechter Gesellschaft Russland und der UN-Menschenrechtsrat von Jairo Gomez [1] für Neue Debatte [2], 15. November 2016 Bei einer Abstimmung in der UNVollversammlung über die Vergabe von zwei Sitzen in der OsteuropaGruppe erhielt Russland nur 112 Stimmen. Ungarn (144 Stimmen) und Kroatien (114 Stimmen) ließen die Föderation hinter sich und nehmen die freien Plätze im Rat ein. Die Medien nahmen das Thema dankbar an und bauschten die Allerweltsabstimmung zu einer Staatsaffäre auf. Telepolis titelte: UN-Menschenrechtsrat: Russland ausgeschlossen, Saudi-Arabien gewählt [3]. Zeit Online schrieb, Russland fliegt aus UN-Menschenrechtsrat [4] und hob hervor, 80 Menschenrechts- und Hilfsorganisationen hätten im Vorfeld der Abstimmung gegen die Wiederwahl Russlands protestiert. N-TV berichtete von der Ohrfeige für Putin, die nicht richtig klatscht [5]. In einer Meldung auf den Seiten des Informationszentrums der Vereinten Nationen für Westeuropa [6] steht sachlich: "Russland hat seinen Sitz im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen verloren." Öl ins geopolitische Feuer Das Netz reagierte. Nicht wenige User kolportierten, es sei ein Komplott gegen Russland in Gange. Der Menschenrechtsrat Fr, 18. November 2016 ohne Russland: Die Empörung ther Sosna [7] bemerkte leidenwar groß, auch bei mir. Aber aus schaftslos: "Wo ist der Aufreger?" einem anderen Grund. Wo ist der ...? Bahnte sich da etwa ein Disput an? Gerade in der durch den Syrienkrieg angespannten internationalen Ich sage immer, ich bin kein PutinLage wäre es ein Zeichen der An- versteher, aber in diesem Fall näherung und somit der Vernunft schlug ich mich wie selbstvergewesen, Russland im Menschen- ständlich aufdie Seite des Russen. rechtsrat zu halten. Außerdem täten Ich erwiderte, dass es nicht angedie Medien gut daran, nicht bei je- hen könne, dass der Schlächterstaat der sich bietenden Gelegenheit Öl Saudi-Arabien einen Sitz im Rat ins geopolitische Feuer zu schütten. innehat, aber die Russische Föderation vor der Tür bleiben muss. Impulsiv und emotional, wie ich Das Echo kam prompt: "Dann behin und wieder bin, feuerte ich auf findet sich der Russe ja nicht mehr Facebook einen deftigen Kommen- in schlechter Gesellschaft." Wie tar raus, in dem ich die Verlogen- bitte ...?! heit des Westens in Sachen Menschenrechte betonte und die Be- Ich habe die Geschichte sacken lasrichterstattung der Medien tadelte. sen und dann angefangen, Fakten über den Menschenrechtsrat zu sammeln, den bis vor wenigen TaWo ist der Aufreger? gen wohl kaum ein Normalbürger gekannt haben dürfte. Das ErgebDer Post fand schnell Abnehmer. nis ist ernüchternd. Er wurde binnen weniger Minuten 58-mal geteilt. Beflügelt durch den Zuspruch und angetrieben durch Schmutzige Hände und das kochende andalusische Blut in weiße Westen meinen Adern, haute ich in die Tastatur des Laptops, bemüht einen Der Menschenrechtsrat, der im Juneuen Artikel zu verfassen, um die- ni 2006 die UN-Menschenrechtssen Skandal, ein Menschenrechts- kommission ablöste, ist ein Unterrat ohne die Russen, in Buchstaben organ der UN-Generalversammzu meißeln. lung. Ihm gehören 47 Staaten an. Seine Ziele und Aufgaben sind in Mein Elan erhielt durch das Neue der Resolution 60/251 [8] beschrieDebatte Team einen Dämpfer. Gun- ben. www.schattenblick.de Seite 19 Elektronische Zeitung Schattenblick Hauptaugenmerk liegt aufder Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der Einhaltung ihrer Menschenrechtsverpflichtungen. Dafür kann der Rat die Entsendung von Beobachtern zur Überwachung der Menschenrechtssituation in einem Mitgliedstaat beschließen. Wer sich die noch junge Geschichte des UNHRC anschaut, der erkennt, dass sich der Rat einer recht hohen Fluktuation erfreut. Russland war eine Ausnahme. Seit der Gründung des UNHRC war man Mitglied des Gremiums [9]. Ansonsten geben sich im UNHRC die Nationen die Klinke in die Hand. Eine ist dabei ungewaschener als die andere. Zwar verpflichten sich alle Bewerber zur Förderung und Einhaltung der Menschenrechte, aber die Realität zeichnet wie so oft ein weniger pinkfarbenes Bild. Nicht von ungefähr ist der Rat wegen seiner Zusammensetzung umstritten. Unter den Mitgliedern befinden sich Länder, über die Amnesty International [10] Berichte abliefert, die jedem Humanisten den Angstschweiß ins Gesicht treiben. Kaum einer hat eine weiße Weste. - Nigeria: Das Land ist durch den Kampfgegen Boko Haram von Gewalt geprägt. Bei der Bekämpfung der Terrororganisation begingen Regierungstruppen allerdings schwere Menschenrechtsverletzungen. Die USA, deren Regierungen immer wieder rigoros aufdie Einhaltung der Menschenrechte in anderen Nationen pochen, haben im eigenen Land schwere Verstöße ge- Indien: gen die Menschenrechte zu verbuMenschrechtsaktivisten werden chen. willkürlich festgenommen und inhaftiert. Gewalt gegen Frauen ist an Irgendwie hat jede Nation Dreck der Tagesordnung und es gibt Fäl- am Stecken. Selbst Deutschland, le von außergerichtlichen Hinrich- für die der Diplomat Joachim tungen. Rücker [11] den Vorsitz im Menschenrechtsrat ausübt, wird von - Albanien: Amnesty kein überwältigendes Der Staat übt massiven Druck auf Zeugnis ausgestellt. http://wwJournalisten aus und schränkt da- w.amnesty.de/jahresbericht/2016/durch die Meinungsfreiheit eine. Es deutschland gibt unzählige Fälle von häuslicher Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Minderheiten wie Roma und Barbarei im Toleranzbereich Balkanägypter werden diskriminiert. Mir stellt sich nach all diesen Informationen die Frage, ob es über- El Salvador: haupt erstrebenswert sein kann, 2015 wurden 475 Frauen ermordet. diesem Rat anzugehören, in dem so Menschenrechtsverteidiger werden viele Staaten vertreten sind, in destigmatisiert und Verbrechen aus nen Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit strafrechtlich zum Alltag gehören. nicht verfolgt. Bei eklatanten Verstößen können - Lettland: die Mitglieder ausgeschlossen werIn dem EU-Mitgliedsstaat sind die den, das ist wahr. Doch was ist Rechte von Lesben, Schwulen, Bi- eklatant? In Saudi-Arabien werden sexuellen, Transgeschlechtlichen Menschen für Nichtigkeiten ausgeund Intersexuellen stark einge- peitscht und verlieren bei leichten schränkt. Staatenlose werden offen Delikten Hände oder Füße und bei diskriminiert und es wird kaum schweren Taten durch das Schwert Asyl gewährt. des Scharfrichters den Kopf. - China: Todesstrafen sind in an derTagesordnung und in den Gefängnissen wird immer noch gefoltert. Die Meinungsfreiheit ist stark eingeschränkt und Minderheiten wie Uiguren und Tibe- Das ist nur ein Ausschnitt der Mitter werden diskriminiert. glieder im Menschenrechtsrat. Jedes Land verstößt mehr oder weni- Katar: ger gezielt gegen die MenschenDie freie Meinungsäußerung ist rechte oder lässt eine Verletzung eingeschränkt, Frauen haben kaum zu. Rechte, und Arbeitsmigranten werden ausgebeutet und teilweise, wie Auch in Russland wird massiv geSklaven behandelt. gen die Menschenrechte verstoßen, Seite 20 wie dem Amnesty International Report 2016 zu entnehmen ist. www.schattenblick.de Das ist barbarisch, aber offenbar im Rahmen der Toleranz, sonst wäre Saudi-Arabien nicht erneut in den Rat gewählt worden. Dieser Umstand hat kaum Erwähnung in den Medien gefunden. Für Russland und seinen Präsident Vladimir Putin ist es aus dieser Fr, 18. November 2016 Elektronische Zeitung Schattenblick Perspektive sicher keine Katastrophe, den erlauchten Kreis der Menschenrechtsverletzer verlassen zu haben. nenbildung tätig. Seine Interessen gelten der Politik, Geschichte, Literatur und Malerei. Für Neue Debatte schreibt Jairo Gomez über die politischen Entwicklungen in Spanien und Lateinamerika und wirft einen kritischen Blick auf die gesellschaftlichen Veränderungen in Deutschland und Europa. Wäre der Menschenrechtsrat ein Orchester, würden dem Dirigenten die Misstöne aus der russischen Ecke ohnehin nicht auffallen. Zu grauenhaft schräg klingt das Staccato, kaum ein Ton wird sauber getroffen. Die Empörung kann also Anmerkungen: getrost abklingen - sie war über[1] https://neue-debatte.com/autflüssig. Über den Autor Seit 1967 lebt der im spanischen Granada geborene Bernardo Jairo Gomez Garcia in Deutschland. Schon vor seinen Ausbildungen zum Trockenbaumonteur und KfzLackierer entdeckte Gomez seine Leidenschaft für die Kunst. Er studierte an einer privaten Kunsthochschule Airbrushdesign und wechselte aus der Fabrikhalle ans Lehrerpult. 14 Jahre war Gomez als Spanischlehrer in der Erwachse- hor/jairogomez59/ [2] https://neue-debatte.com/ [3] https://www.heise.de/tp/features/UN-Menschenrechtsrat-Russlandausgeschlossen-Saudi-Arabien-gewaehlt-3381066.html [4] http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-10/vereinte-nationen-russland-menschenrechtsrat [5] http://www.n-tv.de/politik/Ohrfeige-fuer-Putin-die-nicht-richtigklatscht-article18963151.html [6] https://www.unric.org/de/unoschlagzeilen/27868-un-menschenrechtsrat-ohne-russland [7] https://neue-debatte.com/teamund-autoren/gunther-sosna/ [8] http://GA%20Resoluti- DIE BRILLE / REDAKTION / REZENSION Christian Kracht Die Toten Rezension von Christiane Baumann Die Achse des Bösen ein Totentanz im Nō-Theater Schweizer Literaturpreis für Christian Krachts Roman sten Roman Die Toten kräftig ab. Nach dem Hermann-Hesse-Literaturpreis, den er in dieser Woche in Karlsruhe in Empfang Die Toten nehmen konnte, erhielt er den hochdotierten Schweizer BuchDer Schweizer Autor Christian preis 2016. Und last but not least: Kracht räumt mit seinem neue- Für den Bayerischen Buchpreis Fr, 18. November 2016 www.schattenblick.de on%2060/251 [9] https://deutsch.rt.com/newsticker/42536-russland-un-menschenrechtsrat-nicht-wiedergewahlt/ [10] http://www.amnesty.de/ [11] http://www.joachim-ruecker.de/ Der Artikel "In schlechter Gesellschaft - Russland und der UN-Menschenrechtsrat" wurde erstveröffentlicht im Meinungsmagazin Neue Debatte: https://neue-debatte.com/2016/11/03/in-schlechter-gesellschaft-russland-und-der-un-menschenrechtsrat/?# Der Schattenblick dankt der Redaktion der Neuen Debatte für die Nachdruckgenehmigung. Quelle: * Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin Johanna Heuveling E-Mail: [email protected] Internet: www.pressenza.com/de http://www.schattenblick.de/ infopool/politik/meinung/ pmsp0608.html Christian Kracht Die Toten Roman Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016 212 Seiten 20 Euro ISBN: 9783462045543 2016 wurde er inzwischen auch nominiert. Kracht, der als wenig auskunftswillig zu seinem Werk gilt, sorgte bei der Verleihung des Schweizer Buchpreises für einen Eklat, indem er wortlos, urkundenlos und danklos aus dem Baseler Theater Seite 21 Elektronische Zeitung Schattenblick stürmte (Tagesanzeiger vom 14.11.2016). Ob er nun soziophob ist, an seinem Genie-Image arbeitet oder ihn der mit 30.000 Schweizer Franken dotierte Preis einfach überwältigte - es sei dahingestellt. Letztlich kann es nur um das Buch gehen, das die Schweizer Jury als "eine gelungene Verknüpfung von großem literarischen Können mit einer hellsichtigen Diagnose unserer Gegenwart"[1] würdigte. Christian Kracht (*1966) wurde 1995 mit seinem Erstling Faser land der "Pop-Literatur" zugeschlagen, einer literarischen Richtung, die ästhetisch schwer zu fassen ist. Die Pop-Art entwickelte sich als Kunstströmung in den 1950er Jahren in den USA, kam in den 1960ern dann auch in Europa an und erlebte in den 1990er Jahren in Deutschland eine Renaissance. Sie formierte sich als Protest gegen den Ästhetizismus und die elitäre Kunstanschauung des Establishments, montierte und verfremdete Vorgefundenes, Populäres vom Comic bis zur Filmsequenz, vom Schlager bis zum Krimi. Es ging um eine "Anti-Kunst" oder besser Gebrauchskunst. Die selbst ernannten Pop-Literaten Benjamin von Stuckrad-Barre, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander Schönburg und Joachim Bessing trafen sich Ende der 1990er Jahre in Berlin und veröffentlichten ihre dort geführten Gespräche 1999 unter dem Titel Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett. Das zielte auf Provokation. In der Folgezeit sorgten Krachts Romane, 1979 (2001), Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008), Imperium (2012), immer wieder für politische KontroverSeite 22 sen. Auch sein neuer Roman Die Toten macht hier keine Ausnahme, wenngleich er sich von der Pop-Literatur entfernt hat. Vom Verriss - "ärgerlicher und total überflüssiger Stuss" (Frankfurter Rundschau, 07.09.2016) - bis zur "Revolution" der Literatur (ARD druckfrisch, 29.08.2016) war da alles zu lesen bzw. zu hören. Der Roman Die Toten führt in die 1930er Jahre und damit in jene Zeit, in der die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht übernahmen. Es sind zugleich Jahre des technischen Umbruchs in der Filmbranche. Der Stummfilm wird vom Tonfilm abgelöst. Kino ist "Krieg mit anderen Mitteln", stellt UFA-Chef Alfred Hugenberg fest, "man müsse den Erdball überziehen mit deutschen Filmen, kolonialisieren mit Zelluloid" (S. 114). Deutsche Großmachtsphantasien machen sich breit. Mittendrin der abgehalfterte Schweizer Filmregisseur Emil Nägli, der nach Berlin fliegt und sich von Hugenberg für einen millionenschweren Gruselfilm unter Vertrag nehmen lässt, der in Japan gedreht werden soll. Keine Geringeren als die jüdischen Filmkritiker Siegfried Kracauer und Lotte Eisner überreden Nägli zu diesem "deplazierten faustischen Pakt" (S. 123). Dabei ahnt er nicht, dass diesen Deal eigentlich ein Beamter im japanischen Außenministerium eingefädelt hat. Masahiko Amakasu will dem "US-amerikanischen Kulturimperialismus" mit einer "zelluloiden Achse" (S. 29, 30) zwischen Tokio und Berlin entgegenwirken. Dazu schreibt er nach Deutschland an die UFA Film AG und wird erhört. www.schattenblick.de Nägli geht nach Japan, doch der Gruselfilm kommt nicht zustande. Stattdessen entsteht eine Art Dokumentarfilm, "den er so genannt hat wie dieses Buch" (S. 206), statt Fiktion also fiktive Authentizität. Der Roman spielt mit Authentischem und Fiktivem, montiert beides spielerisch zusammen. Das Attentat auf den Premierminister Inukai vom Mai 1932, mit dem das Militär in Japan politischen Einfluss auf die Regierung gewann, versetzt er in das Jahr 1933 und damit in jenes Jahr, in dem Japan aus dem Völkerbund austrat und in Asien seinen aggressiven Expansionskurs begann. Reale Personen, die sich in die Filmgeschichte einschrieben, wie Lotte Eisner, Siegfried Kracauer und der Regisseur Fritz Lang, tauchen in geradezu bizarren Situationen auf. Die Stummfilm-Ikone Charlie Chaplin, der sich 1947 vor dem "Komitee für unamerikanische Umtriebe" verantworten musste, betritt die Bühne wie das deutsche FilmIdol Heinz Rühmann, der in der Nazizeit seine steile Karriere startete. Sind die Einen auf dem Weg ins Exil, so kommen den Anderen die neuen Machthaber in ihren ehrgeizigen Karriereplänen und ihrem Opportunismus gerade recht. Zu diesen Mächtigen gehört neben dem UFA-Chef und Medienboss Alfred Hugenberg auch Ernst ("Putzi") Hanfstaengl als Auslandspressechef der NSDAP, den Nägli "mephistophelesgleich" (S. 109) erlebt und der bezeichnenderweise in einem kanadischen Internierungslager einen kranken Fuß als "Mephistopheles' Huf" (S. 145) hinter sich herzieht. Durch die Montagetechnik wird beim Leser, der sich permanent mit geschichtlichen Zusammenhängen Fr, 18. November 2016 Elektronische Zeitung Schattenblick und historisch verbürgten Personen auseinandersetzen und in Beziehung setzen muss, die fiktive Illusion systematisch unterlaufen, erhält der Roman einen authentischen Sound. Der teuflische, faustische Pakt, den Nägli eingeht, weist zudem auf das literarische Vorbild. Doch geht es Goethes Faust um Erkenntnis, so Nägli um schnöden Mammon. rüsteten sich Anfang der 1930er Jahre für ihren Eroberungsfeldzug, trafen sich in ihrem Expansionsstreben. Diese Umbruchsituation, in der sich der Faschismus etablierte, interessiert Kracht. Der Roman paraphrasiert diese politische Konstellation als "zelluloide Achse" in einer kulturellen Parallelwelt. Näglis Versagen als Filmemacher in deutschem Auftrag bleibt folgenlos, denn Hugenberg wird von Goebbels abgelöst, wie der Roman behauptet, was de facto nicht stimmt. Alfred Hugenberg, der 1886 zu einer Gruppe junger, oppositioneller Autoren mit Karl Henckell, einem Parteigänger der Sozialdemokratie, gehörte, die im Umfeld des deutschen Naturalismus in der Sammlung Quartett literarisch debütierten [2], avancierte im Deutschen Kaiserreich zum Medienmogul, dessen Konzern weite Teile der deutschen Presse kontrollierte. Während der Weimarer Republik bereitete er dem Nationalsozialismus mit seiner Propaganda den Boden und beförderte Hitlers Aufstieg maßgeblich. 1933 wurde er Minister für Wirtschaft, Landwirtschaft und Ernährung in dessen erstem Kabinett, gab diesen Posten jedoch nach wenigen Monaten auf. Goebbels war bereits Minister. Er übernahm Hugenbergs Amt nicht, jedoch als Propagandaminister seine Rolle. Die Propaganda-Maschinerie und Manipulation der Massen erreichte mit ihm eine neue Qualität und der auktoriale, allwissende Erzähler, der sich hin und wieder einmischt mit Feststellungen wie "wir erinnern uns" (S. 106), weiß, was kommt. Krachts Roman wartet mit einer originellen Idee in raffinierter Machart auf. Die strenge Form, die dem japanischen Nō-Theater entlehnt wurde, steht im Kontrast zur lockeren Szenenfolge, die weder streng chronologisch angelegt ist noch den Eindruck erweckt, dass hier stringent erzählt werden will. Die drei Roman-Teile folgen also dem johakiū: Das Spiel beginnt "langsam und verheißungsvoll", beschleunigt im zweiten Teil, um dann "kurzerhand und möglichst zügig zum Höhepunkt" (S. 104) zu kommen. Dabei wird eher beiläufig auf Ezra Pound verwiesen, der zusammen mit Ernesto Fenollosa 1917 ein Buch zum japanischen Nō-Theater veröffentlichte. Pound erlebte den ersten Weltkrieg als Zäsur, ließ ihn doch das massenhafte Töten an der Zukunftsfähigkeit Europas zweifeln. Dass er später begeisterter Anhänger Mussolinis wurde, sich auch nach dem zweiten Weltkrieg nicht vom Faschismus lossagte und in den USA aufgrund seiner antisemitischen und antiamerikanischen Propaganda wegen Landesverrats angeklagt und zur unerwünschten Person wurde, wird zum Background des Romans und führt zugleich in sein geistiges Zentrum. Die Achsenmächte Deutschland unter Hitler, Italien unter Mussolini und das An die Stelle des nicht gedrehten vom Militär dominierte Japan Films, diese von Eisner und KraFr, 18. November 2016 www.schattenblick.de cauer angeregte "Allegorie [...] des kommenden Grauens" (S. 120), tritt Krachts Roman, der ins Heute zielt, sind doch der Auftrieb von Nationalismus und rechtspopulistischen Parteien wie rechtsradikalen Gruppierungen unübersehbar. Kriegsgräuel und Vernichtung, schaut man nach Syrien, sind kaum noch in Worte zu fassen. ISTerror und Gewalt machen sich im Alltag breit. Gewaltszenen in Film, Fernsehen und Computerspiel sind zu einer beängstigenden Normalität geworden. Krachts Roman durchzieht eine Spur der Gewalt unterschiedlicher Provenienz. Sie reicht von verbaler und psychischer Gewalt bis zum Mord und Holocaust. Sie gehört zur Kindheit von Nägli wie auch von Amakasu. Dabei verstecken sich im Roman Gewalt und das aufziehende Grauen des Faschismus subtil hinter der Maske feiner Ironie, die immer wieder ins Groteske kippt. Die Gewalt, das Böse, kommt ästhetisiert daher. Den Grundton schlägt die Eingangsszene des Romans an: Erzählt wird eine Filmsequenz, in der ein Japaner Seppuku begeht. Die grauenvolle Szenerie erscheint - wie im Nō-Theater - in der Maske des ritualisierten Selbstmords, mit dem ein Samurai, der aufgrund eines Fehlverhaltens sein Gesicht verloren hat, die Würde und Ehre der Familie wiederherstellen kann. Am Schluss ist die Maske gefallen: Näglis deutsche Freundin Ida, eine Schauspielerin, prostituiert sich in jeder Hinsicht, um in Hollywood Karriere zu machen. Sie scheitert, verliert ihre Identität und stürzt sich vom "H" des berühmtberüchtigten Namenszuges. Beim Sturz in die Kakteen, wird ihr Gesicht zerfleischt. Sie verliert endgültig ihr Gesicht und damit ihre Würde. Seite 23 Elektronische Zeitung Schattenblick Die Toten ist ein Roman, der Tod und Gewalt in einen Ästhetizismus verpackt, der mitunter schockiert und sprachlos macht. Man muss bei der Lektüre nicht nur japanisches Vokabular nachschlagen, um das Erstarrtsein in Konvention und Tradition sowie die Klaviatur des staatlich sanktionierten Chauvinismus zu begreifen, sondern vor allem sehr genau lesen. Ist es ein Zufall, dass James Joyce, den Ezra Pound protegierte, in seiner letzten Novelle Die Toten dieses Gefangensein in Vorurteilen in einem Kammerspiel inszenierte, während Kracht die große nationale Bühne präsentiert? Manches gerät am Schluss, bei dem sich die Szenen überschlagen, zur Kolportage. Manches Sprachliche gleitet ab in Manierismus, wenn "der Pazifik [...] sich pazifisch" verhält (S. 187) oder ein "versunkenes Oszillieren" (S. 195) zu hören ist. Aber: Wer von "Stuss" redet, ist in den Subtext des Romans ebenso wenig eingedrungen wie derjenige, dem er sich als "Revolution" offenbart. Ein Ereignis ist er allemal. Anmerkungen: [1] http://www.schweizerbuchpreis.ch [2] Quartett. Dichtungen. Unter Mitwirkung von Arthur Gutheil, Erich Hartleben, Alfred Hugenberg hg. v. Karl Henckell. Hamburg 1886. http://www.schattenblick.de/ infopool/dbrille/redakt/ dbrr0016.html Seite 24 SCHACH UND SPIELE / SCHACH / SCHACH-SPHINX Schon bei der Geburt Waise (SB) Ideen sind eine verwickel- der schwarzen Figuren auf dem te Angelegenheit. Schnell sind Damenflügel zu einem Sieg versie erdacht und ebensorasch be- dichten? zwingen sie den Einwand des zweifelnden Herzens. Mitunter ist der Neid auf die Welt, denn gegen diese soll sich die Idee ja behaupten, der Geburtshelfer vieler Miseren. Nichts macht den Menschen unmündiger als das Festhalten am geistigen Besitz. Endlich glaubt man diese oder jene Verbesserung in einer bestimmten Variante hervorgekitzelt zu haben, da ergreift uns Entdeckerstolz. Wie eine Schwangere tragen wir unsere Aljechin - Sterk Idee in uns und warten auf den Budapest 1921 Tag der Geburt nicht minder sehnsuchtsvoll wie die Gebärende. Die Idee soll die Ahnenschaft Auflösung des letzten unserer Erfolge fortsetzen. EndSphinxRätsels: lich kommt der Tag der Bewährung. Der Zug wird ausgespielt Das Beieinander von schwarzer wie eine goldene Trumpfkarte, Dame und schwarzem König nur zu stechen vermag sie nicht. brachte Meister Becker auf einen Der Gegenspieler hat nämlich teuflisch guten Einfall. Nach trotz der Kürze der Zeit einen 1.e5-e6+! durfte 1...Lh3xe6 nicht Weg zur Widerlegung gefunden. geschehen wegen der BauerngaSo ist die neue Idee, kaum gebo- bel 2.f4-f5. Doch nach 1...Dd7xe6 ren, schon zum Waisen gewor- 2.Ld3xg6+ Kf7xg6 3.f4-f5+ leiden. Auch Meister Sterk hatte tete die zweite Bauerngabel die sich für seine Partie gegen Alex- allesentscheidende Springergabel ander Aljechin ein neues Eröff- nebst Damengewinn ein: nungskonzept im Damengambit 3...Lh3xf5 4.Se2-f4+ Bei soviel überlegt. Doch nachdem sein Gabeln verging seinem KontraGeisteskind die ersten Gehversu- henten Jung verständlicherweise che abgeschlossen hatte, über- der Appetit an der Partie. mannte ihn der Übermut, und so sollte Aljechin den Part des Wi- http://www.schattenblick.de/ derlegers spielen im heutigen infopool/schach/schach/ Rätsel der Sphinx. Also, Wandesph06022.html rer, mit welchem schönen Manöver konnte Aljechin als Weißer die etwas aberwitzige Position www.schattenblick.de Fr, 18. November 2016 Elektronische Zeitung Schattenblick Fr, 18. November 2016 www.schattenblick.de Seite 25 Elektronische Zeitung Schattenblick ______I n h a l t_________________________________Ausgabe 2012 / Freitag, den 18. November 2016____ DIE BRILLE - REPORT MEDIZIN - REPORT POLITIK - FAKTEN POLITIK - AUSLAND POLITIK - KOMMENTAR POLITIK - MEINUNGEN DIE BRILLE - REDAKTION SCHACH-SPHINX VERANSTALTUNGEN DIENSTE - WETTER 21. Linke Literaturmesse - Bilder, Medien und Dokumente ... Gabriele Senft im Gespräch Vorratstherapeutikum Antibiotika - Gezielte Vergaben ... Thomas Marlovits im Gespräch Atenco - Wie der mexikanische Staat versucht, die Aufarbeitung zu behindern (poonal) Kuba - Regierung begnadigt 787 Gefangene (poonal) Sanktionen tabu - Unser Despot am Bosporus In schlechter Gesellschaft - Russland und der UN-Menschenrechtsrat (Pressenza) Christian Kracht - Die Toten (Roman) Schon bei der Geburt Waise Monatsplakat Dezember "Komm du" Und morgen, den 18. November 2016 Seite Seite Seite Seite Seite Seite Seite Seite Seite Seite 1 6 14 16 16 19 21 24 25 26 DIENSTE / WETTER / AUSSICHTEN Und morgen, den 18. November 2016 +++ Vorhersage für den 18.11.2016 bis zum 19.11.2016 +++ © 2016 by Schattenblick IMPRESSUM Wird schon, wird schon kühler doch, vielfach Wolken, Graupelschauer, ab und zu ein Sonnenloch und Jean-Luc im Kuschelkauer. Elektronische Zeitung Schattenblick Diensteanbieter: MA-Verlag Helmut Barthel, e.K. Verantwortlicher Ansprechpartner: Helmut Barthel, Dorfstraße 41, 25795 Stelle-Wittenwurth Elektronische Postadresse: [email protected] Telefonnummer: 04837/90 26 98 Registergericht: Amtsgericht Pinneberg / HRA 1221 ME Journalistisch-redaktionelle Verantwortung (V.i.S.d.P.): Helmut Barthel, Dorfstraße 41, 25795 Stelle-Wittenwurth Inhaltlich Verantwortlicher gemäß § 10 Absatz 3 MDStV: Helmut Barthel, Dorfstraße 41, 25795 Stelle-Wittenwurth ISSN 2190-6963 Urheberschutz und Nutzung: Der Urheber räumt Ihnen ganz konkret das Nutzungsrecht ein, sich eine private Kopie für persönliche Zwecke anzufertigen. Nicht berechtigt sind Sie dagegen, die Materialien zu verändern und / oder weiter zu geben oder gar selbst zu veröffentlichen. Nachdruck und Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Wenn nicht ausdrücklich anders vermerkt, liegen die Urheberrechte für Bild und Text bei: Helmut Barthel Haftung: Die Inhalte dieses Newsletters wurden sorgfältig geprüft und nach bestem Wissen erstellt. Bei der Wiedergabe und Verarbeitung der publizierten Informationen können jedoch Fehler nie mit hundertprozentiger Sicherheit ausgeschlossen werden. Seite 26 www.schattenblick.de Fr, 18. November 2016
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