Schattenblick Druckausgabe

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MA-Verlag
MEDIZIN / REPORT
Vorratstherapeutikum
Antibiotika - Gezielte Vergaben ...
Prof. Dr. rer. nat. Thomas
Marlovits im Gespräch
(SB) ­ Die kleinen Teufel stecken
überall: Sie tummeln sich auf der
Tastatur des Rechners, im Darm,
in Mund und Nase. Sie leben in
der Tiefsee, im Eis der Polarregionen, auf und in Pflanzen, Tieren, Steinen, in der Luft und sogar in aktiven Vulkanen ... (S. 6)
Elektronische Zeitung Schattenblick
Freitag, 18. November 2016
21. Linke Literaturmesse Bilder, Medien und Dokumente ...
Gabriele Senft im Gespräch
Mit erhellendem Blick fürs Wesentliche
Interview am 6. November 2016 in Nürnberg
POLITIK / KOMMENTAR
Sanktionen tabu Unser Despot am Bosporus
(SB) ­ Die Türkei ist als Mitglied
der NATO, geostrategischer
Brückenstaat, Wirtschaftspartner,
Bollwerk der Flüchtlingsabwehr
und Pufferzone am Rande des
Kriegsgebiets viel zu wichtig und
nützlich für die Bundesregierung Gabriele Senft
und die EU, als daß man dem Re- Foto: © 2016 by Schattenblick
gime Recep Tayyip Erdogans und
der AKP-Regierung ernsthaft in (SB) 17. November 2016 ­ Gadie Parade fahren würde . .. (S. 16) briele Senft widmet sich als politisch aktive Fotografin der Darstellung sozialer Widersprüche
POLITIK / MEINUNGEN
und staatlicher Übergriffe auf
stets positionierte und eingreiIn schlechter Gesellschaft fende Weise. In der DDR aufgeRussland und der UNwachsen und dort insbesondere
Menschenrechtsrat
im kulturellen Leben als Be(Pressenza) ­ Bei einer Abstimmung richterstatterin tätig zählt sie
in der UN-Vollversammlung über heute zu der in der Bundesrepudie Vergabe von zwei Sitzen in der blik eher kleinen Zahl sozialistiOsteuropa-Gruppe erhielt ... (S. 19) sche und sozialrevolutionäre
Geschichte ins Gedächtnis rufender und die Schattenseiten
herrschender Verhältnisse sichtbar machender Fotografinnen.
Aus der Tradition der Arbeiterfotografie, auf die sie sich beruft,
sind verschiedene Gruppen und
Organisationen hervorgegangen
wie der Verband Arbeiterfotografie, R-Mediabase und die
Fortschrittlichen Arbeiterfotografen, denen Gabriele Senft angehört. Auf deren Galerie [1]
sind auch einige Beispiele für die
Fotografie ihres Lehrers Horst
Sturm zu sehen.
Elektronische Zeitung Schattenblick
Auf der 21. Linken Literaturmesse schilderte Gabriele Senft in einem Gespräch mit dem Schattenblick, wie sie zur Pressefotografie
kam und welche Rolle der ADNFotograf Horst Sturm bei ihrem
Werdegang spielte.
Schattenblick (SB): Könntest du
etwas zu deiner Entwicklung als
Fotografin erzählen und in welcher Beziehung dies zu Horst
Sturm stand?
Gabriele Senft (GS): Da ich schon
während der Schulzeit mit dem
Fotografieren begann, wollte ich
nach dem Abitur - das war jetzt
wirklich in einem anderen Leben
- Fotojournalistin werden. Ein
möglicher Schritt dahin war ein
einjähriges Volontariat beim Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienst (ADN) der DDR in Berlin. Horst Sturm war in diesem
Jahr 1970/71 unser Mentor. Anschließend habe ich in Leipzig
studiert mit dem Ziel, auch als Diplomjournalistin, natürlich durch
das Wort, vor allem durch die
Bildaussage wirken zu können.
Horst Sturm, voll beschäftigter
Pressefotograf der Agentur, verstand es neben seiner Reporterarbeit dennoch, und vielleicht gerade deshalb, besonders erfolgreich,
uns das Fotografieren beizubringen. Dazu gehört zunächst das
Beherrschen des technische
Werkzeugs, vor allen Dingen hat
mich aber seine Persönlichkeit
und die Art und Weise, wie er an
die Aufgaben heranging, geprägt.
Er hat uns mit der Kamera begleitet und auch eigene Bilder gemacht. Wie er die Leute respektvoll in allen Bereichen des Lebens betrachtete und ihre Arbeit,
ihr Umfeld achtete, hat mich sehr
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berührt, weil das meiner eigenen
Motivation zu fotografieren sehr
entgegenkam. Nach diesem Jahr
Volontariat war ich vier Jahre in
Leipzig an der Karl-Marx-Universität. Anschließend hatte ich
das Glück, wieder in Berlin bei
der Agentur anfangen zu können.
Dort habe ich mich nach und nach
auf die Kulturberichterstattung
spezialisiert. Horst Sturm gab mir
das Versprechen, mich noch eine
Weile unter seine Fittiche zu nehmen und mir bei Problemen zu
helfen und gab mir so Sicherheit.
So konnte ich mich in Ruhe zu einer vollgültigen Pressefotografin
der Agentur entwickeln, für die
ich von 1975 bis 1990 unter anderem auch als Theaterfotografin tätig war. Der Verlag Wiljo Heinen,
der hier auf der Messe ist, hat den
Bildband Schriftsteller der DDR
herausgebracht. Das ist auch ein
Resümee meiner Arbeit in dieser
ganzen Zeit der DDR bei Lesungen, Schriftstellerkongressen und
anderen Treffen des Dialoges
zwischen Schriftstellern beider
deutscher Staaten.
SB: Wie hat sich deine Arbeit vor
dem Hintergrund, einen Blick zurück auf diese Zeit zu werfen,
weiterentwickelt?
GS: Die erste solcher Rückbesinnungen war eine Ausstellung mit
dem Titel Jahrgang 49. Das war
etwas hintersinnig, weil nur für
Leute aus der DDR in doppeltem
Sinn zu verstehen. Es gab in der
DDR eine politisch wache Gruppe von Sängern, die sich so nannte, aber es war auch ein erste umfassende Rückschau auf mein fotografisches Wirken anlässlich
meines 60. Geburtstages. Die
konnte ich in Berlin, aber auch in
meinem Geburtshaus in Belzig/Land Brandenburg zeigen. Eiwww.schattenblick.de
ne Ausstellung in der Ladengalerie der Tageszeitung junge Welt
mit Porträts aus vier Jahrzehnten,
die ich Gesicht zeigen nannte,
folgte. Es ging dabei um Porträts,
die mir in meinem Leben wichtig
erschienen, Erinnerungswert haben und auch anderen etwas geben
können. Dazu entstand ein gleichnamiger Katalog im Verlag Wiljo
Heinen. In diesem Jahr habe ich
wieder einen Bildband zusammengestellt. Das sind nicht meine
Fotografien, aber ich fühle mich
ihnen sehr nah. Der Bildband ist
meine Art des Dankes an Horst
Sturm, der im Dezember 2015
verstorben ist. Es ist mehr als ein
Katalog zu der Ausstellung, die im
April bei der jungen Welt zu sehen
war und später noch im KarlLiebknecht-Haus in Leipzig, Fotografien von Horst Sturm, die etwas über ihn und das Land, in dem
wir lebten, aussagen.
Es gibt einige Bilder von ihm, die
die Leute kennen wie zum Beispiel das weltberühmte Foto aus
dem Jahr 1954, Helene Weigel
und Bertolt Brecht auf dem Festwagen am 1. Mai. Viele kennen
Fotografien von ihm, aber der
Name Horst Sturm ist ihnen noch
häufig kein Begriff. Doch Menschen, die mit ihm vertraut sind,
stammen nicht nur aus der DDR,
er war auch in der BRD bekannt.
Klaus Rose zum Beispiel war mit
ihm befreundet und er hat auch
Freunde in der Mongolei, in Tunesien, im Libanon, in Vietnam.
Dort hat er oftmals Fotojournalisten ausgebildet, die ihn später
noch besucht und geehrt haben.
Er war wirklich eine außergewöhnliche pädagogische Persönlichkeit, zumal er nicht mit dem
Zeigefinger lehrte, sondern vielmehr ein freundschaftlicher Ratgeber war. Das machte ihn aus.
Fr, 18. November 2016
Elektronische Zeitung Schattenblick
Nach seinem Tod haben im Januar diesen Jahres über 80 Menschen in einer Traueranzeige noch
einmal an ihn erinnert. Im selben
Monat gab es auch Beiträge und
Fotoreportagen in mehreren Zeitungen wie beispielsweise in der
Berliner Zeitung, UZ, junge Welt
und Neues Deutschland. Das
Bundesarchiv Koblenz ehrte ihn
durch eine Sammlung seiner Fotografien mit eindringlichem
schönen Text. Er hat in diesem
Jahr posthum viele Ehrungen
empfangen. Und zu einer Fotoausstellung seiner Fotografien bei
der jungen Welt trafen sich viele
seiner ehemaligen Kollegen und
Freunde nach Jahren wieder.
Er hatte schon 1946 mit dem Fotografieren wieder begonnen, hat in
Berlins Trümmern gezeigt ,wie die
Menschen miteinander umgegangen sind in sehr eindringlichen,
von ihm fast zärtlich eingefangenen Momenten. Man merkt darin,
dass er die Menschen wirklich
liebte und dass viele seiner Fotografien zeitlos und aktuell bleiben.
Wenn man die Bilder anschaut,
kommt dieses Gefühl, wie wir es
im Alltag der DDR kannten, sehr
stark durch. Das ist mir gestern
wieder bei meinem Vortrag hier
auf der LLM zu einigen seiner Bilder aufgefallen. Wir verständigten
uns da nicht nur über das geschichtliche Ereignis, sondern wodurch es wirkt, welche technischen
Möglichkeiten er nutzte, also dass
er eben Licht und Schatten besonders setzte, aber im Vordergrund
stand die Aussage des Bildinhalts,
dass die Leute eine besondere
rücksichtsvolle freundliche Aufmerksamkeit hatten ihrem Leben
und Umfeld gegenüber.
hen begriffen war. Dies zu bewahren, gibt uns Hoffnung, dass es in
Zukunft vielleicht noch einmal als
Projekt aufgegriffen werden
kann. Es ist ein anderes Miteinander, eine Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau und wie
man mit Kindern umgeht und
nicht nur mit den eigenen und wie
sich Menschen verschiedener
Länder gegenseitig achten. All
das ist in diesem Bildband herausgearbeitet, und ich denke, dass es
hier gut angekommen ist. Man hat
mir jetzt angeboten, bei der RosaLuxemburg-Konferenz nächstes
Jahr im Januar noch einmal einen
ähnlichen Vortrag zu halten. Darauf freue ich mich sehr und hoffe,
dass das klappt.
Am Stand des
Wiljo Heinen Verlages
Foto: © 2016 by Schattenblick
SB: Einmal ganz allgemein gefragt: Welche Bedeutung wurde
in der Kulturpolitik der DDR dieser Art von Bildkommunikation
eingeräumt?
GS: Wenn ich meine Erfahrungen
Die Bilder zeigen, was es so in der Agentur heranziehe, denke
schon einmal gab bzw. im Entste- ich, dass die Fotografie in der
Fr, 18. November 2016
www.schattenblick.de
Kulturpolitik eine große Bedeutung hatte. Bei ADN befand ich
mich in der täglichen Wahrnehmung zwar eher in der zweiten
oder dritten Reihe. Verständlich,
da es eine Nachrichtenagentur
war, standen natürlich politische,
staatstragende Ereignisse, so die
Begegnungen der Großen aus den
Regierungen verschiedener Länder im Vordergrund, der Händedruck bei Besuchen oder Verträgen, eben diese Protokollfotografie im Vordergrund. Dann kam die
Wirtschaft, der Sport, der natürlich auch sehr wichtig war, aber
daneben genauso die Kultur. Das
war nicht so etwas wie ein fünftes
Rad am Wagen. Ich war bei den
Fotoproben vor Theaterpremie-
ren, bei vielen Gastspielen, durfte dabei sein bei internationalen
Konzerten mit berühmten Dirigenten, beim Festival des Politischen Liedes, in Ateliers von
Bildhauern oder in der Kunstausstellung Dresden. Und dann gab
es auch viele Volkskunstereignisse wie die Arbeiterfestspiele oder
Volkskunsttage von einzelnen
Bezirken (jetzt würde man Bundesländer sagen) im Palast der
Republik. Und zu meinen AufgaSeite 3
Elektronische Zeitung Schattenblick
ben der Fotobegleitung wichtiger
kultureller Ereignisse gehörten
ebenso Bildungs- und medizinische Einrichtungen sowie die
Freizeit der Menschen. Es war also wichtig und umfassend, es erfasste fast alle Bereiche, wo ich
mit Fotografien vieles veranschaulichen konnte.
SB: Der Zugang zum Bild hat
sich über die elektronischen Medien und die Informationstechnik
stark gewandelt. Wie würdest du
die Rolle einer ambitionierten Fotografie heute im Verhältnis zur
damaligen Zeit beurteilen?
GS: Es ist natürlich eine völlig
andere Art. Heutzutage kann ich
mein Material nicht nur vom
Handy aus, sondern direkt von
meiner Fotokamera in die Redaktion schicken. Dadurch ist es einerseits viel einfacher geworden,
Bilder zu machen, aber andererseits ist dadurch auch die Konkurrenz angewachsen. Aber ich
bin überzeugt, dass sich die Wiederspiegelung des Lebens zunehmend anschaulich über Bilder
definiert. Ein Portal wie Facebook zum Beispiel nutze ich nicht
dazu, von meinem eigenen Leben
von früh bis abends zu künden,
aber andere erwarten schon, dass
ich über wichtige Ereignisse,
wenn ich die Bilder davon schon
nicht in einer Zeitung wie der
jungen Welt unterbringe, wenigstens bei Facebook etwas davon
zeige. Es gehört wesentlich zu
meinem Leben, mit Fotos meine
Ansicht zu den Dingen zu verdeutlichen.
SB: Und wie steht es mit der Fotografie im Verhältnis zur Videokultur, die immer mehr um sich
greift, hat das fotografierte Bild
da überhaupt noch einen StellenSeite 4
wert oder gewinnt es möglicher- muss man abwägen, dass die Ausweise sogar an Bedeutung?
sage nicht darunter leidet, - aber
mehr auf keinen Fall.
GS: Das sind zwei Sachen, die
parallel laufen. Ich denke, vor Ort Bei einem Werbefoto für ein Buch
mit Ton und Musik und dem Ver- ist das eine ganz andere Sache,
lauf und allem präsent zu sein, aber wir reden jetzt über den dostellt zunächst einmal ein sehr kumentarischen Charakter eines
wichtiges Dokument dar, aber im Fotos, und da ist nur ein minimalFoto kann man die Facetten, die ster Eingriff zulässig. Um das,
in einer Sekunde stecken, in Ru- was man erlebt hat, eindringlich
he und noch einmal eindringlicher zu gestalten, kann man mit Licht
betrachten und bewerten. Beides und Schatten arbeiten, aber man
hat also seine Berechtigung.
darf keine anderen Personen hinzunehmen oder das Geschehen an
SB: Heute gehört die Nachbear- einen anderen Ort verlagern. Das
beitung am Computer eigentlich ist für mich unzulässig, es verzum Foto dazu. Wie siehst du fälscht die Authentizität und
auch als Dokumentaristin den schadet dem Ereignis. Das Bild
Einsatz bildverändernder Verfah- wäre nicht mehr glaubhaft.
ren in bezug auf das Fotografieren?
SB: Spätestens seit der Weimarer
Republik gibt es in Deutschland
GS: Eingriffe in das eigentliche die Tradition der ArbeiterfotograGeschehen der Reportagefotogra- fie, die der Arbeiterbewegung anfie sind für mich verboten. Ein- gehörte und aus ihrem Blickwinflussnahme finde ich insoweit le- kel heraus fotografierte. Hat es
gitim, dass ich einen Horizont ge- dazu etwas Entsprechendes in der
rade rücke, etwas Wesentliches DDR gegeben?
aufhelle oder etwas Unwesentliches abdunkle, so wie es auch im GS: In der DDR wurde keine neue
Labor üblich war. Und ich denke, Vereinigung Arbeiterfotografie
es ist gestattet, bei einer Moment- gegründet, obwohl es ehemalige
aufnahme etwas zufällig Stören- Arbeiterfotografen gab, die, wenn
des, jedoch für die Bildaussage sie noch im Besitz einer Kamera
Belangloses wegzuretuschieren. waren, gleich nach dem Krieg
Ein Beispiel dazu: Wenn einer vor weiter fotografierten. Neben
dem Laternenpfahl steht und man Horst Sturm möchte ich da auch
hat die Laterne so unglücklich er- die bekannte Fotografin Eva
wischt, daß sie ihm auf dem Foto Kemlein nennen, die ich auch zu
aus dem Kopf herauswächst - das meinen Freundinnen rechnen
würde man in natura und im Film konnte. Oder der Arbeiterfotograf
ja nicht sehen und man hätte einen Erich Rinka, der wirkte auch in
halben Schritt zur Seite machen der DDR und von ihm gibt es
können, es zu vermeiden, jedoch einen aussagekräftigen Film über
diese Zeit nimmt man sich nicht- die historische Arbeiterfotografie.
, solche Sachen können meiner Eugen Heilig, in den 20er Jahren
Meinung nach bei der Fotobear- Mitbegründer der historischen
beitung korrigiert werden, wenn Arbeiterfotografie, gab die Mites nicht auf die Sekunde des Er- gliederzeitschrift Arbeiterfotograf
eignisses angekommen war. Das heraus. Die leitete damals die Arwww.schattenblick.de
Fr, 18. November 2016
Elektronische Zeitung Schattenblick
beiter praktisch an, half, technische oder auch ästhetische
Grundsätze zu erlernen und sich
darüber auszutauschen. Sein
Sohn Walter Heilig leitete nach
1945 den Illus-Bilderdienst, aus
dem später ADN-Zentralbild hervorging und er gewann 1949
Horst Sturm als Berichterstatter.
Die Grundsätze der Arbeiterfotografie wurden bei der Agentur, soweit das in der täglichen Berichterstattung möglich war, berücksichtigt. Praktisch eine Generation später, 1970, hat Walter Heilig
mich eingestellt. So gab es in gewisser Weise auch für mich von
Anfang an eine Verbindung zu den
Arbeiterfotografen. Fotografin Tina Modotti zum Beispiel, ist auch
in der Arbeiterbewegung bekannt.
Sie hat über ein halbes Jahr bei
den Heiligs in Berlin gewohnt und
in dieser Zeit auch Bilder für die
Arbeiterfotografie, für die Arbeiter Illustrierte Zeitung gemacht.
Ich fühle mich dieser Tradition
der historischen Arbeiterfotografie sehr verbunden, obwohl meine Eltern keine Arbeiter waren
und ich als Fotojournalistin das
Ganze eigentlich nur aus der geschichtlichen Perspektive beobachten konnte. Das Thema einer
Neugründung Arbeiterfotografie
stand in der DDR nie wirklich zur
Debatte, weil es dort andere Möglichkeiten gab wie Arbeitsgemeinschaften und Fotozirkel
beim Kulturbund. Auch ich habe
in einem solchen Fotozirkel des
Kulturbunds während der Schulzeit in meiner Heimatstadt Luckau erste Fähigkeiten im Fotolabor
und bei gemeinsamen Ausflügen
gelernt. In der BRD hat man dann
1978 in Essen mit der Gründung
eines Bundesverbandes Arbeiterfotografie diese Tradition der hiFr, 18. November 2016
Bücher von Gabriele Senft am
Stand des Wiljo Heinen Verlages
Fotos: 2016 by Schattenblick
www.schattenblick.de → INFO­
POOL → DIE BRILLE → REPORT:
Berichte und Interviews zur 21. Lin­
ken Literaturmesse in Nürnberg im
Schattenblick unter
http://www.schattenblick.de/
infopool/d­brille/report/
dbri0079.html
BERICHT/059:
storischen Arbeiterfotografie wie- 21. Linke Literaturmesse und nicht vergessen ... (1) (SB)
derbeleben wollen.
BERICHT/060:
Linke Literaturmesse SB: Gabriele, vielen Dank für das 21.
und nicht vergessen ... (2) (SB)
Gespräch.
INTERVIEW/077:
21. Linke Literaturmesse - Debattenknigge ... Walter Bauer im Gespräch (SB)
Anmerkung:
INTERVIEW/078: 21. Linke Litera[1] http://www.arbeiterfotograturmesse - Aktionskunst kollektiv ...
fen.de/galerie/index.php?/category/91 Bernd Langer im Gespräch (SB)
www.schattenblick.de
Seite 5
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MEDIZIN / REPORT / INTERVIEW
Vorratstherapeutikum Antibiotika - Gezielte Vergaben ...
Prof. Dr. rer. nat. Thomas Marlovits im Gespräch
"Antibiotika ­ Stumpfe Waffen?"
Diskussionsveranstaltung auf Einladung des Zentrums für Strukturelle Systembiologie (CSSB)
und der Akademie der Wissenschaften in Hamburg am 8. November 2016
im Lichthof des Altbaus der Staats­ und Universitätsbibliothek Hamburg
Prof. Thomas Marlovits über den Aufbruch in neue Welten des Mikro­ und Nanokosmos und wie man
über die Schönheit der Strukturen einerseits fasziniert sein kann, um gleichzeitig ihre tödliche
Funktionalität in eine Waffe gegen Krankheitserreger umzukehren ...
Harmloser Anblick unter dem Elektronenmikroskop ­ effektive und manchmal todbringende Überlebensstrategien
Fotos: © HZI
Die
kleinen Teufel stecken überall:
Sie tummeln sich auf der Tastatur
des Rechners, im Darm, in Mund
und Nase. Sie leben in der Tiefsee, im Eis der Polarregionen, auf
und in Pflanzen, Tieren, Steinen,
in der Luft und sogar in aktiven
Vulkanen. Doch sind nicht einmal alle mikrobiellen Organismen bekannt, die den menschlichen Körper besiedeln. Ohne seine bakteriellen Mitbewohner wäre dieser zwei Kilogramm leichter, schätzt man und allein in einem Teelöffel Erde können mindestens 100.000 Bakterien Platz
finden - die restlichen Mikroorganismen (Hefen und Pilze) nicht
mitgerechnet. Wären sie alle pathogene Keime oder von ähnlichen Macht- oder Herrschafts-In(SB) 17. November 2016 ­
Seite 6
teressen gelenkt und getrieben
wie die Spezies Mensch, dann
hätte die menschliche Rasse keine Chance. Denn die Überlebensstrategie pathogener Bakterien
auf Kosten ihres Wirts ist effektiv und tödlich: Unter günstigen
Bedingungen vermehren sie sich
nur. Sobald ihre Population aber
eine "kritische Masse" überschritten, die Anzahl der Keime
eine spezifische Größe erreicht
hat, erfolgt der eigentliche Angriff: Gifte werden ausgeschüttet.
Manche Bakterien haben dafür
sogar ein spezielles Injektionsbesteck parat. Erst wenn es in der
Regel zu spät ist, bemerkt der
Körper die Invasion - und wird
mit der Vielzahl der Herde kaum
noch fertig. Gegen solche Tücke
hat der Mensch keine eigene
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Waffe aufzubieten. Als es ihm
dann gelang, die Abwehrmechanismen anderer Mikroorganismen als Antibiotika zu nutzen,
wie das Toxin des Schimmelpilzes, Penicillium chrysogenum,
schien sich das Blatt zu wenden.
Inzwischen zeigt sich, daß die
fremdartigen Organismen in Hinsicht auf das langfristige Überleben und der Selbstbehauptung in
dieser Welt noch weitere, extrem
wirksame Strategien auf Lager
haben. Durch die rasche Vermehrung und ein reiches Angebot an
Mutationen und die Möglichkeit,
durch Plasmide hilfreiche Stoffwechselanpassungen an andere
Bakterienarten weiterzugeben,
sind sie in der Lage, sich auf Gifte einzustellen und sie sogar als
Fr, 18. November 2016
Elektronische Zeitung Schattenblick
selektionsfördendes Hilfsmittel zur Selbstoptimierung zu nutzen.
Die gefürchtete Resistenzenbildung war Thema der
Podiumsdiskussion, zu der
die Akademie der Wissenschaften in Hamburg gemeinsam mit dem neuen
Zentrum für Strukturelle
Systembiologie CSSB eingeladen hatten. [1] Jährlich
sterben allein in der Europäischen Union 25.000
Menschen aufgrund von
Antibiotikaresistenz,
schätzt das Europäische Zentrum
für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) in
einer gemeinsamen Studie mit der
Europäischen Arzneimittelagentur (EMEA). [2] Befürchtet wird,
daß sich altbekannte und auch neu
auftretende Infektionskrankheiten
verstärkt ausbreiten könnten.
Während vor allem regulatorische
und finanzielle Rahmenbedingungen diskutiert werden, um den
leichtfertigen Umgang mit der
ehemaligen Wunderwaffe einzuschränken und ausreichend wirksame "Reservestoffe" für den
Ernstfall zurückzulegen, sehen
manche Wissenschaftler und Forscher auch ein Defizit zwischen
der akademischen Grundlagenforschung, die an einem bestimmten Punkt endet, und der Industrieforschung, die erst viel später
in die Entwicklung von Arzneimitteln einsteigen möchte. Die
mühevolle und kostspielige
Kleinarbeit, die nicht finanziert
wird, könnte ein wenig diskutierter Grund für die Versorgungslücke sein.
neue Grundlagen, neue Angriffspunkte, die dann in eine weitere Entwicklung geführt werden können.
SB: Suchen Sie nach ähnlichen molekularen Strukturen wie dem eindrucksvollen Beispiel der nanoskaligen Injektionsnadeln, das
Frau Prof. Dersch auf dem
Podium erwähnte [3], mit
denen Bakterien ihre Wirtszellen angreifen?
"Wenn ich weiß, wie die einzelnen
Bausteine zusammenarbeiten, die
in der dreidimensionalen Struktur
dieser Nadel verkörpert sind,
dann kann ich die Funktionalität
dieser Nadel ausschalten." (Prof.
Thomas Marlovits)
Foto: © 2016 by Schattenblick
dem stellvertretenden Direktor
des CSSB, einer neuen Forschungskooperation, die durch interdisziplinäre Bündelung und
einen gemeinsamen Ansatz solche Lücken überbrücken möchte.
Schattenblick (SB): Herr Prof.
Marlovits, werden an dem von
Prof. Wilmanns, Prof. Meier und
Ihnen geleiteten Zentrum für
strukturelle Systembiologie auch
Antibiotika erforscht? Welche
Verbindung besteht zwischen Ihrer Forschung und dem Thema
des heutigen Abends?
Thomas Marlovits (TM): Unsere
Mission besteht eigentlich darin,
Erkenntnisse in die Welt zu bringen, das heißt auch neue Erkenntnisse darüber, wie InfektionsweIm Rahmen der Veranstaltung ge ablaufen. Wir sind nicht primär
sprach der Schattenblick mit Prof. da, um dann Antibiotika daraus zu
Dr. rer. nat. Thomas Marlovits, entwickeln, sondern wir schaffen
Fr, 18. November 2016
www.schattenblick.de
TM: Ganz genau. Dieses
Thema, das jetzt auch vom
Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung aufgegriffen wurde, stammt ursprünglich aus unserem Labor. Wir haben die Nadel entdeckt - die schaut tatsächlich genau so aus wie eine Injektionsnadel - und nun wollen wir
wissen, wie genau denn eigentlich so eine Injektionsmaschine
funktioniert, wie sie sich zu einer
funktionalen Einheit aufbaut.
Denn wenn wir das wissen, dann
können wir auch etwas dagegen
oder - in einem anderen Fall vielleicht auch etwas dafür tun.
Das ist genau genommen unser
Ansatz dahinter.
SB: In welchem Verhältnis stehen
dabei in Ihrem Zentrum
Grundlagenforschung und die anwendungsbezogene Forschung?
TM: Das Centre for Structural
Systems Biology, CSSB, als solches hat die Mission, ausschließlich Grundlagenforschung zu machen. Sein Pendant, das DZIF, das
Deutsche Zentrum für Infektionsforschung, hat dagegen das ausschließliche Ziel, anwendungsorientierte Forschung zu machen.
Und wichtig, glaube ich, wird es
für uns in Zukunft werden, hier
Seite 7
Elektronische Zeitung Schattenblick
"Irgendwann kommt man zu dem Punkt, da sagt man, jetzt muß ich
dieses Ding mal sehen." (Prof. Marlovits)
Grafik: 2014 by Abrusci, McDowell, Lea, Johnson ­ open access ar­
ticle under CC­BY licence.(http://creativecommons.org/licen­
ses/by/3.0/), via Elsevier sponsored document aus: Curr Opin Struct
Biol. 2014 Apr;25(100): 111­117.
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4045390/#__ref­li­
stid847620titl
Brücken zu schlagen, das heißt
zunächst die Kommunikation
zwischen Grundlagenforschung
und Anwendung aufzubauen, um
das zu garantieren.
TM: Das Konstrukt, zehn Partner
an einen Tisch zu bringen, ist an
sich schon ungewöhnlich. Wenn
das ein Erfolg wird, dann ist das
allein der Organisationsstruktur
zu verdanken. Die Idee war ursprünglich - und jetzt muß ich die
Idee der Gründerväter aufgreifen,
wie sie mir mitgeteilt wurde -, ein
übergreifendes Zentrum zu haben, in dem die Forschungspartner, unabhängig von der Lokalisation der jeweiligen Mutterinstitution, ein Thema belegen.
SB: Das CSSB ist eine Kooperation von einer Anzahl unterschiedlichster wissenschaftlicher
Institutionen aus Norddeutschland, darunter drei Universitäten
und sechs außeruniversitäre Forschungseinrichtungen. Warum
schien so vielen unterschiedlichen Partnern ein spezielles Zentrum für die Bündelung der Infek- Und das Thema Infektionsbiolotions- und Immunforschung not- gie paßt einfach ganz gut zu
wendig und sinnvoll?
Hamburg, allein schon aus TraSeite 8
www.schattenblick.de
dition. Denn in Hamburg haben
wir auf der einen Seite das Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin (BNITM) und dann das
Heinrich-Pette-Institut (HPI) mit
dem speziellen Fokus auf virale
Infektionen. Allein schon die
Lage in der Nähe eines internationalen Hafens war sicher prädestiniert für die Entwicklung
des ersten infektionsbiologischen Forschungsinstituts hier in
Hamburg. Und das UKE (Universitätsklinikum Eppendorf) ist
mit seiner Behandlungstechnik
international bekannt und angesehen. Und schließlich war der
Standort DESY naheliegend, um
all das zusammenzubringen, da
unser Schwerpunkt die Strukturelle Systembiologie ist, unser
Ansatz also darin liegt, molekulare Strukturen in ihrer Dreidimensionalität zu verstehen, um
daraus abzuleiten, wie sie funktionieren, und DESY einer der
weltweit besten Plätze ist, um
Fr, 18. November 2016
Elektronische Zeitung Schattenblick
solche Strukturen analysieren zu sen. Das sind Hochdurchsatzverkönnen.
fahren, bei denen eine Reihe von
organischen Stoffen, möglichen
SB: Nun weiß man bereits seit potentiellen Medikamenten oder
mindestens zwanzig Jahren, daß Grundstrukturen davon, auf ihre
durch das Auftreten von Resisten- diesbezügliche Funktionalität gezen eine Lücke in der Antibiotika- testet werden. Zum Beispiel unversorgung und Arzneimittelent- tersucht man ihre inhibierende
wicklung zu erwarten ist. Inwie- Wirkung.
weit war das ein Argument dafür,
sich in einer Kooperative zusam- SB: Das heißt, man schaut nach,
menzuschließen und Kräfte und ob sie der passende Stöpsel
Wissen gewissermaßen zu bün- sind, der die Injektionsnadel verdeln?
schließt?
TM: Primär war das kein Grund,
den ich unterschreiben könnte,
weil die Mission des CSSB ausschließlich in dem Herbeibringen
neuer Erkenntnisse liegt. Uns
geht es nicht in erster Linie darum, ein Zielmolekül erkannt zu
haben, um dagegen ein Medikament zu entwickeln, sondern
überhaupt darum, neue Systeme
zu erkennen und zu erforschen,
die in der Infektion essentiell eine Rolle spielen, wie etwa diese
Nadel. Doch wenn ich weiß, wie
die einzelnen Bausteine zusammenarbeiten, die in der dreidimensionalen Struktur dieser Nadel verkörpert sind, dann kann
man ihre Funktionalität ausschalten und wird nicht mehr infiziert.
Das heißt, es läßt sich möglicherweise mit einem neu entwickelten
Medikament Sand ins Getriebe
bringen, im wahrsten Sinne des
Wortes.
SB: Haben Sie das entsprechende
Stopfmaterial für die Kanüle denn
schon gefunden? Wurde die winzige Injektionsmaschine schon
mal ausgeschaltet?
TM: Ja, nicht am CSSB, aber
noch während meiner Tätigkeit in
Wien haben wir einige sogenannte chemische Screens laufen lasFr, 18. November 2016
TM: Genau. Dazu gibt es einerseits regelrechte chemische Bibliotheken im Besitz von Unternehmen, andererseits stehen dafür
auch schon öffentlich zugängliche Bibliotheken zur Verfügung.
Und damit können wir hunderttausend Substanzen testen, ob sie
tatsächlich einen Effekt zeigen. In
der Regel sind die Effekte sehr
gering, wenn sie überhaupt aufscheinen. Aber was man daraus
ableitet, sind sozusagen die ersten
chemischen Leitstrukturen, das
heißt dreidimensionale Strukturen
eines Moleküls, die gegenüber
der bakteriellen Nadel beispielsweise einen Effekt zeigen.
Leider ist das Thema in der Podiumsdiskussion etwas zu kurz gekommen, denn dort hört normalerweise die akademische Forschung auf. Die Industrieforschung möchte erst sehr viel später einsteigen. Die Brücke, die
man hier schlagen müßte, besteht
darin, diese vorläufigen Leitstrukturen zu verwenden und in
die Hände eines medizinischen
Chemikers zu geben, der gezielt
versucht, sie an einigen Stellen zu
verändern. Dann stellt man fest,
ob die Moleküle in ihrer inhibierenden Wirkung potenter oder
weniger potent geworden sind.
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Das ist ein ausgesprochen zeitund kostenintensiver Entwicklungsschritt hin zu einem effektiven Wirkstoff, der, wie gesagt,
von der akademischen Forschung
in der Regel nicht mehr abgedeckt
werden kann.
SB: Diese Veränderungen an der
chemischen Struktur und auch das
Überprüfen der Wirkung finden
gewissermaßen am Bildschirm im
Modell statt. Lassen sich daraus
denn tatsächlich neue Zusammenhänge erkennen, von denen
man nicht bereits bei der Programmierung oder der dazu notwendigen Vorermittlung ausgegangen ist? Ergibt sich ein Erkenntnisgewinn allein aus der Beobachtung oder aus der Darstellung von dreidimensionalen Molekülen?
TM: Ja. Der Ansatz in der sogenannten Strukturbiologie besteht
darin, nicht das Erhalten der
dreidimensionalen Struktur als
Endpunkt einer Forschung anzusehen, sondern vielmehr als
eine besser ausformulierte Arbeitshypothese. Bis man tatsächlich eine dreidimensionale
Struktur darstellt, werden sehr
viele biochemische und molekularbiologische Experimente gemacht. Irgendwann kommt man
zu dem Punkt, daß man sagt, es
gibt so viele Möglichkeiten, ich
weiß ungefähr, wie das funktionieren könnte, aber ich muß dieses Ding mal sehen. Und erst
dann, wenn ich es sehe, kann ich
einerseits überrascht sein, weil
es vielleicht ein völlig anderes,
noch ganz unbekanntes Konzept
ergibt, oder es ist erwartungsgemäß eines, das man vielleicht
schon mal irgendwo gesehen hat
und sich in diese Reihe eingliedert.
Seite 9
Elektronische Zeitung Schattenblick
Sobald man ein neues Konzept in
der dreidimensionalen Darstellung hat, beginnt man wiederum
eine Arbeitshypothese aufzustellen und fragt: Wie funktioniert
das? Wozu dient dieser oder jener
Teil in der Gesamtfunktionalität?
Und dann beginnt man erneut Experimente um diese Fragestellung
herum, um genau das festzustellen. Das ist die Mission des
CSSBs, es geht um den ganzen
Zyklus: Wir haben zunächst Systeme, die zum Beispiel ein Genom kodieren, die Codes werden
umgesetzt in Proteine, die Strukturen aufbauen, die eine Funktion
haben, etwa diese Nadel für den
initialen Infektionsprozeß zu bilden, und dann versuchen wir
schließlich, die Details dieser Nadel noch genauer kennenzulernen.
SB: Sie sagten vorhin, daß bei der
Wahl des Standortes des CSSB
auch die Nähe des DESY eine
große Rolle gespielt hat, weil es
eines der besten Einrichtungen
für die Strukturaufklärung darstellt. Was leistet die physikalische Grundlagenforschung für die
Biologie?
TM: Zum einen bietet der DESYCampus die nötigen Infrastrukturen. Das sind die sogenannten
Streamlines, die beispielsweise
verwendet werden, um Streubilder aus Kristallen zu machen oder
um dreidimensionale Strukturen
zu berechnen, das ist das eine.
Zum anderen ist DESY der Standort, der für den Bau des sogenannten freien Elektronen-Lasers von
einem internationalen Konsortium ausgewählt wurde. Es gibt
momentan einen in Standford,
doch hier in Hamburg wird eigentlich der weltstärkste Laser
gebaut. Man erhofft sich, mit dieSeite 10
sem Laser vielleicht auch noch
schneller und genauer dynamische Prozesse von solchen Molekülkomplexen analysieren zu
können. Es wird sich zeigen, ob
das tatsächlich machbar sein wird
oder nicht, denn noch sind es
theoretische Konzepte.
Darüber hinaus gibt es natürlich
andere Initiativen, die für die Biologie dort durchaus interessant
sind. Da gibt es Bereiche aus der
Nano-Wissenschaft und Ideen,
die chemischen Institute zu bündeln, chemische Biologie zu machen, das also zu ermöglichen,
was ich vorhin über medizinische
Chemie gesagt habe, die hier eine
enge Schnittstelle haben.
Das allein ist eine Chance. Die
Frage ist, wie sie genutzt wird:
Gibt es Mechanismen, die es ermöglichen, daß sich ein Physiker für biologische Fragestellungen begeistert und auch umgekehrt? Eines der spannendsten
Elemente in der biologischen
Forschung ist durchaus, daß ihre Erkenntnisse - im Grunde gilt
das für die ganze naturwissenschaftliche Forschung - durch
die Entwicklung neuer Technologien generiert und weiter vorangetrieben werden und daß ein
Biologe plötzlich eine Idee entwickelt, welche Technologien
gebraucht werden, um das zu
bearbeiten.
Man entwickelt vielleicht ein solches Gerät, macht damit die nötige Analyse und kommt dann
plötzlich auf neue Fragen oder
andere Dinge, die man vorher
überhaupt nicht gesehen hat. Das
heißt, es kommt ein neuer
Schwung an biologischen Forschungsaufgaben auf einen zu,
und wenn man ein Umfeld
schafft, wo sich diese beiden paritätisch zueinander entwickeln
können, dann kann daraus nur eine sehr fruchtbare und spannende
Forschung entstehen.
Aber insgesamt gesehen würde
ich sagen: Die meisten Dinge in
der Wissenschaft passieren immer
dort, wo Leute zusammenkommen, die einen unterschiedlichen
Hintergrund haben und sich Gedanken über ein und das gleiche
Problem machen, es aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten.
Wenn sie ins Reden kommen, so
einfach und so banal das jetzt
klingen mag, erkennt man vielleicht eher neue Konzepte und
schafft es, tatsächlich, einen Paradigmenwechsel in der Forschung
durchzusetzen.
SB: In den biomedizinischen Beschreibungen werden häufiger
SB: Dieser interdisziplinäre An- Begriffe wie Abwehr und Einsatz scheint überhaupt der neue dringen verwendet oder es wird
Trend in der Forschung zu sein? sogar vom Austricksen in der Immunabwehr gesprochen. Gehen
TM: Jeder fühlt sich in seiner Sie als Strukturbiologe eher von
Community, seinem gewohnten einem absichtsvollen Handeln der
Umfeld, normalerweise wohl. Mikroorganismen, der Bakterien
Doch in dem Moment, wo man an oder Viren aus oder sind das für
seine Grenzen stößt, wird es inter- Sie alles rein biochemische Reakessant. Und jetzt verpflanzt man tionen, die nach einem festgelegsozusagen ein biologisches The- ten Programm ablaufen aufgrund
ma mit seinen Technologien mit- von welchen Kräften auch imten auf einen Physiker-Campus. mer?
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Fr, 18. November 2016
Elektronische Zeitung Schattenblick
TM: Grundlegend gehe ich davon
aus, daß das schon ein Programm
ist. Was wir als Lebewesen sehen,
ist ja genau genommen die Geschichte einer ganzen Evolution,
die dahinter steht. Und je nach
Umwelteinflüssen hat dieser Organismus ein gewisses Potential,
sich in die eine oder andere Richtung weiterzuentwickeln. In den
Mikroorganismen geht dieses
Grundprinzip einfach viel schneller voran. In der schnellen Generationszeit, das heißt, so alle 30
Minuten, also relativ kurz gesehen, habe ich eine Tochterzelle.
Heute haben wir über Antibiotika
gesprochen, genau genommen,
was man macht, wenn man zu
lange Antibiotika gibt. Das ist ein
Experiment, ein Selektionsprozeß. Ich verändere die Umweltbedingungen und ermögliche, daß
sich dann vielleicht nur ein Teil
davon multiresistent weiterentwickelt. Das ist eine Antwort auf
die Umgebung. Die Möglichkeit,
sie zu geben, steckt in der Evolutionshistorie, eingebaut in den
Genomen.
Antibiotika zu geben ist ein Experi­
ment, ein künstlich initierter Selekti­
onsprozeß.
Foto: © 2016 by Schattenblick
den Molekülen, die in der Regel
nicht alleine in unserem Körper,
in den Zellen, arbeiten. Das heißt,
sie brauchen andere, um vielleicht
eine feste "Interaktion" einzugehen, also einen Partner für sich zu
finden. Wenn sich ein paar Verschiedenartige binden, kann sich
eine Struktur ausbilden, die die
eine oder andere chemische Reaktion ermöglicht oder erlaubt.
Und wenn es einen Weg gibt, das
aufs Genom rückzukoppeln, dann
kann sich ein Organismus in die
eine oder andere Richtung hin
weiterentwickeln. Nanomaschinen sagen wir dann deswegen,
weil die Komponentensysteme
Bindungsflächen haben. Das sind
in der Regel Proteine, die durch
bestimmte Muster schon zusammenpassen, die aufeinander abgestimmt sind und dann ein größeres Gebilde zusammensetzen.
SB: Würden Sie einen Begriffwie
"austricksen" eher als pseudowissenschaftlich ansehen oder als ein
Mittel, sich in der Öffentlichkeit
irgendwie verständlich zu machen?
SB: Ein anderer Blickwinkel auf
Ihre Forschung ist ein sehr mechanischer. Im Titel Ihrer nächsten Arbeit geht es um Nanomaschinen. Kann man denn pathogene Mikroorganismen tatsächlich
auf solche Mechanik reduzieren?
SB: Ich habe Nanomaschinen immer so verstanden, daß es mechanische Einheiten sind, nur eben
sehr klein. Bei mechanischen
Maschinen stelle ich mir dann eine Regelmäßigkeit vor: Ein
Zahnrädchen greift in das nächste. Aber gleichzeitig handelt es
sich ja um biologische Systeme.
Gibt es dabei auch Reaktionen,
die aus dem Ruder laufen, die
man nicht vorhersagen kann? Und
wird so etwas mit einkalkuliert?
TM: Nein, das ist die Möglichkeit
der Reaktionsfähigkeit. Man darf
nicht vergessen, daß wir fertige
Systeme untersuchen, wir sind
Teil der Evolution, noch mitten
im ganzen Prozeß. Das ist ein Teil
des Lebens. Das heißt, manches
Mal verstehen wir nicht, wie sich
neue Dinge entwickeln können.
Es gibt Theorien, die sagen, es
müsse zu kleinen Veränderungen
in Teilaspekten kommen, bis
TM: Wo kommt der Begriff der
Nanomaschine eigentlich her, das
sind ja zwei Dinge, die Maschine
und das Nano. Nano kommt durch
die Größeneinheit, durch die
Kleinheit, in der wir uns gerade
befinden. Für die Maschine kann
man im Prinzip eine Analogie
zum Auto sehen. Ich habe hunderte von Einzelteilen, die zusammen eine funktionale Einheit ergeben. Und so ähnlich ist das mit
TM: Ich würde eher sagen, es
wird nicht einkalkuliert, sondern
vielleicht sogar bewußt eingesetzt, indem wir zum Beispiel
Mutationen einführen, Veränderungen in einzelnen, kleinen Stellen. Wenn ich eine bestimmte Arbeitshypothese verfolge, ist das
ein grundlegendes Prinzip, um
festzustellen, wie diese Struktur
ausschaut. Genauer gesagt: Wenn
ich glaube, daß genau da eine be-
Fr, 18. November 2016
plötzlich wieder ein neues System
gebaut wird. Aber es bedarf immer dieses Selektionsprozesses,
den man auch mit sich nimmt.
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Seite 11
Elektronische Zeitung Schattenblick
stimmte chemische Reaktion ablaufen müßte oder daß dieser Teil
wichtig ist, dann versuche ich genau diesen Teil spezifisch zu ändern. Und sobald ich eine gewisse Auflösung habe und weiß, welche Aminosäure, die Teil dieses
Proteins ist, an dieser Stelle sitzt,
kann ich das aufs Genom zurückführen und mir ansehen, wie das
kodiert ist. Ich verändere es durch
eine bewußt eingeführte Mutation genau an dieser Stelle und verändere diese Aminosäure x zu einer Aminosäure y, die andere Eigenschaften hat und dann stelle
ich experimentell die Frage: Hat
sich die Funktion nun verändert
oder nicht? Es ist ein zusätzlicher
Erkenntnisgewinn, wo sich diese
"aktive Stelle", wie wir sie nennen, zum Beispiel im Enzymkomplex befindet.
SB: Haben Sie schon mal etwas
gefunden, was Sie selber total
überrascht hat?
TM: Ja, wenn man zum ersten
Mal diese Nadelkomplexe sieht,
das glaubt man nicht. Das sieht
aus wie eine korinthische Säule,
wirklich ästhetisch, ein wunderschönes Ding. Ich kann Ihnen sagen, was ich gemacht habe, als ich
sie zum ersten Mal im Mikroskop
sah: Ich habe mir gesagt "okay"
und dann den Elektronenstrahl
abgestellt, mir einen Kaffee geholt, ihn wieder angeschaltet und
mir die Frage gestellt: Ist das
noch da oder nicht?
Ich meine, das sind ganz einfache
Dinge und es ist auch eine entscheidende Phase nicht nur in
dem Erkenntnis-, sondern in dem
Entdeckungsprozeß, denn das
sind zum ersten Mal die ersten
beiden Augen weltweit, die dieses
Ding sehen - ein sehr privater
Seite 12
Was an unentwirrbare Wollhaufen oder Luftschlangen erinnert, sind
sogenannte Proteinbausteine, deren Strukturen bereits aus verschie­
denen anderen Bakterien isoliert und aufgeklärt worden sind und im
Modell neu zu funktionellen Einheiten einer ganz anderen Spezies zu­
sammengesetzt werden.
Grafik: 2014 by Abrusci, McDowell, Lea, Johnson ­ open access
article under CC­BY licence.(http://creativecommons.org/licen­
ses/by/3.0/), via Elsevier sponsored document aus: Curr Opin Struct
Biol. 2014 Apr;25(100): 111­117.
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4045390/#__ref­li­
stid847620titl
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Fr, 18. November 2016
Elektronische Zeitung Schattenblick
Moment auch, wo man sich vielleicht ein paar Minuten zurückzieht und es genießt, daß man sagen kann: Das ist jetzt meine Zeit.
SB: Haben Sie in dem Moment
die Bedeutung geahnt, daß es was
Fundamentales ist?
TM: Die Bedeutung kennt man
noch nicht so wirklich, aber man
hat natürlich das Gefühl, man befindet sich auf einer interessanten
Spur. Ich selber bin ein bißchen
architekturaffin und da kommt
mir durch die Strukturbiologie,
auch wenn sie sich in einem anderen Maßstab abspielt, sehr gelegen, mir darüber Gedanken zu
machen, wie sich Funktionalität
über die Struktur definiert. Ein
Auto fährt nur, weil es so gebaut
ist. Das heißt nicht, daß das die
einzige Lösung ist, Autos gerade
so zu bauen. Oder der Körper, den
wir haben, mit seinem Skelett, das
uns erlaubt, geradeaus zu gehen:
Würden wir heute ein Skelett neu
bauen, würden wir das nie so anlegen wie unseres gewachsen ist.
Der aufrechte Gang hat andere
Probleme mit sich gebracht. Statt
dessen würden wir das haltgebende Gerüst des Körpers wunderschön gleichmäßig in der Mitte
anordnen. Man lebt sozusagen
mit dieser Bürde, die die Evolution mit sich bringt.
SB: In welche Richtung müßte Ihrer Meinung nach die pharmazeutische Forschung und die Medizin
gehen, was Antibiotika und vielleicht auch generell Ihre Forschung betrifft?
TM: Ich glaube, es wäre wichtig,
wenn die einzelnen Vertreter in
diesen Disziplinen noch viel
mehr miteinander sprechen beziehungsweise in Kontakt treten
Fr, 18. November 2016
können. Für mich wäre es spannend, auch Patienten zu sehen
und die Notwendigkeiten, die ein
Arzt als wichtig empfindet, weil
ich auch glaube, daß das auf unsere Forschungsaktivität einen
direkten Einfluß haben kann, genauso auch die Interaktion mit
der pharmazeutischen Industrie.
Als akademischer Forscher hat
man in der Regel überhaupt keine Ahnung, wie die Prozesse in
der Industrie ablaufen und was
deren Herausforderungen sind,
die superspannend sein können,
aber sie sind einfach anders gelagert. Und gegenseitiges Verständnis, genau genommen miteinander sprechen kann hier sehr
viele Barrieren senken zum Wohle der Gesamtheit. Allein schon
eine Podiumsdiskussion kann dabei helfen. Ein Verständnis aufzubringen, ist schon sehr wichtig.
Das würde für die Gesellschaft
eigentlich langfristig sehr viel
mehr bringen.
TM: ... ist schon cool - als Wissenschaftler betrachte ich zumindest mich so ein bißchen wie Columbus. Man setzt Segel, weil
man nach Indien möchte und landet ganz woanders. Das ist das erste. Dann muß man auch erkennen, daß man woanders gelandet
ist, so kann auch etwas Großartiges daraus werden oder nicht.
Und ich meine, die grauen
Flecken dieser Erde sind nur in
einem für uns anderen Maßstab
hier, und die gilt es zu ergründen.
SB: Das war ein schönes Schlußwort. Haben Sie vielen Dank für
das Gespräch.
Anmerkungen:
[1] Ein Bericht zu der Podiumsdiskussion folgt in Kürze.
[2] http://ecdc.europa.eu/en/publications/Publications/0909_TER_
The_Bacterial_Challenge_Time_to_React.pdf
[3] Professorin Dr. rer. nat. Petra
SB: Man hat das Gefühl, daß die Dersch, Leiterin der Abteilung MoStrukturbiologie, eine lustvolle lekulare Infektionsbiologie HelmAngelegenheit ist, wenn man Ih- holtz-Zentrum für Infektionsfornen zuhört ...
schung.
Berichte und Interviews zu den Themen:
­ Bezichtigungsmedizin am Beispiel der Proteomanalyse
­ Hirntod im Handel
­ Ersatzteillager Mensch
­ Das System e­Card; E­Cardmedizin; E­CARDstopp
­ Der Entnahmediskurs
­ Der gläserne Patient
­ Kostenpauschalen für die Psychiatrie
­ Versorgungsprophylaxe
finden Sie im Schattenblick unter Medizin / Report:
http://www.schattenblick.de/infopool/medizin/ip_medizin_
report_bericht.shtml
http://www.schattenblick.de/infopool/medizin/ip_medizin_
report_interview.shtml
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POLITIK / FAKTEN / MENSCHENRECHTE
poonal ­ Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen
Mexiko
Atenco: Wie der mexikanische Staat versucht, die Aufarbeitung zu behindern
von Anayeli García Martínez
neralstaatsanwaltschaft PGR
am 17. September offiziell bekannt, dass nun der Interamerikanische Gerichtshof mit der
Klage betraut wurde. Das ist die
höchste richterliche Instanz in
Amerika, die bemächtigt ist,
einen Schuldspruch gegen den
mexikanischen Staat zu erlassen.
Frauen kämpfen gegen sexuelle Gewalt
Foto: © Cimac/César Martínez López
(Mexiko­Stadt, 19. September
2016, cimacnoticias) ­ Ohne
Sachbericht, wie sonst üblich,
wenn ein Fall an das Gericht
überstellt wird, übergab die Interamerikanische Menschenrechtskommission CIDH die Klage der
elf Überlebenden der sexualisierten Gewalt in Atenco an den Interamerikanischen Gerichtshof
für Menschenrechte (CoIDH).
Anders als in anderen Fällen von
Menschenrechtsverletzungen,
die in internationalen Verbänden
öffentlich gemacht werden, gaben im Fall "Mariana Selvas Gómez und andere" als erste das Innenministerium Segob, das Außenministerium SRE und die GeSeite 14
Bei dem 2006 von dem damaligen Gouverneur Enrique Peña
Nieto geleiteten Polizeieinsatz
im mexikanischen Atenco (Bundesstaat Mexiko) wurden neben
Männern auch 47 Frauen verhaftet. Mindestens 26 der Verhafteten wurden vergewaltigt. Nur 14
Frauen erstatteten Anzeige, elf
von ihnen entschieden sich, trotz
aller Verzögerungen weiter auf
einer strafrechtlichen Verfolwww.schattenblick.de
gung zu bestehen. Im April 2008
hatten sie daher den CIDH angerufen.
Im November 2011 beschloss
die Interamerikanische Kommission, die Forderung von Mariana Selvas, Georgina Edith
Rosales, María Patricia Romero,
Norma Aidé Jiménez, Claudia
Hernández, Bárbara Italia Méndez, Ana María Velasco, Yolanda
Muñoz, Cristina Sánchez, Patricia Torres und Suhelen Gabriela
Cuevas anzuerkennen. Diese
hatten ausgesagt, während des
Polizeieinsatzes in Atenco und
Texcoco Opfer von sexualisierten Übergriffen geworden zu
sein. An dem Einsatz hatten über
3.000 Sicherheitskräfte teilgenommen.
Fr, 18. November 2016
Elektronische Zeitung Schattenblick
Außergerichtliche Einigung
gescheitert
Während des gesamten Prozesses
hatte die Kommission über dessen
Verlaufberichtet; nachdem der Fall
jedoch an den Interamerikanischen
Gerichtshof weitergeleitet wurde,
veröffentlichte der mexikanische
Staat folgende Mitteilung: "Die mexikanische Regierung hat die Kommission selbst gebeten, den Fall an
den Interamerikanischen Gerichtshof
zu überstellen, damit dieses Justizorgan die Angemessenheit der Maßnahmen zur Wiedergutmachung auf
dem Hintergrund interamerikanischer Standards abwägt."
Dies geschah nach einem misslungenen Versuch seitens des mexikanischen Staats, mit den Opfern eine
gütliche Einigung auszuhandeln.
Während einer Tagung in den Räumen des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Washington hatten die damaligen Staatssekretäre des Innenministeriums, Lía
Limón und Juan Manuel Gómez-Robledo angeboten, den Fall mit einer
"gütlichen Einigung" abzuschließen.
Das heißt, es wurde eine Einigung der
Opfer mit dem mexikanischen Staat
angestrebt, um dem Rechtsstreit auf
internationaler Ebene ein Ende zu bereiten. Der Vorschlag wurde jedoch
von den Überlebenden der sexualisierten Gewalt abgelehnt.
ten Mal Entscheidungen getroffen,
ohne die Überlebenden der sexualisierten Gewalt zu konsultieren. Im
Jahr 2012 gab sie bei einem Treffen
in New York gegenüber Expertinnen
der Frauenrechtskonvention CEDAW (Committee on the Elimination ofDiscrimination against Women)
an, es gebe "Fortschritte in dem Fall",
ohne dass die Betroffenen davon
wussten.
Verschleierungstaktik statt
Fortschritte
Die von Segob, SRE und PGR gemeinsam veröffentlichte Erklärung,
dass nun der Internationale Gerichtshoffür Menschenrechte mit dem Fall
Atenco betraut sei, erfolgte ohne den
Bericht der Interamerikanischen
Menschenrechtskommission, der die
Mitschuld des mexikanischen Staates
an den Menschenrechtsverletzungen
feststellen und dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte zur Prüfung und als Anregung
für ein angemessenes Strafmaß dienen soll.
Drei Polizisten, die an den sexuellen
Übergriffen gegen 26 Frauen, die bei
den Aufständen in Atenco verhaftet
worden waren, beteiligt gewesen sein
sollen, stünden derzeit vor Gericht, so
die mexikanische Delegation. Doch
weder die Opfer noch ihre Anwält*innen hatten von den Vorladungen gehört, ebenso wenig von Einzel- URL des Artikels:
heiten bezüglich derAnklageschrift https://www.npla.de/poonal/atencooder gar dem zu erwartenden Urteil. wie-der-mexikanische-staat-versucht-die-aufarbeitung-zu-behinEine ähnliche Erfahrung hatten die dern/
Frauen auch im Mai 2015 gemacht: Der Text ist lizenziert unter Creative
Im Amtsblatt der mexikanischen Re- Commons Namensnennung-Weitergierung vom 19. März jenes Jahres gabe unter gleichen Bedingungen 4.0
wurde die Gründung eines Fonds für international.
die Überlebenden der sexualisierten https://creativecommons.org/licenGewalt angekündigt, ohne dass je- ses/by-sa/4.0/
doch die Höhe der Beträge angegeben wurde. Die Opfer vermuteten,
man wolle "ihre Würde kaufen" und
sahen in dem geplanten Schritt einen
Laut der Darstellung der mexikani- Versuch, ihre Klage vor der Interameschen Regierung "wurde und wird al- rikanischen Menschenrechtskomles Menschenmögliche getan, um die mission zu stoppen.
Untersuchung des Falls voranzutreiben, die Schuldigen zur Verantwor- Nach Angaben von Segob, PGR und
tung zu ziehen, die Betroffenen zu SRE wurden bis heute über 30 Persoentschädigen und Maßnahmen zu er- nen festgenommen und haben mit eigreifen, um zu verhindern, dass sich nem Strafverfahren zu rechnen. Das
ein solcher Fall wiederholt."
Menschenrechtszentrum Miguel
Agustín Pro Juárez, das die Opfer in
In Wirklichkeit jedoch hat die mexi- diesem Fall vertritt, erklärte hingekanische Regierung zum wiederhol- gen, es ginge lediglich um "unterlasFr, 18. November 2016
sene Hilfeleistung"; das heißt, den
Verhafteten wird nur vorgeworfen,
die Gewalt gegen die Frauen nicht
abgewendet zu haben, keiner von ihnen werde jedoch wegen eines sexuellen Übergriffs zur Verantwortung
gezogen.
www.schattenblick.de
Quelle:
*
poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen
Herausgeber:
Nachrichtenpool Lateinamerika e.V.
Köpenicker Straße 187/188,
10997 Berlin
Telefon: 030/789 913 61
E-Mail: [email protected]
Internet: http://www.npla.de
http://www.schattenblick.de/
infopool/politik/fakten/
pfmen333.html
Seite 15
Elektronische Zeitung Schattenblick
POLITIK / AUSLAND / LATEINAMERIKA
poonal ­ Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen
Kuba
Sao Leopoldo: Regierung begnadigt 787 Gefangene
(Sao Leopoldo, 16. November
2016, ihu on­line) - Die kubani-
Gefangene unter den Begnadigten
befinden. Laut Granma wurden
die Gründe für die Verurteilungen
überprüft, die Führung während
der Haft und die bereits abgesessene Zeit. Nicht begnadigt wurden Personen, die wegen "Mordes, Vergewaltigung, Drogenhandel oder ähnlicher Schwerverbrechen" verurteilt wurden.
sche Regierung hat beschlossen,
787 Verurteilte zu begnadigen.
Das teilte die offizielle Tageszeitung Granma mit. Anlass war ein
Aufruf des Papstes anlässlich des
"Heiligen Jahres der Barmherzigkeit". Bei einer Feier zum "Jubiläum der Gefangenen" sollten die
Regierungen Nachsicht üben und
Gefangenen die Möglichkeit ge- Die letzte Begnadigung ist geraben, sich wieder in die Gesell- de mal ein Jahr her und galt als
schaft einzugliedern.
Geste des guten Willens der Regierung nach dem Besuch des
Zwar hatten mehrere Regierun- Papstes auf der Insel. Am 11.
gen daraufhin betont, die Worte September 2015 waren 3.522 Gedes Papstes zu beachten, aber die fangene begnadigt worden. Kuba
kubanische Regierung hat als er- mit seinen knapp elf Millionen
ste Taten folgen lassen. Unter den Einwohner*innen hat eine hohe
nun Begnadigten befinden sich Gefangenenrate; das berichten
Frauen, Kranke und junge Men- Oppositionelle. Die Behörden
schen. Es wurde jedoch nicht be- veröffentlichen keine Zahlen
kannt gegeben, ob sich politische über Gefangene.
URL des Artikels:
https://www.npla.de/poonal/regierung-begnadigt-787-gefangene/
Der Text ist lizenziert unter Creative
Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0
international.
https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/
Quelle:
*
poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen
Herausgeber:
Nachrichtenpool Lateinamerika e.V.
E-Mail: [email protected]
Internet: http://www.npla.de
http://www.schattenblick.de/
infopool/politik/ausland/
pala1643.html
POLITIK / KOMMETAR / REPRESSION
Sanktionen tabu - Unser Despot am Bosporus
Die
Türkei ist als Mitglied der NATO,
geostrategischer Brückenstaat,
Wirtschaftspartner, Bollwerk der
Flüchtlingsabwehr und Pufferzone am Rande des Kriegsgebiets
viel zu wichtig und nützlich für
die Bundesregierung und die EU,
als daß man dem Regime Recep
(SB) 17. November 2016 ­
Seite 16
Tayyip Erdogans und der AKPRegierung ernsthaft in die Parade
fahren würde. Je offener die diktatorischen Ambitionen des türkischen Präsidenten und die ungezügelte Repression gegen jegliche
Opposition zur Sprache kommen,
um so energischer tritt man auf
die Bremse, wenn Sanktionen gewww.schattenblick.de
fordert werden. Daß dazu eine
ebenso absurde wie entlarvende
Argumentation ins Feld geführt
werden muß, liegt auf der Hand.
Erstes Argument: Man darf keine
Druckmittel anwenden, weil man
damit die Druckmittel aus der
Hand gibt. Als die Linken-AbgeFr, 18. November 2016
Elektronische Zeitung Schattenblick
ordnete Sevim Dagdelen im Gespräch mit dem Deutschlandfunk
[1] erklärt, es wäre eine absolute
moralische Bankrotterklärung der
EU, hielte sie an den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei fest,
muß sie sich der Frage erwehren,
ob nicht der Dialog der bessere
Weg sei, da man das Land andernfalls in die Isolation triebe. Dagdelen läßt sich davon nicht beirren und verweist darauf, daß die
Zusammenarbeit
zwischen
Deutschland und der Türkei sehr
viel mehr als nur ein Dialog sei,
denke man beispielsweise an die
deutlich wachsenden deutschen
Rüstungsexporte in dieses Land.
Es herrsche in vielerlei Hinsicht
eine enge Partnerschaft mit dieser
Diktatur, wie sie die Türkei unter
Erdogan sei. Geltende EU-Gesetze sähen als Voraussetzung für
Beitrittsverhandlungen Verbesserungen in Sachen Rechtsstaatlichkeit und Demokratie vor. Das
krasse Gegenteil sei der Fall, wie
die EU-Kommission in ihrem aktuellen Fortschrittsbericht feststelle.
Zweites Argument: Ein Abbruch
der Beitrittsverhandlungen ist gar
kein Druckmittel. So erklärt Ruth
Berschens vom Handelsblatt [2],
die EU würde Erdogan damit in
die Hände spielen, der ihr eine
Falle gestellt habe und nur darauf
warte, daß ihm von den Europäern endlich der Stuhl vor die Tür
gesetzt wird. Dann könnte er ihnen die Schuld in die Schuhe
schieben und käme vor seinen
Landsleuten nicht in Erklärungsnöte. Auch Günter Seufert, Türkei-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik [3], hält nichts
von dieser Option, da die Beitrittsverhandlungen de facto seit
sechs Jahren auf Eis lägen und
die EU damit ihren stärksten
Fr, 18. November 2016
Trumpf aus der Hand gegeben je einen ökonomischen Aufschwung, um die während ihrer
habe.
Regierungszeit entstandene neue
Drittes Argument: Wirtschafts- Mittelschicht bei Laune zu halten
sanktionen sind theoretisch wirk- und ihren politischen Rückhalt
samer, aber praktisch ein zwei- nicht zu verlieren.
schneidiges Schwert. Wie Seufert
laviert, habe sich die EU sehr Wie eng die Kollaboration der
schwer damit getan, solche Sank- Bundesregierung mit Ankara trotz
tionen gegen Rußland zu be- aller verbalen Schelte verschränkt
schließen. Zudem diskutiere man ist, wird insbesondere auf dem
kritisch darüber, ob sie überhaupt Feld der "Terror"bekämpfung
einen Effekt haben. Vor allem deutlich. Als Frank-Walter Steinaber gelte es zu bedenken, in wel- meier mit dem jüngsten Türkeichem Maße man sich dabei auch besuch seinem Amtskollegen
ins eigene Fleisch schneide. Seu- Mevlüt Cavusoglu reichlich Gefert, der immerhin Rußland als legenheit bot, Breitseiten von
Beispiel dessen nennt, wovon Vorwürfen gegen Berlin und
man bei der Türkei lieber die Fin- Brüssel abzufeuern, vergaß der
ger lassen solle, läßt natürlich al- deutsche Außenminister nicht, eile früheren Fälle unerwähnt, in nes zu unterstreichen. Die Bedenen die europäischen Füh- hauptung, Deutschland sei ein
rungsmächte keine Probleme mit Hort für Tausende Mitglieder der
massiven Sanktionen bis hin zu verbotenen kurdischen ArbeiterAngriffskriegen im Namen der partei PKK, konterte Steinmeier
zum Abschluß der gemeinsamen
Menschenrechte hatten.
Pressekonferenz mit den Worten:
Wollte man demgegenüber ernst- "Verehrter Kollege, lieber Mevhaft in Erwägung ziehen, Druck lüt, lass mich nochmal klarstellen,
auf die türkische Regierung aus- damit kein Missverständnis im
zuüben, ließen sich diverse Mittel Raume bleibt: Wir verurteilen jenennen. So hat die Türkei zwi- de Form von Terrorismus. Die
schen 2007 und 2013 von der EU von IS genauso wie Terrorismus
4,8 Milliarden Euro an Vorbei- der PKK." [4]
trittshilfen erhalten, die gestoppt
werden könnten. Denkbar wäre Als Erdogan am folgenden Tag
auch eine Beendigung der Gesprä- seinerseits mit dem Vorwurf
che über die Erweiterung der seit nachlegte, die deutschen Behör1995 bestehenden Zollunion zwi- den gingen nicht ausreichend geschen der EU und Türkei, die zu gen die PKK vor, versicherte
einem zollfreien Austausch von Bundesinnenminister Thomas de
Industrieprodukten führte. Erdo- Maizière: "Für uns ist jeder Tergan möchte gerne auch Agrarpro- rorismus - ganz gleich mit weldukte und Dienstleistungen einbe- chem Motiv - etwas, das wir in
ziehen, worüber seit 2015 verhan- Deutschland bekämpfen." Man
delt wird. Da die wirtschaftliche sei "offen und bereit" für KoopeSituation des Landes spätestens rationen mit der Türkei. [5] Tatseit dem Putschversuch und der sächlich geht kein anderes Land
daraus resultierenden Repressi- der Europäischen Union so reonswelle prekär ist, braucht die pressiv gegen die PKK vor wie
AKP-Regierung dringender denn die Bundesrepublik. In Brüssel
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wurde kürzlich ein Prozeß mit der
Begründung eingestellt, die Angeklagten hätten zwar womöglich
mit der PKK gekämpft, doch in
der Türkei herrsche Krieg, in dem
beide Seiten zur Waffe griffen.
Hingegen wurden aufAntrag der
Bundesanwaltschaft Kurden aus
Frankreich und Dänemark ausgeliefert, damit ihnen in Deutschland der Prozeß gemacht werden
kann. Nach Paragraf 129b können
"terroristische Vereinigungen"
verfolgt werden, die im Ausland
aktiv sind. Konkrete Taten müssen Angeklagten nicht nachgewiesen werden, es genügt die
Mitgliedschaft in der betreffenden Organisation.
Seit dem PKK-Verbot im Jahr
1993 sind in Deutschland 93
Männer und Frauen verurteilt
worden. Dazu kommen Tausende
Verfahren in den Bundesländern,
oft laufen Hunderte in einem Jahr.
Für die bloße Mitgliedschaft in einer als PKK-Struktur verdächtigten Gruppe können hohe Strafen
verhängt werden, führende Aktivisten wurden von deutschen Gerichten zuletzt zu sieben Jahren
Haft verurteilt. Dafür reicht es
aus, Spenden zu sammeln oder
für die PKK zu werben. In Berlin
erhielten kürzlich Demonstranten
Strafbefehle über mehrere tausend Euro, weil sie Parolen wie
"Es lebe die PKK!" gerufen haben
sollen. Als eifrige Erfüllungsgehilfen türkischer Staatsinteressen
haben deutsche Behörden des öfteren linke Kurdenvereine durchsucht, Unterlagen beschlagnahmt,
Einrichtungen zuweilen als PKKnah verboten. In Stuttgart beginnt
gerade der Prozeß gegen einen
46jährigen Kurden, der Aktivitäten der PKK geleitet haben soll.
Erst im Oktober war dort ein
Mann unter einer ähnlichen VorSeite 18
wurfslage zu dreieinhalb Jahren Für diese Form finaler Repression
Haft verurteilt worden.
gibt es Begriffe, die Vertretern der
Bundesregierung in anderen FälBerücksichtigt man, daß die PKK len leicht von der Zunge gehen.
bereits in den neunziger Jahren Nicht so im Falle Recep Tayyip
jegliche militanten Aktionen in Erdogans, der sich inmitten hefDeutschland eingestellt und der tigster Kontroversen mit Berlin
operative PKK-Chef, Cemil und Brüssel nach wie vor der
Bayik, 2015 für derartige Aktivi- Rückendeckung in substantiellen
täten in der Vergangenheit aus- Kampfzonen sicher sein kann.
drücklich um Entschuldigung ge- Führt er die deutsche Politik am
beten hat, wird deutlich, in wel- Nasenring vor, wie vielfach emchem Maße deutsche Politik und pört kolportiert wird? Das kann
Justiz die Verfolgung von Linken nur behaupten, wer die Kräfteverin der Türkei auch im eigenen In- hältnisse ebenso ignoriert wie den
teresse betreiben. Derzeit wird in eigenständigen Führungsanspruch
München zehn Türkinnen und Berlins nicht zuletzt in der WeltTürken der Prozeß gemacht, die region, die Ankara als Einflußbefür die maoistische TKP/ML Mit- reich für sich reklamiert.
glieder rekrutiert und Geld gesammelt haben sollen. Die Männer und Frauen befinden sich un- Anmerkungen:
ter scharfen Sicherheitsvorkehrungen in Untersuchungshaft. Da- [1] http://www.deutschlandbei ist die TKP/ML nur in der funk.de/beitrittsgespraeche-mitTürkei verboten, während sie auf der-tuerkei-die-roten-linieninternationalen Terrorlisten nicht sind.694.de.html
geführt wird. Andererseits dürfen
sich die Grauen Wölfe, deren [2] http://www.deutschlandrechtsextreme Position und Mili- funk.de/eu-und-tuerkei-erdoganstanz kein Geheimnis ist, in wunder-punkt.720.de.html
Deutschland ungehindert in Vereinen organisieren.
[3] http://www.deutschlandfunk.de/eiszeit-zwischen-eu-undErdogan hat den kurdischen "Ter- tuerkei-europa-hat-kein-druckroristen" im eigenen Land wie mittel.694.de.html
auch in Syrien den Krieg erklärt,
was er keineswegs symbolisch [4] http://www.deutschlandversteht. Wie die Angriffe auf kur- funk.de/steinmeier-in-ankaradische Städte im Südosten der schwere-vorwuerfe-vom-tuerkiTürkei wie auch die Selbstvertei- schen.1766.de.html
digungskräfte in Nordsyrien zeigen, ist der Despot fest entschlos- [5] http://www.tagesspiegel.de/sen, den kurdischen Widerstand politik/verfolgung-der-pkk-inphysisch zu vernichten, die kurdi- deutschland-de-maiziere-willschen Lebenszusammenhänge mit-der-tuerkei-kooperieund Gesellschaftsentwürfe zu zer- ren/14852582.html
schlagen, Hunderttausende zu
http://www.schattenblick.de/
Flüchtlingen zu machen und in
infopool/politik/kommen/
letzter Konsequenz die kurdische
repr1534.html
Kultur und Identität auszulöschen.
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Fr, 18. November 2016
Elektronische Zeitung Schattenblick
POLITIK / MEINUNGEN / STANDPUNKT
Internationale Presseagentur Pressenza ­ Büro Berlin
In schlechter Gesellschaft Russland und der UN-Menschenrechtsrat
von Jairo Gomez [1] für Neue Debatte [2], 15. November 2016
Bei einer Abstimmung in der UNVollversammlung über die Vergabe
von zwei Sitzen in der OsteuropaGruppe erhielt Russland nur 112
Stimmen. Ungarn (144 Stimmen)
und Kroatien (114 Stimmen) ließen
die Föderation hinter sich und nehmen die freien Plätze im Rat ein.
Die Medien nahmen das Thema
dankbar an und bauschten die Allerweltsabstimmung zu einer
Staatsaffäre auf. Telepolis titelte:
UN-Menschenrechtsrat: Russland
ausgeschlossen, Saudi-Arabien
gewählt [3]. Zeit Online schrieb,
Russland fliegt aus UN-Menschenrechtsrat [4] und hob hervor,
80 Menschenrechts- und Hilfsorganisationen hätten im Vorfeld der
Abstimmung gegen die Wiederwahl Russlands protestiert. N-TV
berichtete von der Ohrfeige für
Putin, die nicht richtig klatscht [5].
In einer Meldung auf den Seiten
des Informationszentrums der
Vereinten Nationen für Westeuropa [6] steht sachlich: "Russland
hat seinen Sitz im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen
verloren."
Öl ins geopolitische Feuer
Das Netz reagierte. Nicht wenige User kolportierten, es sei ein
Komplott gegen Russland in
Gange. Der Menschenrechtsrat
Fr, 18. November 2016
ohne Russland: Die Empörung ther Sosna [7] bemerkte leidenwar groß, auch bei mir. Aber aus schaftslos: "Wo ist der Aufreger?"
einem anderen Grund.
Wo ist der ...? Bahnte sich da etwa
ein Disput an?
Gerade in der durch den Syrienkrieg angespannten internationalen Ich sage immer, ich bin kein PutinLage wäre es ein Zeichen der An- versteher, aber in diesem Fall
näherung und somit der Vernunft schlug ich mich wie selbstvergewesen, Russland im Menschen- ständlich aufdie Seite des Russen.
rechtsrat zu halten. Außerdem täten Ich erwiderte, dass es nicht angedie Medien gut daran, nicht bei je- hen könne, dass der Schlächterstaat
der sich bietenden Gelegenheit Öl Saudi-Arabien einen Sitz im Rat
ins geopolitische Feuer zu schütten. innehat, aber die Russische Föderation vor der Tür bleiben muss.
Impulsiv und emotional, wie ich Das Echo kam prompt: "Dann behin und wieder bin, feuerte ich auf findet sich der Russe ja nicht mehr
Facebook einen deftigen Kommen- in schlechter Gesellschaft." Wie
tar raus, in dem ich die Verlogen- bitte ...?!
heit des Westens in Sachen Menschenrechte betonte und die Be- Ich habe die Geschichte sacken lasrichterstattung der Medien tadelte. sen und dann angefangen, Fakten
über den Menschenrechtsrat zu
sammeln, den bis vor wenigen TaWo ist der Aufreger?
gen wohl kaum ein Normalbürger
gekannt haben dürfte. Das ErgebDer Post fand schnell Abnehmer. nis ist ernüchternd.
Er wurde binnen weniger Minuten
58-mal geteilt. Beflügelt durch den
Zuspruch und angetrieben durch Schmutzige Hände und
das kochende andalusische Blut in weiße Westen
meinen Adern, haute ich in die Tastatur des Laptops, bemüht einen Der Menschenrechtsrat, der im Juneuen Artikel zu verfassen, um die- ni 2006 die UN-Menschenrechtssen Skandal, ein Menschenrechts- kommission ablöste, ist ein Unterrat ohne die Russen, in Buchstaben organ der UN-Generalversammzu meißeln.
lung. Ihm gehören 47 Staaten an.
Seine Ziele und Aufgaben sind in
Mein Elan erhielt durch das Neue der Resolution 60/251 [8] beschrieDebatte Team einen Dämpfer. Gun- ben.
www.schattenblick.de
Seite 19
Elektronische Zeitung Schattenblick
Hauptaugenmerk liegt aufder Unterstützung der Mitgliedstaaten bei
der Einhaltung ihrer Menschenrechtsverpflichtungen. Dafür kann
der Rat die Entsendung von Beobachtern zur Überwachung der
Menschenrechtssituation in einem
Mitgliedstaat beschließen.
Wer sich die noch junge Geschichte des UNHRC anschaut, der erkennt, dass sich der Rat einer recht
hohen Fluktuation erfreut. Russland war eine Ausnahme. Seit der
Gründung des UNHRC war man
Mitglied des Gremiums [9].
Ansonsten geben sich im
UNHRC die Nationen die Klinke in die Hand. Eine ist dabei ungewaschener als die andere.
Zwar verpflichten sich alle Bewerber zur Förderung und Einhaltung der Menschenrechte,
aber die Realität zeichnet wie so
oft ein weniger pinkfarbenes
Bild. Nicht von ungefähr ist der
Rat wegen seiner Zusammensetzung umstritten.
Unter den Mitgliedern befinden
sich Länder, über die Amnesty International [10] Berichte abliefert,
die jedem Humanisten den Angstschweiß ins Gesicht treiben. Kaum
einer hat eine weiße Weste.
- Nigeria:
Das Land ist durch den Kampfgegen Boko Haram von Gewalt geprägt. Bei der Bekämpfung der Terrororganisation begingen Regierungstruppen allerdings schwere
Menschenrechtsverletzungen.
Die USA, deren Regierungen immer wieder rigoros aufdie Einhaltung der Menschenrechte in anderen Nationen pochen, haben im eigenen Land schwere Verstöße ge- Indien:
gen die Menschenrechte zu verbuMenschrechtsaktivisten werden chen.
willkürlich festgenommen und inhaftiert. Gewalt gegen Frauen ist an Irgendwie hat jede Nation Dreck
der Tagesordnung und es gibt Fäl- am Stecken. Selbst Deutschland,
le von außergerichtlichen Hinrich- für die der Diplomat Joachim
tungen.
Rücker [11] den Vorsitz im Menschenrechtsrat ausübt, wird von
- Albanien:
Amnesty kein überwältigendes
Der Staat übt massiven Druck auf Zeugnis ausgestellt. http://wwJournalisten aus und schränkt da- w.amnesty.de/jahresbericht/2016/durch die Meinungsfreiheit eine. Es deutschland
gibt unzählige Fälle von häuslicher
Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Minderheiten wie Roma und Barbarei im Toleranzbereich
Balkanägypter werden diskriminiert.
Mir stellt sich nach all diesen Informationen die Frage, ob es über- El Salvador:
haupt erstrebenswert sein kann,
2015 wurden 475 Frauen ermordet. diesem Rat anzugehören, in dem so
Menschenrechtsverteidiger werden viele Staaten vertreten sind, in destigmatisiert und Verbrechen aus nen Menschenrechtsverletzungen
der Vergangenheit strafrechtlich zum Alltag gehören.
nicht verfolgt.
Bei eklatanten Verstößen können
- Lettland:
die Mitglieder ausgeschlossen werIn dem EU-Mitgliedsstaat sind die den, das ist wahr. Doch was ist
Rechte von Lesben, Schwulen, Bi- eklatant? In Saudi-Arabien werden
sexuellen, Transgeschlechtlichen Menschen für Nichtigkeiten ausgeund Intersexuellen stark einge- peitscht und verlieren bei leichten
schränkt. Staatenlose werden offen Delikten Hände oder Füße und bei
diskriminiert und es wird kaum schweren Taten durch das Schwert
Asyl gewährt.
des Scharfrichters den Kopf.
- China:
Todesstrafen sind in an derTagesordnung und in den Gefängnissen wird
immer noch gefoltert. Die Meinungsfreiheit ist stark eingeschränkt und
Minderheiten wie Uiguren und Tibe- Das ist nur ein Ausschnitt der Mitter werden diskriminiert.
glieder im Menschenrechtsrat. Jedes Land verstößt mehr oder weni- Katar:
ger gezielt gegen die MenschenDie freie Meinungsäußerung ist rechte oder lässt eine Verletzung
eingeschränkt, Frauen haben kaum zu.
Rechte, und Arbeitsmigranten werden ausgebeutet und teilweise, wie Auch in Russland wird massiv geSklaven behandelt.
gen die Menschenrechte verstoßen,
Seite 20
wie dem Amnesty International
Report 2016 zu entnehmen ist.
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Das ist barbarisch, aber offenbar im
Rahmen der Toleranz, sonst wäre
Saudi-Arabien nicht erneut in den
Rat gewählt worden. Dieser Umstand hat kaum Erwähnung in den
Medien gefunden.
Für Russland und seinen Präsident
Vladimir Putin ist es aus dieser
Fr, 18. November 2016
Elektronische Zeitung Schattenblick
Perspektive sicher keine Katastrophe, den erlauchten Kreis der Menschenrechtsverletzer verlassen zu
haben.
nenbildung tätig. Seine Interessen
gelten der Politik, Geschichte, Literatur und Malerei. Für Neue Debatte schreibt Jairo Gomez über die
politischen Entwicklungen in Spanien und Lateinamerika und wirft
einen kritischen Blick auf die gesellschaftlichen Veränderungen in
Deutschland und Europa.
Wäre der Menschenrechtsrat ein
Orchester, würden dem Dirigenten
die Misstöne aus der russischen
Ecke ohnehin nicht auffallen. Zu
grauenhaft schräg klingt das Staccato, kaum ein Ton wird sauber getroffen. Die Empörung kann also Anmerkungen:
getrost abklingen - sie war über[1] https://neue-debatte.com/autflüssig.
Über den Autor
Seit 1967 lebt der im spanischen
Granada geborene Bernardo Jairo
Gomez Garcia in Deutschland.
Schon vor seinen Ausbildungen
zum Trockenbaumonteur und KfzLackierer entdeckte Gomez seine
Leidenschaft für die Kunst. Er studierte an einer privaten Kunsthochschule Airbrushdesign und wechselte aus der Fabrikhalle ans Lehrerpult. 14 Jahre war Gomez als
Spanischlehrer in der Erwachse-
hor/jairogomez59/
[2] https://neue-debatte.com/
[3] https://www.heise.de/tp/features/UN-Menschenrechtsrat-Russlandausgeschlossen-Saudi-Arabien-gewaehlt-3381066.html
[4] http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-10/vereinte-nationen-russland-menschenrechtsrat
[5] http://www.n-tv.de/politik/Ohrfeige-fuer-Putin-die-nicht-richtigklatscht-article18963151.html
[6] https://www.unric.org/de/unoschlagzeilen/27868-un-menschenrechtsrat-ohne-russland
[7] https://neue-debatte.com/teamund-autoren/gunther-sosna/
[8] http://GA%20Resoluti-
DIE BRILLE / REDAKTION / REZENSION
Christian Kracht
Die Toten
Rezension von Christiane Baumann
Die Achse des Bösen ein Totentanz im Nō-Theater
Schweizer Literaturpreis für
Christian Krachts Roman
sten Roman Die Toten kräftig ab.
Nach dem Hermann-Hesse-Literaturpreis, den er in dieser Woche in Karlsruhe in Empfang
Die Toten
nehmen konnte, erhielt er den
hochdotierten Schweizer BuchDer Schweizer Autor Christian preis 2016. Und last but not least:
Kracht räumt mit seinem neue- Für den Bayerischen Buchpreis
Fr, 18. November 2016
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on%2060/251
[9] https://deutsch.rt.com/newsticker/42536-russland-un-menschenrechtsrat-nicht-wiedergewahlt/
[10] http://www.amnesty.de/
[11] http://www.joachim-ruecker.de/
Der Artikel "In schlechter Gesellschaft
- Russland und der UN-Menschenrechtsrat" wurde erstveröffentlicht im
Meinungsmagazin Neue Debatte:
https://neue-debatte.com/2016/11/03/in-schlechter-gesellschaft-russland-und-der-un-menschenrechtsrat/?#
Der Schattenblick dankt der Redaktion der Neuen Debatte für die Nachdruckgenehmigung.
Quelle:
*
Internationale Presseagentur
Pressenza - Büro Berlin
Johanna Heuveling
E-Mail: [email protected]
Internet: www.pressenza.com/de
http://www.schattenblick.de/
infopool/politik/meinung/
pmsp0608.html
Christian Kracht
Die Toten
Roman
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
2016
212 Seiten
20 Euro
ISBN: 978­3­462­04554­3
2016 wurde er inzwischen auch
nominiert.
Kracht, der als wenig auskunftswillig zu seinem Werk gilt, sorgte
bei der Verleihung des Schweizer
Buchpreises für einen Eklat, indem
er wortlos, urkundenlos und danklos aus dem Baseler Theater
Seite 21
Elektronische Zeitung Schattenblick
stürmte (Tagesanzeiger vom
14.11.2016). Ob er nun soziophob
ist, an seinem Genie-Image arbeitet oder ihn der mit 30.000
Schweizer Franken dotierte Preis
einfach überwältigte - es sei dahingestellt. Letztlich kann es nur
um das Buch gehen, das die
Schweizer Jury als "eine gelungene Verknüpfung von großem literarischen Können mit einer hellsichtigen Diagnose unserer Gegenwart"[1] würdigte.
Christian Kracht (*1966) wurde
1995 mit seinem Erstling Faser­
land der "Pop-Literatur" zugeschlagen, einer literarischen
Richtung, die ästhetisch schwer
zu fassen ist. Die Pop-Art entwickelte sich als Kunstströmung
in den 1950er Jahren in den
USA, kam in den 1960ern dann
auch in Europa an und erlebte in
den 1990er Jahren in Deutschland eine Renaissance. Sie formierte sich als Protest gegen den
Ästhetizismus und die elitäre
Kunstanschauung des Establishments, montierte und verfremdete Vorgefundenes, Populäres vom
Comic bis zur Filmsequenz, vom
Schlager bis zum Krimi. Es ging
um eine "Anti-Kunst" oder besser Gebrauchskunst. Die selbst
ernannten Pop-Literaten Benjamin von Stuckrad-Barre, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander Schönburg und Joachim
Bessing trafen sich Ende der
1990er Jahre in Berlin und veröffentlichten ihre dort geführten
Gespräche 1999 unter dem Titel
Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett. Das zielte auf Provokation. In der Folgezeit sorgten Krachts Romane, 1979
(2001), Ich werde hier sein im
Sonnenschein und im Schatten
(2008), Imperium (2012), immer
wieder für politische KontroverSeite 22
sen. Auch sein neuer Roman Die
Toten macht hier keine Ausnahme, wenngleich er sich von der
Pop-Literatur entfernt hat. Vom
Verriss - "ärgerlicher und total
überflüssiger Stuss" (Frankfurter
Rundschau, 07.09.2016) - bis zur
"Revolution" der Literatur (ARD
druckfrisch, 29.08.2016) war da
alles zu lesen bzw. zu hören.
Der Roman Die Toten führt in die
1930er Jahre und damit in jene
Zeit, in der die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht
übernahmen. Es sind zugleich
Jahre des technischen Umbruchs
in der Filmbranche. Der Stummfilm wird vom Tonfilm abgelöst.
Kino ist "Krieg mit anderen Mitteln", stellt UFA-Chef Alfred
Hugenberg fest, "man müsse den
Erdball überziehen mit deutschen Filmen, kolonialisieren mit
Zelluloid" (S. 114). Deutsche
Großmachtsphantasien machen
sich breit. Mittendrin der abgehalfterte Schweizer Filmregisseur Emil Nägli, der nach Berlin
fliegt und sich von Hugenberg
für einen millionenschweren
Gruselfilm unter Vertrag nehmen
lässt, der in Japan gedreht werden soll. Keine Geringeren als
die jüdischen Filmkritiker Siegfried Kracauer und Lotte Eisner
überreden Nägli zu diesem "deplazierten faustischen Pakt" (S.
123). Dabei ahnt er nicht, dass
diesen Deal eigentlich ein Beamter im japanischen Außenministerium eingefädelt hat. Masahiko Amakasu will dem "US-amerikanischen Kulturimperialismus" mit einer "zelluloiden Achse" (S. 29, 30) zwischen Tokio
und Berlin entgegenwirken. Dazu schreibt er nach Deutschland
an die UFA Film AG und wird erhört.
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Nägli geht nach Japan, doch der
Gruselfilm kommt nicht zustande. Stattdessen entsteht eine Art
Dokumentarfilm, "den er so genannt hat wie dieses Buch" (S.
206), statt Fiktion also fiktive
Authentizität. Der Roman spielt
mit Authentischem und Fiktivem, montiert beides spielerisch
zusammen. Das Attentat auf den
Premierminister Inukai vom Mai
1932, mit dem das Militär in Japan politischen Einfluss auf die
Regierung gewann, versetzt er in
das Jahr 1933 und damit in jenes
Jahr, in dem Japan aus dem Völkerbund austrat und in Asien seinen aggressiven Expansionskurs
begann. Reale Personen, die sich
in die Filmgeschichte einschrieben, wie Lotte Eisner, Siegfried
Kracauer und der Regisseur Fritz
Lang, tauchen in geradezu bizarren Situationen auf. Die Stummfilm-Ikone Charlie Chaplin, der
sich 1947 vor dem "Komitee für
unamerikanische Umtriebe" verantworten musste, betritt die
Bühne wie das deutsche FilmIdol Heinz Rühmann, der in der
Nazizeit seine steile Karriere
startete. Sind die Einen auf dem
Weg ins Exil, so kommen den
Anderen die neuen Machthaber
in ihren ehrgeizigen Karriereplänen und ihrem Opportunismus
gerade recht. Zu diesen Mächtigen gehört neben dem UFA-Chef
und Medienboss Alfred Hugenberg auch Ernst ("Putzi") Hanfstaengl als Auslandspressechef
der NSDAP, den Nägli "mephistophelesgleich" (S. 109) erlebt
und der bezeichnenderweise in
einem kanadischen Internierungslager einen kranken Fuß als
"Mephistopheles' Huf" (S. 145)
hinter sich herzieht. Durch die
Montagetechnik wird beim Leser, der sich permanent mit geschichtlichen Zusammenhängen
Fr, 18. November 2016
Elektronische Zeitung Schattenblick
und historisch verbürgten Personen auseinandersetzen und in
Beziehung setzen muss, die fiktive Illusion systematisch unterlaufen, erhält der Roman einen authentischen Sound. Der teuflische,
faustische Pakt, den Nägli eingeht, weist zudem auf das literarische Vorbild. Doch geht es Goethes Faust um Erkenntnis, so
Nägli um schnöden Mammon.
rüsteten sich Anfang der 1930er
Jahre für ihren Eroberungsfeldzug, trafen sich in ihrem Expansionsstreben. Diese Umbruchsituation, in der sich der Faschismus
etablierte, interessiert Kracht. Der
Roman paraphrasiert diese politische Konstellation als "zelluloide
Achse" in einer kulturellen Parallelwelt.
Näglis Versagen als Filmemacher
in deutschem Auftrag bleibt folgenlos, denn Hugenberg wird von
Goebbels abgelöst, wie der Roman behauptet, was de facto nicht
stimmt. Alfred Hugenberg, der
1886 zu einer Gruppe junger, oppositioneller Autoren mit Karl
Henckell, einem Parteigänger der
Sozialdemokratie, gehörte, die im
Umfeld des deutschen Naturalismus in der Sammlung Quartett literarisch debütierten [2], avancierte im Deutschen Kaiserreich
zum Medienmogul, dessen Konzern weite Teile der deutschen
Presse kontrollierte. Während der
Weimarer Republik bereitete er
dem Nationalsozialismus mit seiner Propaganda den Boden und
beförderte Hitlers Aufstieg maßgeblich. 1933 wurde er Minister
für Wirtschaft, Landwirtschaft
und Ernährung in dessen erstem
Kabinett, gab diesen Posten jedoch nach wenigen Monaten auf.
Goebbels war bereits Minister. Er
übernahm Hugenbergs Amt nicht,
jedoch als Propagandaminister
seine Rolle. Die Propaganda-Maschinerie und Manipulation der
Massen erreichte mit ihm eine
neue Qualität und der auktoriale,
allwissende Erzähler, der sich hin
und wieder einmischt mit Feststellungen wie "wir erinnern uns"
(S. 106), weiß, was kommt.
Krachts Roman wartet mit einer
originellen Idee in raffinierter
Machart auf. Die strenge Form,
die dem japanischen Nō-Theater
entlehnt wurde, steht im Kontrast
zur lockeren Szenenfolge, die weder streng chronologisch angelegt
ist noch den Eindruck erweckt,
dass hier stringent erzählt werden
will. Die drei Roman-Teile folgen
also dem jo­ha­kiū: Das Spiel beginnt "langsam und verheißungsvoll", beschleunigt im zweiten
Teil, um dann "kurzerhand und
möglichst zügig zum Höhepunkt"
(S. 104) zu kommen. Dabei wird
eher beiläufig auf Ezra Pound
verwiesen, der zusammen mit Ernesto Fenollosa 1917 ein Buch
zum japanischen Nō-Theater veröffentlichte. Pound erlebte den ersten Weltkrieg als Zäsur, ließ ihn
doch das massenhafte Töten an
der Zukunftsfähigkeit Europas
zweifeln. Dass er später begeisterter Anhänger Mussolinis wurde, sich auch nach dem zweiten
Weltkrieg nicht vom Faschismus
lossagte und in den USA aufgrund
seiner antisemitischen und antiamerikanischen Propaganda wegen Landesverrats angeklagt und
zur unerwünschten Person wurde,
wird zum Background des Romans und führt zugleich in sein
geistiges Zentrum. Die Achsenmächte Deutschland unter Hitler,
Italien unter Mussolini und das An die Stelle des nicht gedrehten
vom Militär dominierte Japan Films, diese von Eisner und KraFr, 18. November 2016
www.schattenblick.de
cauer angeregte "Allegorie [...] des
kommenden Grauens" (S. 120),
tritt Krachts Roman, der ins Heute zielt, sind doch der Auftrieb von
Nationalismus und rechtspopulistischen Parteien wie rechtsradikalen Gruppierungen unübersehbar. Kriegsgräuel und Vernichtung, schaut man nach Syrien, sind
kaum noch in Worte zu fassen. ISTerror und Gewalt machen sich im
Alltag breit. Gewaltszenen in
Film, Fernsehen und Computerspiel sind zu einer beängstigenden
Normalität geworden. Krachts
Roman durchzieht eine Spur der
Gewalt unterschiedlicher Provenienz. Sie reicht von verbaler und
psychischer Gewalt bis zum Mord
und Holocaust. Sie gehört zur
Kindheit von Nägli wie auch von
Amakasu. Dabei verstecken sich
im Roman Gewalt und das aufziehende Grauen des Faschismus
subtil hinter der Maske feiner Ironie, die immer wieder ins Groteske kippt. Die Gewalt, das Böse,
kommt ästhetisiert daher. Den
Grundton schlägt die Eingangsszene des Romans an: Erzählt wird
eine Filmsequenz, in der ein Japaner Seppuku begeht. Die grauenvolle Szenerie erscheint - wie im
Nō-Theater - in der Maske des ritualisierten Selbstmords, mit dem
ein Samurai, der aufgrund eines
Fehlverhaltens sein Gesicht verloren hat, die Würde und Ehre der
Familie wiederherstellen kann.
Am Schluss ist die Maske gefallen: Näglis deutsche Freundin Ida,
eine Schauspielerin, prostituiert
sich in jeder Hinsicht, um in Hollywood Karriere zu machen. Sie
scheitert, verliert ihre Identität und
stürzt sich vom "H" des berühmtberüchtigten Namenszuges. Beim
Sturz in die Kakteen, wird ihr Gesicht zerfleischt. Sie verliert endgültig ihr Gesicht und damit ihre
Würde.
Seite 23
Elektronische Zeitung Schattenblick
Die Toten ist ein Roman,
der Tod
und Gewalt in einen Ästhetizismus verpackt, der mitunter
schockiert und sprachlos macht.
Man muss bei der Lektüre nicht
nur japanisches Vokabular nachschlagen, um das Erstarrtsein in
Konvention und Tradition sowie
die Klaviatur des staatlich sanktionierten Chauvinismus zu begreifen, sondern vor allem sehr
genau lesen. Ist es ein Zufall, dass
James Joyce, den Ezra Pound
protegierte, in seiner letzten Novelle Die Toten dieses Gefangensein in Vorurteilen in einem Kammerspiel inszenierte, während
Kracht die große nationale Bühne
präsentiert? Manches gerät am
Schluss, bei dem sich die Szenen
überschlagen, zur Kolportage.
Manches Sprachliche gleitet ab in
Manierismus, wenn "der Pazifik
[...] sich pazifisch" verhält (S.
187) oder ein "versunkenes Oszillieren" (S. 195) zu hören ist.
Aber: Wer von "Stuss" redet, ist
in den Subtext des Romans ebenso wenig eingedrungen wie derjenige, dem er sich als "Revolution"
offenbart. Ein Ereignis ist er allemal.
Anmerkungen:
[1]
http://www.schweizerbuchpreis.ch
[2] Quartett. Dichtungen. Unter Mitwirkung von Arthur Gutheil, Erich
Hartleben, Alfred Hugenberg hg. v.
Karl Henckell. Hamburg 1886.
http://www.schattenblick.de/
infopool/d­brille/redakt/
dbrr0016.html
Seite 24
SCHACH UND SPIELE / SCHACH / SCHACH-SPHINX
Schon bei der Geburt Waise
(SB) ­ Ideen sind eine verwickel-
der schwarzen Figuren auf dem
te Angelegenheit. Schnell sind Damenflügel zu einem Sieg versie erdacht und ebensorasch be- dichten?
zwingen sie den Einwand des
zweifelnden Herzens. Mitunter
ist der Neid auf die Welt, denn
gegen diese soll sich die Idee ja
behaupten, der Geburtshelfer
vieler Miseren. Nichts macht den
Menschen unmündiger als das
Festhalten am geistigen Besitz.
Endlich glaubt man diese oder
jene Verbesserung in einer bestimmten Variante hervorgekitzelt zu haben, da ergreift uns
Entdeckerstolz. Wie eine
Schwangere tragen wir unsere
Aljechin - Sterk
Idee in uns und warten auf den
Budapest 1921
Tag der Geburt nicht minder
sehnsuchtsvoll wie die Gebärende. Die Idee soll die Ahnenschaft
Auflösung des letzten
unserer Erfolge fortsetzen. EndSphinx­Rätsels:
lich kommt der Tag der Bewährung. Der Zug wird ausgespielt Das Beieinander von schwarzer
wie eine goldene Trumpfkarte, Dame und schwarzem König
nur zu stechen vermag sie nicht. brachte Meister Becker auf einen
Der Gegenspieler hat nämlich teuflisch guten Einfall. Nach
trotz der Kürze der Zeit einen 1.e5-e6+! durfte 1...Lh3xe6 nicht
Weg zur Widerlegung gefunden. geschehen wegen der BauerngaSo ist die neue Idee, kaum gebo- bel 2.f4-f5. Doch nach 1...Dd7xe6
ren, schon zum Waisen gewor- 2.Ld3xg6+ Kf7xg6 3.f4-f5+ leiden. Auch Meister Sterk hatte tete die zweite Bauerngabel die
sich für seine Partie gegen Alex- allesentscheidende Springergabel
ander Aljechin ein neues Eröff- nebst Damengewinn ein:
nungskonzept im Damengambit 3...Lh3xf5 4.Se2-f4+ Bei soviel
überlegt. Doch nachdem sein Gabeln verging seinem KontraGeisteskind die ersten Gehversu- henten Jung verständlicherweise
che abgeschlossen hatte, über- der Appetit an der Partie.
mannte ihn der Übermut, und so
sollte Aljechin den Part des Wi- http://www.schattenblick.de/
derlegers spielen im heutigen
infopool/schach/schach/
Rätsel der Sphinx. Also, Wandesph06022.html
rer, mit welchem schönen Manöver konnte Aljechin als Weißer
die etwas aberwitzige Position
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Fr, 18. November 2016
Elektronische Zeitung Schattenblick
Fr, 18. November 2016
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Seite 25
Elektronische Zeitung Schattenblick
______I n h a l t_________________________________Ausgabe 2012 / Freitag, den 18. November 2016____
DIE BRILLE - REPORT
MEDIZIN - REPORT
POLITIK - FAKTEN
POLITIK - AUSLAND
POLITIK - KOMMENTAR
POLITIK - MEINUNGEN
DIE BRILLE - REDAKTION
SCHACH-SPHINX
VERANSTALTUNGEN
DIENSTE - WETTER
21. Linke Literaturmesse - Bilder, Medien und Dokumente ... Gabriele Senft im Gespräch
Vorratstherapeutikum Antibiotika - Gezielte Vergaben ... Thomas Marlovits im Gespräch
Atenco - Wie der mexikanische Staat versucht, die Aufarbeitung zu behindern (poonal)
Kuba - Regierung begnadigt 787 Gefangene (poonal)
Sanktionen tabu - Unser Despot am Bosporus
In schlechter Gesellschaft - Russland und der UN-Menschenrechtsrat (Pressenza)
Christian Kracht - Die Toten (Roman)
Schon bei der Geburt Waise
Monatsplakat Dezember "Komm du"
Und morgen, den 18. November 2016
Seite
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Seite
Seite
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1
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14
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19
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DIENSTE / WETTER / AUSSICHTEN
Und morgen, den 18. November 2016
+++ Vorhersage für den 18.11.2016 bis zum 19.11.2016 +++
© 2016 by Schattenblick
IMPRESSUM
Wird schon, wird schon kühler doch,
vielfach Wolken, Graupelschauer,
ab und zu ein Sonnenloch
und Jean-Luc im Kuschelkauer.
Elektronische Zeitung Schattenblick
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Fr, 18. November 2016