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Aus dem Freiluftgefängnis ins Exil
Von Zeynep Mert*
„Lass uns zu Mama gehen, ich mag es hier nicht“, weinte mein Sohn und umarmte
seinen Vater auf der Couch in einer Altbauwohnung in Deutschland an jenem
Dienstagnachmittag.
Nach drei Stunden Flug fühlte er sich unwohl in der fremden Wohnung, in der er
weder sein Spielzeug fand noch sein Spielzelt, in dem wir Bücher gelesen und
gekuschelt hatten.
Es war schwer, einem zweieinhalb Jahre alten Kind zu erklären, warum Mama und
Papa aus ihrer Heimat geflohen waren in ein Land, in dem sie kaum jemanden
kannten und nicht wussten, was sie in Zukunft erwartete.
Bereits seit Monaten waren mein Mann und ich verunsichert gewesen, nachdem der
türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan einen gnadenlosen Krieg gegen alle
eröffnet hatte, denen er eine Verbindung zur Gülen-Bewegung unterstellte, und am
Samstagmorgen, drei Tage vor unserer Ankunft in Deutschland, hatte unsere
Verunsicherung beim Frühstück einen Höhepunkt erreicht. Ali, ein Freund meines
Mannes, rief an.
Er hielt sich im Ausland auf und sagte, die Istanbuler Polizei habe ihn angerufen und
aufgefordert, gegen die Gülen-Bewegung auszusagen. Ali und mein Mann waren
Mitglieder einer Nichtregierungsorganisation mit Verbindungen zur Bewegung und
damit Menschen, die die Behörden nun nach Gusto kriminalisierten. Ihre Verhaftung
stand bevor.
Ich sah, wie mein Mann am Telefon zu schwitzen begann. Wir aßen nicht auf und
verließen den Tisch mit einem Gefühl von Ohnmacht und Verzweiflung.
Obwohl wir uns immer an Gesetze gehalten hatten, hatten die Behörden nun viele
Gründe in uns Verbrecher zu sehen wegen unserer Arbeitsplätze, wegen der Bücher
in unserer Bibliothek, wegen der Spenden die wir gemacht hatten und sogar wegen
der Bank, auf der unser Erspartes lag. Ich hatte zehn Jahre für die Gülen-nahe
Tageszeitung Zaman gearbeitet und unter anderem über die Korruption in der
Regierung und grobe Menschenrechtsverletzungen in der Türkei geschrieben, bis
meine Zeitung im März 2016 gestürmt und gleichgeschaltet wurde.
Die Stunden, in denen Zaman unter Regierungskontrolle gestellt wurde, waren
Stunden von Chaos, Tragödie und Trauma. Hunderte Polizeibeamten bezogen an
dem Abend Stellung vor dem Redaktionsgebäude in Istanbul. Wir versuchten zu
verhindern, dass sie hereinkamen. Einige Kollegen blockierten das Metalltor vor dem
Eingang. Die Polizei setzte Wasserkanonen und Tränengas ein. Sie zerstörte das
Eintrittstor mit einem Bolzenschneider, während wir riefen: „Ihr könnt die freie Presse
nicht mundtot machen!“ und „Hände weg von meiner Zeitung!“
Am nächsten Tag schloss sich meine Zeitung jenen unzähligen Medien an, die
Regierungspropaganda verbreiten. Innerhalb weniger Tage fiel die Auflage von 600
000 Exemplaren auf wenige tausend. Ich blieb noch weniger als einen Monat in der
Redaktion, bis mich der Treuhänder der Regierung, der nun das Sagen hatte, Anfang
April entließ. Ich bekam keine offizielle Erklärung und keine Entschädigung. Ich
musste einfach ein Blatt Papier unterschreiben und damit waren meine zehn Jahre
bei dieser Zeitung zu Ende.
An meinem letzten Arbeitstag hatte ich mir versprochen, stark zu bleiben, aber ich
konnte meine Tränen nicht zurückhalten, als ich mich von den wenigen Kollegen
verabschiedete, die noch blieben.
Nun war ich arbeitslos, aber immerhin auf freiem Fuß, anders als dutzende meiner
Kollegen. Die Lage für Journalisten in der Türkei war schlimm geworden, schlimmer
als in Iran oder China. Das Risiko, ins Gefängnis zu gehen, war zunehmend auch für
mich erheblich.
Nach dem Putschversuch vom 15. Juli, der zu den dunkelsten Kapiteln der
türkischen Geschichte gehört und nicht aufgeklärt wurde, machte Präsident Erdogan
die Gülen-Bewegung für alles Böse auf der Welt verantwortlich und rief die
Bevölkerung auf, „die türkische Demokratie“ zu verteidigen.
Anfang Oktober verkündete der Justizminister die Ergebnisse der Hexenjagd: 34 000
Menschen seien in Haft, gegen 76 000 werde ermittelt. Journalisten, Unternehmer,
Akademiker, Ärzte, Anwälte, Hausfrauen und sogar ein Comedian. Mehr als 100 000
Menschen verloren ihre Jobs. Schlimmer noch: 38 000 Gefängnisinsassen wurden
freigelassen, um Platz zu machen für frisch Verurteilte.
Ich lebte in Angst. Stellte mir vor, wie Polizisten zu uns nachhause kommen und mich
abführen vor den Augen meines Sohnes. Wie ich keinen Kontakt zu meiner Familie
habe und keinen Anspruch auf einen Anwalt, weil der nach dem Putsch ausgerufene
Ausnahmezustand den Behörden erlaubt, Verhaftete 30 Tage komplett von der
Außenwelt zu isolieren. 15 Menschen haben sich seit dem Putsch in den türkischen
Gefängnissen unter ungeklärten Umständen das Leben genommen.
Ja, ein Militärputsch konnte erfreulicherweise abgewendet werden, aber der Zivilcoup
Erdogans ist in vollem Gang.
Nach einigen Monaten im deutschen Exil ist mir klar: Es war eine sehr schwierige
Entscheidung, meine Heimat zu verlassen, aber ich hatte keine Wahl. Nun versuche
ich mit meiner kleinen Familie hier ein neues Leben aufzubauen. Unser Status ist
ungeklärt, es ist ungeklärt, wovon wir leben sollen, wie wir mit dem Heimweh klar
kommen und wie wir in einem Land heimisch werden sollen, dessen Sprache und
Kultur wir erst jetzt kennenlernen. Aber ich bin zuversichtlich. Nach so vielen
schlaflosen Nächten in der Türkei, die zu einem Freiluftgefängnis für sehr viele
geworden ist, empfinde ich die Freiheit und die innere Ruhe, die ich hier habe, als ein
großes Geschenk.
*Zeynep Mert ist eine türkische Journalistin. Sie schreibt nun unter einem
Decknamen, weil sie Vergeltung gegen ihre Familienmitgieder in der Türkei
befürchtet. Deutsch: Tim Neshitov