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hr2-kultur, Zuspruch am Morgen, Dienstag, 18. Oktober 2016
Beate Hirt, Frankfurt
Noch ein bisschen reden
„Und jetzt können wir noch ein bisschen reden“. Moritz schlägt das Pixi-Buch zu und
klettert in sein Hochbett. Und ich lache in mich hinein und staune auch ein bisschen. Mein
siebenjähriger Neffe macht ganz klar: Vorlesen ist schön. Aber miteinander reden ist
genauso wichtig. Und das will er jetzt noch ein bisschen tun, vor dem Einschlafen. Gut,
vermutlich will er auch das Einschlafen noch etwas hinauszögern. Aber ich merke: Er will
auch wirklich noch ein wenig erzählen. Will loswerden, was heute noch so alles war. Will
planen, was demnächst so ansteht. Halt einfach noch ein bisschen mit mir reden. Also
stell ich mich an sein Hochbett, fahre ihm mit meiner Hand durch die Haare, und wir reden.
Und ich denke bei mir: Wir Erwachsene sagen so was viel zu selten. „Jetzt können wir
noch ein bisschen reden.“ Stattdessen sausen wir durch den Tag und tauschen Worte vor
allem aus, um praktische Dinge zu regeln und schnell etwas zu erledigen, in der Familie,
im Beruf. Natürlich, wir haben auch weniger freie Zeit als die Kinder. So viel ist
hineinzupacken in die Stunden zwischen Aufstehen und Schlafengehen, und oft ist man ja
ganz froh, wenn man abends nicht mehr so viel erzählen muss und die Füße hochlegen
oder ins Bett fallen darf. Je mehr Stress die Menschen haben, desto weniger bleibt Zeit
fürs Reden. Legendär und vermutlich sogar wahr ist ja die statistische Umfrage, nach der
Paare schon nach ein paar Jahren Partnerschaft nur noch ganze neun Minuten am Tag
wirklich miteinander reden.
Aber reden, das hilft eben, in fast jeder Beziehung. Natürlich vor allem: wenn es offen und
ehrlich geschieht, wenn man Interesse einander hat und sich wirklich gegenseitig zuhört.
Dann kann reden eine Beziehung wunderbar wachsen lassen, vertiefen und stärken. Es
kann auch Versöhnung stiften und Missverständnisse aus dem Weg räumen. Wer
schweigt, dem entgeht vieles und viel Schönes. Oft genug ist eben nicht Reden Silber und
Schweigen Gold, sondern genau umgekehrt, Reden ist Gold.
Und Reden ist auch gut für die Gesundheit, vor kurzem hab ich das erst wieder gelesen.
Amerikanische Untersuchungen haben ergeben: Wer oft mit seinem Partner, seiner
Familie, aber auch mit anderen Menschen spricht, der hat weniger Probleme mit dem
vegetativen Nervensystem. Reden stärkt außerdem das Immunsystem. Patienten, mit
denen geredet und denen zugehört wird, werden schneller wieder gesund. Und Paare, die
viel miteinander sprechen, sind seltener krank.
Vielleicht also hat mein Neffe Moritz einfach auch einen guten Instinkt dafür, was für
unsere Seele und unseren Körper gut ist, wenn er mir abends beim Zubettgehen
verkündet: „Und jetzt können wir noch ein bisschen reden.“