Recht und Ethik für Notärzte Fallbeispiele Kurt Lenz / Michael Halmich Notarzt-Fortbildungskurs – Hörsching, 22.10.2016 1 Patientin N.N. 79 Jahre 2 Patientin N.N. 79 Jahre Anamnese: • metastasierendes MammaCa mit Tumorkachexie, Osteoporose, keine kurative Therapie; Schmerz(dauer)therapie mit Fentanyl Pflaster und Novalgin. • Hochgradige Aortenstenose, Herzinsuffizienz NYHA III, mehrmalige Stürze in der Vorgeschichte (Synkopen?). Eine Herzklappenoperation wurde von der Patientin abgelehnt. • Die Patientin erleidet einen Herzkreislaufstillstand im Pflegeheim => Notarzt wird gerufen! 3 Patientin N.N. 79 Jahre Weiterer Verlauf: • Notarzt reanimiert die Patientin, intubiert die Patientin, dabei kommt es zu einer Sternumfraktur und Rippenserienfraktur. • ROSC – Transport ins Krankenhaus unter einer kreislaufaktiven Therapie. 4 Patientin N.N. 79 Jahre Weiterer Verlauf im Krankenhaus: • Aufnahme (in der Nacht). Sie ist intubiert, beatmet. • Kontakt mit Angehörigen: Neffe gibt glaubhaft an, dass die Patientin stets äußerte, kein Pflegefall werden zu wollen und an keine sinnlosen Maschinen angeschlossen werden zu wollen. 5 Patientin N.N. 79 Jahre Weiterer Verlauf: • Aufgrund des mutmaßliche Willens der Patientin wird eine Umstellung von kurativer Therapie auf palliative Maßnahmen beschlossen. • Bei deutlichen Stresszeichen, wahrscheinlich auch bedingt durch Schmerzen im Rahmen der CPRbedingten Verletzungen, wird mit einer kontinuierlichen Therapie mit Vendal über die Motorspritze begonnen, die Extubation ist ohne zusätzliche Belastung für die Patientin möglich. 6 Patientin N.N. 79 Jahre Weiterer Verlauf: • Die Patientin verstirbt im Beisein der Angehörigen. • Auf der Patientendokumentation (Brief?, Fieberkurve?) findet sich die Bemerkung „fragliche Opiatintoxikation“. 7 Patientin N.N. 79 Jahre Weiterer Verlauf: • Der Pathologe verweigert die Obduktion und übergibt den Leichnam an die Gerichtsmedizin. • Die Gerichtsmedizin veranlasst eine Opiatspiegelbestimmung und hat (ausschließlich) aufgrund des erhöhten Opiatspiegels eine fragliche Todeskausalität in den Raum gestellt, sodass ein Strafverfahren eingeleitet wurde. 8 Juristisches • Anzeigepflicht? • Vorgehen des Pathologen im KH korrekt? • Ist Verhalten des innerklinischen Arztes strafbar? • Verhalten des Notarztes korrekt? 9 Juristisches Anzeigepflicht ? § 54 ÄrzteG (Auszug): Ergibt sich für den Arzt in Ausübung seines Berufes der Verdacht, dass durch eine gerichtlich strafbare Handlung der Tod oder eine schwere Körperverletzung herbeigeführt wurde, so hat der Arzt der Sicherheitsbehörde unverzüglich Anzeige zu erstatten. § 9 KAKuG: Verweis auf berufs- und dienstrechtliche Vorschriften. 10 Juristisches Vorgehen Pathologe korrekt? §§ 1, 2 Oö. Leichenbestattungsgesetz (Auszug): • Totenbeschau in KH durch Prosektor oder Vertreter. • Die Totenbeschau dient zur Feststellung des eingetretenen Todes und der Todesursache, ferner in Fällen eines gewaltsam herbeigeführten Todes oder bei ungeklärter Todesursache zur Einleitung des behördlichen Verfahrens. 11 Juristisches Strafbarkeit des innerklinischen Arztes? Zu bewertendes Verhalten: Vendalperfusor, Extubation, keine weiteren intensivmed. Maßnahmen Vorwurf: Fahrlässige Tötung (§§ 80/81 StGB) durch nicht sachgemäßes Verhalten, welches todeskausal war (hohe Schmerzmedikation, Extubation, keine Intensivmed.) 12 Juristisches Strafbarkeit des innerklinischen Arztes? Behandlungsentscheidungen fußen stets auf 1. positiver Indikation (Behandlung nützt mehr als sie schadet) und 2. Übereinstimmung mit dem Patientenwillen Lebensende • beginnt wann? • Wo macht med./pfleg. Intervention Sinn? • Konkretes Therapieziel formulieren! 13 Juristisches / Medizinisches => Kurative med. Maßnahmen nicht indiziert => Wechsel auf „palliative care“ ! • Therapiezieländerung (von kurativ auf palliativ!) • Symptombehandlung steht im Vordergrund (Schmerzen, Atemnot, Krampfgeschehen, Angst etc.) Rechtliche Klarheit in Österreich: Verboten: Sterbehilfe, Töten auf Verlangen, Mitwirkung am Suizid (Sterbeprozess wird durch Arztverhalten gestartet!) Erlaubt: Nichteinleitung/Abbruch med. Behandlungen bei fehlender med. Indikation (Sterben zulassen, Sterbevorgang nicht hinauszögern); Therapie im Rahmen „palliative care“ (leitlinienkonform!) Sonderfall: palliative Sedierung! Zum Fall • Im Strafverfahren wurde dem Arzt SOGAR ein Tötungsvorsatz vorgeworfen => Mordanklage! • Die Mordanklage ist aber mittlerweile vom Tisch. • Erneute Verhandlung der fahrlässigen Tötung, da bislang lediglich Gerichtsmediziner, nicht aber Palliativmediziner als Sachverständiger tätig war. • Verfahren läuft noch – Palliativmediziner als SV engagiert. Ergebnis bleibt abzuwarten! Juristisches Verhalten des Notarztes korrekt? Warum? • Notarzt hat idR keine Vorinfo zum Patienten • Bei Atem-/Kreislaufstillstand Lebensrettungsmaßnahmen ist Pflicht, unmittelbarer da die Start Indikation von zur Lebensrettung nicht abrupt ermittelt werden kann (Sichtung Dokumente?) • ERC 2015: Therapieresistente Asystolie für 20min. rechtfertigt CPRAbbruch! 16 Patientin N.N. 79 Jahre Fragen aus ethischer Sicht: • Ist eine kurative Therapie möglich? Herzkreislaufstillstand wahrscheinlich im Rahmen der Aortenstenose. Ein operativer Eingriff könnte – wenn überhaupt – nur interventionell durchgeführt werden. Wurde aber von der Patientin abgelehnt; d.h. eine kurative Therapie ist nicht möglich. 17 Patientin N.N. 79 Jahre Fragen aus ethischer Sicht: • Autonomie • Wunsch der Patientin – keine Patientenverfügung vorhanden, keine Vorsorgevollmacht. Jedoch Aussagen: keine kurativen Maßnahmen, hat Operation abgelehnt – daraus kann der mutmaßliche Patientenwille abgeleitet werden. 18 Patientin N.N. 79 Jahre Fragen aus ethischer Sicht: • Helfen und Nichtschaden Es bestehen starke Schmerzen durch die Frakturen bei bereits vorbestehender Schmerztherapie mit einem Opiat (Fentanylpflaster). 19 Patientin N.N. 79 Jahre Fragen aus ethischer Sicht: • Helfen Palliative Maßnahmen sollen zur Schmerzfreiheit führen. Die Opiatdosierung richtet sich nach der Wirkung und nicht nach der Dosis. 20 Patientin N.N. 79 Jahre Fragen aus ethischer Sicht: • Nichschaden Es darf nicht aktiv der Tod herbeigeführt werden: Entscheidend ist hierbei die Nachvollziehbarkeit durch entsprechende Dokumentation bei einer notwendigen Dosissteigerung. Kommunikation mit weiteren Mitarbeitern einschließlich der Dokumentation ist hierfür essentiell – standardisierte Dokumentationsblätter betreffend Therapiezieländerungen sollten in jeder Krankenanstalt aufliegen bzw. können diese von der Homepage von Fachgesellschaften (z.B. OEGARI) heruntergeladen werden. 21 Patientin N.N. 79 Jahre Fragen aus ethischer Sicht Notarzt Notfallsituation Pflegeeinrichtung Schon längere Zeit in Betreuung Kurative Therapie (d.h. Re- „Advanced care planing“ animation) gerechtfertigt führt zu einem für den Patienten gewünschten Vorgehen am Lebensende Was tun, wenn eine EntKann das Pflegepersonal scheidung des Patienten trotzdem einen Notarzt vorliegt? holen? 22 Autounfall auf der Autobahn 23 Autounfall auf der Autobahn Hergang Der Patient verursacht einen Autounfall, im Rahmen dessen er schwere Verletzungen (Bruch des Brustbeins, der 4. und 5. Rippe rechts, Quetschungen der Lunge, verschiedene Prellungen) erleidet. 24 Autounfall auf der Autobahn Hergang Beim Eintreffen des NAW ist er noch in der Fahrerkabine eingeklemmt, noch ansprechbar, S02 93 %; AF 20-24; RR 110/60. Die Gesamtsituation wird als NACA V klassifiziert. 25 Autounfall auf der Autobahn Hergang Es werden folgende Erstmaßnahmen getroffen: venöser Zugang Infusion 500ml Ringer Gabe von 7.5 mg Dipidolor fraktioniert Gabe von Sauerstoff per Maske 27 Autounfall auf der Autobahn Hergang • Das Team des NAH trifft noch vor der Bergung ein. Die Bewusstseinslage wird als bewusstlos (GCS 8) eingestuft, Dyspnoe, S02 70 %; AF 2535/min; Blutdruck < 50mmHg systolisch. • Der Patient wird schließlich in Bauchlage aus dem Fahrzeug geborgen (die Bewusstseinslage ist zu diesem Zeitpunkt aufgrund divergenter Aussagen im Verfahren unklar) und auf den Rücken gelegt. 28 Autounfall auf der Autobahn Hergang • Es wird vom NA die Indikation zur Intubation gestellt, diese erfolgt nach Gabe von 5mg Midazolam, 100mg Lysthenon und 100mg Esmeron. • Die Intubation gelang anscheinend beim ersten Versuch, wurde aber vom NA als schwierig bezeichnet (Übergewicht, kurzer Hals). • Zur Kontrolle der korrekten Tubuslage wurde der Brustkorb abgehört – es fanden zwei Personen ein regelrechtes Atemgeräusch und es wurde ein Kapnograph an den Tubus angehängt – dieses zeigte kein Signal. 29 Autounfall auf der Autobahn Hergang • Der Patient wird an das Beatmungsgerät angeschlossen. Beatmung erwies sich als problemlos. Die 02-Sättigung betrug 92 %. • Innerhalb kurzer Zeit kommt es zu einem Herzfrequenzabfall. Es wurde Atropin verabreicht und dann Suprarenin. Es kam zu keiner Besserung, sodass der Patient unter einer Herzdruckmassage in das KH gebracht wurde. 30 Autounfall auf der Autobahn Hergang • Im KH wird die erfolglose Reanimation abgebrochen. • In der Obduktion findet sich eine Fehllage des Tubus in der Speiseröhre, Bruch des rechten Oberschenkels, Bruch des Brustbeins, der 4. und 5. Rippe rechts nahe dem Brustbein und der 5. Rippe 10cm links neben dem Brustbein, Quetschungen der Lunge (Injury Severity Score 29 von 75 Punkten) • Todesursache: Tod durch Ersticken 31 Zivilrechtlicher Schadenersatz • Haftungsvoraussetzungen – – – – Schaden Rechtswidriges Verhalten Kausalität zw. Verhalten und eingetretenem Schaden Verschulden • Individual- vs. Organisationshaftung • Verfahrensablauf ? Strafrechtliche Verantwortung • Delikte mit Medizinbezug – – – – – Körperverletzungs- und Tötungsdelikte Eigenmächtige Heilbehandlung (jedoch Notfallbestimmung) Nötigung Freiheitsentziehung Verletzung von Berufsgeheimnissen • Neu seit 1.1.2016: Straffreiheit der leichten fahrlässigen Körperverletzung für Gesundheitsberufsangehörige. Im gegenständlichen Fall • Zivilrecht – Klärung Haftungsvoraussetzungen – Ersatz gebührt Hinterbliebenen • Strafrecht relevant – Fahrlässige Tötung Autounfall auf der Autobahn Gutachter Die Behandlung während der Bergung entsprach den Regeln der Kunst. Die Indikation zur Intubation war gegeben. Die Art und Dosis der Medikation zur Einleitung der Narkose und Erleichterung der Intubation entsprach den Regeln der Kunst. Die zur Kontrolle der Tubuslage verwendeten Verfahren (Abhören und Kapnograph) entsprachen den Regeln der Kunst. 35 Autounfall auf der Autobahn Gutachter Die Konsequenz, die aus dem fehlenden Nachweis von C02 in der Ausatemluft gezogen wurde, entsprach nicht den Regeln der Kunst. Es ist zwar richtig, dass die angedachte Möglichkeit des Fehlen von C02 in der Ausatemluft auf die schlechten Kreislaufverhältnisse zurückgeführt werden kann, im Zweifelsfall muss man jedoch den „schlechtesten Fall“ in Betracht ziehen. D.h. man muss hier an eine Fehlintubation denken. Es hätte der Tubus entfernt werden müssen und ein alternatives Verfahren zur Sicherung der Atemwege gewählt werden müssen. 36 Autounfall auf der Autobahn Gutachter Die Fehlintubation war kein Fehler, jedoch das Nichterkennen der Tubusfehllage. Das fehlende Signal des Kapnographen wurde falsch interpretiert. Es hätte der Tubus entfernt werden müssen, und ein alternatives Verfahren angewendet werden müssen. Dieses Vorgehen hätte den Transport nur unwesentlich verzögert. 37 Auflösung Fall • Strafrecht Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe von € 3.600 • Zivilrecht (Schadenersatz) Schadenersatzanspruch der Hinterbliebenen besteht; bestätigt durch Obersten Gerichtshof! Umfang: Unterhalt für Hinterbliebene, Bestattungskosten Univ.-Prof. Dr.med. Kurt Lenz Internist, Gutachter Kontakt: [email protected] Dr.iur. Michael Halmich LL.M. Kontakt: [email protected] www.halmich.at www.oegern.at 39
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