evangelisch-lutherische dom-gemeinde vikarin johanna levetzow

EVANGELISCH-LUTHERISCHE DOM-GEMEINDE
VIKARIN JOHANNA LEVETZOW
Predigt über Apostelgeschichte 6,1-7 am 13. Sonntag nach Trinitatis
30. August 2015
Schon wieder waren sie vorbeigegangen. Schon wieder hatten sie nichts abbekommen. Schon wieder kein
Brot. Kein Brot in ihren Händen. Ein bisschen runzelig waren die schon. Und voller Altersflecken. Sie hatten
die Hände vergeblich ausgestreckt. Sie, die Zugezogenen. Sie, die Hungrigen. Sie, die Einsamen. Eine
Gruppe von Frauen, die zu wenig zu essen hat. Zu wenig für den Magen. Inmitten einer lebendigen,
inmitten einer wachsenden Christengemeinde. Davon berichtet der Predigttext in der Apostelgeschichte.
1 In diesen Tagen aber, als die Zahl der Jünger zunahm, erhob sich ein Murren unter den griechischen
Juden in der Gemeinde gegen die hebräischen, weil ihre Witwen übersehen wurden bei der täglichen
Versorgung. 2 Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen und sprachen: Es ist nicht recht, dass
wir für die Mahlzeiten sorgen und darüber das Wort Gottes vernachlässigen. 3 Darum, ihr lieben Brüder,
seht euch um nach sieben Männern in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll Heiligen Geistes und
Weisheit sind, die wir bestellen wollen zu diesem Dienst. 4 Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim
Dienst des Wortes bleiben. 5 Und die Rede gefiel der ganzen Menge gut; und sie wählten Stephanus, einen
Mann voll Glaubens und Heiligen Geistes, und Philippus und Prochorus und Nikanor und Timon und
Parmenas und Nikolaus, den Judengenossen aus Antiochia. 6 Diese Männer stellten sie vor die Apostel; die
beteten und legten die Hände auf sie. 7 Und das Wort Gottes breitete sich aus und die Zahl der Jünger
wurde sehr groß in Jerusalem. Es wurden auch viele Priester dem Glauben gehorsam.
Es geht hier um die Situation der jungen, aufstrebenden Jerusalemer Gemeinde. Und es geht um ein ganz
konkretes Problem. Und um die Lösung dieses Problems. Und es geht um das Wort Gottes und das Gebet.
Und - es geht ums Essen. Die zugewanderten Witwen fühlen sich nicht gesehen, sogar übersehen bei der
täglichen Versorgung mit Nahrung.
Sie sind arm. Sie sind fremd. Sie sind hungrig. Sie sind mit viel Hoffnung im Bauch nach Jerusalem
gezogen. Sie waren neugierig auf das Evangelium; auf das, was die Apostel von diesem Jesus erzählten.
Die Leute sagten, die Christen wären „ein Herz und eine Seele“ und „sie teilen alles mit allen“ und nun das:
Die Witwen des griechisch-sprachigen Teils der Gemeinde wurden einfach übersehen: Die Apostel, die
zuständig waren, haben für sie nicht aufgedeckt: Kein Teller Suppe, kein Stück Brot, alle Plätze am Tisch
besetzt. Vielleicht wurde über sie getuschelt. Oder sie wurden scheel angesehen. Sie trugen andere Kleider.
Sie benahmen sich anders und sie lachten über andere Witze. Kein herzliches Willkommen. Keine offenen
Türen und schon gar keine offenen Hände. Sie sprechen eine andere Sprache. Sie kommen von woanders.
Das Miteinander ist gestört. Die Gruppe der griechisch-sprechenden Gemeindemitglieder beginnt zu
murren. Unmut und Missgunst machen sich breit. Essensduft dringt durch geschlossene Türen. Knurrende
Mägen.
Dabei war die Versorgung der Witwen gewissermaßen seit alters her vorgeschrieben. Eine
Vernachlässigung der Witwen das war keine Kleinigkeit, so steht es in den alten Schriften der Tora und der
Propheten, die alle kannten: Ihr sollt Witwen und Waisen nicht bedrücken. (Ex 22,21) oder beim Propheten
Jeremia: So spricht der HERR: Schafft Recht und Gerechtigkeit und errettet den Bedrückten von des
Frevlers Hand und bedrängt nicht die Fremdlinge, Waisen und Witwen und tut niemand Gewalt an und
vergießt nicht unschuldiges Blut an dieser Stätte. (Jer 22,3)
Die Witwen waren in der damaligen Gesellschaft die am Rand, die ohne Auskommen, die Armen. Wer
ihnen kein Recht verschaffen kann, der hat vor Gott auch das Recht verspielt, Gottesdienst zu feiern, so die
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Schriften der Gesetze. Der Gottesdienst als Dienst an den Menschen im Alltag der Welt und die feierliche
Anbetung Gottes gehören also zusammen.1 Sie sind nicht voneinander zu lösen.
Magen und Herz. Körper und Geist. Himmel und Erde.
Die Apostel erklären allen das Problem: „Es geht nicht, dass wir für die Mahlzeiten sorgen und darüber das
Wort Gottes vernachlässigen. (…) seht euch deshalb um, nach sieben Männern aus eurer Mitte (…), die
wollen wir einsetzen für diese Aufgabe.“
Man muss sich dieses Argument auf der Zunge zergehen lassen: Da sind die Apostel als Leiter der
Gemeinde des Missmanagements beschuldigt und schlagen was vor? Wir wollen mit dem Problem nicht
mehr länger zu tun haben. Wählt ihr Leute, die für euch sorgen. Wir haben anderes und besseres zu tun.
Oder ist es eher eine Verteilung der Aufgaben nach Gaben? Ist es eher so gemeint? Nicht einer für alles.
Eine allein für vieles Verschiedenes? Sondern jede und jeder für etwas. Den Aposteln ist das klar.
Und, so steht es im Text: „Der Vorschlag gefiel allen, die versammelt waren“.
Der Vorschlag gefiel allen. Sieben Männer mit gutem Ruf, voll Weisheit und mit der Kraft des heiligen
Geistes ausgestattet werden berufen.
Keine Rangfolge der Aufgaben. Kein Ausspielen der einen Tätigkeit gegen die andere. Das Naheliegende
muss getan werden. Hungernde versorgen und sich mit den Worten der Schriften beschäftigen. Menschen
mit Todesangst können nicht predigen und sich ausführlich dem Gebet widmen. Menschen, die nicht
wissen, was ihre Kinder morgen essen werden, können sich nicht mit Ästhetik, Kunst oder Religion
beschäftigen. Genauso gilt aber auch dies: Menschen brauchen auch nicht nur die Erde, nicht nur Nahrung
und ein Dach über dem Kopf, sondern auch den Himmel. Etwas, was über diese Grundbedürfnisse
hinausgeht. Damit er nicht alternativlos leben muss, der Mensch. So ähnlich schreibt es der Philosoph und
Journalist Jan Roß.2 Der Mensch braucht den Himmel, um nicht dem alleinigen Totalitarismus der Welt
ausgesetzt zu sein. Ohne Himmel verliert der Mensch seine Freiheit in einer Realität, deren Motto „So und
nicht anders“ lautet und „Es ist, wie es ist“.
Ob es die Apostel in Jerusalem so gesagt hätten? Auf jeden Fall haben sie etwas von dem gespürt. Etwas
von dem, dass Menschen beides brauchen. Eine Gemeinschaft muss sorgen für die, die Hilfe brauchen. Die
Witwen und Fremden, die Einsamen und Hungrigen. Sie muss sorgen für die Hände. Für gefüllte Hände
und Mägen. Und Menschen brauchen auch gefüllte Herzen. Herzen, die in Freiheit suchen können, nach
dem, was sie unbedingt angeht. Nach dem, was sie bewegt. Ohne Zwang, ohne Repressalien und ohne
Angst. Das eine nicht ohne das andere. Beides gehört zusammen. Das Wort und das Wohlbefinden. Die
Nahrung – ganz materiell und auch ganz geistig. Der Kopf und der Bauch. Der Magen und das Herz. Der
Körper und der Verstand. Himmel und Erde.
Und dann kann es passieren. Dann kann es passieren, dass Aufgaben verteilt werden. Ohne niedere und
höhere. Ohne wichtig oder nur notwendig. Ohne Rangfolge.
Alle Aufgaben gehören dazu. Zu Himmel und zu Erde. Zu Herz und Magen. Zum ganzen Menschsein und zu
einer Gemeinde. Beten und Singen, Musizieren, Kindern den Dom zeigen, Aufräumen, Gesangbücher
austeilen, Pläne machen und Texte schreiben, Ziegel formen und Basteln, Reden und Schweigen, da sein
und hören, Stühle stellen und Kuchen backen, die Dame aus dem Haus Simeon abholen und Türen
aufschließen. Was für ein Glück. Und was für eine Vielfalt zwischen Himmel und zwischen Erde.
Das Naheliegende tun zwischen Himmel und Erde. Auch wenn es erst einmal ganz, ganz irdisch aussieht.
Wunden waschen, dem Mann am Wegesrand aufhelfen. So wie der Samariter, von dem wir gehört haben.
Der Nachbarin zuwinken, die keiner mehr grüßt. Oder wie die Frau in Passau Brote schmieren für die
Menschen auf der Flucht, die in ihrem Garten gestrandet sind, während der Nachbar ruft: Lass doch, sonst
werden das immer mehr. Den Witwen die Nahrung geben, die sie benötigen. Die Apostel finden Formen,
dies zu organisieren. Auch wenn sie nicht alles allein schaffen können. Den Witwen das Brot und allen auch
die Worte, die sie zum Leben brauchen. So organisiert es die Gemeinde in Jerusalem.
Beide Arten der Nahrung. Beides zum Leben. Erde und Himmel.
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Rolf Schieder.
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Jan Roß: Die Verteidigung des Menschen. Warum Gott gebraucht wird.
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Ohne Himmel, so noch einmal der Autor, fräße den Menschen die Welt mit Haut und Haaren. Die Welt, die
ohne Himmel würde wie ein „stahlhartes Gehäuse“, wie eine luftdicht verschlossene Immanenzkammer,
wie ein lückenloser Funktionszusammenhang, der jede Art von draußen leugnet: das Draußen, das Wunder
oder die Willensfreiheit, die Überraschung, die Spontanität, die Unterbrechung. Das Herz sehnt sich nach
diesem Draußen. Ein Draußen, was den Lauf der Dinge stört, den Ring der Zwangsläufigkeit aufsprengt.
Gefüllte Herzen mit einer Perspektive des draußen. Eine Perspektive, in der die Welt nicht einfach
vorhanden, sondern geschaffen ist, wo Sünden vergeben werden, die Toten auferstehen und der Homo
Sapiens keine biologisch und sozial konditionierte Überlebensmaschine darstellt, sondern ein
sündenanfälliges, erlösungsbedürftiges und geheimnisvolles Gotteskind. Mit Magen und mit Herz. Amen.
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