Warten auf die Kohle Warten auf die LINKE Viele Flutopfer von Braunsbach kämpfen noch mit den Versicherungen. Seite 3 Fraktionschefin Simone Oldenburg über den Neustart im Nordosten. Seite 5 Das Warten hat ein Ende Die Clowns Wenzel und Mensching haben sich wieder vereint – doch der anarchische Funke vermag heute nicht mehr so recht zu zünden. Warum? Seite 15 Foto: dpa/Jens Büttner Montag, 10. Oktober 2016 STANDPUNKT Empörung auf kleiner Flamme 71. Jahrgang/Nr. 237 Bundesausgabe 1,70 € www.neues-deutschland.de Bomben auf Trauergemeinde Trump verprellt das eigene Lager Weit mehr als 100 Tote bei Luftangriff der saudischen Koalition in Jemen US-Republikaner machen Druck wegen Videos mit Vulgaritäten Roland Etzel zur Reaktion auf das Massaker aus der Luft in Sanaa Ned Price, der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats in Washington, ließ ausrichten, man sei in seiner Behörde empört: So sei das nicht gemeint gewesen. »Die US-Sicherheitszusammenarbeit mit Saudi-Arabien ist kein Blankoscheck.« Dem muss widersprochen werden, denn sie ist genau das: Vor einem Jahr bombardierte die saudisch geführte Kriegsallianz eine Hochzeitsfeier – 130 Tote; im Frühjahr einen Markt – 120 Tote. Und danach gab es sehr ähnlich lautende Erklärungen und – übrigens auch von Seiten der Bundesregierung – keinerlei Konsequenzen. Für das Königshaus in Riad dürfte der Scheitelpunkt der amerikanischen Entrüstung bereits jetzt überstanden sein. Man muss gerade im Lande des Propheten kein solcher sein, um vorauszusagen, dass auch das Abschlachten von 140 Teilnehmern einer Trauerfeier aus der Luft die Waffenbrüderschaft Obama/Salman nicht in Frage stellen wird. Dennoch: Die amerikanischen Freunde des reaktionärsten Staates im gesamten Mittleren Osten werden sich geärgert haben. Gerade haben sie mit großer Geste Russland die Kooperation gekündigt wegen seiner Luftangriffe in Aleppo und daraus folgender ziviler Opfer. Und nun das. Es waren zwar nicht die eigenen Truppen, aber die Bomber wurden von den USA geliefert, ebenso die Raketen und die Logistik. Und wenn nicht Tausende GIs auf der Arabischen Halbinsel stünden, gehörte die dortige Renaissance des Mittelalters wohl längst der Vergangenheit an. UNTEN LINKS Während wir darauf warten, dass der Kapitalismus sich endlich selbst abschafft, macht ein Blick nach Japan Hoffnung, dass es bald soweit ist. Dort ist man nämlich schon weiter. Zunächst scheint der Kapitalismus alles daran zu setzen, die Japaner als solche zu beseitigen. Ergebnis einer Umfrage: In dem Land, das am schnellsten altert und schon heute eine der niedrigsten Geburtenraten aufweist, leben immer mehr junge Menschen in sexueller Enthaltsamkeit. Wozu sich mit makelhaften Fremdkörpern herumbalgen, wenn der Kapitalismus uns mit der digitalen Pornografie gesegnet hat? Einer weiteren Studie zufolge könnte der Verzicht auf Sex aber auch einen anderen Grund haben: schlicht keine Zeit. Mehr als 80 Überstunden im Monat seien nicht selten. Nach Sushi, Tofu, Sudoku und Bonsai sollte eine weitere japanische Vokabel Eingang in die deutsche Sprache finden: Karoshi. Einen Begriff für den Tod durch Überarbeitung gibt es nirgendwo sonst. mha ISSN 0323-3375 Foto: Salvadore Brandt Washington. Trotz Drucks aus den eigenen Reihen nach dem Bekanntwerden vulgärer Äußerungen über Frauen hält der US-Republikaner Donald Trump an seiner Präsidentschaftskandidatur fest. Trump schrieb am Samstag in Twitter, er werde »niemals aus dem Rennen ausscheiden«. Allerdings brodelte es in seiner Partei gewaltig: Mehrere Republikaner entzogen ihm die Unterstützung, darunter Senator John McCain und ExAußenministerin Condoleezza Rice. Es gebe »null Chancen, dass ich aufgebe«, sagte Trump dem »Wall Street Journal«. Auf Twitter schrieb er, die Medien und das Establishment wünschten sich inständig, er möge seine Kandidatur beenden. »Ich werde niemals meine Anhänger im Stich lassen!«, stellte er klar. Die »Washington Post« hatte am Freitag ein Video von 2005 veröffentlicht, in dem sich Trump abfällig über Frauen äußert. In einer Videoerklärung entschuldigte sich Trump in der Nacht zum Samstag und erklärte, er habe Dinge gesagt und getan, die er »bedauere«. AFP/nd Seite 7 Terrorverdächtiger auf der Flucht Syrer nach Razzia in Chemnitz bundesweit gesucht Von der bombardierten Trauerhalle in Sanaa blieb kaum mehr als die Grundmauern. Berlin. Es war ein Luftangriff auf eine voll besetzte Trauerhalle. Der Vater eines Ministers der Huthi-Regierung, die seit anderthalb Jahren in der jemenitischen Hauptstadt Sanaa regiert, war gestorben und sollte unter großer öffentlicher Anteilnahme beerdigt werden. Doch dann kamen Bomber, erst einer, dann ein zweiter, und beschossen die Halle mit Raketen. Das UN-Amt für die Koordinierung Humanitärer Angelegenheiten spricht von einem der folgenschwersten Luftangriffe der von SaudiArabien und anderen Golfmonarchien gebildeten Kriegskoalition, die eine von Schiiten geführte Regierung in Sanaa nicht hinneh- Foto: dpa/Yahya Arhab men will und deshalb das arme Land immer wieder bombardiert. Die tödliche Bilanz diesmal laut Stand vom Sonntagnachmittag: 140 Tote und 525 Verletzte. In der Halle sollen über 1000 Menschen gewesen sein. Die USA geben sich angesichts der Untat ihres Bundesgenossen Saudi-Arabien peinlich berührt. Der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats, Ned Price, erklärte in der Nacht zum Sonntag, die Sicherheitszusammenarbeit mit dem sunnitischen Königreich sei »kein Blankoscheck«. Die USA seien jetzt »bereit, unsere Unterstützung (für Saudi-Arabien) anzupassen, um den Prinzipien, Werten und Interes- sen der USA besser gerecht zu werden«. Diese äußerst laue Stellungnahme wird von Kommentatoren in Washington dennoch als »ungewöhnlich scharfe« Distanzierung vom Königshaus in Riad bezeichnet. Ähnlich halbseiden fiel die offizielle deutsche Reaktion aus. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier sieht offenbar die Schuld gleichermaßen verteilt und verurteilte den Angriff, ohne einen Schuldigen zu benennen: »Entsetzt verfolgen wir die militärische Eskalation der letzten Wochen und insbesondere die hohe Zahl ziviler Opfer in diesem Konflikt.« roe/dpa Seite 8 Aus für regierungskritische »Nepszabadsag« Ungarns Sozialisten: Schwarzer Tag für Presse / Mitarbeiter beurlaubt / Eigentümer will neues Konzept Ungarns größtes Oppositionsblatt »Nepszabadsag« erscheint nicht mehr. Die Entscheidung sei aus wirtschaftlichen Gründen getroffen worden, teilte der Eigentümer Mediaworks mit. Budapest. Die Einstellung von Ungarns größter Oppositionszeitung »Nepszabadsag« gelte bis zur »Formulierung und Realisierung eines neuen Konzepts«, erklärte Eigentümer Mediaworks nach Angaben der Nachrichtenagentur MTI am Wochenende. »Nepszabadsag« ist Ungarns bestverkaufte großformatige Zeitung, dennoch schreiben Print- und Onlineausgabe Verluste. Die oppositionellen Sozialisten erklärten, die Einstellung der Zeitung sei ein »schwarzer Tag für die Presse«. Sie riefen zu Protestaktionen auf. »Nepszabadsag« hatte immer wieder kritisch über den ungarischen Regierungschef Viktor Orban berichtet, zuletzt vor dem Referendum über die Flücht- lingsverteilungsquote der Europäischen Union vor einer Woche. Kritiker werfen dem nationalkonservativen Ministerpräsidenten vor, die Medien zu Verlautbarungsorganen seiner Regierung machen zu wollen. Zahlreiche privatwirtschaftliche Medien wurden demnach von regierungsfreundlichen Oligarchen aufgekauft. Am Wochenende wurde spekuliert, dass auch »Nepszabadsag« an einen Orban-Unterstützer verkauft wird. Der österreichische Konzern Mediaworks, der die Zeitung und weitere ungarische Titel gekauft hatte, machte allerdings keine Angaben zu einem möglichen Verkauf. Die Belegschaft von »Nepszabadsag« kritisierte, dass die Entscheidung, das Erscheinen vorerst einzustellen, hinter ihrem Rücken gefallen sei. »Das Land wusste davon, bevor wir es wussten (...) unser erster Gedanke war, dass es ein Putsch ist«, schrieb die Belegschaft auf der Facebook-Seite der Zeitung. Ein Mitarbeiter der Zeitung, der nicht namentlich genannt werden wollte, sagte der Nachrichtenagentur AFP, Journalisten, die Ar- »Unser erster Gedanke war, dass es ein Putsch ist.« Belegschaft der Zeitung auf der Facebook-Seite tikel für die Montagsausgabe vorbereitet hätten, sei plötzlich der Zugang zu ihren Arbeitsplätzen verwehrt worden. In Briefen seien sie von ihrer Beurlaubung informiert worden. »Wir stehen unter Schock«, sagte der Mitarbeiter. »Natürlich werden sie versuchen, es wie eine geschäftliche Entscheidung aussehen zu lassen, aber das ist nicht die Wahrheit.« Der Mitarbeiter erklärte, dies sei »ein schwerer Schlag für den investigativen Journalismus und die Pressefreiheit«. »Nepszabadsag« sei das größte Organ für Qualitätsjournalismus in Ungarn, das sich für die Verteidigung von »grundlegenden Freiheiten, Demokratie, Redefreiheit und Toleranz« eingesetzt habe. Laut Mediaworks ist die Auflage von »Nepszabadsag« in den vergangenen zehn Jahren um 74 Prozent gefallen. Mediaworks gehört zum Firmengeflecht der österreichischen Investmentfirma Vienna Capital Partners (VCP). Die VCP-Tochter besitzt in Ungarn weitere Printmedien. Die Budapester Führung wies politische Motive von sich. »Keinesfalls wollen wir gegen die Pressefreiheit auch nur dadurch verstoßen, dass wir uns in die Entscheidungen eines Verlagsunternehmens einmischen«, erklärte Regierungssprecher Bence Tuzson. Agenturen/nd Berlin. Ein Spezialeinsatzkommando der sächsischen Polizei stürmte am Samstag eine Wohnung in Chemnitz. Bei der anschließenden Durchsuchung trafen Beamten den Hauptverdächtigten, einen 22-jährigen syrischen Flüchtling, nicht an, fanden aber »hunderte Gramm« des Sprengstoffs TATP. Über den Kurznachrichtendienst Twitter veröffentlichte die Polizei Fotos von Dschaber alBakr, bat um Mithilfe bei der Fahndung und rief zur Vorsicht auf, da unklar sei, ob der Mann Waffen oder Sprengstoff bei sich trage. Das Landeskriminalamt Sachsen verteidigte am Sonntag den Einsatz. Während der Vorbereitung bemerkten die Beamten eine Person im Haus, sagte Sprecher Tom Bernhardt. Der Gesuchte habe sich schnell bewegt und sei trotz eines Warnschusses aus dem Sichtfeld gelaufen. »Es war unklar, ob der Mann Sprengstoff und einen Zünder bei sich hat.« Das bis dahin noch nicht evakuierte Haus hätte auch in die Luft fliegen können. »In so einer Situation können wir nicht ins Risiko gehen«, so Bernhardt. jme/dpa Seite 5 Tausende in Berlin gegen Krieg Bundesweite Friedensdemonstration Berlin. Mit Regenbogenflaggen und dem Logo der weißen Taube demonstrierten in Berlin Tausende Menschen gegen Krieg. Sie zogen am Samstag unter dem Motto »Die Waffen nieder!« vom Alexanderplatz zur US-Botschaft am Brandenburger Tor. Die Polizei zählte über 5000 Teilnehmer. Die Organisatoren der Demonstration, der Bundesausschuss Friedensratschlag, die Kooperation für den Frieden und die Berliner Friedenskoordination, gaben 8000 Besucher an. Auf ihren Transparenten verlangten die Demonstranten »Frieden schaffen ohne Waffen« oder »Raus aus der NATO«. Der Vorsitzende der Naturfreunde Deutschland, Michael Müller (SPD), warnte auf der Demo davor, das Erbe Willy Brandts zu verspielen – Frieden und Entspannung. Auf der Abschlusskundgebung sagte die Vorsitzende der LINKEN-Bundestagsfraktion, Sahra Wagenknecht: »Wir brauchen keine Rückrufaktion für Ersatzteile, wir brauchen eine Rückrufaktion für diese ganzen Waffen und eine Rückrufaktion für die Bundeswehr.« Agenturen/nd Seite 6
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