Lebenszeichen vom 02.10.2016

Ahimsa - Gewaltlosigkeit ist oberstes Gebot
bei den Jains in Indien
Von Øle Schmidt
Lebenszeichen
02.10.2016
Prinzip Ahimsa:
Gewaltlosigkeit ist oberstes Gebot bei den Jains in Indien
O-Ton Sicherheitsfrau:
Sir, Sie können hier nicht rein! Erst muss ich Ihre Tasche kontrollieren.
Erzähler:
Der Sicherheitsmann am Ende des Weges versperrt mit seinem Körper den Eintritt in den Tempel.
Als ich vor ihm stehe, sehe ich, dass Er eine Sie ist, und blicke in große, dunkelbraune Augen.
»Ich habe einen langen Weg zurückgelegt, um ein Interview über Ahimsa und die gewaltfreie
Religion der Jains zu führen«, erwidere ich etwas trotzig, und lege mein Mikrofon und das
Aufnahmegerät auf den Holztresen. Die Sicherheitsfrau bleibt hart, sie hält nichts von Vergebung.
O-Ton Sicherheitsfrau:
Aber Sie können doch keine elektronischen Geräte in ein Haus Gottes mitnehmen
Erzähler:
... sagt sie, und schüttelt demonstrativ den Kopf. Ihr schwarzes Haar ist streng geflochten und liegt
über der khakifarbenen Uniform, auf ihrem Rücken trägt sie ein in die Jahre gekommenes
Jagdgewehr. »Verrückt«, denke ich, »dass jetzt selbst die Jains den Frieden mit Waffen sichern
wollen. «
O-Ton Shri Shandra:
Ahimsa bedeutet Gewaltlosigkeit und ist das Wichtigste im Glauben der Jains. Unser Verzicht
auf Gewalt geht so weit, dass wir noch nicht mal daran denken dürfen, ein Lebewesen zu
schädigen. Wie klein es auch immer sein mag, auch keine Ameisen. Wir dürfen niemanden
schädigen – nicht gedanklich, nicht körperlich. Ahimsa ist das Fundament des Jainismus:
Leben und Leben lassen.
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des
Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch
öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.
Wirtschaften für den Glauben
Der geschäftige Geist und sein spirituelles Leben
Lebenszeichen
Von Frank Schüre
24.01.2015
Erzählerin:
Shri Shandra sieht aus, wie ein heiliger Mann aussehen muss. Seine Haare sind weise ergraut, der
Bart ist lang und wild. Der Jaina-Mönch ist beides: Ein spiritueller Vater, milde und klar, und ein
schelmischer kleiner Junge. Im zarten Alter von elf Jahren ist er als kleiner Junge Mönch geworden.
O-Ton Yogendra Singh:
Es ist für die ganze Welt! Wenn du Ahimsa folgst, dann ist es gut. Es ist gut für dich, es ist gut
für andere. Denn wenn du nicht gewaltlos lebst, dann werde ich wütend, und verletze
ebenfalls Ahimsa. Wenn du Gutes tust, dann werde ich mich freuen. So funktioniert Ahimsa.
Erzählerin:
Yogendra Singh hat die Aura eines französischen Bohemiens, dazu trägt er den in Indien
unvermeidlichen Oberlippenbart. Manager Dilwara Tempel, Mount Abu, Indien – so steht es auf
seiner Visitenkarte. Der tiefenentspannte Zweiundsechzigjährige leitet einen der archetektonisch
weltweit bedeutendsten Jain-Tempel.
O-Ton Kumarpal:
Wir müssen wirklich alle Tiere schützen. Wir müssen die Vögel schützen, wir müssen die
Geschöpfe im Wasser schützen. Warum sollten wir Fleisch essen? Warum sollten wir Fisch
essen? Wir sollten das Töten aller Tiere stoppen. Wir sollten auch die Schlachthäuser
schließen.
Erzählerin:
Nein, so könnte der Geschäftsmann Kumarpal Mehta nicht auf einer seiner Baustellen in der
Metropole Mumbai auftauchen. Der siebenundvierzigjährige Jain-Pilger zeigt viel Haut. Eigentlich ist
da nur ein langer beigefarbener Bauwollschal, den er kunstfertig zwischen seine Beine und über das
Gesäß gewickelt hat.
In Europa ist der Jainismus so gut wie unbekannt, obwohl die in Indien entstandene Religion älter ist
als das Christentum. Ihr Heilsversprechen ist – wie im Buddhismus und Hinduismus –der Ausstieg
aus dem leidvollen Kreislauf der Wiedergeburt. Doch damit ihr persönliches Karma-Konto im Plus
steht, leben Jains nach strengeren Regeln als Buddhisten und Hindus. Über allem steht ein
moralischer Imperativ: Ahimsa! Führe ein Leben, das frei ist von Gewalt – gegenüber Menschen,
Tieren und Pflanzen. Man stelle sich das vor: eine Religion, die Gewaltlosigkeit nicht nur predigt,
sondern von ihren Anhängern auch verlangt. Tag für Tag.
Erzähler Olaf:
Kein niederes Tier, kein Gewächs, kein höheres Wesen, kein sonstiges Lebendes darf geschlagen,
in Befehl genommen, bemeistert, angestrengt, oder vernichtet werden. Das ist die reine, beständige,
ewige Lehre von Wissenden – da sie die Welt begreifen – verkündet. «
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
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Wirtschaften für den Glauben
Der geschäftige Geist und sein spirituelles Leben
Lebenszeichen
Von Frank Schüre
24.01.2015
Erzählerin Jule:
Das sind die Worte Mahaviras, dem letzten der 24 Furtbereiter; der großen Weisen der Jain-Religion.
Mahavira war Zeitgenosse Buddhas. Als Sohn des Königs Siddhartha soll er der Überlieferung nach
im Jahre 599 vor Christus im Königreich Vaishali geboren sein, im heutigen indischen Bundesstaat
Bihar. Mutter Trishala soll im Traum die messianische Mission ihres Sohnes Mahaviras vorhergesagt
worden.
Ähnlich wie Buddha ließ Mahavira mit Ende zwanzig alles hinter sich, verließ Familie und Königreich
– und wurde Asket. Zwölf Jahre lebte er als Mönch zurückgezogen in Wäldern und Bergen, dann
kehrte Mahavira in die Gesellschaft zurück und verkündete seine Lehre: Ahimsa. Leben und leben
lassen.
Wie aktuell Mahavira ist und das Prinzip der absoluten Gewaltlosigkeit von Religionen, das erfahren
wir allabendlich in den Nachrichten: der selbsternannte Islamische Staat wütet und mordet in Syrien
und im Irak; Buddhistische Milizen machen in Nepal und Myanmar Jagd auf die Angehörigen der
moslemischen Minderheit; christliche Fundamentalisten säen Hass in den USA gegen »Andere«,
gegen Homosexuelle, Schwarze und Araber: die unheilvolle Verbindung von Religion und Gewalt
erlebt in diesen Tagen eine blutige Renaissance. Ihnen gegenüber steht die kleine
Religionsgemeinschaft der Jains, die es seit zweieinhalbtausend Jahren ernst meint mit der
Gewaltlosigkeit; mit ihnen ist kein Krieg zu machen.
Sprecher:
Neun Uhr morgens, 32 Grad im Schatten: Dilwara-Tempel in Mount Abu, Rajasthan, Indien
Erzähler:
Als ich das Büro des Tempels betrete, erwische ich Yogendra Singh bei seiner Morgenzigarette.
»Mein letztes verbliebenes Laster«, brummt der Leiter des Tempels. Die nächsten fünf Minuten
schaue ich ihn an, und er schaut in die zerknitterte Tageszeitung. Dann sagt Yogendra Singh, dass
Ahimsa ihm als Jain so einiges abverlange, etwa die Wertschätzung aller Menschen.
O-Ton Yogendra Singh:
Ich werde nicht schnell wütend, auch dann nicht, wenn meine Mitarbeiter Fehler machen. Ich
habe mich daran gewöhnt, ihnen dann zu sagen, was sie nicht machen sollen, aber
normalerweise werde ich nicht wütend. Ich sollte auch nicht wütend werden, andernfalls
ängstige ich sie, und ich liebe sie doch alle.
Erzähler:
Woher nimmt er die innere Ruhe, um an elfstündigen Arbeitstagen sechzig Mitarbeiter
freundlich zu koordinieren, damit Tausende den Tempel besuchen können?
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
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Wirtschaften für den Glauben
Der geschäftige Geist und sein spirituelles Leben
Lebenszeichen
Von Frank Schüre
24.01.2015
O-Ton Yogendra Singh:
Nun, ich meditiere jeden Tag in den Morgenstunden. Um fünf Uhr dreißig stehe ich auf, und
fange an, zu meditieren.
Anschließend höre ich Vorträge, wir haben einige Fernsehsender, die ein religiöses
Programm anbieten. Ich höre mir viele Mönche an, manchmal Hindus, manchmal Jains,
manchmal Moslems.
Erzähler:
Yogendra Singh hat gute Gründe, so früh aufzustehen. Nach seinem Morgenritual ist der
Tempelleiter gelassener und respektvoller, gegenüber seiner Familie und seinen Mitarbeitern. Für die
Jains ist Freundschaft zwischen allen Lebewesen der größte Reichtum dieses Planeten. Und mehr
Gewaltlosigkeit – Ahimsa – bedeutet weniger schlechtes Karma, und damit steigt die Chance auf
Moksha, auf die Erlösung von leidvollen Wiedergeburten.
Sein strenger Ethikcodex macht aus dem Jainismus eine Religion der Tat, nicht der großen Worte.
Ahimsa bedeutet neben dem Verzicht auf Fleisch und Fisch auch eine eingeschränkte Berufswahl.
Kein Jain kann im Schlachthaus arbeiten, ein Restaurant oder einen Supermarkt leiten, wo Fleisch
angeboten wird, geschweige denn sein Geld in der Waffenindustrie verdienen. – Welche täglichen
Verpflichtungen bringt Ahimsa mit sich?
O-Ton Yogendra Singh:
Ahimsa bedeutet auch einzugreifen, wenn etwas falsch läuft. Wenn ich sehe, dass jemand
einen Hund schlägt oder eine Kuh, dann versuche ich es zu stoppen: Mach es nicht! Sonst
wird es dir vielleicht selbst wiederfahren!
Erzähler:
Yogendra Singh drückt mir ein altes Buch über die Jain-Philosophie in die Hand. »Das Interview mit
dem Tempel-Priester fällt aus, sein Onkel ist gestorben«, sagt er. »Wir könnten die Interviews mit
den Mönchen vorziehen«, schlage ich vor. »Die haben den Tempel gestern verlassen« antwortet er.
Yogendra Singh hat einen kräftigen Händedruck. »Viel Glück! «, wünscht er mir noch. Und geht. Das
werde ich brauchen. Denn auch wenn Menschen aus der ganzen Welt den Dilwara-Tempel
besuchen, lebt in Mount Abu nicht ein einziger Jain. Die Nachwuchsprobleme sind wohl der Preis für
die ethische Strenge im Jainismus, der seinen Gläubigen einiges abverlangt.
In der großzügigen Tempelanlage klingt die Stille. Ich folge barfuß den Wegen, die fünf Gotteshäuser
aus unterschiedlichen Jahrhunderten verbinden. Und lasse mich treiben durch Räume von
atemberaubender Schönheit; große Hallen, kleine Gebetsräume und Kammern mit Statuen der JainHeiligen. Ich sehe kunstvoll gearbeitete Gesichter und fremde Schriftzeichen, anmutige Tänzerinnen
und abstrakte Ornamente: Mystische Geschichten, erzählt in weißem Marmor. – Inmitten dieses
meditativen Palastes verabschiedet sich mein Kopf aus dem Hier und Jetzt. Ich mache mir Sorgen
über das Stück. Wie soll ich über die Jains berichten, ohne Priester und Mönche befragen zu
können? So wie’s aussieht, kann mir nicht mal Yogendra Singh helfen.
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Wirtschaften für den Glauben
Der geschäftige Geist und sein spirituelles Leben
Lebenszeichen
Von Frank Schüre
24.01.2015
O-Ton Kumarpal:
Kann ich dir weiterhelfen, mein Freund?
Erzähler:
Ein starker indischer Akzent stoppt meine Gedanken. Vor mir steht ein Mann, halb nackt und
ebenfalls barfuß, ein Jainpilger – und Geschäftsmann. Ich erzähle Kumarpal von meinem Problem.
O-Ton Kumarpal:
Ich kann dich zu den Mönchen bringen, kein Problem
Sprecher:
Zwölf Uhr mittags, 41 Grad im Schatten: Achalgad-Tempel in Mount Abu, Rajasthan, Indien
Erzähler:
»Mein Gott! So viele Stufen!«
Ich kann das Ziel unseres Marsches in den wolkenlosen Himmel nicht ausmachen. Das gleißende
Sonnenlicht verschluckt das Ende der steilen Treppe. Der Schweiß stürzt mir in Strömen den Rücken
hinab. Meine Fußsohlen brennen wie Feuer. Unsere Schuhe mussten wir am Eingang des Geländes
abgeben. Oben am Tempel wird mein Begleiter Kumarpal von einem Wachmann per Handschlag
begrüßt. »Schon wieder eine Waffe«, denke ich, während meine Tasche misstrauisch beäugt wird.
O-Ton Wachmann:
Keine Fotos!
Erzähler
... bellt der Wachmann mich an.
»Keine Fotos!«, antworte ich freundlich, und überlege, wie ich ihn austricksen kann.
Erzählerin:
Das Paradies – es gibt es wirklich! Feen durchqueren goldene Weiden, und ruhen aus an einem
saftig grünen Flusslauf. Das Leben ist fruchtbar und phantastisch, gewaltfrei. Nur wenige Meter
weiter wüten archaische Fabelwesen, halb Mensch, halb Tier. Auf den Wandbemalungen im
Achalgad-Tempel liegen Gut und Böse nah beieinander, und sind doch getrennt. Grautöne gibt es
nicht in diesem Rausch aus Farben und Figuren der Jain-Mythologie. Paradies und Hölle haben
keine Ecken und messen um die hundert Quadratmeter – der Achalgad-Tempel gehört zu den
kleineren seiner Art. In der Mitte steht ein großer Schrein, der Raum ist hell und freundlich.
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Wirtschaften für den Glauben
Der geschäftige Geist und sein spirituelles Leben
Lebenszeichen
Von Frank Schüre
24.01.2015
Erzähler:
Der Pilger Kumarpal betrachtet an der Wand des Tempels lange die Schattenseiten menschlicher
Existenz.
O-Ton Kumarpal:
Dass Länder Krieg führen, kann mit Ahimsa gestoppt werden. Gandhi war ein Anhänger von
Ahimsa, so wie Nelson Mandela und George Bernard Shaw. Der sagte, dass er die Prinzipien
der Jains so verehre, dass er in einer Jain-Gemeinschaft wiedergeboren werden möchte.
Erzählerin:
George Bernard Shaw, der Träger des Literatur-Nobelpreises, hat einst eine anschauliche
Übersetzung für Ahimsa gefunden: »Tiere sind meine Freunde und ich esse meine Freunde nicht. «
Der russische Schriftsteller Tolstoi drückt es drastischer aus: »So lange es Schlachthäuser gibt, wird
es auch Schlachtfelder geben. «
Weil auch die Jains eine Verbindung von Schlachthäusern und Schlachtfeldern sehen, ist Ahimsa
von so großer Wichtigkeit für sie. Dabei bedeutet Ahimsa für die Gläubigen nicht nur die
Abwesenheit von Gewalt, sondern auch die Anwesenheit von Barmherzigkeit. Ahimsa bezeugt ihre
Wertschätzung des Lebens – in jeglicher Ausprägung. Ahimsa predigt Freundschaft mit allen
Lebewesen; die Fürsorge für das gesamte Universum. Es ist die Botschaft, dass die Freundschaft
zwischen Menschen und allen anderen Lebewesen der größte Reichtum dieser Erde ist.
Diese grundsätzliche Ablehnung von Gewalt erfährt Wertschätzung, auch von anderen Religionen.
Der Dalai Lama sagt einst nach dem Besuch eines Jainzentrums: »Der Jainismus ist purer als der
Hinduismus und der Buddhismus, weil er die Gewaltlosigkeit mit größerer Konsequenz verfolgt. «
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Erzähler:
Kumarpal ist das genaue Gegenteil von Yogendra Singh, dem Tempel-Manager. Der Pilger aus
Mumbai ist unruhig und hektisch, seine Worte überschlagen sich. Vielleicht weil seine Zunge es nicht
mit der Geschwindigkeit seiner Gedanken aufnehmen kann.
O-Ton Kumarpal:
Frieden können wir nur mit einer gewaltfreien Philosophie erreichen. Wenn wir Ahimsa folgen,
dann verhindern wir viele Kämpfe und Kriege. Wer den Prinzipien des Jainismus folgt, der
darf noch nicht mal daran denken, einen Krieg zu beginnen. Unsere Religion lehrt uns, nicht
zu kämpfen – egal, gegen wen.
Erzähler
Einmal im Monat pilgert Kumarpal zu Tempeln hier im nordindischen Rajasthan oder im
benachbarten Bundesstaat Gujarat, wo sein Vater lebt.
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
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Wirtschaften für den Glauben
Der geschäftige Geist und sein spirituelles Leben
Lebenszeichen
Von Frank Schüre
24.01.2015
Der hatte zwei Monate vor Kumarpals Geburt die Familie verlassen, um Jaina-Mönch zu werden. –
Vermisst er seinen Vater nicht? Nein, sagt Kumarpal, er besuche ihn regelmäßig, allerdings als
Mönch, und nicht als Vater, es gebe keine persönliche Beziehung. – Und er ist nicht wütend auf
seinen Vater?
O-Ton Kumarpal:
Nein, ich hege die besten Gefühle für ihn, es war eine gute Entscheidung, dass er Mönch
geworden ist, wir sind alle sehr stolz auf ihn. Er ist ein guter Mönch geworden und ein sehr
guter Philosoph des Jainismus.
Erzähler:
Kumarpal flüstert dem Wachmann etwas in Ohr, der nickt – und fragt mich:
O-Ton Wachmann:
Willst du Fotos machen?
Erzähler:
Durch meine Linse beobachte ich eine merkwürdige Szene in dem Tempel. Kumarpal bindet sich ein
Tuch vor Mund und Nase, dann verteilt er rote Blüten auf einer überlebensgroßen Statue aus Gold.
So ehrt er Lord Mahavira, einen Begründer des Jainismus und Zeitgenosse Buddhas. Um beim
Atmen keine Fliegen zu verschlucken, tragen einige Jains einen Mundschutz.
Kumarpal winkt mich zu ihm. Er nimmt meine Hand, und gemeinsam bedecken wir die Füße der
Statue mit Blumen. Ich stimme in seinen Gesang ein. Was wir singen, oder was es bedeutet – ich
weiß es nicht; doch mich erfasst ein weites und stilles Gefühl. Fühlt sich so Ahimsa an?
Erzählerin Jule:
Für Mahavira stand außer Zweifel, dass jede Gewalt letztlich auf ihren Verursacher zurückfällt. Ob er
nun ein Wesen durch eigenes Tun tötet, es durch andere töten lässt, oder demjenigen zustimmt, der
es tötet. Das formulierte der Jain-Vordenker mehr als fünf Jahrhunderte vor der Geburt von Jesus
Christus.
Erzähler Olaf:
Geradeso wie ich Leid und Furcht empfinde, wenn ich mit einem Stock bedroht, geschlagen oder
getötet werde, ja wenn mir auch nur ein Haar ausgerissen wird - ebenso empfinden alle anderen
höheren und niederen Lebewesen Leid und Furcht, wenn sie mit einem Stock bedroht, geschlagen
oder getötet werden, ja wenn ihnen auch nur ein Haar ausgerissen wird. Wenn man das erkannt hat,
so steht es fest, dass weder ein höheres noch ein niederes Wesen bedroht, geschlagen oder getötet
werden darf.
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
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Wirtschaften für den Glauben
Der geschäftige Geist und sein spirituelles Leben
Lebenszeichen
Von Frank Schüre
24.01.2015
Sprecher:
Drei Uhr nachmittags, 37 Grad im Schatten: Achalgad-Kloster in Mount Abu, Rajasthan, Indien
Erzähler:
Die Halle ist groß und kommt ganz ohne Möbel aus, über den Fensterläden trocknet Wäsche, auf
dem Fußboden stapeln sich Bücher. Ein Junggesellenhaushalt. Die anwesenden Junggesellen
tragen weißes Tuch und keine Schuhe. Alte und junge Jaina-Mönche leben zusammen in dieser
asketischen Wohngemeinschaft. Der Älteste und der Jüngste, es sind Vater und Sohn. Hier sind sie
Brüder.
O-Ton junger Mönch:
Warum isst du Fleisch, und lässt zu, dass andere Wesen getötet werden?
Erzähler:
Der junge Mönch schaut mich herausfordernd an. »Ich esse kein Fleisch, schon seit zwanzig Jahren
kommt mir nichts auf den Teller, was Augen hat«, antworte ich. Die Lacher sind auf meiner Seite.
Überhaupt wird viel gelacht in dem Kloster, die Mönche sind ausgelassen.
Erzählerin:
Eine vegetarische Lebensführung ist für Jains keine Wahl – sie ist verpflichtend. Ohne Hintertür,
ohne Ablasshandel. Für den jungen Mönch ist der unerklärte Krieg von uns Menschen gegen Rinder,
Hühner, Schweine und Fische keine Frage des Geschmacks, sondern millionenfacher Mord; der
unsere Seelen vergiftet, unsere Körper und das Klima zerstört.
Erzähler:
Auf einmal ist das Interview doch möglich, um das ich mich lange vergeblich bemüht hatte. Kumarpal
lächelt. Shri Shandra ist einer der Dienstältesten Mönche in dem Kloster. Er ist zwar erst 49 Jahre
alt, doch von denen hat er 38 Jahre als Mönch verbracht. Er spricht ein verwegenes Esperanto aus
Hindi, Rajasthani, Urdu und Gujarati, dass kaum wörtlich zu übersetzen ist. – Shri Shandra erklärt die
theologischen Hintergründe des Fleischverbots.
O-Ton Shri Shandra:
Im Westen essen die Menschen Fleisch. Im Jainismus ist das nicht erlaubt, für uns ist wirklich
jedes Lebewesen göttlich. Wir können keine Tiere töten, denn sie sind nicht dafür da, dass wir
Menschen sie essen. Auch sie haben das Recht zu leben. Es gibt so viele Gemüse und
Früchte. Warum also sollten wir Tiere töten, um sie zu essen?
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Von Frank Schüre
24.01.2015
Erzählerin:
Auch im Hinduismus und im Buddhismus spielt Ahimsa eine wichtige Rolle, doch es ist mehr
Absichtserklärung als Handlungsanweisung. So streng wie der Jainismus ist keine andere Religion –
im Großen wie im Kleinen.
O-Ton Shri Shandra:
Ahimsa heißt für uns auch, dass wir selbst auf die kleinsten Lebewesen Acht geben müssen,
auf die Insekten. Wenn wir Ameisen auf dem Boden sehen, sind wir verpflichtet, einen
anderen Weg zu gehen. Falls wir die Ameisen verletzen oder töten, wird es auf uns selbst
zurückfallen, wir werden Probleme bekommen. Also sind wir bemüht, bei jedem Schritt die
Rechte jedes Lebewesens zu schützen. Deswegen gehen wir Jaina-Mönche barfuß.
Erzähler:
Und deswegen hat Shri Shandra Indien barfuß durchquert. Mit Auto, Bus oder Zug darf er nicht
reisen, weil dabei Menschen und Tiere sterben. – Mittlerweile sitzen zehn neugierige Mönche um
uns herum; eine angenehm anarchische Runde, wirklich alle reden durcheinander, auch der Meister
wird immer wieder unterbrochen. Shri Shandra sagt, das den Jains die Verständigung mit anderen
Religionen am Herzen liege. Er erzählt eine alte Geschichte.
O-Ton Shri Shandra:
Vor 450 Jahren gab es einen muslimischen König, sein Name war Aghba. Jeden Morgen aß
er das Fleisch der Zunge. Eines Tages lernte er einen wichtigen Jaina-Mönch kennen. Aghba
begann zu fasten, so wie die Jains, und er hörte auf, Fleisch zu essen. Aus Respekt vor
Ahimsa schloss er jedes Jahr die Schlachthäuser seines Königreiches für sechs Monate.
Wenn also ein Muslim-Führer der Jain-Philosophie folgen kann, warum dann nicht auch
Gläubige anderer Religionen?
Erzähler:
»Bist du auch ein heiliger Mann? «, frage ich Kumarpal. »Oder wie hast du es geschafft, dass ich
überall Interviews und Fotos machen konnte, wo es nicht erlaubt ist? « – »Nein«, sagt er und lacht.
»Vielleicht hat es ja geholfen, dass mein Vater ein Mönch ist. « Erst später erfahre ich, dass
Kumarpals Vater einer der bekanntesten Jaina-Mönche in Indien ist, dessen Bücher auf dem ganzen
Subkontinent gelesen werden. Bei der Verabschiedung gibt Kumarpal mir ein aufgeschlagenes Buch
mit Versen von Lord Mahavira, dem Mitbegründer des Jainismus. »Wir sind froh«, sagt Kumarpal,
»dass die Geschichte von Ahimsa jetzt auch in Deutschland erzählt wird. «
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Von Frank Schüre
24.01.2015
Erzählerin:
Ahimsa ist wie eine liebende Mutter aller Geschöpfe,
Ahimsa ist wie ein Strom von Nektar in der Wüste von Samsara,
Ahimsa ist wie ein Zug von Regenwolken für einen brennenden Wald,
Die beste Heilpflanze für die Wesen, die von der Krankheit gequält werden,
Die die ewige Wiederkehr genannt wird, das ist Ahimsa.
Erzähler:
Der König der Berge kann schwanken,
Und das Feuer kann erkalten,
Der Felsen kann im Wasser schwimmen
Und der Mond Strahlen der Hitze aussenden,
Die Sonne kann im Westen aufgehen,
Aber keine Religion kann zulassen, dass Lebewesen getötet werden.
Erzählerin:
Aber keine Religion kann zulassen, dass Lebewesen getötet werden.
Erzähler:
Aber keine Religion kann zulassen, dass Lebewesen getötet werden.
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