title circulation issue page Die Presse 83.190 16/09/2016 19 Freihandel. Weltweit schleicht sich wieder Protektionismus in den wirtschaftspolitischenMainstream. Eine Erfolgsgeschichte, die Hunderten Millionen Menschen Wohlstand beschert hat, steht damit ernsthaft auf dem Spiel. War es das jetzt mit der Globalisierung? Vor wenigen Tagen wurde die Containerschifffahrt von einem schweren Seebeben erschüttert: Hinjan Shipping, die siebentgrößte Reederei der Welt, musste, geschäftlich leckgeschlagen, Insolvenz anmelden. Es gibt nicht wenige Beobachter, die darin den "Lehman-Moment für die Globalisierung"sehen. Denn die riesigen Containerschiffe, die Konsumgüter überwiegend von den nach Südostasien ausgelagerten Fabriken in die Industriestaaten bringen, gelten als Symbol des unbeschränkten Welthandels. Und sie haben Schlagseite bekommen, seit dieser Welthandel vor ein paar Jahren seine Dynamik verloren und in den vergangenen beiden Jahren in Stagnationübergegangen ist. Zur gleichen Zeit kündigte US-PräsidentschaftskandidatDonald Trump an, Amerika im Fall seiner Wahl mit protektionistischen Schranken gegen die Konkurrenz auf dem Weltmarkt abschotten zu wollen, der USKongress ist gerade dabei, das transpazifische Freihandelsabkommen TTP zu Grabe zu tragen und in Europa formiert sich unter wachsenderöffentlicherZustimmung immer heftigerer Populistenwiderstandgegen das transatlantische Freihandelsabkommen TOP, dem kaum noch ernsthafte Überlebenschancen gegeben werden. Überall in der industrialisierten Welt macht sich neuer Nationalismus breit, die Handelshemmnisse, die lange Zeit Schritt für Schritt abgebaut wurden, kommen langsam wieder zurück. Als Tüpfelchen auf dem i verlangt nun der Club of Rome Handelsbeschränkungen, um seiner Antiwachstumsideologie zum Durchbruch zu verhelfen. Es sieht so aus, als wäre die Globalisierung in eine sehr ernste Krise gerutscht. Und als würde der Freihandel jetzt in eine Situation kommen, in die die globale Finanzwirtschaft 2007/2008geraten ist. Als unbestritten gilt, dass die Globalisierung einer der wesentlichen Wachstumstreiber der vergangenen drei Jahrzehnte war und aus globaler Sicht den Wohlstand wesentlich angeschoben hat. Als unbestritten gilt aber auch, dass die Wohlstandsgewinne der Globalisierungsehr ungleichverteilt wa- ergriff, um heimische Unternehmen zu schützen und ausländischen die Geschäfte zu erschweren". Dabei gehe es um offene und verdeckte Subventionen, Exportzölle und Regeln gegen die Zuwanderungvon Arbeitskräften aus dem Ausland. An diesem neuen Protektionismus seien auch alle jüngeren Versuche gescheitert, Handelsabkommen zu schließen. TTIP ist da keine Ausnahme. Zudem läuft die technische Entwicklung in Richtung Renationalisierung: Weil Roboter unabhängig von ihrem Standort die gleichen Arbeitskosten verursachen, wird es immer stärker möglich, verlagerte Produktionen wieder in die USA oder nach Europa zurückzuholen. Ein spektakuläres Beispiel dafür liefert der SportartikelherstellerAdidas, der vor Kurzem angekündigt hat, künftig wieder in Deutschland Sportschuheproduzieren zu wollen. Bisher wegen der Arbeitskostenunterschiedezu Südostasien undenkbar. So unumkehrbar, wie viele glauben, ist die Globalisierung also nicht. Und das ist durchaus keine gute Nachricht. Nicht nur, Die aktuellen Probleme der Containerschifffahrtsind ein ernstes Signal nachlassenden Welthandels. weil damit ein Wohlstandsturbo für Schwellenländer wegfällt (seit ein paar Jahren ist die Bereitschaft zur Öffnung auf den Welt- dem) sorgt für böses Blut und diskreditiert übrigens global die Zahl der Menschen, die markt den Wohlstand eines Landes beein- die Globalisierung in der öffentlichen Mei- an Übergewicht leiden, deutlich größer als flussen kann, sieht man an Südkorea: Das nung zusehends. Ein Gewässer, in dem rech- die Zahl der chronisch Hungernden). SonLand lag beim BIP pro Kopf zu Beginn der te und linke Populisten erfolgreichfischen. dern weil eine starke Handelsverflechtung Sechzigerjahre gleichauf mit Ägypten. Jetzt Und die Abkehr von der globalen Han- auch ein Friedensgarantist. ist dessen Wirtschaftsleistungpro Einwohner delsausrichtungschleicht sich zusehends in Neulich hat ein renommierter Ökonom ziemlich genau zehnmal den wirtschaftspolitischen Mainstream. gemeint, die Situation erinnere stark an die so hoch wie jene des Während in den Nullerjahren dieses Jahrtau- letzten Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, als nordafrikanischen sends die Marktöffnung überwog, sei seit die erste große GlobalisierungswellezusamDauerkrisenstaats. dem Ausbruch der Finanzkrise ein neuer menbrach und in Jahrzehnte des NationaDurchwachsener ist Protektionismus zu bemerken, zitiert etwa lismus und des Krieges überging. Da würde die Erfolgsbilanz in den "Die Welt" den Wirtschaftswissenschaftler es sich schon lohnen, für den Freihandel zu Industriestaaten. Zwar Simon Everett von der Universität St. Gallen. kämpfen. gibt es auch hier einen Seit dem Lehman-Crash sei "kaum ein Tag gewaltigen Wohlstands- vergangen, ohne dass ein Land Maßnahmen E-Mails an: [email protected] schub durch die billigen Importe, aber dieser Schub hat nicht alle gleichermaßenerreicht. Klarer Verlierer sind beispielsweiseniedrig qualifizierte Arbeiter in den USA, deren Jobs nach China gewandert sind. Das ist das Potenzial, in dem jetzt Donald Trump aus dem Vollen schöpft. Aber auch die erodierende Mittelschicht ist in den USA unter die Räder gekommen. Besser sieht es in Europa aus. Allerdings hat auch hier die Mittelschichtnicht wirklich ren. profitiert. Zumindest nicht relativ zu den Große Gewinner waren die Länder Süd- starken Einkommenssteigerungen, die die ostasiens, die sich am stärksten der Globali- Globalisierungden obersten Einkommenssierung geöffnet hatten. In dieser Region prozenten in den Industrieländernbeschert wurde durch die Verlagerung von Produktio- hat. nen aus den Industrieländern mehr als eine Diese Ungleichverteilung innerhalb der Milliarde Menschen aus bitterer Armut in Industriestaaten (nicht die sehr starken Eineine Art neuen Mittelstand geholt. Wie stark kommenszuwächse in den Schwellenlän- 1/1
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