Falscher Gegner

Das neue Programm 2017
PREIS DEUTSCHLAND 4,90 €
DIEZEIT
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WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR
Einzigartige Reisen
für unsere Leser
Eine Auswahl für Sie
auf den Seiten 43-46.
20. OKTOBER 2016 No 44
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Krieg in Syrien und dem Irak
Ein Magazin zum
Davonfahren
Logieren in sehr
besonderen Hotels in
den bezauberndsten
Städten Europas
30 Seiten Reise-Extra
Noch leben wir!
Tillich und die
Detektive
Wie der Fall AlBakr die Arroganz
von Politik und
Behörden in
Sachsen entlarvt
Dossier, Seite 15
Foto: privat
Ein Architektenpaar und andere Überlebende melden sich aus
dem zerbombten Aleppo. Was sie erleiden, droht auch den Bewohnern Mossuls.
Ihre Zeugenberichte und was man tun könnte POLITIK
SCHULE
Keine Angst vor
dem Computer!
Lehrer fürchten die Digitalisierung.
Warum bloß? VON MANUEL J. HARTUNG
J
ahrzehntelang heißt es: Wir brauchen
mehr Geld für Bildung! Dann will der
Bund ein paar Milliarden Euro mehr
ausgeben – und Lehrer lehnen das ab.
Klingt komisch? Ist aber so passiert. Als
Bildungsministerin Johanna Wanka ankün­digte,
dass bald fünf Milliarden Euro an die Schulen
fließen werden, damit die ein gutes WLAN
und ordentliche Computer bekommen, sagten
Lehrerverbände: Man möge mit dem Geld
lieber Schulklos und Klassenzimmer sanieren.
Das ist so, als ließe man den Musikunterricht
ausfallen, weil das Wasser zum Gießen des Spitz‑
ahorns im Schulgarten fehlt.
Hinter der Kritik an den Milliarden steckt
eine merkwürdige digitale Bildungsangst, die
sich an vielen Schulen breitmacht. Diese Bil‑
dungsangst hat vier Ursachen:
Erstens gibt es einen digitalen Graben zwi‑
schen den Lehrern – jenen, die virtuos neue
Lerntechnologien einsetzen, und denen, die nur
Urlaubsfotos per Handy versenden können. Dass
das manche verunsichert, ist zunächst normal.
Zweitens ist ein diskursiver Graben aufge‑
rissen: Die Worte in der Digitaldebatte wer‑
den immer größer. »Disruption!«, rufen die
Digitalfans, »Entmündigung!« die Kritiker,
und alle ein bisschen zu laut.
Drittens: Schnelles WLAN ist super; Inves‑
titionen in Technik lösen jedoch die Verunsiche‑
rung nicht auf, die die Schulen erfasst hat. Wie
sollen sie Schüler zur Aneignung einer Welt er‑
ziehen, in der intelligente Roboter nicht nur
Bandarbeiter überflüssig machen, sondern auch
Anwälte, Ärzte, Analysten? Dieser schmerzhaf‑
ten Frage müssen sich die Schulen ehrlich stellen.
Und viertens weiß kaum jemand, was richtig
ist: Ist bald jeder, der nicht programmieren kann,
ein Analphabet? Soll man die humanistische
Bildung bewahren, damit etwas bleibt, wie es ist,
weil die Weltbeschleunigung sonst alles ändert?
So viel wie derzeit hat sich selten in den
Schulen verändert. Ab Frühling lernen alle
Drittklässler im Saarland mit einem Mini‑
computer das Programmieren. Was das
bringt? Spaß und Weitblick. Vielleicht kön‑
nen sich die Digitalverweigerer etwas aus dem
Silicon Valley abgucken. Ein Geschäftsprinzip
dort heißt agile management. Das wäre ein
gutes Mittel gegen die digitale Bildungsangst:
einfach mal neugierig sein und ausprobieren.
www.zeit.de/audio
PROTEST
POLITISCHER STIL
Falscher Gegner
Die Entgiftung
des Parlaments
Man kann ja gegen TTIP und Ceta sein. Doch es ist gerade
die Globalisierung, die die Armut schwinden lässt VON LISA NIENHAUS
E
s gab eine Zeit, da war Globalisierung
beinahe cool. Die Idee, dass freier
Handel mit einem fremden Land
beiden Ländern Wohlstand bringt,
wurde im Vereinigten Königreich in
den 1840er Jahren zur politischen Bewegung.
Tausende gingen dafür auf die Straße. Sie woll‑
ten Hunger und Armut beseitigen – und natür‑
lich wollten sie exportieren.
Im Jahr 2016 ist von solch positiven Ge‑
fühlen gegenüber dem Freihandel nichts zu
spüren. Vielmehr ist in der ganzen westlichen
Welt eine Bewegung gegen die Globalisierung
entstanden, wie es sie lange nicht gab. »Take
back control« ist einer ihrer Slogans. »Make
America great again.« Oder: »Stoppt TTIP!« Es
sind sehr unterschiedliche Menschen, die die‑
sen Slogans folgen. Doch eines haben sie ge‑
meinsam: Von der Globalisierung und ihrem
Kern, dem Freihandel, fühlen sie sich bedroht.
In Deutschland gehen Hunderttausende
auf die Straße, um gegen Freihandelsabkom‑
men wie Ceta mit Kanada oder TTIP mit
Amerika zu demonstrieren. Die Briten haben
sich entschieden, die Europäische Union zu
verlassen. In Amerika will Präsidentschaftskan‑
didat Donald Trump alle Freihandelsabkom‑
men neu verhandeln, um einen »besseren
Deal« zu bekommen. Auch seine Konkurren‑
tin Hillary Clinton ist nun freihandelskritisch.
Die Bewegung gegen die Globalisierung
gewinnt derzeit so viel Macht, dass es ihr bald
gelingen könnte, neue Mauern zu errichten für
Waren und für Menschen.
Jeder fühlt mit dieser Bewegung. Man muss
nur sehen, wie rasant die Globalisierung die
Nachbarschaft, den Arbeitsplatz verändert, um
den Impuls zu verstehen, das alles zurück­
drehen zu wollen. Und natürlich ist der Frei‑
handel keinesfalls immer für jeden gut. Man‑
ches ist sogar besonders hart, zum Beispiel
wenn jemand seine Stelle verliert, weil ein aus‑
ländisches Unternehmen die Arbeit besser oder
billiger macht. Dazu kommt, dass die westliche
Mittel- und Unterschicht durch die Globali­
sierung zuletzt weniger an Wohlstand dazuge‑
wonnen hat als die Oberschicht. Auch das ge‑
fällt nicht jedem.
Doch deshalb nun die Grenzen dicht zu
machen ist auch nicht die Lösung. Denn rich‑
tig gemacht überwiegen die positiven Effekte
des Freihandels für (beinahe) jedes Land. Die
Länder der westlichen Welt verdanken ihren
Aufstieg und ihr Wachstum nach dem Zweiten
Weltkrieg der Tatsache, dass der Handel mit‑
einander freier wurde und die Welt durch neue
Technologien zusammenrückte. Es gewannen
dabei keineswegs nur die Akademiker, Reichen
und Mobilen. Nein, auch Arbeiter und kleine
Angestellte hatten und haben etwas davon.
Heute gibt es in Deutschland die höchsten
durchschnittlichen Bruttogehälter in Städten
wie Wolfsburg (VW) oder Leverkusen (Bayer),
wo nicht nur Manager arbeiten, sondern auch
viele Arbeiter. Einst ärmliche Landstriche wur‑
den zuletzt aufgewertet, weil ihre mittelstän‑
dischen Unternehmen genau das herstellten,
was China brauchte: deutsche Maschinen.
Wer nicht über den Job profitiert, tut es als
Konsument von Produkten, die er ohne Glo‑
balisierung entweder gar nicht oder nur zu viel
höheren Preisen bekäme. Damit einher geht
mehr Bewegungsfreiheit, die gerade Deutsche
begeistert nutzen – sei es durch Reisen nach
Mallorca oder nach Sydney.
Wem das zu egoistisch, zu westlich ist, der
kann sich anschauen, wie es anderen Ländern
in jüngerer Zeit ergangen ist. Die Globali­
sierung ist das stärkste Anti-Armuts-Projekt
der Geschichte. Lebten zur Jahrtausendwende
nach Angaben der Weltbank noch rund 30
Prozent der Weltbevölkerung in extremer­
Armut, so sind es heute weniger als 10 Prozent.
Der wichtigste Grund dafür sind nicht Almo‑
sen – es ist der Handel.
Nicht jeder profitiert gleich stark von der
Globalisierung. Deshalb werden die Gewinne
im Land umverteilt, damit alle etwas davon
haben. Das ist es, was die Globalisierungs­
gegner verdrängen. Statt sich dafür einzu­
setzen, anders umzuverteilen, richten sie sich
gegen die Globalisierung an sich. Das ist der
falsche Gegner. Der richtige wäre die Politik
des eigenen Landes. Sie könnten zum Beispiel
fragen, ob Einkommen in ihrem Land grund‑
sätzlich anders besteuert werden sollten.
Es ist Zeit, dem Globalisierungshass etwas
entgegenzusetzen. Zeit für eine Bewegung,
die daran erinnert, dass es nicht nur Globali‑
sierungsverlierer gibt, sondern dass wir alle
Globalisierungsgewinner sind. Eine Bewe‑
gung, die weiß, dass Globalisierung kein­
neues, menschliches Antlitz braucht, sondern
längst eines hat.
www.zeit.de/audio
Politische Debatten künftig ohne
Hass? Großartig! VON MARIAM LAU
D
er Kompromiss hat keine gute
Presse. »Kuhhandel«, »Hinter‑
zimmer-Deal« – wenn politische
Gegner sich auf halbem Weg
entgegenkommen, machen sie
sich verdächtig. Die erschöpften Gesichter nach
einem Verhandlungsmarathon sind kein gutes
Fernsehen, und auch das Parteivolk applaudiert
bestenfalls maulig, wenn die Frontfrau sich nur
ein bisschen durchgesetzt hat, statt den totalen
Sieg nach Hause zu bringen.
Das ist eigentlich irre. Man muss gar nicht
bis Amerika gucken, wo Hass und Vulgarität
eine der ältesten Parteien der Welt zu zerstören
drohen. Rings um uns herum, von Warschau
bis Paris, von London bis Rom, wird mit dem
Feuer gespielt, bis die eigene Jacke brennt.
In diesem Klima haben die Berliner Regie‑
rungsfraktionen eine folgenschwere Entschei‑
dung getroffen. Sie werden, auch ein Jahr vor
der Bundestagswahl, keinen Krieg ge­gen­ein­
an­
der führen. Sich nicht »anhassen«. Auch
wenn viele Sozialdemokraten sich nichts sehn‑
licher wünschen als einen Feuer speienden
Neinsager wie Jeremy Corbyn, auch wenn
Kaminrunden in der Union endlich ein biss‑
chen mehr Kulturkampf von Angela Merkel
sehen wollen – die Parteispitzen halten zäh
daran fest, dass da noch was geht, gemeinsam.
Manche von ihnen werden auf der Straße be‑
schimpft und angespuckt – auch deshalb.
Es ist nicht nur die Suche nach einem Kan‑
didaten für das Amt des Bundespräsidenten.
Es ist nicht nur die Einigung bei Rente, Erb‑
schaftsteuer, Länderfinanzausgleich oder der
Aufteilung zwischen Bonn und Berlin. All
diese Entscheidungen werden in der Sache
hart kritisiert, womöglich zu Recht. Aber da‑
rum geht es nicht. Es geht um etwas Kostbares,
schwer Greifbares. Wer ein paar Stunden im
Bundestag sitzt, kann es sehen. Claudia Roth
scherzt mit Norbert Lammert, Abgeordnete
verabreden sich zum Fußball, einige beten
morgens zusammen, tauschen Nachrichten zu
Aleppo quer über die Fraktionsbänke aus. In
den siebziger Jahren, als man sich im Bundes‑
tag noch »Ratten und Schmeißfliegen« nann‑
te, war so etwas undenkbar. Wir hatten schon
giftigere Zeiten. Michelle Obama hat einen
Begriff für all das. Sie nennt es »basic human­
decency« – einfachen menschlichen Anstand.
www.zeit.de/audio
Das unvollendete
Universalgenie
Was uns Gottfried
Wilhelm Leibniz
heute noch sagt
Wissen, Seite 35
PROMINENT IGNORIERT
Hitlers Haus
Der österreichische Innenminister
Sobotka hat angekündigt, Hitlers
Geburtshaus in Braunau am Inn
enteignen und abreißen zu lassen.
Das Gebäude beherbergte einige
Zeit eine Behindertenwerkstätte
und steht seit fünf Jahren leer. Der
Abriss soll Neonazis daran hin‑
dern, nach Braunau zu pilgern.
Ob das hilft? Verschwundenes hat
zuweilen eine größere Anziehungs‑
kraft als Vorhandenes. Auch der
Ungeist weht, wo er will.
GRN.
Kleine Fotos (v. o.): K. Synnatzschke/plainpicture;
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B 5,30/P 6,30/L 5,30/H 2090,00
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