Strukturen der nahöstlichen Konflikte und ihre - Kurd-Akad

FORUM 1 „Flüchtlingsquelle Mittlerer Osten “
Impulsreferat: Handan Çiçek
(Verband der Studierenden aus Kurdistan-YXK, Frankfurt a.M.)
 Dr. Kenan Engin (Bonner Institut für Migrationsforschung):
Strukturen der nahöstlichen Konflikte und ihre Auswirkungen
auf die Migrationsströme in die EU
 Dr. Luqman Turgut (Kurdologe):
Die kurdische Frage – ein determinierender Faktor für Flucht
aus dem Mittleren Osten – und die westliche Nahostpolitik
Moderation: Mazlum Ayalp
(Jurist, Kurd-Akad, Frankfurt a.M.)
FORUM 2 „Flüchtlingsziel Europa / Deutschland“
Impulsreferat: Der gefährliche Weg der Hoffnung
 Bernd Mesovic (stellvertretender Geschäftsführer von Pro
Asyl, Frankfurt a.M.): Europäische Strategien Ursachenbekämpfung vs. (militärische) Notlösungen
 Mürvet Öztürk (MdL Hessen, Bündnis 90/Die Grünen):
Die Flüchtlingspolitik der deutschen Bundesregierung
Moderation: Dersim Dagdeviren
(Ärztin, Kurd-Akad, Dortmund)
ABSCHLUSSDISKUSSION
Flucht – ein unbeherrschbares Problem?!
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Moderation: Cihan Ünlübayir
(Sozialarbeiter, Kurd-Akad, Frankfurt a.M.)
(Vorsitzende von Kurd-Akad)
Sehr geehrte Damen und Herren,
Liebe Freundinnen und Freunde,
im Namen des Netzwerkes kurdischer Akademikerinnen
und Akademiker begrüße ich Sie herzlich zu unserer
Konferenz mit den Titel „Flucht und Asyl: globale
Hintergründe – lokale und globale Herausforderungen.“.
Ganz besonders begrüßen möchte ich die Rednerinnen und
Redner des heutigen Tages: Mürvet Öztürk, Bernd
Mesovic, Dr. Kenan Engin und Dr. Luqman Turgut.
Ich möchte mich ganz herzlich beim Gewerkschaftshaus
dafür bedanken, dass uns dieser Raum heute zur
Verfügung gestellt wurde. Mein herzlicher Dank gilt auch
unseren langjährigen Kooperationspartnern, dem Verband
der Studierenden aus Kurdistan YXK und dem Kurdischen
Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit Civaka Azad. Ich möchte
mich zudem herzlich, auch wenn heute kein Vertreter
unter uns ist, bei der Sebastian Cobler Stiftung für
Bürgerrechte für die finanzielle Unterstützung dieser
Konferenz bedanken. Ein herzliches Dankeschön auch an
das mesopotamische Kulturzentrum in Frankfurt, das uns
heute das Equipment für die Verpflegung zur Verfügung
gestellt hat.
Kaum ein Thema beherrscht die Tagesordnung so sehr, wie
das, welches wir zum Thema unserer Konferenz gemacht
haben: die Flüchtlingsfrage und damit einhergehend auch
die Entwicklungen im Mittleren Osten. Vom bürgerlichen
Stammtisch bis hin zur Weltpolitik, überall wird über dieses
Thema gesprochen. Wir haben es daher als äußerst wichtig
erachtet, beide Themen miteinander zu verknüpfen. Denn
wenn wir uns die Flüchtlingszahlen und die
Herkunftsländer anschauen, dann stammt ein wesentlicher
Teil der Geflüchteten aus dem Mittleren Osten. Will man
tatsächlich die Flüchtlingsfrage lösen, so muss man sich mit
den Ursachen auseinandersetzen. Aus diesem Grund
werden wir im ersten Teil der heutigen Konferenz die
Flüchtlingsquelle Mittlerer Osten mit den diversen
politischen und militärischen Konfliktlinien näher
Wichtig ist bei den ganzen Diskussionen neben dem Aspekt
der adäquaten Versorgung der Flüchtlinge hier die Frage,
wie wir dazu beitragen können, dass möglichst wenig
Menschen überhaupt die Region verlassen müssen. Ich
denke, dass dabei ein besonderer Fokus auch auf die
Wiederaufbauhilfe
und
auf
die
Unterstützung
demokratischer Strukturen, beispielsweise in Rojava /
Nordsyrien, zu setzen ist. Auch in Deutschland gibt es
zahlreiche Kampagnen zum Wiederaufbau. Mitglieder
unseres Netzwerkes sind beteiligt an der Initiative Medizin
für Rojava und der Initiative Eco Health zum ökologischen
Wideraufbau und Aufbau eines Gesundheitszentrums in
Kobane.
Als Netzwerk kurdischer Akademikerinnen und Akademiker
haben wir zudem einen besonderen Fokus auf das Thema
Bildung gesetzt. Denn wir verstehen Bildung als Schlüssel
zu einem selbstbestimmten Leben und wichtigsten
Grundpfeiler einer Gesellschaft. Diesem Verständnis
gemäß haben wir eine Spendenkampagne initiiert mit dem
Titel „Eine Tasche voll Hoffnung“. Wir möchten möglichst
viele Schulkinder in Kobane mit einem Schulrucksack und
entsprechendem Schulequipment ausstatten. Mit nur 35
Euro sind auch Sie dabei, können Sie Hoffnung und Bildung
spenden. Die Flyer zur Spendenkampagne liegen im
Eingangsbereich aus. Nehmen sie die Flyer mit, spenden
Sie Hoffnung und Bildung. Sorgen sie dafür, dass auch Ihr
Umfeld spendet. An alle, die bereits gespendet haben und
heute unter uns sind, ein herzliches Dankeschön.
Bevor ich nun an meinen Ko-Moderator Mazlum Ayalp
übergebe, möchte ich Sie noch auf etwas
Organisatorisches hinweisen: Bitte tragen Sie sich in die im
Eingangsbereich ausgelegten Teilnehmerlisten ein. Dies ist
auch als Nachweis für die Stiftung wichtig.
Ich wünsche uns allen eine interessante Veranstaltung mit
vielseitigen, spannenden Diskussionen und übergebe an
Mazlum Ayalp.
<|>
2
Dr. Dersim Dagdeviren
betrachten. Im zweiten Teil dann wollen wir uns zum einen
auseinandersetzen mit den europäischen bzw. deutschen
Strategien im Hinblick auf die Herangehensweise an die
Ursachenproblematik im Mittleren Osten, aber vor allem
auch im Hinblick auf die Flüchtlingsproblematik. In einer
abschließenden Diskussion mit allen Referenten wollen wir
uns die Frage stellen: Ist Flucht tatsächlich ein
unbeherrschbares Problem?
Seite
Eröffnungsrede
(Bonner Institut für Migrationsforschung)
Liebe Gäste,
Liebe Freundinnen und Freunde,
ich begrüße Sie auch ganz herzlich zu meinem Teil der
Konferenz. Vielen Dank, Mazlum und Dersim, vielen Dank
an Kurd-Akad für die Einladung als Referent zu dieser
Veranstaltung. Ich habe mich sehr über die Einladung
gefreut. Schließlich gehöre ich auch dazu. Ich möchte mich
an dieser Stelle auch entschuldigen, dass ich zu spät
gekommen bin. Ein Zugausfall war hierfür verantwortlich.
Ich habe keinen Einfluss darauf gehabt. Von Bonn hierhin
zu Fuß zu kommen, wäre nicht einfach gewesen. Vielen
Dank auch für die Vorstellung meiner Person. Nochmals
kurz zu meiner Person: 2001 bin ich hierhergekommen und
habe ein Jahr in einer Unterkunft für Flüchtlinge gelebt.
Daher habe ich auch persönliche Erfahrungen gesammelt.
Nun komme ich zum Thema. Von mir war gewünscht, dass
ich über die Strukturen der nahöstlichen Konflikte und ihre
Auswirkungen auf die Migrationsströme in die Europäische
Union spreche. Da ein Referat über sämtliche Konfliktlinien
im Nahen Osten sehr umfangreich wäre, werde ich mich
aufgrund des zeitlichen Rahmens auf Syrien fokussieren.
Schließlich hat dieser Konflikt dazu geführt, dass sich die
Menschen von dort auf den Weg gemacht haben, zunächst
in die Nachbarländer und dann nach Europa.
Der Inhalt meines Vortrages ist wie folgt aufgebaut:
Zunächst möchte ich eine kurze Einführung zu Syrien
vornehmen. Einige von Ihnen kennen sich sicherlich gut
aus mit der Thematik, so dass ich nicht sehr detailliert
darauf eingehen muss. Danach folgt ein kurzer Abriss über
die Entwicklung des Konfliktes in Syrien. Anschließend
komme ich zu den Fluchtwellen. Im Rahmen dessen gehe
ich auf die Ursachen ein; schließlich muss man diese auch
erwähnen. Am Ende kommt dann eine kurze
Zusammenfassung, und ich möchte einige Lösungsansätze
diskutieren. So ist der Vortrag aufgebaut.
Ich fahre fort mit ein paar Fakten über Syrien.
Amtssprachen sind Arabisch und Kurdisch. Bis 2011 war
Arabisch alleinige Amtssprache, Kurdisch war absolut
verboten. Die in Syrien lebenden Kurden wurden nicht
einmal als Staatsbürger anerkannt. Was die Hauptstadt
betrifft, kann man jetzt nicht mehr von einer Hauptstadt
reden. Es gibt de facto drei Hauptstädte bzw. fünf.
Damaskus, Kobane, Cizire, Afrin (Kantonhauptstädte von
Kurden) und Rakka als Hauptstadt des IS. Die
Einwohnerzahl lag ursprünglich bei 22-23 Millionen, jetzt
leben dort lediglich 16 Millionen Menschen. Mehr als 5
Millionen Menschen sind ins Ausland geflohen. Die
Koexistenz verschiedener Religionen führte auch dazu,
dass der Bürgerkrieg eskaliert ist. Etwa 75% der Menschen
sind sunnitische Muslime, 10% sind Alawiten und 10% sind
Christen, zumeist orthodoxe Christen. Dann gibt es noch
einige kleine Religionen oder Konfessionen wie Drusen,
Eziden, Juden. Aber sie sind, wie gesagt, ganz wenige. Was
die Ethnien angeht, sind es hauptsächlich Araber; etwa
85% der Gesellschaft sind Araber, Menschen mit
arabischem Ursprung, etwa 10-12% sind Kurden, die
restlichen sind Assyrer, Armenier und Turkmenen.
Jetzt komme ich zu dem eigentlichen Thema und zwar, wie
sich der Konflikt in den letzten 4-5 Jahren entwickelt hat.
2011, wie ich auch eingangs bereits erwähnt habe, kam es
im Zuge des Arabischen Frühlings zu Aufständen gegen
soziale Missstände in Syrien. Diejenigen, die auf die Straße
gegangen sind, haben niemals von Religion gesprochen.
Auch die ethnischen Differenzen haben dabei keine Rolle
gespielt. Diejenigen, die auf die Straße gegangen sind,
haben hauptsächlich chubz, also Brot, und hurriya –
diejenigen, die türkisch können, hürriyet –, also mehr
Freiheit, gefordert. Diejenigen, die keine Arbeit hatten,
haben Arbeit, diejenigen, die kein Brot hatten, Brot
gefordert. Landesweit haben die Sunniten, die
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Dr. Kenan Engin
Zunächst eine kurze Einführung in die Geschichte von
Syrien für Anfänger, die sich bisher nicht mit dem Thema
befasst haben. Wie Sie wissen, existierte Syrien bis 1920
nicht. Es gab lediglich ein syrisches Gebiet, aber keinen
Staat Syrien. Das Gebiet stand unter Herrschaft der
Osmanen. Das Gebiet wurde damals von drei
Hauptprovinzstädten (Mossul, Damaskus und Aleppo)
regiert. Nach dem ersten Weltkrieg kamen Engländer, also
diejenigen, die damals den Arabern ein unabhängiges Land
versprochen hatten, und Franzosen. Diese haben das
Gebiet in drei Teile aufgeteilt. Das ist, wenn ich auf alle
Einzelheiten eingehe, eine lange Geschichte. Bis 1940
stand das Gebiet unter der Herrschaft der Franzosen und
Engländer. Danach kam die Unabhängigkeit von Syrien.
Von da an bis in die 1970iger Jahre war die Lage in Syrien
instabil. In den 1970iger Jahren kam Hafiz al-Assad an die
Macht und somit die Familie, die bis heute Syrien regiert.
Diese Familie, eine alawitische Familie, regierte bis 2011
das gesamte Gebiet; jetzt regiert sie über einen
bestimmten Teil des Landes. 2011 ist es im Zuge des
arabischen Frühlings auch in Syrien zu Aufständen
gekommen. Später, wie Sie sicherlich verfolgt haben,
wurde aus den Aufständen ein Bürgerkrieg, ein
internationaler Bürgerkrieg; dies sehen wir heute auch in
den Medien.
Seite
Strukturen der nahöstlichen
Konflikte und ihre Auswirkungen
auf die Migrationsströme in die EU
Es gibt auch klimatechnische Faktoren, Naturkatastrophen
usw. Diese führen auch dazu, dass die Menschen ihre
Länder verlassen. Zu den Pull-Faktoren: Stellen Sie sich vor,
Sie sind mit ihrem Leben nicht zufrieden, und das Leben in
Deutschland, Frankreich oder den USA scheint noch
attraktiver. Dies hat einen Anreiz, eine Anziehungskraft. Sie
wollen unbedingt dahin gehen, obwohl es Ihnen gut geht.
Das sind die Pull-Faktoren. In den ersten beiden Wellen der
Flucht haben diese Push-Faktoren eine Rolle gespielt,
nämlich in Syrien und in den Nachbarländern, und PullFaktoren bei denjenigen, die im Irak und in der Türkei
gelebt haben. Letztere haben sich aufgrund der prekären
Zustände in der Türkei entschieden, in die europäischen
Länder zu migrieren. Aber dazu komme ich noch.
Im Rahmen der ersten Fluchtwelle, also 2011, fand die
Flucht innerhalb Syriens statt. Nur wenige Menschen sind
nach Jordanien oder in die Türkei geflohen. Alleppo, Hama,
Damaskus und Holm waren Hauptkonfliktorte; daher
haben die Menschen versucht, diese Städte zu meiden. Aus
diesem Grund sind sie aufs Land gegangen, wo es keinen
Krieg gab. Gründe für diese Flucht waren hauptsächlich das
repressive Vorgehen der Regierung, soziale Missstände
Schauen wir uns die Gründe an: Sie erkennen das leider
nicht so gut auf der Landkarte, aber die Machtkonstellation
in Syrien war der erste Grund, warum die Menschen in die
Nachbarländer geflohen sind. Ich habe die wichtigsten
Akteure hier in der Folie eingezeichnet. Diejenigen von
Ihnen, die sich damit intensiv befasst haben, wissen, dass
es in Syrien nicht vier Akteure gibt, sondern etwa 1200
unterschiedliche Organisationen. Es gibt Organisationen,
die aus 10 Personen bestehen und nur ihr Haus bzw. Dorf
schützen wollen und welche, die aus 20, 30, 50 Kämpfern
bestehen. Zur kurdischen Partei gibt es unterschiedliche
Angaben, man geht davon aus, dass sie etwa 50.000 bis
65.000 Kämpfer _innen haben. Die kurdischen Kampfkräfte
bestehen zu 30% aus Fraueneinheiten.
Der IS hat 20.000-30.000 Kämpfer, das Assad-Regime hat
70.000-100.000 Kämpfer. Die Mentalität, Kämpferinnen zu
haben, ist noch nicht zu ihnen vorgedrungen. Dann kommt
noch die Freie Syrische Armee, deren Mitglieder zuvor in
der syrischen Armee gedient haben. Es sind vier Mächte,
die mehr oder weniger die Politik in Syrien bestimmen. Die
gelben Gebiete (auf der Karte) werden hauptsächlich von
Kurden beherrscht, die grünen Gebiete von der Freien
Syrischen Armee, also über Damaskus sozusagen. Die roten
Gebiete werden momentan von Assads Regierung
beherrscht. Die restlichen grauen Gebiete – Sie sehen diese
als weiße Farbe – sind vom IS kontrollierte Gebiete. Es gibt
Kämpfe zwischen Kurden und dem IS auf der einen Seite,
im Norden auch zwischen Kurden und El-Nusra. Hinzu
kommt der Konflikt zwischen Assads Einheiten und der
Freien Syrischen Armee usw. Sie sehen also, dass Syrien ein
Kriegsland ist. Stellen Sie sich vor, Sie leben mit ihrer
Familie in Aleppo. Dann werden sie sich in dieser Situation
fragen, ob Sie dort bleiben wollen oder nicht. Sie werden
wohl entscheiden, ins Ausland zu fliehen, also in die
Nachbarländer, weil die derzeitige Machtkonstellation, die
Konflikte dazu führen, dass man existentiell bedroht ist.
Solche Szenen gibt es im IS-Einzugsbereich. Hinzu kommt
die internationale Intervention. Es sind somit nicht nur
regionale Mächte involviert, sondern auch internationale
Organisationen.
4
Jetzt komme ich zu dem Thema Fluchtursachen und
Fluchtwellen. Wenn man von Flucht und Flüchtlingen
spricht, wird oft ganz pauschal geredet. Daher möchte ich
eine differenzierte Betrachtung vornehmen. Man kann
nicht einfach von Flüchtlingen aus Syrien sprechen. Es ist
nicht so, dass die Leute angefangen haben, direkt nach
Europa zu kommen. Es gab bestimmte Stationen, die sie
durchlaufen haben. Ich unterscheide da verschiedene
Stationen. Man muss die ganze Fluchtgeschichte / -welle in
drei Abschnitte teilen: Die erste Fluchtwelle gab es in 2011,
die zweite in 2013 und die dritte Fluchtwelle, die
hauptsächlich nach Europa stattfand, begann erst 2014. In
der Migrationsforschung spricht man von Push-Faktoren
und Pull-Faktoren, die dazu führen, dass die Leute ihre
Städte, ihre Wohnorte und ihr Land verlassen. Was kann
man darunter verstehen: Push-Faktoren, die, wie das Wort
sagt, jemanden pushen, in diesem Fall das Land zu
verlassen. Darunter versteht man sozioökonomische
Faktoren wie Arbeitslosigkeit. Menschen, die von
Arbeitslosigkeit betroffen sind, würden einfach dorthin
gehen, wo sie Arbeit finden. Es gibt auch politische PushFaktoren, wenn sie verfolgt werden als Syrer oder als
Minderheit, als religiöse Minderheit oder als ethnische
Minderheit.
und Verhältnisse sowie Arbeitslosigkeit, die bei
Jugendlichen 20-30% betrug. Hinzu kamen Unterdrückung
der Minderheiten, hauptsächlich der Kurden, aber nicht
nur, auch der Sunniten, die lange Zeit unter der Herrschaft
von Assad gelitten haben. Sie haben sich mehrmals
erhoben, sind aber stets brutal niedergeschlagen worden.
Auch die Eziden haben darunter gelitten. Dies führte dazu,
dass die Menschen ihre Wohnorte innerhalb Syriens
verlassen haben. Die zweite Fluchtwelle 2012 verlief in
Richtung der Nachbarländer. Zuerst gehörten die Türkei,
Jordanien, der Irak, Ägypten und Libanon zu den Zielen.
Wie Sie auf der Karte sehen, liegen die Flüchtlingscamps in
der Türkei entlang der Grenze, so auch in Jordanien,
Libanon und Ägypten. Diejenigen, die an der Grenze der
Türkei lebten, sind in die Türkei geflohen, die in der Nähe
der libanesischen Grenze gelebt haben, haben sich in
Richtung Libanon begeben. Im Libanon leben etwa 4,5
Millionen Menschen, inoffiziell sind 2 Millionen, offiziell
1,2-1,3 Millionen Menschen hinzugekommen. Im Irak,
hauptsächlich in den autonomen kurdischen Gebieten, gibt
es auch Flüchtlinge aus Syrien, jedoch deutlich weniger.
Seite
hauptsächlich Kurden waren und unter Herrschaft der
Assad-Familie bzw. der Alawiten lebten, Freiheit und Brot
verlangt. Dann wurden die landesweiten Aufstände gegen
soziale und politische Missstände vom IS genutzt. 2014
breitete sich der IS aus, bestimmte Gebiete wurden vom IS
erobert. Entsprechend begann eine neue Ära in Syrien.
Durch Staaten wie Russland, China, Europa und die USA
hat sich das Gesicht des Konfliktes komplett geändert. Wie,
dazu werde ich noch kommen. Als Ergebnis haben in Syrien
250.000 Menschen ihr Leben verloren; hinzukommen 5
Millionen Flüchtlinge, die ins Ausland geflohen sind, und 8
Millionen Menschen, die gerade in Syrien als
Binnenflüchtlinge auf der Flucht sind.
Nachdem ich einige Punkte zur zweiten Fluchtwelle
erwähnt habe, komme ich nun zur letzten Fluchtwelle, die
in 2014 und 2015 stattgefunden hat. Bis dahin waren die
Flüchtlinge ein Problem des Nahen Ostens, der Türkei und
Jordaniens. Sie haben zwar die Angriffe des IS gesehen,
aber es war ein Problem des Nahen Ostens. 2014 jedoch
hat sich die Sache etwas geändert und plötzlich sahen wir
Flüchtlinge vor unseren Häusern und an den Grenzen.
Ungarn oder Italien sind Beispiele. Und Gründe dafür?
Also, diejenigen, die davor hierhin gekommen sind, kamen
zu 95% aus den Nachbarländern und nicht aus Syrien;
Menschen, die seit 2012 dort gelebt haben und sich dann
entschieden haben, nach Europa zu gehen. Die Gründe
hierfür sind Armut und Arbeitslosigkeit. In den
Flüchtlingslagern, wo sie leben, z.B. im Libanon, haben die
Menschen keinen Zugang zum Arbeitsmarkt. Sie haben
keine Möglichkeit zu arbeiten, weil die Infrastruktur
marode ist. Sie leben hauptsächlich in der Bekaa-Ebene.
Bei den Libanesen ist die Arbeitslosigkeit mit 10-15% sehr
hoch.
Wie können dann die Flüchtlinge eine Arbeit bekommen?
Nicht nur dort, sondern auch in der Türkei, in Jordanien, im
Irak und in Ägypten. Ich war 2013 in Ägypten. Da habe ich
selbst gesehen, wie die Leute dort arbeiten; syrische
Menschen, die einfach ausgenutzt werden, nicht nur in
Ägypten, auch in der Türkei. Letztens war ich in Istanbul
und Antep. Ich habe arbeitende Kinder gesehen. Das ist
dort normal. Es gehört zum Leben. Das sind prekäre
Zustände. Zweiter Grund, warum sich die Leute aus den
Nachbarländern auf den Weg nach Europa gemacht haben,
ist, dass die Leute gemerkt haben, dass sie nicht mehr
zurückgehen können. Also Hoffnungslosigkeit, sie haben
keine Hoffnung mehr. Sie haben zunächst gedacht, dass sie
irgendwann wieder zurückkehren können. Im Libanon, in
Ägypten z.B. haben sie nach einigen Jahren erkannt, dass
eine Rückkehr nicht mehr möglich ist. Dies führt dazu, dass
sich die Menschen etwas anderes überlegt haben. Das ist
einer der wichtigsten Gründe, warum sich die Menschen
auf den Weg machen.
Um die Situation der Flüchtlingslager in den
Nachbarländern zu verbessern, haben die Vereinten
Nationen mehrfach die europäischen Länder davor
aufgefordert, dass sie ihre versprochenen Beiträge zahlen
sollen. Dies wurde von denen ignoriert. Deutschland
gehört zu den wenigen Ländern, die ihre Beiträge damals
gezahlt haben. Wir sehen, dass die bisherigen Zahlungen
nur 40% des Bedarfes decken. Das bedeutet, dass die
Menschen 27 Dollar pro Monat bekommen haben. Danach
wurden die Ausgaben halbiert, weil das Geld nicht mehr da
war. Das bedeutet, die Menschen müssen von 50 Cent pro
Tag leben. Ariane Rummery hat damals gesagt: „Es gibt
keinen Zweifel, dass die schlechter werdenden Zustände in
den Nachbarländern den Zustrom nach Europa befeuern.“
Dies hat er vor zwei-drei Jahren gesagt. Er hat
5
Die USA und die EU waren anfangs skeptisch, wussten
nicht, wie sie anfangen sollen. Danach waren sie froh,
wenn Assad endlich geht. Doch dann haben sie gemerkt,
dass, wenn Assad geht, der IS bleibt, was noch schlimmer
wäre. Sie wurden danach noch skeptischer und
enttäuschter, weil jeden Tag Tausende von Flüchtlingen
herkommen. Was Russland und China angeht, haben sie
natürlich auch Interessen. Exemplarisch möchte ich hier
Russland anführen. Warum steht Russland hinter Syrien?
Gut, geostrategische Interessen usw. Das spielt natürlich
auch eine große Rolle. Aber es geht auch um andere
Faktoren und Aspekte der Sache. Wo ist das bisher größte
entdeckte Gasfeld der Welt? Kann das einer sagen? Hat
dies zufälliger Weise jemand gelesen? Aus dem Publikum:
Shedade. Shedade in Syrien meinen Sie? Der Ort zwischen
Kurden und dem IS. Da gibt es auch Gasfelder. Aber nein,
das ist es nicht. Bevor ich damit anfange. Hier auf der Karte
sind Russland und Europa. Was würden Sie sagen, wofür
stehen diese Netze? Genau, Pipelines von Russland nach
Europa. Wir werden von Russland mit Gas versorgt. Unser
Gas kommt hauptsächlich aus Russland, natürlich auch aus
Norwegen usw. Was die Gasversorgung angeht, sind wir
von Russland abhängig. Und schauen Sie hier. Das größte
bisher entdeckte Gasfeld liegt hier, das sog. South Gas
Field. Das liegt genau zwischen Katar und dem Iran. Also im
Meer, zwei Drittel gehören zu Katar und ein Drittel zum
Iran. Was bedeutet das? Mit der nächsten Folie sieht man
es besser. Wir sehen, dass Katar einen Plan hat. Sie haben
mit der Türkei und mit Saudi-Arabien einen Plan, ihr Gas
nach Europa zu bringen. Eine Pipeline von Katar ist
notwendig. Ein anderer Transport ist kaum möglich und
wenn, dann problematisch und sehr teuer. Sie wollen das
Gas auf den europäischen Markt bringen. Dafür brauchen
sie eine Pipeline und diese muss über Katar und SaudiArabien führen. Saudi-Arabien hat auch Gas, hat auch
entsprechende Interessen. Beide Staaten haben eine
wahabistische Staatsideologie. Sie würden von da aus eine
Pipeline über Jordanien errichten; die wären natürlich
damit einverstanden. Einziges Problem dabei ist Syrien,
weil Assad das verhindert; bisher hat er es zumindest
verhindert. Assad gehört zu den Alawiten, also Schiiten,
und möchte sich nicht für die Interessen der Sunniten
einsetzen. Da kommt auch Russland ins Spiel. Russland
versucht diese Pipeline durch Syrien zu verhindern. Wenn
Gas aus Katar auf den europäischen Markt kommt, wäre es
für Russland verheerend. Aus diesem Grund ist Russland in
Syrien dermaßen involviert und versucht, Assad an der
Macht zu halten.
Seite
Internationale Staaten sind beteiligt, ebenso die Türkei,
Katar, sunnitische Staaten wie Saudi-Arabien. Es gibt z.B. al
Nusra, also islamische Organisationen wie islamische Front,
die radikal islamische Organisationen unterstützen.
Warum? Weil sie gewisse Interessen haben. Zum Beispiel
haben wir in Saudi-Arabien eine wahabistische Ideologie.
Diese unterscheidet sich in keinster Weise von der
Ideologie des IS. Ich habe hinsichtlich der Lehrpläne
recherchiert. Die Lehrkonzeption vom saudi-arabischen
Bildungsministerium und dem IS sind fast 100% identisch.
Auch schiitische Staaten sind darin involviert. Assad ist
auch Alawit, und Alawiten gehören der schiitischen
Konfession an bzw. werden mehr oder weniger dazu
gezählt. Deswegen kann die Entmachtung von Assad dazu
führen, dass der Iran und der Irak ihren Einfluss auf Syrien
verlieren werden. Daher stehen sie hauptsächlich hinter
Assad.
vorausgesehen, was in den nächsten Monaten passieren
wird.
In den Nachbarländern wie in der Türkei dürfen die
Menschen offiziell arbeiten. Das ist aber problematisch. In
Jordanien dürfen sie nicht arbeiten. Sie dürfen auch die
Flüchtlingscamps nicht verlassen. In der Türkei dürfen sie
diese verlassen. Aber dann haben sie gar keinen Anspruch
auf die Leistungen der Vereinten Nationen oder des
Staates. Im Libanon ist die Situation noch schlechter. Es
gibt keine offizielle Stelle, an die sie sich wenden können,
wo sie Essen bekommen und medizinisch versorgt werden.
Arbeit ist auch ein Problem. Der Zugang zu Bildung ist auch
schlecht. Im Nordirak wurden zwar Kurden und Eziden
untergebracht, aber die Situation ist auch dort nicht
blendend. Was die Bildungschancen angeht, habe ich als
Beispiel wieder Jordanien genommen, aber in der Türkei ist
es auch so. 700.000 Kinder leben in der Türkei als
Flüchtlinge. Davon wurden bisher nur die Hälfte, also 50%,
in eine Schule aufgenommen. Praktisch die Hälfte der
Kinder ist auf der Straße. In Jordanien haben 20% der
Kinder keinen Zugang zu den Schulen. Diskriminierung im
Leben, in der Schule ist Alltag. Die Abschlüsse aus Syrien
werden nicht anerkannt. So besteht auch keine
Möglichkeit, eine Arbeit zu finden.
Die Drei-Staaten-Lösung wäre eine mögliche Option. Ich
glaube jedoch nicht, dass die großen Mächte davon
begeistert sind. Die Kurden werden sich wahrscheinlich
dafür einsetzen. Das ist für sie eine vorstellbare Option.
Teilweise wären auch die Sunniten und die Freie Syrische
Armee damit einverstanden, aber Assad nicht. Ein
föderales System mit drei föderalen Einheiten in Syrien
scheint mir die beste Lösung.
Es gilt, die verschiedenen Kräfte davon zu überzeugen,
auch die Sunniten, die sich jahrelang benachteiligt gefühlt
haben, nicht den IS. Es gibt das Beispiel Irak mit dem
autonomen kurdischen Gebiet, der de facto föderal
organisiert ist. Die wäre eine denkbare Lösung, die zu einer
friedlichen Lösung beitragen könnte. Darüber zu sprechen,
was wir hier machen könnten, wird jetzt zeitlich nicht
passen, kann aber Teil der Podiumsdiskussion sein. Wie Sie
sehen, habe ich auf dieser Folie versucht, die
unterschiedlichen Reaktionen der EU-Länder zu skizzieren.
Es zeigt sich, dass den Staaten eine gemeinsame
Flüchtlings- und Migrationspolitik fehlt.
Hier besteht Handlungsbedarf, um eine gemeinsame
Politik zu erreichen. Damit möchte ich meinen Teil
abschließen. Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben.
<|>
Wenn ich das ganze zusammenfassen würde: Die Flucht
aus Syrien ist in drei Fluchtwellen zu teilen. Was bisher
passiert ist: Die erste Welle war 2011 hauptsächlich
innerhalb von Syrien. Hauptgrund war das repressive
Vorgehen der Assad-Regierung gegen die Aufständischen
und Minderheiten. Die zweite Welle führte dazu, dass die
Binnenflüchtlinge in die Nachbarländer Türkei, Jordanien,
Libanon, Irak und teilweise auch Ägypten geflohen sind.
Gründe dafür waren die Sicherheitsbedingungen und
Konflikte im Lande. Natürlich hat der IS auch dazu
beigetragen, dass Menschen aus Angst ihr Land verlassen
mussten oder wollten. Und die dritte Welle erfolgte aus
den Nachbarländern Syriens in die Europäische Union bzw.
europäische Länder unter den elementaren Aspekten, die
ich vorhin erwähnt habe.
Seite
In Syrien haben wir m.E. gerade vier Optionen, wie der
Bürgerkrieg
ausgehen könnte. Ein noch langer
Dauerbürgerkrieg,
Wiederherstellung
von
Assads
Herrschaft, ein föderales System oder Drei-Staaten-Lösung.
Dauerbürgerkrieg haben wir momentan und erleben ihn
seit 4-5 Jahren. Es wird schwierig, Assads Herrschaft
nochmals wiederherzustellen. Sowohl die Kurden als auch
die Freie Syrische Armee werden dies niemals akzeptieren.
6
Kommen wir nun zum Thema Lösung: Sie verfolgen die
Verhandlungen bestimmt in den Medien, wie die
Flüchtlingsproblematik, ich bin mir nicht sicher, ob es
überhaupt als solche bezeichnet werden sollte, gelöst
werden kann. Wenn man das Problem lösen möchte; im
Orient gibt es einen guten Spruch dafür. Man sagt „Du
musst dein Geld da suchen, wo du es verloren hast. Meiner
Meinung nach muss man, wenn man das Problem lösen
möchte, den Konflikt beilegen. Ich weiß, dass es nicht so
einfach ist. Man muss ihn aber lösen; man muss in die
Lösung investieren.
Ich bin erfahrener Flüchtling. Meinen Asylantrag habe ich
1993 gestellt, da ich mich in Deutschland jedoch nach
Anerkennung meines Antrages aufgrund politischer
Verfolgung nicht wohl fühlte, habe ich 2006 in Frankreich
einen weiteren Asylantrag gestellt.
Erniedrigt wird man sogar während des Prozesses der
Antragstellung auf Asyl in Deutschland, aber auch in
Frankreich, obwohl man eigentlich geschützt werden
sollte. Deswegen möchte ich nicht neutral sein; das
brauche ich auch nicht und behaupte, dass die Flüchtlinge
und damit zusammenhängende Herausforderungen für die
aufnehmenden Gesellschaften und/oder Staaten aus dem
vorhin beschriebenen Kontext hinausgetragen werden
durch die Diskurse der Mainstream-Politiker/innen und
Mein eigentliches Thema ist die kurdische Frage als ein
determinierender Faktor, wobei ich da ein Fragezeichen
setzen würde. Die kurdische Frage an sich fraglich, denn
die Kurdenfrage ist, wie damals die Judenfrage, eine
konstruierte Frage. Die Kurden haben diese Frage nicht als
Personen, ich beispielsweise habe keine Kurdenfrage.
Daher müsste man bestimmen, was diese Frage eigentlich
ist. Schlussendlich gibt es, nach reiflichen Überlegungen
meinerseits, keine Kurdenfrage. Die Kurden haben
Probleme. Es gibt aber kurdische Fragen gegenüber uns,
Fragen irgendwelcher Mächte, die mit der kurdischen
Identität als eine Gruppe konfrontiert wurden.
Die Türkei hat eine kurdische Frage, der Iran hat eine
kurdische Frage. Beide sind auf keinen Fall identisch. Der
Seite
Dr. Luqman Turgut (Kurdologe)
7
Meine Erläuterungen beziehen sich einleitend auf den
Begriff der Flucht. Die Genfer Flüchtlingskonvention
beschreibt den Flüchtling als Person, die "… aus der
begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse,
Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten
sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung
sich
außerhalb
des
Landes
befindet,
dessen
Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses
Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser
Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will…".
Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von
1951 (Genfer Flüchtlingskonvention).
Dazu gehört auch das Recht auf Sicherheit, ebenso für die
aus Krisengebieten geflüchteten Gruppen. Zum Recht auf
Sicherheit gehört, den Zugang zu Leistungen
gleichberechtigt mit Ausländern, die sich rechtmäßig in
dem Land aufhalten, zu ermöglichen. So müssen
grundlegende Bürgerrechte wie Gedankenfreiheit,
Bewegungsfreiheit, Schutz vor Folter und erniedrigender
Behandlung erteilt werden. Auch wirtschaftliche und
soziale Rechte müssen gleichermaßen gelten. Sie sollten
Zugang zur medizinischen Versorgung, Schulbildung und
dem Arbeitsmarkt haben. Die Aufnahme von Flüchtlingen
ist somit eine völkerrechtliche Pflicht der Staaten.
Medien. Daher ist es kein Wunder, dass wir in unserem
Alltagsleben mit Rassismus konfrontiert sind.
Flüchtlinge gelten als Gefahr für das Volk und besonders
gefährlich sind sie, wenn sie Vertriebene sind, so wird es
empfunden, und zwar nicht seit kurzem, sondern seit sehr
langem, denn die politischen Diskussionen in Frankreich, in
England, in Italien und Deutschland sind nicht neu.
Wenn die Kanzlerin beispielsweise die Flüchtlinge als
Gefahr betrachtet und versucht, zu verhindern, dass sie
Deutschland erreichen und abschreckende Zugeständnisse
gegenüber Personen macht, die sie noch vor kurzen bei
den Gezi-Protesten scharf kritisiert hatte. Wenn in
manchen Ländern die Diskussion über die Einführung einer
rechtswidrigen
Obergrenze
gegenüber
den
aufzunehmenden Flüchtlingen diskutiert wird, dann ist es
keine Überraschung mehr, dass die anderen die Flüchtlinge
als Gefahr betrachten, sie erniedrigen, sie angreifen.
Auch ich erlebe Rassismus im Alltag, nicht nur draußen,
sondern auch überall da, wo der Staat vertreten ist. Dazu
ist zu bemerken, dass die Flüchtlinge keine Wahl haben.
Mein Vorredner hat beschrieben, wie die erste Fluchtwelle
entstanden ist. Jeder dieser Flüchtlinge hatte keine Wahl,
denn sie müssen in ein Land fliehen, wo sie sich sicher
fühlen.
Das ist der Punkt, den auch das Völkerrecht anspricht.
Trotzdem ist in Deutschland deren Bewegungsfreiheit
eingeschränkt und der Zugang zum Arbeitsmarkt ebenso.
Sie werden erniedrigt, auch in allen öffentlichen Debatten.
Ich sage das auch, weil ich seit vielen Jahren wieder in
Deutschland lebe und die meiste Zeit meines
Flüchtlingslebens in Deutschland verbracht habe.
Die Bedrohung gegenüber Flüchtlingen und Fremden wirkt
immer öfter gegen Menschen, die seit Jahrzehnten hier
wohnen und gegenüber Fremden, da sie als Bedrohung
empfunden werden. Daran haben die Regierungen
Verantwortung, die diese Diskussionen auch in der
Mainstreampolitik tragen. In einer Untertreibung werde
ich das als verantwortungslos bezeichnen.
Ich werde diese Verantwortung jetzt darlegen: Dazu gehört
die Debatte, wie innenpolitisch das Management
verbessert werden kann. Dazu gehört auch, dass man
Konflikte z.B. im Nahen Osten oder in anderen Regionen
losgelöst von den gesamtpolitischen und anderen
Dimensionen diskutiert und in die Öffentlichkeit trägt. Ich
würde das als verantwortungslos beschreiben, was zum
ansteigenden Rassismus in Deutschland und Europa
entscheidend beiträgt.
Die kurdische Frage –
ein determinierender Faktor für
Flucht aus dem Mittleren Osten –
und die westliche Nahostpolitik
Irak hat eine kurdische Frage, die seit 2003 stark verändert
ist.
Syrien hatte bis vor kurzem eine kurdische Frage und jetzt
haben auf der einen Seite das Assad-Regime, auf der
anderen Seite die FSA und der IS eine kurdische Frage in
Syrien.
Nicht zuletzt hat auch Deutschland eine kurdische Frage,
denn es ist seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht in der
Lage, ihre eigene kurdische Frage zu lösen.
Türkentum-Projekt durchzusetzen. Damit hatte die Türkei
bereits 1925 ihre kurdische Frage, die darin bestand, die
Kurden und die kurdische Identität nicht anzuerkennen
und zu versuchen, sie auf unterschiedliche Weise zu
vernichten, durch physische Vernichtung, aber auch, wenn
jemand eine anderes Konzept als dieses Nationsprojekt
vertrat, diese zu vernichten. Das hatte jedoch keinen
Erfolg, nicht gegenüber den Kurden, doch bei diesen nicht
zuletzt, weil sie so zahlreich waren und sind.
Wie sind diese kurdischen Fragen zustande gekommen? Als
entscheidenden Grund sehe ich das Etat-Nation-Projekt
[frz. Für Staatsnation, Anm. der Redaktion] in der Türkei,
im Iran, später im Irak und Syrien.
Ich
beginne
meine
Erläuterungen
bei
den
Zentralisierungsversuchen der Osmanen am Anfang des 19.
Jahrhunderts, als man angefangen hat, den Staatsapparat
zu modernisieren. Das bedeutete, dass die Staaten sich
umfunktionierten und sich zentralistisch organisierten, so
wie es auch bei den Großmächten Europas, Frankreich und
Preußen, der Fall war.
Im Osmanischen Reich wurde begonnen, die
Teilautonomien der Kurden zu begrenzen. Einige
Fürstentümer, mit denen man sich nicht verstand, wurden
bekämpft. Man versuchte, sie politisch auszuschalten
durch politische Verfolgung. Die Staatsbürgerschaft und
Gleichberechtigung vor der Justiz wurden zwar auf dem
Papier zugesichert, doch mit dem Ziel, den Staatsapparat
zu zentralisieren. Das hat Probleme ausgelöst und es kam
zum Teil zu einer kurdischen Frage im Osmanischen Reich.
Die Kurden wurden jedoch nicht sehr stark bekämpft und
manchmal kam es zu militärischen Auseinandersetzungen.
Der Iran verfolgte ein ähnliches Zentralisierungsprojekt am
Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20.
Jahrhunderts. Bis in die 1950er Jahre wurden die
Modernisierungsversuche auch im Iran durchgeführt. In
den 60er und 70er Jahren gab es zeitweise ein
Sprachverbot und Trachtenverbot gegenüber der
kurdischen Bevölkerung im Iran. Sie waren in einer
ähnlichen Situation wie in der Türkei, wodurch auch im
Iran eine kurdische Frage entstand, die aber stärker darauf
konzentriert war, die Kurden zwar anzuerkennen, aber sie
als iranisches Element zu betrachten. Man brauchte sie
nicht gänzlich zu verleugnen. Man hat ihnen keine
politischen Rechte gewährt. Es war auch keine Rede davon,
dass sie sich selbst verwalten durften.
8
Diese Staatsgrenzen sind bis heute gültig, zumindest
offiziell, auch wenn sie durch die Organisation des IS und
der kurdischen Bewegung nicht anerkannt werden.
Dies hat dazu geführt, dass eine sehr große Zahl an Kurden
in diesen Staaten leben, aber als Bevölkerungsanzahl
Minderheiten darstellen.
Die Etat-Nation-Konzepte in der Türkei und dem Iran
haben aus den Kurden als Bevölkerungsminderheiten auch
politische Minderheiten gemacht. Das ist in Syrien und im
Irak nach der Erklärung der Unabhängigkeit, in Syrien 1939
und im Irak schon 1933, der Fall gewesen. In Syrien war
während der Zeit der Baath-Partei der arabische
Nationalismus eine entscheidende Ideologie des Staates.
Im Irak war es nicht anders, sowohl nach der
Unabhängigkeit des Königreiches Irak als auch nach der
58er Republik Irak war der arabische Nationalismus
tragende Stütze als Staatsideologie.
Seite
Eine kurdische Frage, wie wir sie heute kennen, gibt es erst
seit 1913, als das osmanische Triumvirat der Paschas,
Talaat, Enver und Cemal der Ittihad und Terakki-Bewegung
[Komitee für Einheit und Fortschritt, Anm. der Redaktion]
sich gegen den Sultan durchsetzten konnten, was man als
Putsch bezeichnet, weil alle drei Paschas Offiziere waren.
Ein neues Projekt wurde für das Osmanische Reich initiiert,
das die osmanische Identität auf das Türkentum reduzierte
und auf alle osmanischen Bürger bezog. Die Osmanen
waren religiös, aber auch ethnisch vielfältig; denn es gab
nicht nur viele Identitäten, sondern es gab kaum einen
Menschen mit einer Identität. Es gab Muslime, die Kurden
waren, gleichzeitig auch Osmanen. Es gab Jesiden, die
Kurden und Osmanen waren. Es gab Christen, die Armenier
waren. Es gab Christen, die keine Armenier, aber doch
Osmanen waren.
Dagegen hatte man die Ideen von starken
Staatsstrukturen, in Rückbezug auf das Osmanische Reich
im 16. Jahrhundert, als es nach außen stark gewirkt hatte.
Man dachte, dadurch könne man eine neue Türkei, eine
neue Weltmacht, die auch eine regionale Macht darstellen
sollte, aufbauen.
Das bedeutete für die Kurden aber auch andere NichtTürken, dass sie nicht mehr präsent im öffentlichen Leben
sein durften. Die drei Paschas haben die Osmanen in den
Ersten Weltkrieg geführt, so dass es das Osmanenreich
schlussendlich 1920 nicht mehr gab. Das Projekt war an
sich daher keine so gute Idee. Die vornehmliche Politik
war, obwohl sie sich anfangs nicht so darstellte, ein
Zurück zum ersten Weltkrieg und dem Sykes-PicotAbkommen, das zwar eigentlich geheim war, aber nicht
geheim blieb. Weil sich in Russland eine Revolution
ereignete hatte und die Bolschewiki keine Ansprüche mehr
auf Osmanische Reich geltend machten, ließen sie die
Inhalte des Abkommens veröffentlichen.
In dem Abkommen haben die Franzosen und Briten ihre
Einflusssphären definiert. Syrien wurde zum französischen
Einflussgebiet, der heutige Irak und Palästina kamen unter
britische Sphären. Da aber die Ansprüche Russlands
wegvielen und anschließend mit dem Vertrag von
Lausanne eine Republik in der Türkei als Nachfolger des
Osmanischen Reiches entstand, wurden damit die
Staatsgrenzen Syriens und des Irak gesetzt.
Das bedeutete für die Kurden, dass sie seit dem 17.
Jahrhundert erstmals durch Staatengrenzen getrennt
wurden. Vorher gab es keine de facto Trennung, vor allem
dadurch, dass sieben Fürstentümer im Safaviden-Reich
bestanden und etwa 14 im Osmanischen Reich.
Es stellt sich die Frage, ob die diversen Etat-NationProjekte unbedingt dazu führen müssen, dass es zu
Konflikten kommt. Ich würde darauf antworten, dass es
nicht zwangsläufig so sein muss. Aber wenn wir uns die mit
den Etat-Nation-Projekten neu entstandenen Staaten
anschauen, dann ist festzustellen, dass die späteren
Debatten in mancher dieser Staaten über die Minderheiten
sogar zu Vernichtungsstrategien durch die politischen
Eliten geführt haben und dazu beitrugen, die
Minderheitenfragen in chronische Fragen umzuwandeln.
In der Türkei haben wir seit den 90er Jahren eine kurdische
Frage, in Syrien seit der Unabhängigkeit 1939, im Irak
schon seit dem britischen Mandat. Die Briten mussten
schon in den 20er Jahren erste Luftangriffe auf bewohnte
Gebiete fliegen, gegen den Aufstand des Scheich
Mahmoud Barzanji, der sich zum König Kurdistans erklärt
hatte. Im Iran gibt es auch seit den 1920er Jahren eine
kurdische Frage.
Kurdistan und die sogenannte kurdische Frage, eigentlich
kurdische Fragen der jeweiligen Staaten, ist ein Faktor, der
zur heutigen Fluchtrichtung nach Europa und Deutschland
beiträgt. Wie ich bereits erklärt habe, sind nicht die
Faktoren entscheidend sondern höhere Krisen der Fragen.
Einerseits die Unterdrückungsmechanismen der Staaten
Türkei und Iran, andererseits wiederentstandene
Kampfstrategien der kurdischen Bewegung scheinen
entscheidende Fluchtursachen zu sein. Zudem ist die
Haltung der Staaten mitentscheidend, die politische,
ökonomische und militärische Macht ausüben.
Es ist kein Geheimnis, dass dieser Einfluss aus
unterschiedlichen Gründen heraus negativ und positiv
wirken kann. Als Beispiel werde ich die Türkei-Politik
Deutschlands aufgreifen, weil Deutschland auch heute
keine
Kurdenpolitik
hat,
obwohl
die
Kurden
schätzungsweise die zweitgrößte Einwanderungsgruppe
darstellen. Schätzungsweise, weil Deutschland noch immer
so verfährt, die Gruppen zu bestimmen, in dem festgestellt
wird, aus welchem Staat sie kommen. Deutschland
versucht seit 10 Jahren, teilweise eine Kurdenpolitik als
Interessenspolitik im Irak/KRG (Kurdistan Regional
Government) zu schaffen, auch wenn dies keine richtige
Kurdenpolitik ist.
Deutschland hat, wie gesagt, auch eine eigene
Kurdenfrage, aber keine Kurdenpolitik. Die Probleme, die
Deutschland in der Kurdenpolitik hat, stammen meist aus
der Türkei. Die Flüchtlingspolitik bezüglich der Kurden ist
auch daher der Türkeipolitik geschuldet. Die Türkei-Politik
Deutschlands
steht
im
Kontext
einer
guten
Zusammenarbeit, auch wenn es zu zeitlich begrenzten
Teilkrisen und in vielerlei Hinsicht zu bipolaren
Abhängigkeiten zwischen beiden Staaten kam.
Dies ist kein neues Phänomen. Es fing bereits zu Anfang
des 19. Jahrhunderts an, als die Osmanen Mächte suchten,
von denen sie lernen und profitieren könnten, um den
Staatsapparat zu modernisieren. Dazu kam Preußen in
Frage, mit einem Offizier, der es später zum
Generalstabsmitglied im Deutschen Reich schaffte,
Helmuth von Moltke. Er war an der endgültigen
Zerschlagung einiger kurdischer Fürstentümer beteiligt.
Er war als Berater der osmanischen Offiziere tätig. Für die
Preußen war die Zusammenarbeit zunächst eher
symbolisch, doch mit der Deutschen Kaiserreichsgründung
und den imperialen Bestrebungen gewann das Osmanische
Reich zunehmend an Bedeutung, so in Bezug auf seine
Rohstoffe. Im ersten Verteilungskrieg waren die Deutschen
und die Osmanen verbündet und halfen den armenischen
Völkermord mitzuorganisieren. Davon hört man kaum in
Deutschland, man redet auch nicht gerne darüber,
besonders nicht, wenn es um Verantwortung geht.
9
Alle diese kurdischen Fragen haben ihre Wurzeln nicht in
der kurdischen Gesellschaft, sondern außerhalb dieser.
Deswegen ist es schwierig, zu behaupten, dass die
Kurdenfrage ein determinierender Faktor für Flucht aus der
Region ist. Es ist in der Tat ein Faktor an sich, aber kein
determinierender. Doch die Akteure, die dazu führen, die
diese Probleme und diese Fragen konstruieren, schienen
mir determinierender zu sein.
Die Kombination von imperialer Verteilung, d.h. vor allem
dem Sykes-Picot-Abkommen und den Etat-NationProjekten, verlief nicht nur für die Kurden blutig, sondern
für mehrere andere Gruppen, kulturelle und religiöse
Gruppen, die zu politischen Minderheiten gemacht
wurden, ebenso. Diese Kombination schuf aus der ganzen
Nation einen ethnischen, religiösen und
nationalen
Konflikt.
Seite
Die irakische Kurdenfrage ist anders, weil sich dort die
Briten kein „ein Volk“-Königreich vorgestellt hatten. Von
Anfang hatten die Kurden dort Vertreter. Ob es eine
richtige politische Repräsentation war, ist fraglich. Doch es
gab eine gewisse Autonomie der Kurden, die in irgendeiner
Form im Irak wirkte. Die kurdische Frage im Irak bestand
bis 2003 darin, wie diese Autonomie auszusehen habe.
Diese Autonomiebestrebungen seitens der Bevölkerung
wurden mehr oder minder unterdrückt.
In Syrien gab es Siedlungsversuche, die stark auf die
heutige Demographie Einfluss zeigen.
Dazu ist der
arabische Gürtel zu nennen, ein Projekt von 1961, das
später von den Baath-Regierungen durchgeführt wurde
und sich auf die arabische und kurdische Bevölkerung
bezog. Das Projekt sah vor, arabische Nomaden in
kurdischen Gebieten zwangsanzusiedeln und dort Dörfer
gründen zu lassen. Die arabischen Nomaden wurden
gezwungen, sich anzusiedeln, um im kurdischen Gebiet die
kurdische Mehrheit aufzubrechen, so dass die territoriale
Einheit der kurdischen Gebiete getrennt wurde. Das ist
gelungen, weshalb wir heute zwischen Cezire, Kobane und
Afrin eine arabische Bevölkerungsmehrheit haben. Es kam
in der Baath-Zeit auch zu Verboten, wie der Sprache,
hauptsächlich in den 80er Jahren und Anfang der 90er
Jahre. In Syrien herrschte eine panarabistische Politik der
Baath-Regierung.
Wir sollten nicht vergessen, dass die syrischen BaathNationalisten das Projekt verfolgten, eine einheitliche
arabische Nation zu schaffen. 1953 kam es sogar zu einer
sehr kurzfristigen Zusammenlegung Ägyptens mit Syrien zu
einer Republik, die von den arabischen Nationalisten in
Syrien mitgetragen wurden.
Ich bezeichne es beispielsweise als erste massenhafte
Flucht, als sich 1960 in Varto/Mus ein großes Erdbeben
ereignete, wodurch die Städte zerstört wurden, mehre
10.000 Menschen keinen Lebensort mehr hatten und die
Türkische Republik nicht bereit und willig war, dort zu
helfen. Internationale Hilfe wurde nicht an die Bedürftigen
weitergeleitet. Es gibt Berichte der Arbeitnehmer, die in
Berlin ankamen, die sagten, dass sie von den türkischen
Behörden regelrecht dazu gezwungen wurden, als
Arbeitnehmer nach Deutschland zu kommen. Man wollte
sie nicht mehr haben. Sie lebten in einem Gebiet, dass
durch die Türkische Republik seit 1925 türkisiert wurde.
Die Mehrheit der Kurden sollte es nicht mehr geben, durch
zwei Formen: Erstens, Flüchtlinge aus dem Kaukasus in
Kurdistan anzusiedeln und zweitens, die Anwohner zu
vertreiben.
Damit hatten die Deutschen kurdische Flüchtlinge als
Arbeitnehmer in Deutschland und die Deutsche Regierung
musste mit der Türkei gut kooperieren, besonders als 1974
Nordzypern von den türkischen Streitkräften besetzt
wurde und die USA ihre im Rahmen der NATO-Bündnisses
organisierten Türkei-Hilfe nicht mehr gewähren wollte.
Diese Aufgabe kam der BRD zu.
„Stoppt die Türkeihilfe“ wurde daher gegen die Türkeihilfe
aus Deutschland skandiert. Diese Türkeihilfe führte zur
Modernisierung der Türkischen Armee, wodurch mehrere
Tausend (3205, inoffiziell 5000) kurdische Dörfer zerstört
werden konnten, u.a. mit den geschenkten ehemaligen
NVA-Waffen. Das hat zu einer Teilkrise in der Türkeipolitik
Deutschlands geführt; es wurden 1993 Forderungen nach
einem Embargo laut. Diese Krise konnte man bewältigen,
z.B. indem man die Kurden in Deutschland zu
kriminalisieren
versuchte
oder
ihre
politischen
Schauen wir uns nun die deutsche Flüchtlingspolitik an, die
darin besteht, der Türkei beizustehen, damit diese den
Flüchtlingszuzug nach Europa stark reduziert.
Die kurdische Fluchtbewegung sieht anders aus, als die
Flucht aus Syrien. Es gibt eine große Community in
Deutschland, die noch Beziehungen zu den Kurden in
Kurdistan pflegt und zu den Pull-Faktoren gehört. Den
Begriff Pull-Faktoren haben wir im vorhergehenden
Vortrag gelernt, und dieser bedeutet für die Kurden, dass
die kurdische Gemeinde in Deutschland anziehend wirkt.
Wenn die Kurden aus der Türkei flüchten, dann kommen
sie nach Deutschland. Für den Irak ist es nicht weniger
relevant, für Syrien auch, weil auch viele von ihnen in
Deutschland Schutz gesucht haben.
Die Konstellation der Politik der Staaten, in denen die
Kurden leben, und die Zusammenarbeit mit den westlichen
Mächten lässt den Flüchtlingen keine andere Wahl, als
nach Europa zu fliehen.
Was ist die Lösung?
Einerseits liegt die Lösung in einer Kurdenpolitik in
Deutschland, die für die kurdische Bevölkerung eintritt, um
die eigene kurdische Frage zu lösen und zudem die
internationalen Beziehungen zu den Staaten Türkei, Iran
und Syrien zur Demokratisierung dieser Staaten zu nutzen.
Das bedeutet, Beziehungen mit der Türkei zu pflegen, die
die Demokratisierung des Landes durch freundliche Kritik
mitgestalten.
Man sollte die demokratischen Experimente, die gerade in
Syrien laufen, auf jeden Fall betrachten und dort, wo man
die Menschen unterstützen kann, dies tun.
Man könnte in diese Gebiete investieren, weil die
Menschen dort keine Angst haben, ihr Projekt zu leben.
Investitionen in die Infrastruktur wären möglich aber auch
bei der Gewährleistung einer medizinischen Versorgung zu
helfen oder den Aufbau des Landes mitzutragen. In Rojava
wird die sogenannte demokratische Autonomie gelebt, die
keine Minderheitenvorstellungen hat. Man akzeptiert die
unterschiedlichen Identitäten, lässt sie im politischen
Leben mitentscheiden und man will ihnen die Möglichkeit
geben, sich in den politischen Gremien zum Ausdruck zu
bringen.
Dieses Projekt gibt es auch in der Türkei. Dieses politische
Projekt ist, meiner Meinung nach, sehr wichtig für die
Lösung der kurdischen Frage und auch, um eine
demokratische Republik zu schaffen. Man sollte das Projekt
der demokratischen Republik in der Türkei und in Syrien
unterstützen, denn das würde keinen Schaden
verursachen, wohingegen beispielsweise eine Intervention
schwerwiegende Folgen haben würde. <|>
10
Die bundesdeutsche Türkei-Politik setzte sich in der
Anwerbung von Arbeitnehmern fort. Man wollte eigentlich
keine Arbeitnehmer aus der Türkei, aber um das NATOMitglied, um die NATO Südost-Flanke zu sichern, erwog
man zeitlich begrenzt und in irgendeiner Art und Weise
pendelnde Arbeitnehmer anzuwerben, die für ein paar
Jahre in Deutschland arbeiten und dann wieder
zurückkehren sollten. Das ist nicht eingetreten, denn so
funktioniert es nicht. 1963 begann die Anwerbung offiziell,
wodurch die ersten Kurden als Arbeitnehmer nach
Deutschland kamen. 1973 wurde das Anwerbeabkommen
wieder aufgekündigt.
Vereinigungen verbot. Darin bestand die Türkeipolitik,
nicht als Antwort auf die kurdische Frage, sondern als Teil
einer
Interessenspolitik.
Diese
Türkei-Politik
ist
mitverantwortlich für Flucht aus der Türkei.
Zusammenfassend ist zu sagen, dass die Antwort auf die
Kurdenfrage 1993 determinierend für die Flüchtlinge
wirkte, die nach Deutschland kamen. Ein determinierender
Faktor war, dass die etwa 5000 Dörfer einfach entvölkert
werden durften. Bedeutet das, dass die kurdische Frage für
die Flucht aus dem Nahen Osten unbedeutend ist? Nein.
Seite
Das kennt man auch aus dem Irak. Die chemischen
Produkte, die Saddam Hussein als Waffen benutzt hat, um
die Kurden in manchen Gegenden regelrecht zu
vernichten, stammen hauptsächlich aus Deutschland. Fast
90 Prozent der gesamten chemischen Stoffe, die benutzt
wurden, und die Technologie stammen aus Deutschland.
Trotzdem wird eine politische Verantwortung abgestritten.
Obwohl dieser Völkermord im Irak von Großbritannien und
den skandinavischen Ländern als Völkermord anerkannt
wird, hat Deutschland das vor drei Jahren im Bundestag
diskutiert und alle Parteien fanden es sehr schlimm, dass
so viele Menschen mit chemischen Waffen getötet
wurden, abgesehen von der Linken haben alle betont, dass
die deutsche Regierung keine Verantwortung trage.
Europäische Strategien Ursachenbekämpfung vs.
(militärische) Notlösungen
Bernd Mesovic
(Stellvertr. Geschäftsführer von Pro Asyl, Frankfurt a.M.)
die Leute vor europäischen Kameras sterben. Deswegen
gibt es auch eine Strategie des nach-außen-Verschiebens.
Zum Beispiel gibt es die Idee, eine Pufferzone bzw. eine
Sicherheitszone in Nordsyrien einzurichten, was sowieso
Implikationen hat in der Kurdenpolitik, die sehr gefährlich
sind. Aber natürlich wäre auch dies etwas, was wenig
einsehbar ist. Es wird verhindert, dass die Flüchtlinge ein
Territorium erreichen, wo zumindest über Europa und
seine Ränder diskutiert werden würde. Das sehe ich als
eine klare Politik.
Es gibt Anzeichen, dass durch die Schließung der
Balkanrouten in den letzten Tagen und Wochen ein Teil der
Flüchtlinge wieder gen Süden Richtung Mittelmeer geht. Es
gibt Anlass zu der Vermutung, dass Flüchtlinge mit dem
aufkommenden Frühlingswetter wieder auch von
Nordafrika aus auf Boote steigen, was sehr viel riskanter ist
als die Ägäisroute. Wir müssen damit rechnen, dass auch
auf dieser Route sehr viele Leute in Lebensgefahr geraten.
Ich will noch zwei Stichworte in die Debatte einwerfen. Es
ist die Rede davon, dass Berlin die Türkei zum sicheren
Drittstaat bzw. zum sicheren Herkunftsstaat erklären
möchte. Dafür wird ein nächster Gesetzentwurf
eingebracht. Die Maghreb-Staaten, also Marokko, Algerien
und Tunesien sollen ebenfalls auf diese Liste kommen. Und
jeder, der sich etwas mit deren Politik und den
Menschenrechtsverletzungen
beschäftigt,
sich
entsprechende Berichte von Amnesty International und
Human Rights Watch anschaut, weiß, dass das alles andere
sind als sichere Drittstaaten.
Wir erinnern uns an den Anfang der 2000er Jahre,
verbunden mit dem Namen Tony Blair und New Labour, als
diesem mit Otto Schily die Idee aufkam, Flüchtlingslager
z.B. in Afrika oder in die Wüste zu stellen. Es drohte damals
selbst das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen
umzukippen. Die Strategie, die man jetzt im
Zusammenhang mit der Türkei fährt, Flüchtlinge
aufzuhalten und finanziell zu entgelten, hat man für andere
Teile der Welt also schon längst formuliert. Man möchte,
dass die Flüchtlinge möglichst unsichtbar bleiben, weil die
europäischen Demokratien Schwierigkeiten haben, wenn
Ich sehe es auch so, dass bei gleichbleibend schlechter
Entwicklung jede Menge Installationsrisiken vorhanden
sind. Akteure wie Russland und die USA wollen wieder
kurzfristig mit jedem Partner ins Geschäft kommen, der
sich anbietet. Da, denke ich, müssten wir alle zusammen
was dafür tun, um zu verdeutlichen, dass diese angebliche
Realpolitik nach dem Motto „Wer unser Freund ist…“ (à la
Erdogan, den man in einer kurzfristigen Sache hofiert)
schief geht. Wir wissen dies seit Gaddafi, wir wissen es seit
Assad. So wurden bis kurz vor dem Aufstand bzw. dem
Bürgerkrieg in Syrien noch Leute aus Deutschland
11
Beim Regierungshandeln sieht es natürlich schwierig aus.
Die Politik, die jetzt Deutschland mit der Türkei fährt, nach
dem Motto „Ihr helft uns, die Flüchtlinge wegzuhalten,
dafür gibt es Geld und vielleicht gibt es auch eine
geordnete Aufnahme von Flüchtlingen“, diese Realpolitik,
die man auf Kosten der Menschenrechte betreibt, ist
unerträglich. Das Projekt, 160.000 Flüchtlinge aus Italien
oder Griechenland abzunehmen, funktioniert ja nun gar
nicht. Diese Politik hat aber auch eine Vorgeschichte.
Es gibt bisher keinen einzigen EU-Mitgliedsstaat, der die
Türkei als sicheres Herkunftsland eingestuft hat. In der EU
hatten wir 2014 eine Anerkennungsquote (für Flüchtlinge
aus der Türkei) von 23 Prozent. Damit ist einfach klar,
wenn die Leute im Asylverfahren anerkannt werden, kann
gar nicht von einem sicheren Herkunftsland die Rede sein.
Weiterhin würde ein Drittstaat voraussetzen, dass es ein
Staat wäre, der die Genfer Flüchtlingskonvention
unterzeichnet hat, was die Türkei nicht getan hat. Es ist
ohnehin so, dass die Türkei sich bei Asylverfahren für
Nichtsyrer nicht als Daueraufnahmestaat versteht und es
im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention auch nicht ist.
Der UNHCR muss dann andere Aufnahmestaaten suchen.
Es ist völlig irrwitzig, diese politische Konstruktion zu
versuchen.
Seite
Ich möchte erst einmal ein wenig Optimismus verbreiten.
Nicht aus strategischen Gründen, sondern weil ich davon
überzeugt bin, dass die Flüchtlingsunterstützungsbewegung immer noch entgegen aller regierungsamtlichen
Äußerungen ganz gut steht. Es sind die stillen Kommunen,
die es schaffen und ganz gute Ideen haben. Und es sind auf
der anderen Seite die Krakeele, die in die Wahlkämpfe
eingreifen, sowie einige Städte, die tatsächlich
Schwierigkeiten haben, und die zusammen mit einigen
Medien manchmal die Stimmung verkehren. Ich erlebe im
Moment wie viele, in der Regel flüchtlingsspezifische
Veranstaltungen, stattfinden und wie viel Unterstützung
wir auch als Pro Asyl bekommen. Es gibt zwei Teile in
dieser Gesellschaft. Es gibt die Leute, die das Thema
negativ besetzen bis hin zu steigender Gewalttätigkeit und
zum Rassismus. Und es gibt eine nicht so kleine
Gegenbewegung, egal wie die Wahlen ausgehen.
abgeschoben und es kamen Folterberichte. Wenn man
lange genug mit solchen Gestalten Geschäfte macht, dann
landet man als Akteur in einer aussichtslosen Situation. Das
ist mein Votum an dieser Stelle.
Den Fahrplan der deutschen und europäischen
Die Flüchtlingspolitik
der deutschen Bundesregierung
Mürvet Öztürk
(MdL Hessen, Bündnis 90/Die Grünen)
Flüchtlingspolitik können Sie auf unserer Seite
mitlesen. Es könnte sein, dass wir weiterhin jeden
Monat ein Gesetzgebungsprojekt bekommen. Ich
weiß nicht, wie viele Asylpakete noch kommen. Ich
glaube aber nicht, dass alles, was man tut,
letztendlich dazu führen wird, dass sich die
Zunächst möchte mich für die Einladung bedanken und
dafür, dass dieses Thema in der jetzigen aktuellen Situation
betrachtet wird. Seit heute Nacht 24:00 Uhr gibt es einen
so genannten Waffenstillstand in Syrien. Alle hoffen, die
Flüchtlinge in Syrien und in der Region in dieser Phase gut
versorgen zu können. Das ist der eine aktuelle Punkt. Der
andere ist, dass seit gestern im Bundesrat das Asylpaket II
verabschiedet worden ist. Am Donnerstag, 25.02., ist es im
Bundestag debattiert und schon am Freitag, 26.02, im
Bundesrat verabschiedet worden. Normalerweise haben
wir in Deutschland längere Gesetzgebungsverfahren und
eine längere Beratungsphase. Dass dies, ich sag mal ganz
salopp „im Schweinsgalopp“, schon zum zweiten Mal
verabschiedet worden ist, finde ich sehr unglücklich und
dem Deutschen Rechtsstaat unwürdig. Ich glaube, dass das
der falsche Weg ist von der Bundesregierung, die angeblich
kritischen Stimmen der Bevölkerung zu besänftigen. Damit
läuft man meiner Meinung nach einer rechten
Stimmungsmache hinterher, anstatt Klarheit zu zeigen und
zu sagen: Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung ist
bereit, Menschen aufzunehmen, und ist bereit, in der
Kriegssituation humanitär zu helfen. Die Mehrheit der
Politik sollte auch ihre Haltung in dieser Richtung wahren
und nicht an falscher Stelle einer falschen rechten
populistischen Stimmungsmache nachgehen. Das finde ich
eine sehr bedauernswerte Situation und von daher finde
ich, habt Ihr einen guten Zeitpunkt ausgewählt, um das
hier auch zu thematisieren.
12
Was die Bundesregierung und ihre Asylpolitik betrifft: Was
kann man dazu sagen? Wir als die Flüchtlingspolitiker, also
ich bin seit 2008 im hessischen Landtag Mitglied der
Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen gewesen und dort
zuständig für die Themen Petition, Härtefallkommission,
Asylpolitik, Flucht und Integration. Es war mir immer
persönlich wichtig und ein wichtiges Anliegen, das Thema
progressiv zu begleiten. Denn es ist klar, wenn man sich
international die Unruheherde auf der Welt anschaut, dass
auch Menschen zu uns flüchten werden. Die Frage hierbei
wird immer sein: Wie sind wir vorbereitet in der
Seite
Flüchtlingszahlen über längere Zeit hin reduzieren. Es
wird sehr viel Leid entstehen durch die
Familientrennung und es wird – wenn wir nicht sichere
Zugangswege finden, sodass Leute nicht gezwungen
sind, über das Mittelmeer zu kommen – noch mehr
Tote geben. Zumindest auf das gesamte Europa
bezogen wird es so keine wirkliche Reduktion der
Flüchtlingszahlen geben.
<|>
13
populistische Stimmungen es schaffen, laut zu werden,
dann sieht man – wie bereits seit einem Jahr –, wie auf
einmal die politische Vernunft flöten geht und wie man auf
einmal anfängt, panisch chaotisch rechtliche Zustände zu
schaffen, die kurzfristig und kurzsichtig sind und keine
Lösung darstellen. Das ist für mich im Asylpaket I der Fall
gewesen, und das ist auch jetzt im Asylpaket II der Fall. Im
Asylpaket I hat man schon Mazedonien, also die
Balkanstaaten als sogenannte sichere Herkunftsstaaten
ausgerufen, weil sehr viele Flüchtlinge seit 2012 auch aus
dem Balkan nach Deutschland gekommen sind und einen
Asylantrag gestellt haben. Ich möchte klar differenzieren;
das Asylrecht ist ein Individualrecht. Das ist so. Jeder
Mensch, der hierhin kommt und sagt:“ ich bin politisch
verfolgt“, muss das Recht haben, erst einmal sein Anliegen
vorzutragen. Dann kann überprüft werden, ob es stimmt
oder nicht. Wenn aber schon im Vorfeld bestimmte Länder
zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt werden, dann haben
wir leider die Situation, dass die Prüfung relativ schnell
stattfindet und die Begründungstexte copy paste Texte
sind. Also, wenn einer aus der Balkanregion, z.B. aus
Albanien, sagt „Ich bin wegen Blutrache geflüchtet. Ich
sehe mein Leben bedroht.“ und der Richter antwortet „Ihr
Land ist ein sicheres Herkunftsland. Dort gibt es keine
politische Verfolgung ihrer Situation. Daher ist Ihr
Asylantrag leider abgelehnt worden.“, ist er dabei
überhaupt nicht auf die individuelle Begründung
eingegangen. Das sind so Situationen, die mit diesen
Gesetzen geschaffen worden sind, und das finde ich falsch.
Das Asylrecht ist ein tatsächliches Recht aus dem
Grundgesetz. Wenn dann Fluchtbewegungen aus
bestimmten Regionen verstärkt zu uns stattfinden, mal aus
den Balkanstaaten, mal aus Afghanistan, mal aus Afrika
oder aus der Türkei und dann die rechtliche Antwort
darauf ist, dass wir diese Länder für sicher erklären und so
tun, als ob wir uns des Problems entledigt haben, ist das
eine falsche Politik. Das ist eine kurzfristige Politik, die ich
in Deutschland nicht haben will. Ich wünsche mir
deswegen vielmehr in der Zivilbevölkerung, aber auch in
der Politik, dass die Politiker und Politikerinnen laut
schreien und zwar nicht nur aus der Opposition heraus,
sondern auch, wenn man in der Regierungsverantwortung
ist. Denn nur, wenn man in der Regierungsverantwortung
ist, kann man bestimme Dinge verändern. Es ist leider in
letzter Zeit, seit Sommer letzten Jahres oder nachdem die
Asylbewerber, Flüchtlinge auch vermehrt zu uns
gekommen sind, eine schwierige Situation hier in
Deutschland. Ich kann mir nur wünschen, dass sich die
meisten Politiker und Politikerinnen, die seit Jahren mit
den Themen Flucht und Asylpolitik unterwegs sind, mehr
Gehör verschaffen, weil dort ist die Kompetenz und auch
die fachpolitische Einschätzung. So kann man eher
populistischen Strömungen entgegen wirken.
Die Situation mit der Türkei, finde ich, wird immer
schwieriger. Ich war jetzt in den letzten zwei Wochen in
der Türkei und hatte die Möglichkeit, mit vielen Menschen
zu sprechen. Wenn man mit den Menschen dort spricht
Seite
Innenpolitik auf die Fluchtsituation dieser Menschen?
Inwiefern sind wir vorbereitet, dass wir sie strukturell
aufnehmen können? Das heißt, sind unsere Schulen,
unsere
Kindergärten,
unsere
Ausländerbehörden
vorbereitet? Ist unser Arbeitsmarkt darauf vorbereitet,
sind unsere Bürger und Bürgerinnen darauf vorbereitet,
dass die Gesellschaft in ein paar Jahren vielleicht bunter
wird. Sie ist ja schon nach dem zweiten Weltkrieg immer
bunter geworden, was uns stets gestärkt und bereichert
hat. Daher war mir immer wichtig, dass es auch nach der
Wiedervereinigung nicht diese Stimmung gibt, jetzt
müssen sich erstmal Deutsche aufeinander konzentrieren,
um ihre neue deutsche Identität zu finden. Es ist immer
wichtig, dass zu diesem neuen Deutschland ein großer Teil
von Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund
dazu gehört. Sie waren schon über die Arbeitsmigration
oder aber über humanitäre Flucht nach Deutschland
gekommen. Mir war es immer wichtig, dass man in diesem
neuen Deutschland die Vielfalt nach vorne stellt und
kulturelle, ethnische sowie religiöse Vielfalt als eine
Bereicherung versteht. In diesem Sinne habe ich immer
meinen politischen Auftrag verstanden und habe auch
stets in diese Richtung agiert. Deswegen habe ich auch
immer einen engen Austausch mit Herrn Mesovic von Pro
Asyl gehabt. Ich weiß noch genau, wie ich in der
Härtefallkommission argumentieren musste. Es handelte
sich konkret um einen syrischen Fall. Der Antragssteller ist
abgeschoben worden und hat dann in Syrien Folter
erlitten. Er ist nach Deutschland zurückgekommen und hat
erneut einen Asylantrag gestellt. Dieser wurde jedoch
wieder abgelehnt, obwohl er nachgewiesen hat, dass er in
der kurzen Phase seiner Rückführung nach Syrien massiven
staatlichen Repressionen ausgesetzt war. Wir hatten einen
Rückübernahmeabkommen mit Syrien. Wenn die
Flüchtlingspolitiker und Menschenrechtspolitiker in diesem
Land ganz laut aufgeschrien haben und gesagt haben, es
geht nicht, dass wir die Realität in bestimmten Ländern
einfach ignorieren und diese Länder als sogenannte sichere
behandeln nur, weil es uns Politikern so in den Kram passt.
Das ist ein Bumerang. Das wird auf uns zurückfallen. Vor
allem, weil die Menschen sowieso flüchten werden, und
weil wir als ein Rechtsstaat und als eine europäische
Gemeinschaft die Menschenrechtswerte hoch halten.
Wenn wir sie ernsthaft vertreten wollen, dann können wir
nicht in den Einzelsituationen die Realpolitik in den
Vordergrund stellen und die reale Situation in manchen
Ländern ignorieren. Das ist, finde ich, etwas wichtiges
sowohl für eine europäische Union, die ich als ein richtiges
und wichtiges Projekt sehe, als auch für eine starke
Bundesrepublik Deutschland, die die Rechtstaatlichkeit
immer im Vordergrund gehalten hat. Ich glaube, es ist jetzt
die richtige Zeit, für diese Werte einzustehen und dafür zu
kämpfen. Jetzt ist die Frage, wer hört uns? In der
Zivilbevölkerung glaube ich, ist es, wie Bernd gesagt hat;
ein Großteil der Menschen ist bereit zu helfen. Trotzdem
sind Wahlen leider in der Politik ein treibender Faktor.
Wenn Wahlen anstehen, wenn rechtspopulistische oder
Das macht meiner Meinung nach die Situation nicht
besser. Auch die Aussage vom Herrn Ministerpräsidenten
Davutoglu „Ich finde, der Waffenstillstand ist für uns nicht
bindend, weil dies ein Risikofaktor für die innenpolitische
Situation der Türkei ist“ ist fatal und ist als Außenpolitik
eine Bankrotterklärung. Deswegen bin ich darauf gespannt,
wie wir in Deutschland darauf reagieren werden. Aber die
Augen zu schließen aus Sicht der Bundesregierung oder aus
Sicht des Außenministers heraus zu sagen „Das ist unser
Kooperationspartner, unser Verbündeter, und wir mischen
uns in deren inneren Angelegenheiten nicht ein.“, ist
definitiv der falsche Weg. Das wird nicht funktionieren. Je
früher die politische Spitze in Berlin wach wird, und endlich
inhaltlich Politik macht, desto mehr ist den Menschen in
der Region und den Menschen hier in Deutschland
geholfen.
In der Türkei ist es ganz klar, wenn man die Situation im
Südosten der Türkei nicht friedlich löst, beziehungsweise,
ob wir nun dazu Kurdenfrage sagen oder nicht sagen, das
muss man hier nicht näher erläutern. In den kurdischen
14
Ich möchte aber auch sagen, dass der Anschlag in Ankara,
der letzte vom 17. Januar, viele sehr erschüttert hat. Vor
allem ging die Diskussion darüber, ob nun aus Kobane
syrische oder kurdische Separatisten den Terror in die
Türkei bringen würden, weil die Türkei das Bild zeichnen
will, erst war es ein IS-Terror, jetzt ist es ein kurdischer
Terrorist, der unser Land destabilisiert. Darüber waren
viele schockiert und sie waren aber auch darüber
schockiert, dass die TAK sich zu dem Anschlag bekannt hat.
Das macht die Situation nicht besser. Meiner Meinung
nach scheint mir die Situation sehr unübersichtlich, auch
weil in der Türkei eine Kriegsrhetorik eskaliert.
Gebieten im Südosten der Türkei kann die Zivilbevölkerung
schon wieder nicht ihr alltägliches ziviles Leben führen.
Diese Menschen flüchten. Ich will aber ganz klar sagen,
diese Menschen flüchten auch aus dem einfachen Grund
heraus, weil einige hatten die Hoffnung, dass es eine
friedliche anerkennende kurdische Identität über die Partei
der HDP geben wird. Die ganze kurdische Lösung ist seit
dem April des letzten Jahres ad acta gelegt worden. Jetzt
sprechen wieder die Waffen auf beiden Seiten. Das ist sehr
bedauerlich, weil ich finde, in den 1990iger Jahren haben
die Waffen schon mal gesprochen und die Menschen in die
Flucht getrieben. Eine Lösung hat man damit nicht erreicht.
Deswegen war es auch meine persönliche Hoffnung, dass
endlich eine politische Lösung erreicht werden kann und
die politischen Stimmen laut sein können. Es ist mit dem
jetzigen Präsidenten geschafft worden, dass sowohl die
politische Lösung ins Grab getragen wurde, als auch auf
beiden Seiten wieder die Waffen sprechen. Das finde ich
fatal und falsch. Ich finde es sehr wichtig, dass man sich
Gedanken darüber macht, machen muss, wenn man den
Staatsterror „Staatsterror“ nennen will, mit einem anderen
Terror antworten. Bis wohin gehen denn wohl diese
Terror-Eskalationen. Wo muss man dann sagen können,
jetzt geht es aber gar nicht mehr, weil wir schon wieder
Zivilisten verlieren. Sowohl türkische Zivilisten als auch
kurdische Zivilisten. Auf jeden Fall sind Kurden, die sagen,
ich will diesen Krieg dort nicht mehr haben, weder den
Staatsterror noch von der bewaffneten Guerilla,
diejenigen, die fliehen. Diejenigen, die dort bleiben,
werden ganz klar als Separatisten und leider auch als
Terroristen abgestempelt. Sie werden praktisch zum
Freischuss frei gegeben. Das ist das schlimmste, dass man
quasi einem EU Beitrittsland erlaubt, Menschen in einer
Region, die sich mit ihrer kurdischen Identität
beschäftigen, zum Abschuss freizugeben, weil sie politisch
etwas anders haben wollen, als das, was die türkisch
legitimierte Regierung will. Das finde ich sehr schlimm. Also
flüchten sie. Ob sie dann alle nach Deutschland kommen
werden, hängt von Pull- und Push-Faktoren ab. Ich glaube,
diejenigen, die in Deutschland Beziehungen haben, werden
natürlich nach Deutschland kommen wollen. Viele werden
im Westen der Türkei ihre neue Existenz aufbauen wollen.
Es gibt auch viele syrische Flüchtlinge, die aus der Region
flüchten, die dann sagen, das ist für uns unsicher, wir
bleiben da nicht mehr. Es ist oft auch so, dass diejenigen,
die finanziell keine Möglichkeiten haben, dort bleiben und
diejenigen, die die finanziellen Möglichkeiten haben,
flüchten. Es ist wieder ein finanzieller Faktor; derjenige, der
finanziell nicht in der Lage ist, kann sich keine Flucht
leisten. Auch das finde ich aus menschenrechtlicher Sicht
eine sehr schwierige Situation. Was aber in Deutschland
oder in Europa immer mehr rechtlich und an Stimmung
manifestiert wird, ist, wenn Menschen aus der Türkei
kommen, will man es so drehen, dass diese keinen
Asylgrund mehr haben werden, indem die Türkei als ein
sicherer Drittstaat, ich glaube sogar, zu einem sicheren
Herkunftsland erklärt wird. Ich habe politisch viel davon
Seite
und zurückkommt, ist es schon eine beklemmende
Situation. Die Unzufriedenheit ist sehr groß; die Angst ist
sehr groß, seine Meinung frei zu äußern. Die Angst ist sehr
groß, aus unerklärlichen Gründen irgendwie ins Visier der
staatlichen Organe zu geraten und aus irgendwelchen
unerklärlichen Gründen seine Arbeit zu verlieren oder aber
auch bedroht zu werden. Die Angst ist sehr groß, sich zu
seinen kulturellen oder religiösen Ursprüngen zu bekennen
und gleichzeitig als Separatist bezichtigt zu werden. Dies
gilt nicht nur für Kurden. Dies gilt für sehr viele
Minderheiten, die zurzeit dort leben oder politisch
oppositionell sind. Die Angst ist groß, wenn man sich
Beispielsweise für die Umwelt in seiner Region einsetzt,
wie jetzt an der Schwarzmeer-Küste in der Türkei, dass
man sofort entweder mit falschen Zugeständnissen über
dem Tisch gezogen wird oder dass man eben sofort als
Separatist identifiziert und irgendwo notiert wird. Es ist,
was auch den Süd-Osten der Türkei betrifft, eine sehr
beklemmende Situation. In Westen in den Metropolen
sitzen sehr viele intellektuelle Menschen, denen die Hände
gebunden sind. Sie möchten gerne die Zivilbevölkerung,
die dort den Angriffen ausgesetzt ist, unterstützen, aber sie
haben keine Möglichkeiten dazu.
…………………………………………………………………….…………….
Impulsreferat YXK
Handan Çiçek (YXK, Frankfurt a.M.)
Niemandem fällt es leicht, seine Heimat zu verlassen. Doch
weltweit sind 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Es
sind Menschen, die vor Bürgerkriegen fliehen, vertrieben
wurden oder der Armut entkommen wollen. Seit dem
Zweiten Weltkrieg waren noch nie so viele Menschen
gleichzeitig auf der Flucht.
Die meisten Menschen bleiben innerhalb ihres
Heimatlandes oder fliehen ins Nachbarland. Die größte Last
der Konflikte in Syrien und dem Irak tragen deshalb die
angrenzenden Staaten: Millionen sind in die Türkei und
den Libanon, aber auch in die vergleichsweise sicheren
Gebiete von Rojava geflüchtet.
Hunderttausende machen sich auch auf den Weg nach
Europa. Deutschland und Schweden sind dabei die
beliebtesten Ziele der Flüchtlinge. Bis Ende 2015 sind mehr
als eine Million Flüchtlinge in Deutschland eingetroffen.
Das waren etwa fünfmal so viele wie im Jahr 2014. Wie
viele Menschen 2016 einen Asylantrag stellen werden,
lässt sich nicht abschätzen.
Die größte Gruppe der Flüchtlinge stammt aus Syrien. Das
Land wird seit mehreren Jahren von einem Bürgerkrieg
erschüttert. 2015 wurden 428.000 Syrer registriert, davon
konnten 162.000 einen Asylantrag stellen.
Die derzeitige Situation dieser Geflüchteten in Europa ist
geprägt durch Kriminalisierung und Abschottung.
Abgelehnte AsylbewerberInnen werden in die Illegalität
getrieben und Tausende Flüchtlinge sterben an den EU-
15
Was den Syrer betrifft; es gibt viele Menschen, die nach
Deutschland kommen, um hier auch die Demokratie und
die Rechtstaatlichkeit zu erleben. Es kommen nicht nur
Menschen
her,
die
aus
Fluchtgründen
oder
wirtschaftlichen Gründen kommen, sondern es kommen
Menschen hierhin, weil sie die Hoffnung haben, hier
geschützt zu sein, in ihrer Identität und in ihrem
persönlichen Schutz. Deswegen ist es wichtig, dass wir in
Europa und in Deutschland nicht anfangen, unsere
Errungenschaften so schnell auszuverkaufen, um Zustände
zu schaffen, die eigentlich ein individuelles Recht wie das
Asylrecht oder ein Schutz von Flüchtlingen nicht mehr
gewährleisten. Das war schon in der Vergangenheit sehr
schwierig. Dies wurde hier bereits auch von Herrn Turgut
erklärt. Es sind auch sehr viele Asyl- und
Menschenrechtspolitiker, die aktiv sind. Sie kennen die
Situation. Es war aber trotzdem die Hoffnung da in den
letzten fünf, sechs Jahren, dass sich die Situation politisch
ins positive ändern wird. Jetzt sehe ich aber im Asylpaket,
Menschen, die im Asylverfahren sind, sollen in den ersten
sechs Monaten in diesen Erstaufnahmeeinrichtungen
bleiben. Das sind Einrichtungen, die teilweise bis zu 700
oder 1000 Menschen unterbringen. Man soll bis zu sechs
Monate dort bleiben, und die Residenzpflicht soll gelten.
Das heißt, wenn man irgendwo Arbeit findet, darf man
nicht aus dem Bezirk heraus, dem man zugeteilt worden
ist. Es war ein langer Kampf der Menschenrechts- und
Asylpolitiker, die Residenzpflicht aufzuheben. Diese war
gerade mal ein Jahr lang aufgehoben, und jetzt ist sie quasi
wieder eingeführt. Beim Familiennachzug soll jetzt im
Asylpaket II bei Personen, die einen subsidiären Schutz
haben, dieser zwei Jahre ausgesetzt werden. Das ist
kontraproduktiv. Alle, die das beklagen und sagen,
Familien werden im Mittelmeer von Schlepperbanden
ausgebeutet und quasi dem Tod ausgeliefert, betreiben
das Geschäft dieser Menschen; weil wenn Menschen
alleine kommen, als Minderjährige, ist es ihr Recht, dass sie
ihre
Familien
nachholen
können.
Auch
der
Arbeitsmarktzugang, der nach drei Monaten möglich sein
soll, war eine Errungenschaft der Menschenrechtspolitiker.
Auch das ist auf wackeligen Füßen gestellt, weil die
Integration in den Arbeitsmarkt nicht so einfach ist, wenn
man nicht ausreichend Sprachkurse und Unterstützung
bekommt. Viele Arbeitgeber sprechen mich an und sagen:
„Frau Öztürk, ich würde gerne syrische Flüchtlinge oder
andere Flüchtlinge einstellen, aber ich brauche begleitende
Unterstützung.“
Das
heißt
also,
wenn
ich
aufenthaltsrechtliche Fragen habe, wer hilft mir dann?
Wenn jemand mit der Sprache oder mit den kulturellen
Fragen nicht klar kommt, an wem kann ich mich denn
wenden? Er ist ja auch am Anfang kein hundertprozentiger
Auszubildender, den ich einsetzen kann. Kriege ich dann
eine begleitende Unterstützung? Alle diese begleitenden
Fragen sind nicht geklärt und auch die Anerkennung ihrer
Abschlüsse ist nicht geklärt. Es sind viele Menschen mit
Abschlüssen, die hierher flüchten. Sie müssen aber alles
allein machen. Sie müssen die Gebühren allein tragen. Sie
müssen sich durch den Dschungel der Anerkennung, wie
sie hier erwartet wird, allein durchschlagen. Eine
rechtsstaatliche Beratung, die finanziert wird, haben wir
nicht, und wir haben auch keine unabhängige
Rechtsberatung, die beispielsweise die Vereine machen.
Auch die bekommen keine Unterstützung. Von daher hat
man zu allem Rechte, aber man weiß ja nicht, welche sie
sind, und man kann sie nicht durchsetzen, weil man keine
Rechtsberatung bekommt. Also das sind alle Fallstrike, die
ich gerne diskutieren möchte oder auch gerne politisch als
Forderung gemeinsam mit den zivilgesellschaftlichen
Akteuren stellen will und KURD-AKAD ist ein solcher
zivilgesellschaftlicher Akteur, welcher sich stärker
einsetzen kann.
<|>
Seite
gehört; die gesagt haben, die Türkei ist ein EU Beitrittsland;
wenn sie kein sicheres Herkunftsland ist, was denn sonst?
Und wenn sie aber zu einem sicheren Herkunftsland erklärt
wird, dann wird die Fluchtursache eines Armeniers, eines
Kurden, eines Eziden fast unmöglich sein, hier anerkannt zu
werden. Das finde ich auch wieder sehr schwierig.
Außengrenzen, z. B. im Mittelmeer vor Lampedusa oder
am griechischen Grenzfluss Evros.
In
vielen
Städten
haben
sich
sogenannte
Bürgerbewegungen
gegründet,
um
gegen
die
Unterbringung der Geflüchteten zu protestieren und
Bedrohungsängste vor den konstruierten Fremden in der
Gesellschaft zu schüren. Doch hierbei bleibt es vielerorts
nicht. So finden täglich verschiedene Angriffe auf
Asylbewerberunterkünfte statt.
Syrien kommen und das Überleben nur durch Flucht zu
sichern war, scheint den Medien nicht genug zu sein, ihre
Hetze einzustellen. Deshalb ist es wohl noch ein langer
Weg, bis die Flucht vor Armut und die Suche nach einem
besseren Leben auch für Nicht-EuropäerInnen als
Migrationsgrund akzeptiert wird.
Ein großer Teil der Menschen, die derzeit in Syrien auf der
Flucht vor dem Bürgerkrieg und Terror sind, stammen aus
Rojava, dem kurdischen Gebiet im Norden Syriens.
Diese sogenannten Unterkünfte oder auch Lager stellen
sich zumeist als alte Schulen oder Kasernen heraus, welche
nur notdürftig renoviert als Übergangslösung herhalten
sollen. Die Geflüchteten müssen dort auf engstem Raum
ausharren. In den meisten Fällen wird dies jedoch zum
Dauerzustand. Weder Bund noch Kommunen haben
offenbar ein Interesse daran, mehr Aufmerksamkeit und
Geld für die Bedürfnisse der Geflüchteten aufzubringen.
Die Geflüchteten selbst haben keine rechtliche Grundlage
und wenig Möglichkeiten, sich Gehör zu verschaffen. Dies
ist wichtig, da die Unterbringung und Behandlung in den
Sammelunterkünften der AsylbewerberInnen häufig
menschenverachtend ist. Durch die beengten Verhältnisse
führen Beschäftigungslosigkeit und eventuelle Traumata
der Flucht in den Unterkünften häufig zu Konflikten. Die
gängige Praxis, Asylsuchende an entlegene Orte zu
schaffen, verhindert zusätzlich, dass sich andere Menschen
mit den Geflüchteten solidarisieren, sich mit ihnen
anfreunden und ihnen ein Leben ohne Anfeindungen und
Isolation ermöglichen. Stattdessen ist es vielleicht ein
gewünschter, zumindest aber geduldeter Nebeneffekt,
dass die Bevölkerung vor Ort nur die möglichen Probleme
sieht, sich gegen die HeimbewohnerInnen wendet und im
schlimmsten Fall sogar Angriffe verübt.
Gründe hierfür boten vor allem die Angst und die
Vorurteile gegenüber der Anwesenheit der Geflüchteten in
der Nachbarschaft. Es überwiegen Vorstellungen von
Armutskriminalität
und
randalierenden,
beschäftigungslosen Jugendlichen. Dabei hätte die Stadt
diesen Vorurteilen durch Aufklärungsarbeit zuvor kommen
können.
Im Laufe ihrer Geschichte sind die Kurden immer wieder
massiv verfolgt worden, in dessen Folge viele Menschen
zur Flucht getrieben wurden, aber auch staatlich
organisierten Deportationen ausgesetzt waren. Die
Entstehung der kurdischen Diaspora in Europa reicht bis in
die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurück. Die
überwiegende Mehrheit der Kurden kam ab Beginn der
sechziger Jahre als „Gastarbeiter“ aus der Türkei nach
Deutschland, Österreich, in die Schweiz oder nach
Frankreich. Hauptmigrationsziel blieb auch nach dem
Anwerbestopp von 1973 die Bundesrepublik. Im Rahmen
der
Familienzusammenführung
folgten
zahlreiche
kurdische Familien ihren Angehörigen.
16
Seite
Auch stellen sich viele BürgerInnen gegen Diskussionen
und Aussprachen und weigern sich, ihre vorgefassten
Meinungen zu hinterfragen. Bestätigung finden sie auch in
den etablierten Medien, welche die negative Stimmung
immer weiter anheizen. In Politik und Medien wird das
Bild konstruiert, dass „Ausländer Deutschen die
Arbeitsplätze wegnehmen" und nur nach Deutschland
kommen, um "unsere Sozialsysteme auszunutzen". So ist
die "Das Boot ist voll"-Rhetorik der beginnenden 90er
Jahre längst wieder in den bürgerlichen Medien
angekommen. Hier wird nicht nur repetitiv das
menschenverachtende Bild der "Flüchtlingsströme" und "wellen" beschworen, sondern auch der negativ besetzte
Begriff des Wirtschaftsflüchtlings allzeit präsent gehalten.
Dass die meisten Geflüchteten aus Krisengebieten wie
Die Islamische Revolution im Iran (1979), der Militärputsch
von 1980 in der Türkei, kriegsähnliche Zustände und die
Ausrufung des Ausnahmezustandes in den kurdischen
Gebieten sowie Ausrottungskampagnen des irakischen
Regimes unter Saddam Hussein leiteten die verstärkte
Flucht von Kurden aus diesen Staaten nach Deutschland
ein. Diese politisch Verfolgten Kurden kamen in
aufeinanderfolgenden Wellen vorrangig aus der Türkei und
suchten Asyl. Durch die prekäre Situation in den
Herkunftsstaaten hat die Einreise von politisch Verfolgten
Kurden nach Deutschland und Europa nicht nachgelassen.
Nach Aussage des damaligen Innenministers handelt es
sich Mitte der 90er Jahre bei rund 80% der Asylbewerber in
Deutschland um Menschen aus den kurdischen Gebieten.
Und in Kurdistan herrscht immer noch Krieg. Die aktuell
massive Kriegspolitik der AKP-Regierung gegenüber dem
kurdischen Volk ist auf die Ergebnisse der
Parlamentswahlen zurückzuführen. Im Sommer 2015
überschritt die HDP mit 13,1% die 10%-Hürde. Mit ihrem
Wahlerfolg schenkte die HDP allen demokratischen und
fortschrittlichen Kräften eine neue Perspektive auf ein
friedliches Zusammenleben zwischen allen Völkern. Recep
Tayyip Erdogan erschlug jedoch den Wunsch der
Bevölkerung, da ihm dadurch die absolute Mehrheit für die
Errichtung des Präsidialsystems fehlte. Aufgrund dessen
ließ
er
die
Koalitionsgespräche
mit
den
Oppositionsparteien scheitern und erzwang Neuwahlen,
die am 1.November 2015 stattfanden. Die neu
eingeschlagenen Methoden für Neuwahlen basierten auf
Vergeltung, Abschreckung und militärischen Angriffen
gegen das kurdische Volk. Die verloren gegangenen
Stimmen wurden wieder errungen und das Land befand
sich erneut in den Klauen des Despoten Erdogans. Die
Die Türkei hat durch ihre Unterstützung von
dschihadistischen Gruppen wie dem IS, der Al-Nusra Front
oder der Gruppe Ahrar al-Sham und mit der Bekämpfung
der
basisdemokratischen
Selbstverwaltung
in
Rojava/Westkurdistan den Krieg in Syrien maßgeblich mit
befördert und so dazu beigetragen, dass abertausende
Menschen ihre Heimat verlassen mussten. Die AKP
gewährte zudem dem IS, innerhalb der Türkei Anschläge zu
verüben, die gegen RegierungskritikerInnen gerichtet sind.
Sowohl die Anschläge auf das Meeting der HDP in
Diyarbakir, in Suruc, die Friedensdemonstration in Ankara
und die TouristInnen in Istanbul wurden von Islamisten
verübt, die als Handlanger des AKP Regimes gelten. Diese
Anschläge sind keine Zufälle! Darüber hinaus werden
jegliche Dechiffrierungsversuche gegen die AKP-IS
Kooperation und die Solidarisierungsversuche mit dem
kurdischen Volk innerhalb des Staates im Keim erstickt. Die
bekanntesten Beispiele hierfür sind der türkische Journalist
Can Dündar , der Vorsitzende der Rechtsanwaltskammer
von Diyarbakir Tahri Elci, der von türkischen Polizisten auf
offener
Straße
hingerichtet
wurde
und
die
AkademikerInnen, die sich gegen die Angriffe auf das
kurdische Volk aussprachen, wobei 30 wegen angeblicher
Unterstützung der PKK verhaftet wurden. Der Krieg in der
Türkei nimmt von Tag zu Tag immer schlimmere Ausmaße
an.
Deutschland hält am Pakt mit dem Diktator noch immer
fest. Die sogenannte "Flüchtlingskrise", die Deutschland
und die Bundeskanzlerin Angela Merkel so verschreckt,
sorgt dafür, dass die türkische Regierung mit Geldern
unterstützt wird und im Gegenzug die Zahl der nach
Europa flüchtenden Menschen radikal reduziert. Es scheint
schon etwas absurd, dass die EU mit dem Staat einen Deal
in der Flüchtlingsfrage eingeht, der zu den größten
Davon unbeeindruckt erklärt Innenminister Thomas de
Maizière auf die Frage eines Journalisten, warum eine
Kritik der Bundesregierung am Vorgehen der türkischen
Regierung ausbleibe:
„Alle, die uns jetzt sagen, man muss die Türkei von
morgens bis abends kritisieren, denen rate ich, das nicht
fortzusetzen. Wir haben Interessen. Die Türkei hat
Interessen. Das ist ein wichtiger Punkt.“
Und weiter: „Natürlich gibt es in der Türkei Dinge, die wir
zu kritisieren haben. Aber die Türkei, wenn wir von ihr
etwas wollen, wie, dass sie die illegale Migration
unterbindet, dann muss man auch Verständnis dafür
haben, dass es im Zuge des Interessenausgleichs auch
Gegenleistungen gibt.“
Wir als Studierendenverband aus Kurdistan sagen sowohl
Stopp zu der Unterstützung der Türkei gegenüber dem IS
und anderer islamistischer Gruppierungen in Syrien als
auch zu einer Zusammenarbeit mit der AKP-Regierung
durch die EU, allen voran durch die Bundesrepublik
Deutschland, die die Kriegsverbrechen und Verbrechen an
17
Während der insgesamt 52 Ausgangssperren war die
kurdische Bevölkerung vom Zugang zu lebensnotwendigen
Gütern und der Stromversorgung beschnitten. Zeitgleich
stand das Volk unter schwerem Artilleriebeschuss.
Weiterhin befinden sich Städte wie Sûr und Cizîr unter der
Ausgangssperre. Die Bevölkerung vor Ort hingegen wird
nicht nur ihrem Schicksal überlassen, tagtäglich werden vor
allem Jugendliche und Frauen ermordet. Das AKP Regime
ermordete in den letzen Monaten mehr als 400 Menschen
und vertrieb bis zu 250.000 KurdInnen innerhalb der
Grenzen der Türkei in die Flucht.
Wie jedoch kann eine Partei in einem Land so mächtig
werden,
sodass
jegliche
Entscheidungsund
Handlungsgewalt bei ihr liegt, ohne Rechenschaft abgeben
zu müssen? Wie können westliche PolitikerInnen so ein
Verhalten dulden und auch noch unterstützen?
Urhebern der Flüchtlingskrise zählt. Doch auch wenn sich
Erdoğan und seine AKP derzeit von der hässlichsten Seite
zeigen, von Europa und Deutschland aus hat die
Führungsebene der Türkei keinen Widerspruch zu
befürchten. Denn man ist auf Erdoğan angewiesen, wenn
man in der „Flüchtlingskrise“ Lösungen finden will. Da
nimmt man wohl in Kauf, dass der türkische Partner im
Kurdenkonflikt auf einen Krieg gegen die Zivilbevölkerung
setzt. Wie zu erwarten, zeigt sich die deutsche
Bundesregierung besonders übereifrig die Türkei zu
umgarnen. Noch vor den Parlamentswahlen am 1.
November stattete Bundeskanzlerin Merkel quasi als
Wahlkampfhelferin dem türkischen Staatspräsidenten
einen Besuch in dessen Palast ab. Die Regierung in Ankara
hatte unter anderem zugesagt, die Grenzen besser zu
schützen. Im Gegenzug versprach die EU mindestens 3
Milliarden Euro für die Versorgung der Flüchtlinge in der
Türkei. Zudem sollen die EU-Beitrittsverhandlungen und
die Gespräche zur visa-freien Einreise der türkischen
Staatsbürger beschleunigt werden. Darüber hinaus scheint
die Bundesregierung den Repressionshebel gegen die
kurdischen AktivistInnen in Deutschland angehoben zu
haben. Derzeit sitzen in deutschen Gefängnissen sieben
kurdische Politiker in Haft, so viele wie schon lange nicht
mehr.
Am Vorabend des Besuches der Bundeskanzlerin in der
Türkei meldeten die Agenturen ein neues Massaker in der
seit Monaten belagerten und zum größten Teil zerstörten
kurdischen Stadt Cizre. Im Kellerraum eines Gebäudes
sollen mehr als 60 Menschen getötet worden sein, die dort
seit mehreren Wochen ausharrten. Mittlerweile liegt die
Zahl der Toten in Cizre bei knapp 200. Viele der Opfer
konnten noch nicht identifiziert werden, weil das Militär
die Keller, in denen die Menschen Schutz suchten, in Brand
setzte und viele Leichname bis zur Unkenntlichkeit
ausgebrannt sind.
Seite
Ausgangssperren und Angriffe auf ZivilistInnen in den
letzten Monaten wurden als Vergeltungsschlag bis ins
kleinste Detail geplant, um die KurdInnen zu
demoralisieren.
ABSCHLUSSDISKUSSION
Flucht –
ein unbeherrschbares Problem?!
Es gibt unterschiedliche Gründe, warum Menschen sich auf
dem Weg machen. Der eine Grund ist die wirtschaftliche
Situation. Dann sind wir als europäische Länder und auch
Deutschland als Mitglied der europäischen Gemeinschaft
sehr aktiv unterwegs und bekommen mit, in welchen
Ländern die wirtschaftliche Situation schwierig wird, und
wo wir auch sehen können, wer dann eventuell nach
Deutschland kommt, wie es bei den Balkanstaaten der Fall
war. Dann erwarte ich, dass man Aufnahmekontingente
schafft oder Aufnahmeprogramme mit solchen Ländern
vereinbart; dass man sagt, ok, bevor ihr alle über das
Asylrecht kommt, möchten wir mit euch Möglichkeiten
finden, wie wir Ausbildungs- und Bildungskooperationen
hinbekommen, damit die Menschen, wenn sie zu uns
kommen, Bildung oder Ausbildung bekommen, um sich
eine eigene Existenz aufbauen zu können.
Also da würde ich mir eine andere Migrationsmöglichkeit
schaffen. Das kann von mir aus ein anderes
Einwanderungsgesetz sein. Bei humanitären Fragen, wenn
international Kriege herrschen, dann gab es schon immer
die Möglichkeit über den UNHCR
Kontingente zu
vereinbaren, um Flüchtlinge aufzunehmen, siehe
Resettlement-Programme, und sie bei uns anzusiedeln,
was die USA und Kanada stets gemacht haben. Wir haben
als Deutschland die Contenance bewahrt, weil wir gesagt
haben, in den 1990iger Jahren haben wir die großen Last
der Balkanflüchtlinge getragen. Das heißt, man hat es bloß
Ich glaube aber, dass es sich in Deutschland verändern
wird. Außenpolitisch gesehen ist es wichtig, dass wir nicht
Waffen in Regionen liefern, die Krisenherde sind oder die
keine Menschenrechtsstandards einhalten. Wenn wir eben
Länder wie Saudi-Arabien oder die Türkei, welche mit
Waffen beliefert werden, rausnehmen, auch wenn viele es
nicht so sehen. Wenn beispielsweise in Länder Waffen
geliefert werden, damit sie die Bevölkerung diskriminieren
und umbringen, da schließe ich die Türkei wieder mit ein,
darf das nicht geduldet werden. Da kann keine
Erwerbspolitik über die Menschenrechts- und Wertepolitik
stehen, weil dies eine falsche kurzfristige Erwerbspolitik ist.
Diese löst genau die Ursachen aus, die man ja verhindern
will. So einfach muss man sehen, wie die Waffenlieferung
funktioniert. Außenpolitisch gesehen sind wir ein sehr
aktives Land, was Wirtschaftsbeziehungen betrifft. Ich
18
………………………………………………………………………………..
mit Last verbunden, anstatt zu sagen, die Menschen, die zu
uns gekommen sind, haben uns auch bereichert. Kurz zur
Asylfrage. Das ist das Individualrecht, da würde ich die
Finger davon lassen und dieses Recht nicht aushöhlen
lassen. Das heißt, man muss der Bevölkerung erklären,
welche Möglichkeiten der Lieferzone gibt es. Welche sind
eine Art Arbeitsmigration? Funktioniert sie nach
Deutschland oder müssen wir gesetzlich positiv, progressiv
damit umgehen? Dann kann man auch die ganze Frage der
Hiebhaus Struktur stellen. Da kann man sich fragen, ob dies
über ein Punktesystem zu erreichen ist. Auch schon in den
1990iger Jahren wurde dies diskutiert. Es wurde auch
darüber debattiert, wen wollen wir haben? Wer kommt zu
uns? Wobei ich dagegen bin, dass man, wie in den
1950iger Jahren, wenn man unausgebildete Gastarbeiter
brauchte, sie beurteilt. Jetzt brauchen wir gebildete
Gastarbeiter und wir wollen nur gebildete haben. Ich finde,
dass man auch den Menschen die Chance geben muss,
seines Glücks Schmied zu sein und in das Land zu gehen,
wo man Chancen einer lebenswerten Existenz hat. Auch
Lebensqualität ist ein Menschenrecht. Es ist ja gar nicht
dazu gekommen, dass wir ein Gesetzt dazu gemacht
haben, sondern wir haben in Deutschland immer mehr auf
organisierte Verantwortungslosigkeit gesetzt. Das finde ich,
ist der falsche Weg. Wir sollten ab heute damit anfangen,
nachzudenken, wie man eine humanitäre Aufnahme
organisieren kann, wie man die Asylfrage organisieren
kann und wie man die Arbeitsintegration organisieren
kann. Was der deutsche Bürger wissen will und dass ist
auch in der Türkei nicht anders, hat die Politik noch einen
Überblick über die Situation? Ist die Politik noch Herr im
Hause oder ist die Politik überfordert und will fliehen vor
äußeren Umständen. Wenn man das Gefühl hat, wir haben
keine Kontrolle über die Situation, dann geht es ganz
schnell, dass es komische Reflexe gibt. Das gibt es auch in
anderen Ländern. Was ich aber stark kritisiere ist; im
Herbst 2015 war eine große Aufnahmebereitschaft da, die
hat man mehr oder weniger kaputt gemacht, indem man
einfach die Situation hat eskalieren lassen oder die
organisierte Verantwortungslosigkeit hat weit verbreiten
lassen.
Seite
der Menschlichkeit der Türkei duldet und damit
unterstützt. Die sogenannte „Flüchtlingskrise“ in Europa ist
unmittelbar
auf
diese
falschen
außenund
innenpolitischen Strategien und Kooperationen mit der
Türkei zurückzuführen. Wenn Menschenrechte zur
Verhandlungssache in taktischen Manövern werden, ist das
Bekenntnis zu ihnen nur noch eine Farce. Es ist ein offener
Bruch der Verfassung.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
<|>
Ich glaube, dass wir hier in Europa einmal laut dafür
werben, dass wir mehr Flüchtlinge aufnehmen können.
Also wenn man es mit den Nachbarregionen von Syrien
vergleicht, wieviel Flüchtlinge sie aufgenommen haben.
Aber dass wir dann generell sagen, wir sind in der Lage
jährlich knapp eine Million oder was auch immer
Flüchtlinge aufzunehmen. In Europa würde es gehen, wenn
die Strukturen dazu geschaffen sind, und dass man diese
Strukturen auch schafft. Von daher finde ich, dass die Zahl
der Aufnahmen der Flüchtlinge in Europa erhöht werden
muss. Das wünsche ich mir. Was die Türkei betrifft, ich bin
auf keinen Fall dafür, dass man nicht mit der Türkei spricht.
Um Gottes Willen, man muss mit der Türkei sprechen und
Erdogan kann immer wieder sagen; ich bin der direkt
gewählte Präsident der Türkei. Er ist zum zweiten Mal
gewählt worden, und er ist dabei, es vielleicht zum dritten
Mal zu organisieren. Also Wahlen gibt es in der Türkei und
die Ergebnisse sind die Ergebnisse, mit den wir umgehen
müssen. Da können wir nicht sagen; du bist aber nicht der
Partner, den ich haben will, also rede ich nicht mit dir.
Was kann man aber zum Beispiel aus deutscher Sicht oder
aus flüchtlingspolitischer Sicht in der Türkei realisieren? In
der Türkei gibt es gar keine Idee darüber, wie Flucht und
Aufnahme von Flüchtlingen organisiert werden kann, wie
die Teilhabe von Flüchtlingen in der Türkei organisiert
werden kann. Da stelle ich mir immer die ketzerische
Frage; lohnt es sich darüber zu streiten wegen den drei
Milliarden oder ist besser zu sagen; natürlich müsste die
europäische Union auch der Türkei finanziell helfen, um
Ansonsten, was Syrien betrifft, bin ich auch nicht dafür,
dass man in Syrien den Konflikt ohne Waffen löst. Das geht
gar nicht mehr. Ich glaube, dass ist sehr wichtig, dass man
in Syrien die Kurden am Tisch sitzen hat und der IS auf
keinen Fall am Tisch sitzt. Wenn es sein muss, hat man die
Al Nusra am Tisch sitzen. Ansonsten muss man mit allen
verhandeln. Auch alle anderen Stellvertreter, die gerade als
Akteure aktiv sind, werden am Tisch sitzen. Was man aber
nicht akzeptieren sollte, hundert Jahre nach dem ersten
Weltkrieg, ist der Zusammenbruch der künstlich
geschaffenen Grenzen in dieser Region. Das man jetzt nicht
beispielsweise erneut sagt, wie die türkischen
Verhandlungsakteure es sagen, ihr Kurden seid kein
Akteur und wir setzen euch nicht an den Tisch, und dass
man mehr oder weniger die Kurden dazu zwingt, sich mit
der Nutzung
der Waffengewalt an den Tisch zu
verhandeln. Das wäre meiner Meinung nach fatal und
deswegen sollte man die Kurden auch an dem Tisch sitzen
lassen. Die Kurdenfrage innerhalb der Türkei, die würde ich
nicht mit Waffen lösen wollen.
Da bin ich eine Idealistin und keine Pazifistin. Wir werden
sie in der Türkei auch anders lösen können. Das müssen wir
differenzieren. Auch wenn es uns nicht gefällt. Wir müssen
aber politische Verhandlungspartner haben, die dies
akzeptieren. Dabei ist die politische Struktur immer eine
wichtige Frage; stellt man also diese Bedingung am Anfang
der Verhandlung oder stellt man diese am Ende der
Verhandlung, wenn man sie erreichen will. Da ist also das
politische Feingefühl wichtig. Die Strategie ist wichtig und
da kann ich jetzt nicht für Kurden als Repräsentant dieser
sprechen, ich kann aber als Außenbeobachter etwas dazu
sagen. Ich habe Syrien erlebt und kenne die Situation in
Syrien. Es ist super schwierig für die Kurden in Syrien
gewesen. In der Türkei ist die Situation auch schwierig.
Aber ich glaube, wir müssen aktuell die Lage in beiden
Ländern politisch anders betrachten, als zu sagen, was die
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Ich weiß nicht, ob Syrien sich in drei Teile teilen würde und
ob dann die Konflikte gelöst werden können. Ich möchte
den Fokus darauf lenken, selbst wenn ethnische oder
religiöse Konflikte nicht mehr als Fluchtursachen bestehen,
wird es Umwelt und Klima bedingte Fluchtursachen geben.
Also Fluchtursachen wird es immer geben. Wir sollten uns
als ein reiches europäisches Land darauf einstellen, dass sie
zu uns kommen werden. Als altes Europa sollten wir
eigentlich ganz glücklich darüber sein, wenn sie zu uns
kommen wollen. Also sollen wir morgen anfangen,
Strukturen zu schaffen, um mit dieser Vielfalt positiv
umgehen zu können.
Strukturen zu schaffen, um Flüchtlinge dort aufzunehmen?
Man muss aber darauf bestehen, dass es kein Kuhhandel
wird, dass es kein Diel wird, so nach dem Motto: Geld
bekommst du und die Gegenleistung ist, dass du uns die
Flüchtlinge vom Hals schaffst. Sondern der Diel kann nur
sein; ich habe länger Erfahrung mit Integration oder
Teilhabe von Flüchtlingen und ich habe Strukturen, die ich
hier gerade verändere, und auch neue, die ich schaffe. Da
rede ich nicht von Aufnahmezentren oder von sowas, was
an den EU Außengrenzen ist, sondern ich rede darüber,
wie soziale Standards geschaffen werden können, damit
Flüchtlinge in der Türkei auf dem dritten oder vierten
Arbeitsmarkt nicht komplett ausgebeutet werden. Also wie
kann man diese Standards, die wir hier haben, also die EUAufnahmerichtlinien, auch wenn man sie nicht alle einhält,
zum Beispiel in die Türkei transportieren und versuchen,
dort lebenswerte Zustände zu schaffen für Menschen, die
dort im Moment keinen lebenswerten Schutz haben. Das
wäre zum Beispiel eine Kooperation, die man aufbauen
könnte.
Seite
habe mir immer gedacht, überall, wo man
Wirtschaftsvertreter mitnimmt, muss man auch
Menschenrechtsvertreter mitnehmen. Man muss sich die
Situation in diesen Ländern anschauen, und man kann
nicht mit den Ländern Geschäfte machen, die ihre
Bevölkerung arbeitsrechtlich ausbeuten und nur quasi das
Wirtschaftliche aufputschen sowie hochstellen. Das ist mir
zu kurzfristig. Das sind Werte, die ich mir in der Politik
wünsche. Es ist in der Politik eine große Minderheit da, die
diesen Standards gerne einhalten will. Aber sie sind leider
nicht immer die lautesten. Sie arbeiten nicht fraktionell
zusammen. Eigentlich muss man viel stärker international
zusammenarbeiten und viel stärker mit der Zivilgesellschaft
zusammenarbeiten.
Kurden in Kobane geschafft haben, können sie eins zu eins
in der Türkei schaffen. Auf der anderen Seite haben wir
aber einen Regressor, der dies nutzt, um die Kurden auf
jeden Fall zu diskreditieren, sie zum Terrorfaktor zu
machen und sie auf diese Weise komplett abfegen zu
können.
Die NSU Frage; es ist eine Schande und was soll ich dazu
sagen, das ist in Deutschland leider eine tiefe Wunde, die
viel zu spät anerkannt worden ist. Jetzt versuchen wir dies
aufzuarbeiten. Auch die Aufarbeitung funktioniert nicht so
gut. Das ist etwas, was sich in Deutschland nicht nur durch
die Politik oder die Gerichte verbessern kann, sondern
auch in den Landtagen gibt es Untersuchungsausschüsse.
Es gibt sogar in Hessen einen Untersuchungsausschuss,
weil Morde an hessischen Bürgern, wie an Simsek und
Yozgat, ausgeübt worden sind. Da würde ich sagen – jetzt
am Freitag war in Hessen NSU Untersuchungsausschuss –
setzt euch dahin und schaut euch die Anhörungen an; auch
dafür, um sich ein eigenes Bild darüber zu machen, was da
gerade so passiert. Da kann man dann immer wieder
versuchen, wie man als politischer Akteur darauf Einfluss
nimmt.
ehrlich gesagt, in den aktuellen Grenzen, wie die gezogen
sind, wo es mehrere parlamentarische Ebenen gibt, ob es
uns gefällt oder nicht, weil ich mich mit dem Thema gerade
auseinander setze. Das kann jeder so sehen, wie er will,
das heißt sie können es als Kurdistan sehen, ich sehe es
anders und das gehört mit zur Vielfalt der kurdischen
Identität. Wichtig ist, dass wir trotzdem miteinander leben
und unsere Ziele gemeinsam verwirklichen können.
Ansonsten ist es immer die Frage der Emanzipation, eine
Frage der Demokratisierung der eigenen Identität und der
eigenen Persönlichkeit. Je mehr die Menschen anfangen,
sich selbst und ihre Umfeld zu emanzipieren,
Geschlechtergerechtigkeitsfragen stellen, das heißt Fragen
bezüglich der Umwelt, der Hierarchien, der alten feudalen
Strukturen stellen und diese auch abschaffen. Das sind so
kleine Prozesse, die wir hier miteinander angehen können.
Ich finde es fast noch wichtiger als über die
nationalstaatlichen Strukturen zu reden. Das ist so meine
Antwort dazu.
<|>
Seite
Wie die Türkei demokratisiert werden soll; also es ist so,
dieses Land ist da und die fünf anderen Länder sind auch
da, wobei eins zusammengebrochen ist. Das andere ist neu
konstruiert worden. Ich glaube, dass wir es nicht schaffen
werden von außen, sei es durch die USA, die EU oder
Russland, einen neuen kurdischen Staat hinzukriegen.
Allein wird es keinen kurdischen Staat geben. Die anderen
Nachbarn machen es nicht mit. So das ist einfach eine ganz
reelle Frage. Ich als jemand, der in Deutschland geboren
und aufgewachsen ist und nicht Fan von großen
Nationalstaatlichkeiten ist, bin eher ein Fan von
dezentralen Selbstverwaltungsstrukturen oder eben einer
Europäischen
Union,
die
Grenzen
und
Nationalstaatlichkeiten langsam ablösen lässt, und es
versucht über etwas Größeres wie das Supranationale.
Mehr Konzentration auf die kommunalen Ebenen, dass die
kommunalen Ebenen mehr Rechte bekommen, das wäre
meine Vorstellung. Ich nenne es nicht Kurdistan, weil ich
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Was die Flüchtlingsheime betrifft, das finde ich sehr
erschreckend. Das ist in den 1990iger Jahren nach der
Wiedervereinigung auch immer wieder passiert. Ich
glaube, da müssen wir uns als Zivilgesellschaft wieder
besser organisieren und sagen, wir erwarten von der
Politik, von der Regierung und von den staatlichen
Einheiten mehr Schutz, mehr Kontrolle, aber auch mehr
Transparenz, wie die Flüchtlingsheime geschützt werden
und was man dagegen unternimmt, um solche Vorfälle zu
vermeiden. Was den rechten Mob in Deutschland und in
Europa betrifft, welcher immer steigt, da brauchen wir eine
mutige Gegenbewegung. Die gibt es zwar, aber sie sind
vielleicht nicht laut genug. Da gibt es so wenige mit
sogenanntem Migrationshintergrund. Wir müssen da viel
stärker rein mit unseren Schwarzköpfen, finde ich.